Читать книгу App to Date - Carine Bernard - Страница 9
ОглавлениеMONTAG
Privatdozent Dr. phil. Carsten Hennrich schloss die Tür zu seinen Räumlichkeiten auf. Wie immer war er der Erste am Morgen, aber der Rest seiner Truppe würde bald nach und nach eintrudeln.
Der lange Flur roch scharf nach dem Mittel, mit dem die Putzkolonne am Wochenende den grauen Filzbelag reinigte. Er durchquerte den Gang mit angehaltenem Atem und stieß das Fenster auf der anderen Seite auf.
Sein erster Weg führte ihn in den Serverraum, eine fensterlose Kammer, die mit einem Notstromaggregat und einem Klimagerät ausgestattet war. Hier befand sich das Herz seiner Arbeit, hier wurden vierundzwanzig Stunden am Tag und sieben Tage die Woche Daten gesammelt und ausgewertet, in Zahlen umgewandelt, in Formeln gepresst und wieder ausgegeben. Letzte Woche hatten sie die Millionenmarke geknackt. Eine Million Menschen hatte die App heruntergeladen, und die meisten von ihnen benutzten sie regelmäßig. Eine Million Menschen, die ihm ihre Daten zur Verfügung stellten, die ihm mitteilten, wo sie sich aufhielten und mit wem sie sich trafen. Eine unvorstellbare Zahl, und mehr als ausreichend, um statistisch relevante Ergebnisse zu erhalten.
Alle Lämpchen blinkten in beruhigendem Grün im Takt der Datenströme, nur an einem Rack im Raid-System leuchtete es gelb. Er runzelte die Stirn. Nigel würde sich darum kümmern, sein Datenbankadministrator, aber in Gedanken machte er sich eine Notiz. Raid-Platten mussten häufig ersetzt werden, was bei dieser Datenlast nicht verwunderlich war, aber hier schien der Slot einen Fehler zu haben, denn diese Platte war erst letzte Woche ausgetauscht worden.
Er ließ das Licht brennen und öffnete die Tür zu seinem Büro. Der Vorraum war noch leer. Er warf einen Blick auf die Uhr, es war halb acht, Frau Garbsen würde erst gegen neun kommen, und seine erste Vorlesung begann um zehn. Genügend Zeit, sich die ausgewählten Datensätze anzusehen, denen er seine besondere Aufmerksamkeit schenkte. An den Datensätzen selbst war nichts Besonderes, er hatte sie zufällig herausgepickt. Aber einige davon begleitete er nun schon seit Monaten, verfolgte ihren täglichen Weg zur Arbeit, wusste, mit wem sie sich trafen, wo sie einkauften und welche Lokale sie aufsuchten. Manchmal hatte er das Gefühl, sie besser zu kennen als die Menschen in seinem Bekanntenkreis. Er ließ sie erst gehen, wenn sie aufhörten, die App zu benutzen. Dann verschob er sie in Jennifers Datenbestände, wo sie die Geschichte der Aussteiger analysierte, um herauszufinden, ob ein grüner Handshake vorausgegangen war. Die Daten dieser erfolgreichen Matches halfen ihnen dabei, den Algorithmus der App stetig zu verbessern.
Dabei war das lebenslange Glück der Dater gar nicht das Ziel. Würden alle Handshakes zu glücklichen Beziehungen führen, ginge ihnen schließlich irgendwann das Datenmaterial aus. Aber noch kehrten die meisten Dater nach einigen Wochen oder Monaten zurück, und waren damit die beste Mundpropaganda.
»Jen, was ist los mit dir?«
Jenny fuhr zusammen und klickte mit der Maus irgendwo auf den Bildschirm. Sie war eigentlich mit dem Abtippen einer meterlangen Zahlenkolonne beschäftigt, aber ihre Gedanken schweiften ständig ab. »Nichts, alles in Ordnung.«
Dana stieß sich von ihrem Schreibtisch ab und rollte mit ihrem Stuhl zu Jenny herüber. »Erzähl mir nichts, irgendwas hast du doch.«
Jenny grinste schief. »Sieht man es mir so deutlich an?«, fragte sie.
»Zumindest ich kann sehen, dass am Wochenende etwas passiert ist.«
Jenny seufzte und sah aus dem Fenster.
»Nun sag schon.«
»Ich habe jemanden kennengelernt.«
»Nein!« Dana zog die langen Beine an und verknotete sie in ihrem Stuhl. »Wie konnte denn so was passieren?«
Jenny warf ihr einen wütenden Blick zu. »Was soll das wieder heißen?«
»Gar nichts, mein Häschen. Ich ziehe dich doch nur auf. Erzähl schon, wie heißt er, was macht er, wo habt ihr euch getroffen?«
Jenny senkte den Kopf. »Im Grunde weiß ich gar nichts über ihn«, sagte sie leise.
Dana riss die Augen auf. »Du hast die App verwendet? Jenny, du hast es wirklich getan?« Ein Lachanfall schüttelte ihre Freundin. »Ausgerechnet du, wo du doch immer sagst …«
»Ja ja, mach dich nur lustig«, gab Jenny zurück. »Mein Bruder hat mir ein neues Handy geschenkt und hat die App darauf installiert, ohne mich zu fragen. Und dann …«
»Dann warst du neugierig und hast sie ausprobiert!« Dana wieherte vor Vergnügen. »Die Sehnsucht nach Liebe hat also sogar dich erwischt. Ob das am Frühling liegt?«
»Ja, wahrscheinlich.« Jenny musste jetzt selbst lachen. »Es war im Volksgarten, und er heißt Jakob.«
»Wunderbar!« Danas graue Augen strahlten. Offenbar war Jennys Liebesgeschichte für sie fast so gut wie eine eigene.
Jenny schüttelte den Kopf. »Gar nichts ist wunderbar.«
»Aber wieso …«
»Als ich gemerkt habe, wie gut wir uns verstehen, bin ich abgehauen.«
»Jenny!« Dana sah sie mit offenem Mund an. »Aber wieso das denn?«
»Wir dürfen die App doch nicht privat benutzen!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Als er fragte, was ich beruflich mache, wusste ich nicht, was ich sagen sollte.«
»Und jetzt bereust du es?« Danas Miene war voller Mitgefühl.
»Ja. Nein. Ich weiß es nicht. Meine Arbeit hier ist …«
»Die Arbeit kann dir doch nicht wichtiger sein als deine Gefühle!«
»Doch, natürlich ist sie das.« In Jenny regte sich Trotz. »Ich stecke mitten in meiner Masterarbeit, ich habe hier am Institut genug zu tun, ich habe doch gar keine Zeit für so etwas.«
»Keine Zeit für die Liebe? Jenny, das ist nicht dein Ernst.«
Jenny schwieg. Die gleichen Fragen waren ihr die ganze Nacht durch den Kopf gegangen und hatten ihr den Schlaf geraubt.
»Du kennst doch seinen Avatar, oder? Dann kannst du ihn ja wiederfinden!«
»Ja, natürlich kann ich das. Es ist nur die Frage, ob ich das wirklich will.« Jenny verzog das Gesicht.
»Wenn ich mir dich so ansehe, glaube ich …«
»Jennifer, kommst du bitte in mein Büro?«
Unbemerkt hatte sich die Tür zu dem Arbeitszimmer geöffnet, das sich Jenny mit Dana und Piet, dem Doktoranden, teilte. Carsten Hennrich stand in der Tür und sah sie mit ausdrucksloser Miene an. Wie viel hatte ihr Chef von dem Gespräch mitbekommen?
Jenny warf Dana einen unsicheren Blick zu und erhob sich.
»Nimm bitte Platz.«
Carsten wirkte ungewohnt ernst. Normalerweise pflegte er seinen Studenten gegenüber einen sehr lockeren Umgangston. Wenn sie unter sich waren, hatte er noch nie den Professor herausgekehrt.
Jenny schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf den Besucherstuhl, auf den er wies. Angespannt blieb sie auf der vorderen Kante sitzen.
»Jennifer, ich hatte nicht vor, euch zu belauschen«, begann er. »Aber ohne es zu wollen, habe ich einen Teil eures Gesprächs mitbekommen.«
Sie schluckte und senkte den Kopf. »Es ist nicht, wie du denkst«, erwiderte sie. Sie registrierte ihre schuldbewusste Körperhaltung und richtete sich auf.
»Ich habe euch doch oft genug erklärt, dass ihr die App nie für euch selbst verwenden dürft. Deine wissenschaftliche Integrität leidet darunter, wenn du dich emotional engagierst.«
»Ja, Carsten, das weiß ich. Es tut mir leid.« Ihre Schultern sackten schon wieder nach vorne. Sie nahm sie zurück und sah ihm fest in die Augen. »Es war dumm von mir, es wird nicht wieder vorkommen.«
»Davon gehe ich aus.« Er sah sie unter zusammengezogenen Brauen an. »Ich habe dich immer für eine sehr ehrgeizige Frau gehalten. Ich war überzeugt, dass dir deine Arbeit hier wichtiger ist als irgendwelche flüchtigen Liebschaften. Ich sage es ungern, aber ich bin sehr enttäuscht von dir. Von Dana hätte ich es eher erwartet, doch nicht von dir.«
»Aber …« Jenny schluckte. Nein, sie würde die Freundin nicht verraten. Natürlich nicht. »Ich habe ein neues Handy, und mein Bruder hat mir die App installiert«, sagte sie stattdessen. »Ich habe sie wirklich nur ein einziges Mal benutzt.«
»Einmal zu viel, und das weißt du genau.« Carsten erhob sich und kam um den Schreibtisch herum. Er setzte sich vor Jenny auf die Schreibtischkante, sah von oben auf sie herab. »Wie heißt dein Avatar?«
»Was?« Jennys Kopf ruckte hoch. »Wieso …«
»Ich will deinen Datensatz aus dem System löschen. Es kann nicht angehen, dass diejenige, die die Daten untersucht, selbst als Testperson erfasst ist.«
Jenny schloss einen Moment lang die Augen. Er hatte natürlich recht. Die Validität der Daten war nicht gegeben, wenn Untersucher und Testobjekt nicht strikt getrennt gehalten wurden. Bei der großen Zahl von Datensätzen, mit der sie arbeiteten, war es faktisch egal, aber vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen musste sie ihm zustimmen.
»Feuerrotes Eichhörnchen«, murmelte sie.
»Wie bitte? Ich habe dich nicht verstanden.«
»Feuerrotes Eichhörnchen«, wiederholte sie etwas lauter und sah ihn unsicher an. Die Avatar-Logik war seine eigene Entwicklung, und sie hatte keine Ahnung, was er aus dieser Kombination von Farbe und Tier ablesen konnte. Aber er verzog keine Miene, sondern nickte nur.
»Versprich mir, dass du es nicht wieder tust.«
Jenny lächelte erleichtert. Die Standpauke schien vorüber zu sein. »Natürlich. Ich verspreche es.«
Er lächelte jetzt auch und wirkte mit einem Schlag um zehn Jahre jünger. Sein grau melierter Dreitagebart bildete einen interessanten Gegensatz zu seinem vollen dunklen Haar, das noch kein Grau aufwies. Er trug es nach hinten gekämmt, sodass die ebenfalls dunklen Augen besonders gut zur Geltung kamen, nur eine einzelne Strähne fiel ihm in die Stirn.
Ja, Dr. Hennrich war ein sehr gut aussehender Mann. Das einzige, was Jenny an ihm störte, war die Tatsache, dass er sich dessen stets bewusst zu sein schien. Keine seiner Gesten war zufällig, jede winzige Änderung in der Körperhaltung überlegt. Er vermochte eine Gesprächsrunde mit wenigen Worten in eine bestimmte Richtung zu lenken, und manchmal hatte sie das Gefühl, er konnte auf Kommando die Wirkung verändern, die er auf andere Menschen hatte.
Er stand auf, und sie zog unwillkürlich den Kopf ein. Carsten Hennrich war das, was man einen Sitzriesen nannte; er überragte Jenny mit ihren 1,58 Metern sogar im Sitzen um Haupteslänge.
Er strich sein Sakko glatt und kam um den Schreibtisch herum. Jenny erhob sich ebenfalls und stellte nicht zum ersten Mal fest, dass er gar nicht so groß war, sobald er neben ihr stand.
Er begleitete sie zur Tür, sie hob den Kopf, um sich zu verabschieden, und da war er wieder, dieser bohrende Blick. Als ob ihr Innerstes auf seinem ganz privaten Seziertisch läge. Sie schloss die Augen im irrationalen Versuch, sich dadurch vor ihm zu verstecken. Als sie sie wieder aufschlug, war der Blick verschwunden, und er lächelte sie herzlich an.
»Du machst großartige Arbeit, Jenny. Das wollte ich dir schon lange sagen.«
»Ähm, danke«, stammelte sie verlegen. Warum zum Kuckuck wurde sie jetzt rot?
»Deine Masterarbeit wird hervorragend. Es ist ein komplexes Thema, und du bereitest es sehr gewissenhaft auf. Ein großer Fortschritt in der Untersuchung von zwischenmenschlichen Beziehungen, fast schon ein wissenschaftlicher Durchbruch. Ich bin sehr stolz auf dich.«
Jenny lächelte nun ebenfalls und entspannte sich. »Ich glaube auch, dass sie gut wird. Mit Hilfe der Daten aus der App kann ich einige Zusammenhänge neu bewerten. Aber es liegt noch viel Arbeit vor mir.«
»Daran zweifle ich nicht.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Hast du schon einmal daran gedacht, an der Universität zu bleiben? Ich habe einen wissenschaftlichen Mitarbeiter für unser Projekt beantragt, und ich würde deine Bewerbung unterstützen.«
Jennys Augen wurden groß. »An der Universität? Du meinst …« Sie stockte.
»Du musst jetzt nichts entscheiden«, beruhigte er sie. »Ich weiß noch gar nicht, ob ich die Stelle überhaupt bewilligt bekomme. Aber falls es klappt, würde ich mich sehr freuen, wenn du in meinem Team bleibst.«
»Mein Vertrag läuft noch bis Ende des Jahres«, gab Jenny zu bedenken. »Und früher wird meine Masterarbeit auch nicht fertig sein.«
»Das ist kein Problem.« Carsten griff nach der Türklinke. »Wenn du eine Vollzeitstelle am Institut annimmst, wird dein derzeitiger Vertrag vorzeitig aufgelöst.« Er öffnete die Tür. »Denk drüber nach.«
Jenny trat über die Schwelle und wandte sich noch einmal um. »Das werde ich tun.«
»Aber lass dir nicht zu viel Zeit«, rief er ihr hinterher.
Carsten schloss die Tür und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Jennys Fehltritt mit ihrem eigenen Avatar war eine willkommene Gelegenheit gewesen, ihr die Stelle in seiner Arbeitsgruppe schmackhaft zu machen. Er wollte sie wirklich gern in seinem Team haben, aber ihm war auch klar, dass sie ihre Zukunft nicht an seiner Seite sah. Es wurde Zeit, das endlich zu ändern.
Er verband sich mit dem Datenbankserver der App und loggte sich als Master-Admin ein. Jetzt hatte er vollen Zugriff auf ihren Datensatz und gab Feuerrotes Eichhörnchen in die Abfragemaske ein.
Er schmunzelte, während er die Buchstaben tippte. Das Tier verkörperte die Handlungsebene, und das Eichhörnchen gehörte wie alle Nagetiere in die Kategorie harmlos. Es beschrieb mäßig extrovertierte Menschen, die gerne planten, zielstrebig und fleißig waren. Die Farbe stand dagegen für die emotionale Seite. Jennys Feuerrot symbolisierte Wärme und Lebhaftigkeit. Seine Formel hatte Jenny ziemlich gut beschrieben.
Eine lange Liste von Zahlen und krausen Zeichen füllte den Bildschirm. Er scrollte durch Jennys Psychogramm nach unten und drückte auf den Button »Auswerten«. Nun wurde es übersichtlicher. Die vereinfachte Darstellung eines Kalenders erschien, zwei Tage waren grün unterlegt, hier gab es Aktivitäten der App. Er hob die Brauen. Jenny hatte gelogen, sie hatte die App offenbar nicht nur einmal benutzt.
Carsten klickte den ersten Tag an, es war der Freitag. Eine neue Seite erschien. Die Kartenansicht wurde eingeblendet, auf der Jennys Standortverlauf als violette Linie eingezeichnet war. Sie begann in der Innenstadt, Carsten zoomte heran, im Benders Marie, einem Traditionsgasthaus in der Andreasstraße. Sie bildete dort ein kleines, unregelmäßiges Zickzack-Muster, ein untrügliches Zeichen dafür, dass Jenny sich da länger aufgehalten hatte. Vom Benders Marie aus verlief sie auf kürzestem Weg zur Heinrich-Heine-Allee, wo sie abbrach. Ein wenig südlich davon tauchte sie wieder auf, riss wieder ab und erschien noch weiter südlich erneut. Jenny war mit der U-Bahn nach Hause gefahren.
Carsten schaltete um auf die Zeitachse. Laut den Daten der App war Jenny etwa eine Stunde im Benders Marie gewesen, und bereits nach fünf Minuten war ein Handshake erfolgt. Carsten runzelte die Stirn. Jenny hatte tatsächlich ein Date gehabt. Er klickte den Handshake an. Schokobrauner Dalmatiner.
Der Abruf der Daten des Mannes dauerte deutlich länger als bei Jenny. Entsprechend war der Datensatz auch wesentlich umfangreicher. Er rief die Auswertung auf. Der Kalender zeigte durchgehend grüne Markierungen, Carsten klickte darauf, seit drei Monaten war er als Dater aktiv. Er wählte den Freitag, und halb Deutschland wurde auf der Karte eingeblendet, um den Standortverlauf von München bis Düsseldorf darzustellen. Er war vom Düsseldorfer Hauptbahnhof in die Innenstadt gefahren, zum Benders Marie, das war keine Überraschung, und danach mit der U-Bahn nach Süden. Carsten zog die Augenbrauen zusammen.
Erneut rief er die Suchmaske auf und stellte hier direkt eine Auswertung der beiden Profile zusammen. Feuerrotes Eichhörnchen, Schokobrauner Dalmatiner, Standortverlauf, letzten Freitag. Jetzt wurden seine Augen groß. Jenny hatte den Dalmatiner mit nach Hause genommen.
Es klopfte an der Tür, und Carsten schloss reflexartig das geöffnete Fenster der Datenbankanwendung. Nigel steckte seinen runden Schädel herein und blinzelte ins Licht.
»Chef, ich habe die Festplatte kontrolliert, du hattest recht. Der Slot im Gehäuse ist im Arsch.«
Carsten brauchte einen Moment, dann hatte er seine Gesichtszüge unter Kontrolle. »Welches ist es?«
»Das neue. Da ist sogar noch Garantie drauf.«
»Sehr gut. Ruf doch bitte die Firma an, sie sollen es austauschen.«
»Hab ich schon gemacht. Die brauchen aber die Originalrechnung.«
Carsten runzelte die Stirn. »Die haben wir nicht, die liegt in der Buchhaltung. Ich weiß nicht …«
Nigel unterbrach ihn. »Ohne Rechnung werden die keinen Finger rühren. Es ist ja keine von den Vertragsfirmen der Uni.«
»Ja, das stimmt wohl. Ich werde mich darum kümmern.« Carsten wartete darauf, dass Nigel wieder ging, doch der blieb stehen.
»Mach das bitte so schnell wie möglich«, sagte er. »Ich habe das kaputte Gehäuse nämlich abgestöpselt, bevor die anderen Platten auch noch crashen. Momentan läuft unser Baby sozusagen auf einem Bein.«
»In Ordnung.«
Nigel ließ demonstrativ die Tür offen, als er ging, und Carsten erhob sich. Zum Glück kannte er die Mitarbeiterinnen der Haushaltsstelle, und mit etwas Glück konnte er die Rechnung gleich mitnehmen. Er verließ sein Büro und schloss mit Nachdruck die Tür hinter sich.
Jenny bestätigte das Löschen mit einem Fingertippen und sah zu, wie der grüne Balken voranschritt, der die App von ihrem Handy und Jakob aus ihrem Leben entfernte. So einfach ging das.
Anschließend startete sie das Handy neu, um auch die letzten Spuren ihres Profils aus dem Cache zu entfernen. Während sie auf das Hochfahren wartete, kam Dana ins Zimmer, gefolgt von Piet, der Jenny grüßend zunickte.
»Wie siehst du denn aus?«, fragte Dana. »Wie zehn Tage Regenwetter! War es so schlimm?«
»Was?« Jenny fuhr zusammen. »Nein, gar nicht. Er hat mir nur einen Vortrag über meine Integrität als Wissenschaftlerin gehalten.« Sie verzog das Gesicht.
Dana hob das Kinn, zog die Brauen zusammen und strich mit der Hand das imaginäre Haar zurück. Dann sah sie Jenny von oben herab an. »Ihr dürft euch bei dieser Arbeit niemals emotional engagieren.« Sie hob dozierend den Finger. »Ihr seid die Beobachter, ihr steht über euren Testobjekten. Ihr müsst das strikt von eurem Privatleben trennen.« Der Finger richtete sich jetzt anklagend auf Jenny. »Validität! Nur darauf kommt es an!«
Kichernd ließ sie sich in ihren Stuhl fallen, und Jenny musste lachen. »Ja, genau so war es.«
Selbst Piet konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Danas Imitation von Carsten war aber auch zu treffend gewesen.
»Ich hoffe, du hast dich unterwürfig entschuldigt und bist wieder in Gnaden aufgenommen.«
»Natürlich, was denkst du denn.« Jenny nickte. »Er hat mir sogar einen Job angeboten, wenn ich mit der Masterarbeit fertig bin.«
»Nein!« Dana riss die Augen auf. »Und? Wirst du ihn annehmen?«
»Ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Was spricht dagegen, an der Uni zu bleiben?«, warf Piet ein. »Es ist ein sicherer Job.«
Jenny hob die Schultern. »Ich habe mich eigentlich nie als Wissenschaftlerin gesehen. Aber die Beziehungsforschung ist ein unglaublich spannendes Gebiet, das könnte ich mir wirklich vorstellen.«
»Also ich würde es an deiner Stelle tun«, sagte Piet.
»Du hast leicht reden«, gab sie zurück. »Du bist ja auch der geborene Professor.«
»Das will ich hoffen!« Piet wandte sich ab und holte einen schweren Aktenordner aus dem Schrank.
Dana warf Jenny einen vielsagenden Blick zu. Piet war nur wenig älter als sie, aber durch seine übertrieben konservative Kleidung und den sorgfältig gestutzten Vollbart wirkte er deutlich älter. Seit einem Jahr hielt er selbst Vorlesungen, und Jenny war sich sicher, dass er mit seinem distanzierten Auftreten nur seine innere Unsicherheit überspielte.
Jenny nahm ihr Handy vom Tisch und stand auf. »Ich muss zu Nigel«, sagte sie. »Er muss mir noch die Master-Version von App2Date installieren, sonst kann ich heute überhaupt nichts mehr machen.«
Nigels Zimmer war leer. Jalousien beschatteten den Raum, und in dem dämmrigen Licht leuchteten nur die drei Monitore über dem Chaos aus Kabeln, Notizzetteln, Kaffeetassen, Computerbauteilen, Feinmechanikerwerkzeug und einer zerlegten Tastatur auf seinem Schreibtisch. Ein bunter Ball bewegte sich wie eine Billardkugel in Zeitlupe über alle drei Bildschirme hinweg, und Jenny beobachtete hypnotisiert, wie er auf seinem Weg die Farbe von rot über orange und gelb zu grün, dann türkis, blau, violett und wieder zu rot änderte. Irritiert schüttelte sie den Kopf, verließ das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.
Es gab nur einen weiteren Ort, an dem sich Nigel aufhielt, wenn er nicht an seinem Rechner war, und das war der Serverraum. Dort fand sie ihn, auf den Knien und mit dem Oberkörper in einem Metallgestell, das wie ein überdimensionales CD-Rack aussah. Seine Hose hatte den Halt auf den rundlichen Hüften verloren und bot Jenny freien Ausblick auf rot-weiß gestreifte Boxershorts, die ebenfalls kurz davor waren, den Weg nach unten anzutreten. Sie räusperte sich vernehmlich, und wie in einer Slapstick-Szene ruckte Nigels Kopf hoch und knallte gegen das Gehäuse.
Er krabbelte heraus, richtete sich auf und blinzelte wie eine Eule durch seine dicke Hornbrille. Er zog seine Hose hoch, dann erkannte er Jenny, und sein rundes Gesicht verzog sich zu einem herzlichen Lächeln. »Jenny!«
»Hallo Nigel!«
»Was verschafft mir die Ehre?« Er fuhr sich durch die verstrubbelten Haare, wischte sich die Hände an der Hose ab und reichte ihr die Hand.
»Ich habe ein neues Handy«, sagte Jenny. »Kannst du mir die App neu aufspielen?«
»Ja, klar. Ich bin hier ohnehin gleich fertig.«
Er ließ sich wieder auf alle viere fallen und kroch in den Schrank.
»Was machst du da eigentlich?«
»Ein Festplattengehäuse vom Raid-System ist kaputt, und wir bekommen morgen ein neues. Ich baue die Festplatten aus, damit es morgen früh gleich weitergehen kann.«
»Das heißt, die App läuft nicht?« Jenny war erschrocken. So etwas war in dem Jahr seit dem Start der App noch nie vorgekommen.
»Aber nein, das ist nur ein kleiner Teil des Systems.« Er schob sich rückwärts aus der Öffnung. In der Hand hielt er eine Festplatte, die er vorsichtig wie ein rohes Ei auf einen Tisch zu den anderen legte. »Die Server laufen wie ein Uhrwerk.« Er deutete mit der Hand auf die Rückwand des Raums, an der sich eine Schrankwand mit Glastüren bis zur Decke zog. Hinter dem Glas waren graue Computergehäuse zu sehen, unzählige Kabel, Anschlussleisten und weitere Bauteile, die für Jenny ein undefinierbares technisches Gewirr ergaben. Nigel schien jedoch jedes einzelne mit Vornamen zu kennen und ging jetzt hinüber, um den ersten Schrank zu tätscheln.
»Das hier ist unser Baby. Alles andere, was du hier siehst«, er umfasste mit seinem Arm den restlichen Raum, »ist nur die Sicherung. Falls etwas ausfällt, dürfen keine Daten verloren gehen. Es muss alles weiterlaufen.«
Grüne Lichter blinkten in einem nicht erkennbaren Rhythmus, und Jenny seufzte erleichtert.
»Dann ist es ja gut.«
Nigel setzte sich an den Computerarbeitsplatz, der rechts an der Wand stand. »Moment noch.«
Zahlenkolonnen liefen über den Bildschirm und Nigel musterte sie angespannt. Dann schloss er die Applikation und schaltete den Monitor aus. »Sieht aus, als wäre alles in Ordnung. Bis morgen früh muss das System jetzt mit einem einfachen Satz von Platten auskommen.«
Er erhob sich und wandte sich zur Tür. Jenny trat einen Schritt zur Seite, aber er ging trotzdem so dicht an ihr vorbei, dass sich ihre Schultern berührten. Er stieß die Tür auf und ließ Jenny vorangehen.
In seinem Zimmer gab sie ihm ihr goldenes Telefon, und er pfiff anerkennend durch die Zähne. »Wow, das ist schon das neue Modell«, stellte er fest. »Wo hast du das her?«
»Mein Bruder hat es mir geschenkt.«
»So einen Bruder hätte ich auch gerne«, erwiderte er und zwinkerte ihr zu.
Jenny grinste. »Er arbeitet in der Marktforschung. Sie bekommen immer die neuesten Modelle, noch bevor sie in den Verkauf kommen.«
Nigel verband das Handy mit dem Computer, und ein leises »Pling« ertönte. Er klickte sich durch mehrere Verzeichnisse, bis er eines fand, das »Jenny« hieß, und kopierte von da die Installationsdatei in den Gerätespeicher des Handys.
»Es ist schon die neue Version, ich habe am Wochenende das Update verteilt.«
»Du warst am Wochenende hier?«
»Ja, klar. Da habe ich wenigstens meine Ruhe.«
Jenny lachte. »Als ob du hier in deiner Höhle so viel Publikumsverkehr hättest.«
»Ja das stimmt wohl. Aber es kommt immer jemand vorbei und will etwas von mir.«
»So wie ich?« Jenny zog die Brauen hoch.
»Dich meinte ich nicht, du bist natürlich jederzeit willkommen.« Er lächelte sie an, und Jenny grinste zurück. Sie mochte Nigel, und seine ungeschickten Flirtversuche waren inzwischen zu einem Spiel zwischen ihnen geworden.
»So, fertig«, sagte er und befreite das Handy vom Kabel. »Starte es mal neu.«
Jenny gehorchte und rief anschließend die App auf. Sie sah genauso aus wie die, die sie vorhin gelöscht hatte, doch als ihr Avatar geladen werden sollte, erschien nur ein weißer Kreis.
»Deine Profile kannst du einfach aufspielen, so wie immer. Das Update ist rückwärtskompatibel. Es werden jetzt ein paar Daten mehr erfasst, und die Kartenansicht sollte schneller laden.«
»Danke, Nigel.«
»Es war mir ein Vergnügen.« Er stand auf und vollführte eine formvollendete Verbeugung. Er sah aus wie ein kleiner Bär in einem karierten Hemd, der einen Zirkustrick zeigte.
Jenny lachte. Sie ließ zu, dass er sie kurz umarmte, erwiderte seinen kratzigen Wangenkuss und lächelte immer noch, während sie die Tür hinter sich schloss.
Als sie sich umwandte, stand Carsten hinter ihr. Erschrocken fuhr sie zusammen.
»Na, hast du mal wieder Nigel besucht?« Seine dunklen Augen schienen sich in ihre zu bohren, doch dann lächelte er unvermittelt, und Jenny lächelte zurück.
»Er hat die Master-App auf meinem neuen Handy installiert«, erklärte sie. »Ich wollte heute Abend noch einen Testlauf machen.«
»Das ist gut. Mit welchem Profil?«
Er ging hinter ihr her und folgte ihr in ihr Arbeitszimmer. Es war leer, Dana und Piet waren nicht da, und Jenny ging zu ihrem Schreibtisch.
»Ich wollte Rosalie nehmen. Ich habe letzte Woche ein paar Anpassungen vorgenommen und wollte testen, wie sie funktionieren.«
»Die perfekte Frau. Du hast die Idee noch immer nicht aufgegeben?«
»Nein. Ich bin inzwischen bei knapp fünfzig Prozent Grünen, und ich glaube, ich kann sie noch weiter verbessern.«
»Hundert Prozent kannst du nicht erreichen, das ist unmöglich.«
»Das weiß ich doch. Darum geht es mir auch gar nicht.«
»Was versprichst du dir dann davon?«
»Wissenschaftliche Erkenntnisse natürlich.« Jenny grinste ihn an. »Stell dir vor, wenn wir ein Profil zur Verfügung hätten, das für – sagen wir – siebzig Prozent aller Männer die perfekte Partnerin ist. Dann besäßen wir so etwas wie einen Katalog von allgemeingültigen Eigenschaften, die zwischen zwei Menschen quasi immer funktionieren. Ich finde, das wäre ein großer Fortschritt in der Beziehungsforschung.«
»Ja, da hast du recht.« Carsten sah sie sinnend an. »Möchtest du deine Master-Thesis entsprechend ändern?«
Jenny sah ihn überrascht an. »Aber nein, daran habe ich gar nicht gedacht.«
»Gut. Das wäre nämlich eine umfangreiche Erweiterung deines Themas und eher etwas für deine Promotion.«
Jenny zögerte kurz. Promotion?
Dann sagte sie: »Die Datenerhebung für meine Masterarbeit ist schon fast abgeschlossen und letzte Woche habe ich mit der Auswertung begonnen. Ich werde daran jetzt bestimmt nichts mehr ändern.«
Jakob sah zum gefühlt dreißigsten Mal auf die Uhr. Der große Zeiger schien an der Neun zu kleben, es war Viertel vor vier. Fünfzehn Minuten noch. Er brachte die Kaffeetasse und die leere Wasserflasche in die kleine Spülküche, stellte die Tasse in die Spülmaschine und die Flasche in den Kasten. Den offenstehenden Schrank schloss er, räumte einen Löffel und zwei weitere Tassen in den Geschirrspüler, die auf der Arbeitsfläche neben der Spüle standen, und sah sich in dem kleinen fensterlosen Raum um. Nichts mehr zu tun. Er schaltete die Neonbeleuchtung aus und schloss die Tür.
»Jakob, gut, dass du noch da bist!«, ertönte eine Stimme vom anderen Ende des Flurs. Er wandte sich um. Betty hatte ihren massigen Körper hinter ihrem Schreibtisch vorgewuchtet und stand in der Tür zum Sekretariat. »Kannst du mir mal helfen?«
Er seufzte resigniert. Seit das Geografische Institut komplett auf Linux umgestiegen war, hatte sich sein Aufgabenbereich schlagartig geändert. Vom einfachen Sachbearbeiter, der den Tag mit der Eingabe und Auswertung von Geodaten verbrachte, war er zum Mädchen für alles geworden, was die Computer der Mitarbeiter betraf. Nicht dass man seinen Arbeitsvertrag deshalb angepasst hätte oder er gar besser bezahlt worden wäre, nein. Man nutzte einfach sein Wissen über das neue Betriebssystem aus.
Professor Baumgarten, der Institutsvorstand, nahm es hin, dass die Datenerfassung nun komplett an den beiden studentischen Hilfskräften hängen blieb. Genau genommen machten die beiden jetzt den Job, mit dem Jakob hier vor neun Jahren begonnen hatte, und der dafür verantwortlich war, dass er sein Geografiestudium nie beendet hatte.
Im Grunde genommen war er froh über die neuen Aufgaben. Er saß nicht mehr den ganzen Tag vor dem Bildschirm, sondern war oft im Institut unterwegs, installierte dort ein neues Programmpaket, spielte da ein Update ein oder kümmerte sich um den großen Farbkopierer am Ende des Flurs. Darüber hinaus erstellte er Präsentationen für den Professor, weil Betty mit dem Programm nicht klarkam, half den beiden Universitätsassistenten bei der Bedienung ihrer Software und entschied sogar selbstständig über die Anschaffung neuer Hardware. So hatte er die beiden Arbeitsplätze für die Datenerfassung mit hochformatigen Bildschirmen ausgestattet, was zum Eingeben und Abgleichen von Zahlenkolonnen deutlich praktischer war und ihm den Dank der beiden Studenten auf ewig sicherte.
Betty war wieder in ihrem Zimmer verschwunden, und er folgte ihr. Die Tür zum Büro von Professor Baumgarten stand offen, aber sein Schreibtisch war leer.
»Ich muss diesen Brief hier abtippen«, begann Betty und deutete auf den Bildschirm. »Aber jedes Mal, wenn ich speichern will, kommt eine Fehlermeldung.«
Jakob runzelte die Stirn. Auf dem Bildschirm war das Office-Programm zu sehen, und dessen Benutzung sollte für die routinierte Institutssekretärin eigentlich kein Problem darstellen. Die Briefvorlage sah auch genau so aus wie die, die er irgendwann für sie erstellt hatte. Daran schien es nicht zu liegen. Zur Sicherheit drückte er Strg-S auf der Tastatur, und prompt poppte die Fehlermeldung auf.
»Schau mal, hier steht es doch«, sagte er und wies auf den Bildschirm. »Der Pfad zum Speichern kann nicht gefunden werden.«
Er rief die Kommandozeile auf und tippte rasch einige Befehle ein.
»Wieso speicherst du das denn auf die externe Platte?«
»Tu ich das?« Betty stand mit wogendem Busen hinter ihm und sah ihm über die Schulter.
»Ja, schau, hier ist die zweite Festplatte eingestellt. Und die ist offenbar nicht angeschlossen.«
»Natürlich nicht, die hat ER mitgenommen.« Sie sprach das ›Er‹ aus, als ob es in Großbuchstaben geschrieben wäre, und Jakob unterdrückte ein Schmunzeln. Bettys Verehrung für den Professor war ein offenes Geheimnis.
»Warum speicherst du überhaupt extern und nicht auf die Datenplatte im Netzwerk?«, fragte er und korrigierte den Standardpfad mit ein paar Mausklicks.
»Ich war das nicht«, protestierte Betty und machte Kulleraugen. »Ich habe nichts verstellt, ich schwöre es.«
»Nein, natürlich nicht.« Jakobs Mundwinkel zuckte. »Ich habe es auf dein normales Verzeichnis zurückgestellt. Jetzt müsste es wieder gehen.«
Er kehrte zu dem Fenster mit dem Brief zurück und drückte erneut Strg-S. Ein leiser Ton belohnte jetzt seinen Versuch. »Es hat geklappt.«
»Danke, Jakob. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich täte.«
Jakob grinste schief und tätschelte ihr die runde Schulter. »Keine Ursache. Das ist schließlich mein Job.«
Er verließ Bettys Büro, und der Minutenzeiger der großen Uhr über der Tür sprang just in dem Augenblick auf die volle Stunde, als er die Schwelle überschritt. Die Kernzeit war zu Ende!
Er beschleunigte seine Schritte und kehrte in sein Büro zurück. Büro war vielleicht etwas übertrieben, es handelte sich um kaum mehr als eine schmale Nische im Gang, die immerhin an ihrem Ende ein Fenster besaß. Zum Flur hin war die Nische offen, deshalb hatte er kurzerhand ein hohes Regal davor gestellt, um das er sich nun herumwinden musste, um an seinem Schreibtisch zu gelangen.
Er fuhr den Rechner herunter, zog die Jacke an und griff nach seinem Rucksack mit der Kamera. Nach einem letzten Kontrollblick auf den Schreibtisch fädelte er sich und den Rucksack aus der Nische und verließ das Institut, ohne nochmals aufgehalten zu werden.
Als Jakob den Schlüsselbund aus der Tasche zog, um sein Fahrrad aufzuschließen, fiel ihm Jennys Mütze entgegen. Einen Moment lang stand er da und starrte sie an, dann schloss er die Augen und vergrub seine Nase in der grünen Wolle. Sie roch noch immer nach Jenny, nach ihrem Haar, und wieder sah er ihre lachenden Augen vor sich.
Er schob die Mütze zurück in die Jackentasche und holte das Handy heraus. Die App startete quälend langsam, das Logo drehte sich träge, und zögernd baute sich die Kartenansicht auf. Er runzelte die Stirn, der Empfang hier zwischen den Gebäuden war bescheiden, und offenbar befand er sich gerade außerhalb der WLAN-Reichweite seines Instituts. Mit dem Handy in der Hand schwang er sich aufs Fahrrad und fuhr los.
Zu der Stelle, wo er gestern den grünen Punkt hatte verschwinden sehen, war es nicht weit, kaum mehr als einen Kilometer Luftlinie, aber die krummen Pfade im botanischen Garten und der Umweg, zu dem ihn der Unisee zwang, verlängerten die Strecke, bis er über die Autobahnüberführung hinweg den Südpark erreichte. Er hielt an und konsultierte das Handy. Im näheren Umkreis waren einige Punkte zu sehen, aber keiner von ihnen war grün. Gemächlich radelte er um den Deichsee herum, die Augen immer wieder auf das Display gerichtet, bis er ums Haar einen Hund überfahren hätte. So ging das nicht.
Er steckte das Telefon in die Brusttasche seiner Jacke und legte die Strecke bis zum Bootshaus zügig zurück. Dort stellte er das Rad ab und hielt erneut nach grünen Punkten Ausschau. Am östlichen Bildrand war einer aufgetaucht, Silberweißer Wüstenfuchs hieß die Dame, und er drückte sie weg.
Es war kurz vor halb fünf. Wie lange mochte Jenny arbeiten? Die einfachen Angestellten hatten normale Bürozeiten, während die Lehrkräfte und das wissenschaftliche Personal oft bis spät am Abend blieben. Da er nicht wusste, was sie machte, konnte er nur raten. Was wusste er überhaupt von ihr?
Erschreckend wenig, gestand er sich ein. Sie arbeitete an der Uni und ging gern im Volksgarten spazieren. Von der vagen Hoffnung geleitet, dass sie nach Arbeitsschluss hier auftauchte, hatte er sich beeilt, vor ihr hier zu sein. Nur für den Fall, dass sie bei dem schönen Wetter durch den Park nach Hause ging. Schön war das Wetter zwar, aber vielleicht war es einfach noch zu früh.
Er schob sein Fahrrad weiter, umrundete langsam den Volksgartensee, behielt ständig das Handy im Auge, um das eventuelle Auftauchen eines grünen Punktes keinesfalls zu verpassen. Nichts.
Um Viertel nach Fünf gestand er sich ein, dass sein Plan nicht funktioniert hatte. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Inzwischen war es fast dunkel, und die Chance, dass Jenny noch im Park auftauchte, war gleich null. Trotzdem fiel es ihm schwer, die Idee aufzugeben. Langsam schob er das Fahrrad zum Ausgang. Die Straßenbeleuchtung hatte sich inzwischen eingeschaltet, und die Lichter der vorbeifahrenden Autos blendeten ihn. Resigniert bestieg er sein Fahrrad und fuhr nach Hause. Ein scharfer Wind wehte und brachte seine Augen zum Tränen.
Jennys Gesicht war eine Maske freundlichen Interesses. Sie ignorierte das Quietschen des Messers, mit dem der Mann seine Spaghetti schnitt, und versuchte, sein Schmatzen zu überhören. Der Appetit war ihr allerdings vergangen, sie pickte nur an einzelnen Blättchen in ihrem Salat herum.
»Die Idioten haben ernsthaft geglaubt, sie können das mit mir machen«, sagte er mit vollem Mund. Seine Stimme klang, als wäre er im Stimmbruch stecken geblieben. Eine Nudel hing an seinem markanten Kinn, er wischte sie ab, und Jenny beobachtete fasziniert die kleine weiße Made, die jetzt auf seinem Handrücken klebte.
»Was hast du dann gemacht?«, fragte sie.
»Das kannst du dir wohl denken«, erwiderte er und zwinkerte ihr vertraulich zu.
»Allerdings«, behauptete Jenny. Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Irgendeine verworrene Geschichte von seiner Arbeitsstelle, wo er als Security-Beauftragter einen verantwortungsvollen Job ausübte. Wenn man ihm Glauben schenken durfte, schien in dem Veranstaltungslokal ohne ihn nicht viel zu laufen.
»Und? Was machst du so, Rosalie?«, wollte er jetzt wissen.
Auf diese Frage war sie vorbereitet. »Ich arbeite in einer Apotheke«, antwortete sie prompt.
Ihr Gegenüber hob die Brauen. »Bist du Apothekerin oder so was?«
Jenny lachte bitter auf. »Nein, schön wär’s.« Sie seufzte theatralisch »Ich bin nur eine bessere Verkäuferin. Die Apothekerin ist meine Chefin.«
»Ach so.« Der Mann – Ralf – schaufelte einen weiteren Löffel voll zerschnittener Spaghetti in den Mund. Eine Nudel war seinem Messer entkommen, und geräuschvoll sog er sie zwischen den Lippen ein. Jenny sah angewidert zur Seite und versuchte, ihre Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten.
Offensichtlich hatte sie Rosalies Profil doch etwas zu kompatibel gestaltet, sonst wäre ihr jemand wie Ralf nicht als passender Partner vorgeschlagen worden. Andererseits suchte sie doch gerade nach dem Profil mit der maximalen Kompatibilität, also durfte sie sich nicht beklagen. Rosaroter Weberknecht hatte sympathisch geklungen, deshalb hatte sie diesen Avatar unter all den vorgeschlagenen grünen Punkten ausgewählt. Er hatte sofort dem Treffen in der Pizzeria zugestimmt. Hätte sie allerdings etwas von seinen Tischmanieren geahnt, hätte sie sich vielleicht nicht ausgerechnet zum Essen mit ihm verabredet.
Zum Glück war sie mit ihrem Fragenkatalog fast durch. Sie musste nur noch die letzten Fragen zur Statistik abarbeiten, danach würde sie das Date möglichst schnell beenden.
»Wie alt bist du?«
Er hob den Kopf und grinste sie an. »Rate mal«.
Sie hatte keine Lust zu raten. »Dreißig?«
»Achtundzwanzig. Die meisten schätzen mich älter.« Er warf sich in die Brust, als ob das eine besondere Leistung wäre. »Und du?«
»Ich bin fünfundzwanzig.«
Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Das ist gut. Ich will keine Frau, die älter ist als ich.«
Jenny tat, als hätte sie seinen letzten Satz nicht gehört. »Bist du aus Düsseldorf?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich komm’ aus einem Dorf in der Eifel«, antwortete er. »Es heißt Hallschlag, kennst du es?«
»Nein«, entgegnete Jenny wahrheitsgemäß und lächelte ihn aufmunternd an. »Erzähl mir davon!«
»Da gibt’s nicht viel zu erzählen«, sagte Ralf. »Es ist halt ein Dorf, irgendwo im Nirgendwo.«
Jenny musste grinsen. Der Mann hatte Humor und eine gewisse Art von Selbstironie, die ihr tatsächlich gefiel. Vielleicht war er doch nicht so schlimm.
»Wie lange lebst du schon hier?«
»Seit acht Jahren«, erwiderte er und zog die breiten Schultern hoch. »Zu Hause wollten sie mich nicht, deshalb bin ich abgehauen.«
Jenny sah ihn verwundert an. »Was heißt, sie wollten dich nicht?« Ganz ohne Small Talk ging es nicht.
»Na da, wo ich meine Lehre gemacht habe.« Er runzelte die Stirn. »Wir waren zu dritt, zwei Türken und ich. Die zwei Türken habens’ übernommen und mich nicht. Sind alles Scheißer.«
Jenny versuchte, mitleidig dreinzuschauen, aber sie war sich nicht sicher, ob es ihr gelang.
»Aber ich scheiß auf die. Können mich alle am Arsch lecken.« Jennys Miene erstarrte. Die plötzliche Feindseligkeit in seinem Tonfall erschreckte sie mehr als seine Ausdrucksweise. Bisher war er ihr harmlos erschienen, nicht besonders intelligent, aber freundlich. Doch nun hatte sich seine Miene verfinstert, und in seinen wasserblauen Augen funkelte der Hass.
»Dass sie dich nicht genommen haben, hat doch nichts damit zu tun, dass die anderen Lehrlinge Türken waren, oder?«, fragte sie vorsichtig.
»Sag mal, wo lebst du eigentlich? In dieser Scheiß-Politik werden doch die Ausländer inzwischen bevorzugt.« Er verzog das Gesicht, und seine Stimme klang verbittert. »Als anständiger Deutscher hast’ heute kaum noch eine Chance.«
»Aber das stimmt doch nicht«, widersprach Jenny. »Wenn jemand gut ist, soll er auch eine Chance bekommen, egal welche Nationalität er hat.«
»Willst du vielleicht behaupten, ich war nicht gut genug?« Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn, und er sah sie drohend an.
»Nein, nein, das habe ich nicht gesagt«, beeilte sich Jenny zu erklären.
»Das will ich hoffen.« Seine Miene entspannte sich, und er fuhr mit der Hand durch das kurze Haar. »Weil du bist ’ne ganz süße Maus.« Er grinste sie breit an. »Ich hoff’ nur, dass du nicht zu denen gehörst, die bei jedem Ausländer, der nach Deutschland kommt, Beifall klatschen.«
Jenny senkte kurz die Lider, dann sah sie wieder hoch. »Ich habe nichts gegen Ausländer.«
»Ich auch nicht«, erwiderte er mit seiner zu hohen Stimme. »Solange sie wissen, wo ihr Platz ist.«
Jennys Magen verknotete sich bei diesen Worten. Sie ließ sich jedoch nichts anmerken, sondern machte der Bedienung ein Zeichen. Sie hatte endgültig genug.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte sie und hielt jegliches Gefühl aus ihrer Stimme heraus.
»Was, jetzt schon?« Ralf zog die Brauen zusammen, sodass sie zwei dicke Wülste über seinen Augen bildeten. »Ich dachte, wir zwei gehen noch was trinken. Ich kenn da eine Bar …«
»Nein, heute nicht«, unterbrach ihn Jenny. »Ich habe noch etwas vor.«
»Was denn?« Er ließ nicht locker, und Jenny runzelte die Stirn.
»Wenn du es genau wissen willst, ich treffe mich mit meinem Bruder.« Das stimmte zwar nicht, sie würde Marc erst morgen wieder sehen, aber das brauchte der Rosarote Weberknecht nicht zu wissen.
»Wir müssen aber noch den Handshake machen!« Er sprach das englische Wort aus, wie es geschrieben wurde, Hand-Schacke, und Jenny unterdrückte ein Schmunzeln.
»Ja klar.« Sie hielt ihm ihr Handy hin. Er kam ihr mit seinem entgegen, und das Muster löste sich flirrend auf.
»Und noch ein Foto«, forderte er.
Jenny schluckte. Das ging entschieden zu weit.
»Bitte!« Er sah sie treuherzig an. »Du bist mein allererstes grünes Date.«
»Na gut.«
Er kam um den Tisch herum und ging neben ihr in die Hocke. Selbst so war er fast so groß wie sie auf ihrem Stuhl. Er legte den Arm um ihre Schulter, fummelte mit der freien Hand an seinem Handy herum und hielt er es vor ihre Gesichter. Eine LED leuchtete auf, es blitzte und Jenny zwinkerte.
»Rosalie.« Seine Stimme klang zärtlich. Er lächelte sie von unten herauf an und machte keine Anstalten, sich wieder zu erheben. Im Gegenteil, er reckte den Hals, um sie zu küssen.
Jenny wich ihm aus und rutschte auf ihrem Stuhl ein Stück zur Seite. Zum Glück kam der Kellner und befreite sie aus der Situation. Ralf stand auf und übernahm großzügig die Rechnung.
Jenny bedankte sich, und er zwinkerte ihr anzüglich zu. »Dafür schuldest du mir aber was«, sagte er. »Das Mindeste ist ein weiteres Date.«
»Abgemacht«, gab Jenny zurück. »Du weißt ja, wie du mich erreichen kannst.«
Die Lüge kam ihr routiniert über die Lippen. Das Profil der Veilchenblauen Haselmaus würde noch heute Abend ins Datennirwana verschwinden, und er würde sie nie wiedersehen.