Читать книгу Evelinas Katzenzauber - Camilla Gripe - Страница 7
4.
ОглавлениеIn einem Dunst von Schwefel und Maiglöckchenparfüm schwebt Doris in die rußige Küche im Keller des zur Hälfte verkohlten Hexenhauses.
An der schwarzen Feuerstelle, wo die Glut seit langem verglommen ist, sitzt der faule Ludwig in einem kaputten Sessel, aus dem die Polsterung hie und da hervorschaut.
Auf einem moosgrünen, übel mitgenommenen Samtkissen schnarcht der ebenso faule Kater Napoleon, vollgefressen und aufgedunsen. Eine fette schwarze Spinne hängt an einem Faden über der Herdplatte. Ludwig überlegt, ob er sie in eine Praline oder in ein Himbeerbonbon verwandeln soll – er weiß nicht, worauf er am meisten Lust hat.
Doris zieht den Umhang aus und wirft ihn in eine Ecke. Einige schlaftrunkene Fledermäuse fliegen hoch und verschwinden in der dunklen Küche. Ludwig lehnt sich mit einem ängstlichen Blick auf die Mutter im Sessel zurück. Ihre wütend energischen Bewegungen beunruhigen ihn, und er hofft, daß sie ihn nicht bemerken wird. Das tut sie selten, aber wenn, dann will sie meistens etwas von ihm. Oft verlangt sie einfach die Teilnahme ihres Sohnes, wenn sie sich über die Ungerechtigkeiten der Welt aufregt und darüber schimpft, wie alle gegen sie sind. Da heißt es, ein paar aufmunternde Worte einzuwerfen, wenn sie eine Atempause einlegt. Wenn man nichts sagt, kann sie noch wütender werden und behaupten, daß man nicht zuhört. Man darf aber auch nicht zu viel sagen, oder sie gar unterbrechen. Er muß sich in Acht nehmen und sich vorsehen, wenn er den Hausfrieden nicht gefährden will – sonst können noch anstrengendere Dinge von ihm verlangt werden ...
Doris setzt sich an die Feuerstelle und schaut ihren Sohn eindringlich an. Unruhig rutscht er hin und her. Wird sie denn nicht endlich losreden, damit er es bald hinter sich hat. Die zukünftige Praline oder das Himbeerbonbon gleitet schnell den Faden hinunter und verschwindet irgendwo im Dunkeln.
„Und hier sitzt du wie ein Sack Kartoffeln – wie immer“, fängt Doris an.
Das war eine unglückliche Einleitung, findet Ludwig. Das war ja ein direkter Angriff auf seine Person und handelte nicht wie sonst von der übrigen, ungerechten Welt.
Doris macht eine Pause und schaut ihn noch eindringlicher an. Ludwig probiert ein frommes Lächeln. Es erzielt nicht die beabsichtigte Wirkung.
„Grinst du etwa auch noch? Du bist ein völliger Taugenichts, weißt du das, du Schafskopf?“
„Aber Mütterchen!“ sagt Ludwig mit belegter Stimme. „Hat dich schon wieder jemand geärgert? Hat die olle Quassel-Tine wieder zugeschlagen?“
Er hofft, das Gespräch in andere Bahnen lenken zu können. Die Quassel-Tine rettet oft das Spiel. Über sie hat seine Mutter immer eine ganze Menge zu reden. Aber diesmal sticht nicht einmal Quassel-Tine. Die Mutter zischt nur verächtlich.
„Und du sitzt nur den ganzen Tag herum und frißt! Andre Mütter haben tatsächlich einen gewissen Nutzen und Freude an ihren Söhnen, aber ich Nicht! Schau nur, wie es hier aussieht!“
„Aber was soll ich denn machen, Mütterchen?“ fragt Ludwig verzweifelt. „Es ist doch nicht meine Schuld, daß es gebrannt hat!“
„Andere Söhne hätten schon längst das Haus wieder repariert und Holz und Kaffee herbeigeschafft.“
Der Kater Napoleon ist nun von Doris’ schriller Stimme aufgewacht und reckt sich unlustig – dabei hat er es doch so gemütlich gehabt. Auf niedrigen Beinen kriecht er davon, weg aus dem stickigen Lichtkreis der Petroleumlampe. Er hofft – wie vorhin Ludwig –, daß Frauchens ungnädige Blicke nicht auf ihn fallen mögen, was sie natürlich sofort tun. Sie bohren sich wie Speerspitzen in seine Nackenhaut.
„Diese jämmerliche Katerfigur wollen wir schon gar nicht erwähnen. Der soll wohl der Dank sein für alle meine Wohltaten!“
Ludwig schenkt ihr eins seiner einschmeichelndsten Lächeln und macht die Stimme sanft wie eine Liebkosung.
„Es tut mir leid, daß Mütterchen heut so unzufrieden mit uns ist. Was hältst du von einem frischgekochten Kaffee oder einem Schluck Mistelwein oder einem Stück Zuckergußgebäck – du weißt schon ...“
Doris zischt laut und versetzt dem armen Napoleon, der entsetzt davonrollt und hinter dem leeren Holzkasten in Deckung geht, einen Stoß. „Verstell dich nicht! Du bist nicht nur faul, sondern auch noch dumm!“
„Willst du nicht doch ein Täßchen haben – oder einen anderen Leckerbissen. Ich werde mich sofort darum kümmern. Ich glaube, daß es deinen Nerven guttun würde, wenn du etwas Gutes im Bauch hättest.“
Doris richtet sich auf und fuchtelt mit dem Feuerhaken in der Asche des Herdes herum, bis die Funken nur so sprühen. Rußflocken und Fledermäuse fliegen um sie herum, und der Docht der Petroleumlampe flackert. Sie murmelt etwas vor sich hin. Sie hat Ludwig den Rükken gekehrt, aber ab und zu wirft sie ihm über die Schulter wütende Blicke zu.
Es ist jetzt fast ganz dunkel in der Küche. Die qualmende Petroleumlampe kämpft gegen den Erstickungstod. Ludwigs Hals ist ganz ausgedörrt. Er beschließt, einen der Rußflocken in ein Glas Limonade zu verwandeln, und murmelt einen seiner Zaubersprüche.
Ein Glas mit einem goldenem Getränk erscheint sofort vor ihm in der Luft, aber als er die Hand danach ausstreckt, verändert es mit einmal seine Gestalt und wird zu einer großen schwarzen Fledermaus mit spitzen Zähnen, die sofort auf Ludwig hinsteuert und ihm in die Lippen beißt. Ludwig fuchtelt hilflos mit den Händen. Doris dreht sich blitzschnell um und lacht heiser. „Ist dir der Spruch falsch aus dem Maul gerutscht, was?“
Die Fledermäuse sind jetzt weg, aber der Biß in Ludwigs Unterlippe tut noch weh. Er schaut erstaunt zu seiner Mutter.
„Ja, ja, mein Lieber. Jetzt sind die guten Tage zu Ende. Noch habe ich das Sagen hier im Haus, das soll dir klar sein. Und meine Macht soll noch weiter reichen, und dafür bist DU zuständig, denn bis dahin werden alle deine lieben kleinen Süßigkeitsformeln schief aus deinem Maul rutschen.“
Plötzlich hören sie ein Zischen und einen Schrei.
Der sonst so friedfertige Napoleon springt aus seinem Versteck hinter dem Holzkasten und saust davon wie ein geölter Blitz. An seinem Schwanz hat sich ein Riesenhummer mit großen, kräftigen Scheren festgebissen. Napoleon hatte nämlich auch die Spinne entdeckt und versucht, sie in einen Krabbencocktail zu verwandeln ...
Doris gluckst zufrieden.
„Das gleiche gilt für den elendigen Kater, wie du siehst!“
Ludwig wäre vor lauter Schreck fast aus dem Sessel aufgestanden. „Aber Mütterchen! Mußt du jetzt deine schwarze Magie an Uns ausprobieren? Das ist doch nicht lieb.“
„Wer hat gesagt, daß ich lieb bin?“
„So habe ich es doch nicht gemeint ...“
„Schon gut. Wenn ich das bekommen habe, was ich will, könnt ihr wieder so weitermachen wie bisher.“
„Aber was hättest du denn so schrecklich gern, Mütterchen?
„Zu allererst möchte ich Evelinas Kätzchen. Lebendig und dressiert. Die können mir helfen, Macht und Status zurückzugewinnen. Du und Napoleon sollen sie mir besorgen. Und wenn ihr nur im geringsten versucht, Sahnegebäck aus ihnen zu machen, werden sie sich in Krokodile verwandeln und euch alle beide auffressen.“
Ludwig sinkt in sich zusammen, schlägt die Hände vors Gesicht und schluchzt verzweifelt.
Napoleon, der sich nun endlich vom Hummer befreit hat, rollt sich im Staub hinter eine Truhe, um sich um seinen Schwanz zu kümmern, den nun eine prächtige Beule schmückt. Er wimmert jämmerlich, und sein Bruder im Unglück, Ludwig, seufzt erschöpft. Die schreckliche Bedeutung von Doris’ Worten drängt sich langsam aber unerbittlich in ihre trägen Schleckermaulschädel.
Die zwei, die in ihrem ganzen Leben nichts anderes getan haben, als für sich selbst zu Schlemmerzwecken Süßigkeiten herzuzaubern! Nun will plötzlich ihr Frauchen etwas von ihnen, das Mut, List, Geschick und Entbehrung verlangt.
„Hört auf, euch zu bemitleiden! Nun tut eure zwei Dickschädel zusammen, und vielleicht könnte euch dabei ein kleines helles Licht aufgehen – wenigsten wenn euch der Hunger überfällt. Es könnte für euch nur von Nutzen sein.“
Doris nimmt ihren Umhang und marschiert aus der Küche.
Es herrscht völlige Stille. Nur das Surren einer Winterfliege, die gerade aufgewacht ist, ist zu hören. Napoleon streckt vorsichtig seine Schnauze hervor, blinzelt ein paar Mal und verwandelt sie aus alter Gewohnheit in einen Klecks Leberpastete, während Ludwig, auch aus alter Gewohnheit, den Spruch für Pfefferminzbonbons daherleiert.
Im nächsten Augenblick hat das faule Summen der Fliege an Stärke zugenommen, und zwei riesige, wütende Wespen kommen wie Geschosse dahergeflogen, die eine steuert Ludwigs Nase an, die andere hat Napoleons Schnauze als Ziel.
So schnell ist Ludwig noch nie aus dem Sessel aufgesprungen, und Napoleon saust aus dem Zimmer. Sie stürzen aus dem Hexenhaus, und hinter ihnen hören sie Doris einen Gassenhauer grölen, mit einer Stimme, die Glas zerschmettern kann:
„Oh my Darling, oh my Darling, oh my Darling, Clementajjjjn ...“
Napoleon, der nie vorher auf einen Baum geklettert ist, jagt jetzt blind eine Fichte hoch, so daß Nadeln und Rinde um seine Krallen wirbeln. Ludwigs Kraftanstrengung fällt nicht so groß aus. Er läuft etwa hundert Meter zum Plumpsklo, zieht die Tür zu und legt den Riegel vor. Dann setzt er sich auf den Klositz und weint wieder vor Verzweiflung. Dies ist das Schlimmste, was er je erlebt hat.
Eine kleine Waldmaus, Zeugin des schmählichen Abgangs der beiden, lugt nun vorsichtig aus ihrem Versteck unter einem verwilderten Stachelbeerbusch hinter dem Klohäuschen hervor. Ihre kleinen Schnurrhaare, die wie ein Heiligenschein um ihre Schnauze wachsen, zittern, als sie in alle Richtungen schnuppert.
Nein, sie wittert im Augenblick keine Gefahr. Feind Nummer eins, der fette Kater, der einmal ihre Tante in Krabbenpastete verwandelt hat, sitzt erbärmlich jaulend oben in einer Fichte, und Feind Nummer zwei, der einst Großvater Maus lieber als Mohrenkopf sehen wollte, schnieft und jammert wie ein verlorengegangenes Kind.
Die kleine Waldmaus wagt sich bis zur Klohäuschentür vor. Sie spitzt ihre runden Ohren und horcht auf die traurigen Geräusche von drinnen. Ihre Augen wandern zur Tür. Die ist geschlossen, von innen verriegelt. Aber der Riegel draußen, der Holzklotz, hängt frei. Wer draußen ist, kommt nicht herein, aber wer drinnen sitzt, kann hinaus ...
Wenn nicht ... Aha ... Die kleine Waldmaus zählt eins und zwei zusammen und schätzt die Entfernung zu dem freien Holzriegel mit ihrem Pfefferkörnchenblick ab.
„Er wird länger drinnen bleiben, als er sich gedacht hat“, piepst die Maus. „Damit er Zeit hat, seine Sünden zu bereuen.“
Es dürfte nicht sehr schwierig sein, dies zu erledigen. Waldmäuse sind gut im Hüpfen und haben kleine, aber kräftige Krallen, um sich an Brettern festzuklammern.
Die Gefahr besteht natürlich, daß der Riese da drinnen sie hört und Lust auf ein Bonbon bekommt. Aber auch ein winziges Tier kann ein Held sein. Da muß sie nur an ihre Tante und ihren Großvater denken, und ihr Beschluß wird in die Tat umgesetzt.
Hüpf und hops – da ist sie fast oben am Riegel und braucht sich nur ein kleines Stückchen noch hinaufzuhieven. Mit ihren gelenkigen Vorderpfoten, fast wie Hände, erwischt sie den Riegel und packt zu. Eine halbe Umdrehung nach hinten und – festhalten, ausgehalten – der Klotz landet mit einem sehr leichtem „plick“ auf dem Nagel. Die Tür ist verriegelt. Auch von draußen. Rasch macht sie einen Sprung ins Gras und verschwindet wieder unter dem Stachelbeerbusch. Aber das Geräusch aus dem Klohäuschen ist das gleiche wie vorher, ein ewiges Jammerseufzen, Schniefen und Schnaufen. Der Feind hat nichts bemerkt.
Und Feind Nummer zwei auf dem Gipfel der Fichte johlt himmelhoch und traut sich nicht, hinunterzuklettern. Die beiden Feinde sind im Augenblick kampfunfähig gemacht, und die flinke kleine Waldmaus verschwindet in ihr Loch. Sie hat Freunden und Verwandten einiges zu erzählen ...
Ludwig ist bald vom Wimmern völlig ermattet. Als er bebend Luft einholt, hört er herzerbrechende Schreie von draußen. Es ist der arme Napoleon, der solche Höhen nicht gewohnt und dem furchtbar schwindlig geworden ist. Er klammert sich an den schmalen Ast und traut sich weder vorwärts noch rückwärts, geschweige noch hinunterzuschauen. Es ist eine ganz andere Sache, auf einen hohen Baum hinaufzurasen, wenn man außerdem noch von Wespen gejagt ist, als dann oben im Himmel zu sitzen und nur einen Abgrund unter sich zu haben.
Ludwig versteht sehr gut, wie es ihm wohl ergehen mag, gefangen dort oben im Baum. Er kann sich wenigstens davonmachen, wenn er will (glaubt er) und festen Boden unter den Füßen spüren.
Ludwig ist kein Held. Er kommt erst gar nicht auf den Gedanken, auf diese Fichte zu klettern, um Napoleon herunterzuholen.
Aber er könnte sich gut vorstellen, sich unter den Baum zu stellen und beruhigende, sanfte und tröstende Worte an den Unglücksraben zu richten. Worte, die Napoleon vielleicht stärken, so daß er einen Abstieg wenigstens in Erwägung zieht.
Unter Schluckauf und Weinkrämpfen richtet sich Ludwig schwerfällig vom Klositz auf. Auf dem Weg zur Tür fängt er etwas Spinnengewebe mit dem Zeigefinger auf und murmelt einen Spruch, um ein Stückchen erfrischender Lakritze herzuzaubern. Dumm genug! Ein Schwarm ekliger, sehr blutrünstiger Mükken steigt unmittelbar wie eine Wolke aus dem Spinngewebe auf und greift ihn von allen Seiten an. Er stürzt zur Tür, schiebt den Riegel zurück und drückt sich gegen die Tür, um in die Freiheit zu gelangen – aber die Tür bleibt zu – verriegelt wie sie ist, auch von außen.
Ludwig brüllt und schlägt gegen die Tür.
„Hilfe! Aufmachen! Mama! Ich bin eingeschlossen. Mach auf!“
Aber das einzige, was er hört, sind das Sausen des Windes in den Baumwipfeln, das Jaulen eines Katers und das höhnische Krächzen einer aufgeschreckten Krähe. Da wirft sich Ludwig gegen die Tür und spürt zum ersten Mal in seinem faulen Leben ein klein bißchen Ärger in sich hochsteigen.
„Blöde Tür! Verflixte, verfluchte, verblödete Misttür.“
Aber die Tür bleibt dennoch genauso verschlossen.
Er überlegt, ob er wieder auf den Klositz Platz nehmen und noch ein paar Tränen vergießen soll, aber irgend etwas sagt ihm, daß dies nur ermüdend und ziemlich sinnlos wäre. Als er fast ein bißchen wütend ist, bewegt sich tatsächlich die Tür ein paar Zentimeter nach draußen, bis sie von dem Holzriegel gebremst wird. Mit noch etwas mehr Wut, würde sie sich vielleicht noch etwas bewegen. Wenn da ein genügend großer Spalt entstände, wäre es nicht ganz unmöglich, einen Finger hindurchzustecken und den Riegel wegzustoßen.
Währenddessen tanzen die Mücken um seine Ohren, summen ihre eintönige Melodie. Eine kriecht ihm direkt in den Gehörgang, sticht mit ihren Rüssel hinein und saugt eifrig. Ludwig spürt ein fürchterlich irritierendes, ungeheuerlich kitzelnden Jucken bis in die Haarwurzeln. Das macht Ludwig wild, denn er kommt mit seinem dicken Finger nicht ins Ohr, die Mücke kann ruhig in der gemütlichen, rosa Grotte sitzenbleiben und sich gütlich tun.
Nun wird Ludwig halb verrückt und fuchtelt mit den Armen in der Luft. Er springt herum und kickt, bis er zufällig die Tür mit seinem Fuß trifft. Der verrostete Nagel, der durch den Holzklotz geschlagen ist, fliegt davon wie ein Pfeil, und die Tür geht auf. Ludwig fällt hinaus und rollt den Hang hinunter.
In einem der wenigen Zimmer im Erdgeschoß des Hexenhauses steht Doris und späht durch ihr Fernglas aus Eulenaugen.
„Das hätten wir“, stellt sie fest. „Nun ist er wenigstens draußen.“
In der Zwischenzeit ist es Napoleon tatsächlich gelungen, ein paar Schritte im Krebsgang zu schleichen und sich zu drehen, so daß er sich an den bedeutend festeren Baumstamm anklammern kann. Er ist von der Anstrengung völlig matt, er zittert am ganzen Körper und kann kaum mehr schnaufen.
Ludwig kriecht zu der unglückseligen Fichte. Es ist da oben so still geworden. Was ist geschehen? Er kann im Dunklen nichts sehen.
„Nappechen! Napo! Napo! Napo!“ lallt er. „Ich bin ja jetzt bei dir, Nappechen! Hab keine Angst. Es wird schon gut werden ...“
Aber das einzige, was er hören kann, ist der stärker werdende Wind. Er wird immerzu stärker. Schwarze Wolken jagen über den Himmel. Jetzt schlägt der Wind einen anderen Ton an und fängt zu heulen und dann wie ein Riesenmonster zu brüllen an. Die großen Bäume werden hin und her gerüttelt. Die alten hohlen Baumstämme jammern, und Äste brechen ab.
Dort, wo Napoleon sitzt, weht und schwingt es wie auf einem davonbrausenden Hexenbesen. Die Pfoten schlafen ein, und es gibt nichts, worauf er den Blick richten und nichts, woran er sich festhalten kann. Und dann mit einmal ein Windstoß wie das Niesen eines Riesen, und die ganze Welt ist durcheinander, auf den Kopf gestellt und wie auch immer ... Es gibt weder Erde noch Himmel, weder oben noch unten, nur ein Herumtaumeln, rundherum in dem schwarzen Nichts, ohne Anfang, ohne Ende ...
Doch, ein Ende, ein Plumpsen und ein endgültiger Stopp. Napoleon liegt platt auf dem Boden, Hunderte von Metern von der Fichte entfernt. Hinter seinen geschlossenen Lidern kreisen Sterne und Monde, und als er vorsichtig die Augen öffnet, tanzen davor immer noch Sterne und schwarze Wolken wie Schleier.
Doris nimmt das Eulenfernglas von den Augen.
„Und jetzt ist er auch noch unten. Da habe ich so weit das Meinige getan.“
Jammernd, kriechend und schnüffelnd finden die beiden Unglücksbrüder wieder zueinander. Beide sind benommen, und körperliche Anstrengung und Mangel an Essen nicht gewohnt. Eine ganze Weile liegen sie nur keuchend nebeneinander auf dem Boden.
Als Ludwig schließlich die Augen aufmacht, sieht er, daß der letzte Lichtstreifen aus seinem Zuhause erloschen ist. Das Hexenhaus ist ganz schwarz. Er blinzelt verwirrt und streicht unbeholfen über Napoleons struwweliges Fell. Langsam dämmert ihm, daß sie im Augenblick tatsächlich ohne Haus und Herd sind. Seine Mutter hat nie zuvor besonders viel von ihm verlangt, aber sie hat es immer erst gemeint. Nun hat sie sehr viel mehr verlangt, und Ludwig sieht langsam ein, daß sie es wohl auch diesmal ernst mit ihnen meint.
„Nappechen“, flüstert er. „Wir müssen wohl doch das tun, was sie sagt. Damit alles wieder beim alten bleibt.“
Er seufzt schwer, und Napoleon rollt sich zusammen und zieht die Pfoten an.
„Es geht ja nur um ein paar Katzenfratzen“, meint Ludwig, um sich selbst und den Kater zu trösten. „Ein Kinderspiel, wenn wir nur ein bißchen schlau sind, verstehst du.“