Читать книгу Iskandrien - Die Welt im Nebel - Carl C. Pörksen - Страница 5

Aufräumungsarbeiten

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Doch halt, oh ihr Götter,

wo Leben ersprießt,

da brauchts auch den Tod,

der das Leben beschließt.

So schufen die Götter

Zum Leben den Tod.

Die Sterbenden sah’n ihn

In Schwarz und in Rot.

Stets dann wenn ein Leben

Kam an sein End,

dann reichte der Schnitter

dem Wesen die Händ.

Des Schnitters Sense“ von Galfir Galbrandsson

Der Pfeil beschrieb einen flachen Bogen und durchschlug die vor einem Fenster aufgespannte Schweinsblase.

Mit langsamen schlurfenden Schritten näherte Siegoin sich den niedrigen Hütten und Zelten. Sein Blick hing wie gebannt an dem Monolithen, der aufgrund seiner Größe und seiner Präsenz die gesamte Lichtung beherrschte. Hatten zum Zeitpunkt von Siegoins Initiation noch Pflanzen in einigen Schritt Abstand zum Monolithen gestanden, so war jetzt ein Bereich von mehr als dreißig Schritten in jede Richtung völlig frei von jeder Pflanze und jedem Tier. Nicht einmal in der Erde lebten noch Würmer, Käfer oder andere unterirdische Bewohner. Der Monolith beherrschte den gesamten Bereich. In der Nähe hatten die Nekromanten einen festen Verschlag gebaut, hier hatten sie die Neulinge eingesperrt, bis der Monolith die Herrschaft über sie übernommen hatte. Einige waren dabei gestorben, die finstere Macht des Monolithen war zu viel für ihre schwachen Gemüter gewesen. Doch die meisten hatten sich der Macht hingegeben und waren jetzt willfährige Diener. Es gab inzwischen mehr als sechzig von ihnen, wobei viele noch keine Gelegenheit gehabt hatten, ihre Kräfte an einem höheren Wesen als einem Tier einzusetzen. Als die Brücke zerstört wurde, hatten etwa zwanzig von ihnen sich bereits der Nekromantie verschrieben und die anderen Bewohner der Insel entweder zu Untoten gemacht oder dem Monolithen zugeführt.

So schlecht vorbereitet würden sie keine große Hilfe sein, wenn es gegen kampfbereite Krieger oder willensstarke Opfer gehen würde. Siegoin hatte daher für sich gedacht, dass er einige von ihnen mit dem Drachen nach Iskandrien bringen wollte. Er würde sie dann absetzen und mit ihnen einsame Gehöfte oder kleine Lager überfallen. Allerdings konnte der Drache sicher nicht mehr als vier Leute tragen, eingebettet in seinen Rippen, nicht, wenn man auch noch Gebundene mit zurück nehmen wollte. Dabei mussten Siegoin und Rrordrak zwingend dabei sein, da nur durch ihre Kräfte der Drache überhaupt zu leiten war. So blieben nur zwei Plätze für Novizen. Zudem musste er darauf achten, an keiner Stelle zweimal seine Kräfte einzusetzen, da sich sonst schnell herumsprechen könnte, dass auf Iskandrien gezielt Nekromantie angewandt wurde. Und die Insel war klein, sie ließ den Kämpfern der Völker, die Arkadien befreit hatten die Möglichkeit in wenigen Tagen jeden Punkt der Insel zu erreichen und dort auf Siegoin zu warten.

Nur hierher konnten sie nicht kommen. Diese Insel war so sicher wie es nur möglich war. Auch wenn davon auszugehen war, dass man inzwischen wusste oder vermutete, wo das Lager der Nekromanten war, so hätte man doch keine Möglichkeit, die Insel zu erreichen.

Eigentlich Schade. Siegoin stellte sich vor, wie die Angreifer sich an einem langen Seil über die Kluft zur Insel hangelten. Sobald sie dann einen Fuß auf den Boden Monolithiens setzten, würde ein Nekromant sie empfangen und sie zu Kämpfern für den Sieg des Monolithen machen. Oder man würde sie auf die Lichtung locken und dem Monolithen damit neue Anhänger zuführen.

Dass sie sich durch die Erde wühlten war eher unwahrscheinlich. Und selbst wenn, sie würden dafür viele Tage brauchen und am Ende auch nur wie die Tropfen von einem undichten Strohdach auf der Insel landen. Auch dann konnte man sie mühelos für die Sache des Monolithen rekrutieren.

Aber das lag alles in der Zukunft, denn zunächst musste Siegoin wieder zu Kräften kommen. Die Nähe zum Monolithen ließ ihn schnell regenerieren, aber sicherlich würde er noch einige Tage brauchen, bis er wieder in voller Stärke seine Macht einsetzen konnte.

Er würde dann einen Ausflug zu den Barbaren machen. Er wusste, wie schwer es war, einen Zwerg zu einem untoten Diener zu machen und wie ungleich leichter es bei einem Menschen war. Ein Barbar musste da doch schon fast ein Kinderspiel sein, mit seinem einfachen Wesen. Aber ein Elf, ja wie wäre es wohl die Seele eines Elfen an sich zu binden. Siegoin musste zugeben, dass er etwas Angst davor hatte, die Seele eines Elfen zu übernehmen. Dabei war das alt überliefertes Denken, dass ihn schreckte. Das sollte er doch eigentlich hinter sich gelassen haben.

In seiner früheren Vorstellung waren Elfen so reine Wesen, mit ihrer besonderen Schönheit und Unnahbarkeit. Mit der Schönheit hatten die Götter es gut mit ihnen gemeint. Doch die Unnahbarkeit entstand aus ihrem unerträglichen Hochmut. Und dass auch der endlich war, hatte Siegoin bei den Elfen festgestellt, die sich Rrordraks Banden angeschlossen hatten. Auch in diesem ach so besonderen Volk gab es genug schwarze Schafe, die ihre Haine verließen, die mordeten und raubten, einfach weil sie es wollten.

Pirrdor hatte die größte dieser Banden begleitet und Siegoin und er hatten sich einmal auf Iskandrien getroffen. Dabei hatte Pirrdor berichtet, dass auch die Elfen der Bande genauso blutrünstig und derbe waren, wie alle anderen. Im Lager machten sie einen Eindruck von Hochmut und Unantastbarkeit, aber im Kampf verloren sie ihre Zurückhaltung und waren genau so brutal und schlecht wie die Zwerge und Barbaren neben ihnen. So viel also zu den reinen Seelen. Da war dem Nekromanten doch die unverfälschte Wildheit der Barbaren lieber. Niemand der sich mit einem Barbaren einließ erwartete Tiefschichtigkeit und schwer zu verstehendes Verhalten. Der Barbar nahm sich was er wollte und legte sich mit jedem an, der ihm dabei im Weg war. Manchmal auch mit einem, der in der Nähe stand. Es musste auch nicht die nächste Nähe sein. Es war auch egal, ob Mensch, Tier oder Ding. Hauptsache anlegen.

Siegoin verspürte fast so etwas wie Belustigung bei diesen Gedanken.

Langsam blickte er sich um. Es waren kaum Nekromanten in der Nähe des Monolithen, doch vereinzelt standen Untote herum. Auch das war ein Umstand, an den man sich erst gewöhnen musste. Wenn die Nekromanten den mit ihnen verbundenen Seelen keinen neuen Auftrag gegeben hatten, dann blieben sie dort stehen, wo der vorhergehende Gedankenbefehl endete. Daher standen sie teilweise willkürlich in der Gegend herum, ohne jeglichen Sinn oder Nutzen.

Siegoin dachte an einen anderen Nekromanten, der sich immer einen Spaß daraus machte, seine Untoten wie Tiere in einem Pferch zu halten. Jeder Gedankenbefehl, den er seinen Untoten gab, endete damit, dass der Untote wieder in den Pferch ging und dort stehen blieb. Siegoin gefiel die Ordnung und Einfachheit, die sich daraus ergab.

Er selber musste sich um solche Dinge keine Gedanken machen. Seine Kraft war inzwischen so groß, dass er mit einem Gedankenbefehl alle seine Helfer erreichen und sie zu sich befehlen konnte. Wozu brauchte man dann noch einen Pferch. Ärgerlich war nur, dass manchmal einer seiner Diener, den er vielleicht mit einem Auftrag an das hinterste Ende der Insel geschickt hatte, lange brauchte, um wieder in Siegoins Nähe zu kommen. Sehr störend.

Mit schweren Schritten ging Siegoin auf das Zelt zu, das dem Monolithen am nächsten stand. Hier würde er jetzt einige Stunden ruhen, würde seine Kräfte durch die Nähe zum Monolithen wieder auffüllen, aufbauen lassen.

Vielleicht wäre er dann schon heute Nacht wieder so weit bei Kräften, dass er mit zwei neuen Nekromanten in das Land der Barbaren fliegen konnte.Immer wieder blickte Tally mit einem leichten Lächeln auf Nat, in seiner Froschhaut.

„Warum grinst du, das Ding ist wirklich fantastisch.“

„Ja, gewiss. Auf jeden Fall, wenn du dich im Sumpf verstecken willst. Da findet dich niemand.“

„Haha, unheimlich komisch. Ich kann doch nichts dafür, dass die Zwerge ihre tollen Rüstungen nicht aus Gold und Silber fertigen können. Die machen sie auch, aber da kannst du mit dem Holzschwert durch stechen. Dies aber … .“

Nat verstummte, als etwas gegen seine Brust schlug. Er blickte an sich herunter. Zu seinen Füßen lag ein Pfeil. Es dauerte noch einen kurzen Moment, dann hatte er begriffen, dass er soeben angegriffen worden war. Mit einem Aufschrei stieß er Tally zur Seite, so dass sie gegen die getünchte Wand eines Hauses taumelte. Der Pfeil, der sie ansonsten in den Oberkörper getroffen hätte, zischte vorbei und blieb zitternd im Holz einer Karre stecken.

Nat zog sein neues Schwert und stürmte vor. Dabei machte er immer wieder kurze Sprünge nach links und rechts, um dem auf ihn lauernden Schützen ein möglichst schlechtes Ziel zu bieten. Ein weiterer Pfeil surrte haarscharf an seinem Ohr vorbei. Nat sah sich drei Männern gegenüber, zwei mit Pfeil und Bogen bewaffnet, einer mit Schwert und Schild. Wer diese Männer waren und warum sie ihn angriffen, wusste Nat nicht, aber das war schließlich auch egal. Es galt, diese Gefahr für Tally und sich abzuwehren.

Hinter sich hörte er einen wütenden Aufschrei, doch er nahm sich nicht die Zeit, sich umzusehen. Noch drei lange Sätze, dann stand er vor den Angreifern. Einer der Bogenschützen hatte sich einige Schritte zurückgezogen und zog soeben einen neuen Pfeil aus dem Köcher an seiner Hüfte. Der andere hatte Pfeil und Bogen fallen lassen und griff nach dem kurzen Schwert, dass an seiner Hüfte hing.

Nat teilte zwei kurze und wuchtige Schläge nach links und rechts aus. Dem Bogenschützen wurde das Schwert aus der Hand geprellt und die Spitze von Nats Schwert schlitzte ihm den Oberschenkel auf. Mit einem Aufschrei fiel er auf die Knie. Der andere Angreifer hatte sein mit Eisen verstärktes Holzschild hochgerissen. Nats Elfenschwert schnitt durch das Schild wie die Sense durch das Korn. Die Wucht des Schlages ließ den Schildträger lang hinschlagen. Dadurch entging er knapp der Schwertspitze.

Mit einem weiteren Satz stand Nat vor dem Bogenschützen. Er rammte ihm aus vollem Lauf die Schwertfaust ins Gesicht. Mit einem Krachen brach die Nase des Mannes, er stürzte tonlos nach hinten und blieb ohnmächtig liegen. Sofort drehte Nat sich wieder um, sein Blick ging zu Tally. Die musste sich der Angriffe zweier Männer erwehren, einer mit einer kurzen Axt, der anderen mit einem Speer bewaffnet. Eine Falle, sie waren in eine gut aufgebaute Falle getappt. Ihr Glück, dass das Zwergenkettenhemd den ersten Angriff abgefangen hatte, sonst wäre es schwierig geworden.

So war die Situation schon entschärft, die beiden verbliebenen Angreifer auf Nats Seite rappelten sich mühsam auf, um sich ihm in den Weg zu stellen.

Um Tally machte Nat sich keine Sorgen. Sie war die beste Kämpferin, die er kannte und hatte ihm viel beigebracht, von dem was ihn in Kämpfen am Leben erhielt. Gegen zwei Männer, die von den Kampffähigkeiten höchstens Gossenniveau hatten, würde sie keine Schwierigkeiten haben.

Die beiden Angreifer versuchten, sich drohend aufzubauen, doch die Blicke des einen irrten bereits nach hinten, auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit.

Nat täuschte einen gewaltigen Angriff gegen den rechten Gegner an. Als der erschrocken zurück sprang, ging er blitzschnell in die Knie und trat dem anderen Angreifer mit einer langen Bewegung die Beine weg. Der Mann krachte zu Boden, der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen. In einer fließenden Bewegung sprang Nat wieder auf und stieß das Schwert in Richtung des zurückgewichenen Gegners. Der hatte sich mit hoch erhobener Waffe auf Nat stürzen wollen, doch plötzlich kitzelte ihn die Schwertspitze seines vermeintlichen Opfers am Kinn. Er erstarrte zur Salzsäule, spürte, wie die Schwertspitze die Haut durchdrang. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er auf den jungen Mann, der ihn von der anderen Seite des Schwertes aus kalt fixierte. Das Schwert fiel dem Angreifer aus der erhobenen Hand, Tränen schossen ihm in die Augen. Nats linke Faust, die ihn wuchtig am Kinn traf, sah er gar nicht kommen. Der Treffer schleuderte ihn herum, ließ ihn gegen die Wand prallen. Lautlos sank er zu Boden, schon ohnmächtig, bevor er den Boden berührte.

Nat wirbelte zu dem letzten Angreifer herum. Der hatte sich aufgerappelt und ergriff mit schnellen Sprüngen die Flucht. Nat griff nach Pfeil und Bogen, die auf dem Boden lagen, riss sie hoch, zielte und schoss. Der Pfeil beschrieb einen flachen Bogen und durchschlug die vor einem Fenster aufgespannte Schweinsblase.

Verdammt, mit Schwertern und Äxten hatten sie ihm alles Mögliche beigebracht. Aber Pfeil und Bogen? Da konnte er besser mit den Pfeilen werfen als sie zu schießen. Der Flüchtende hechtete um eine Ecke und war verschwunden.

Nat atmete tief durch, dann drehte er sich um zu Tally.

„Alles in Ordnung?“ Nat zuckte zurück, weil sie bereits direkt hinter ihm stand.

„Ja, alles klar.“ Er sah über ihre Schulter zu den am Boden liegenden Männern.

„Hast du sie am Leben gelassen?“

Tally zuckte die Schultern.

„Einen Moment lang habe ich darüber nachgedacht. Aber die Gefängnisse sind schon so voll, wir haben besseres zu tun, als uns mit solchem Gesindel abzugeben und vermissen wird die doch auch niemand.“

Sie verzog ihr Gesicht zu einem breiten Grinsen, als sie das entsetzte Gesicht ihres Geliebten sah.

„Natürlich hab ich sie am Leben gelassen, du Dummerchen. Zwei solch armselige Kämpfer zu töten wäre eine echte Schande.“

Sie blickte sich aufmerksam um. Als sie die Gasse entlang sah, wurde ihr Grinsen noch breiter.

„Na, wieder versucht mit Pfeil und Bogen zu schießen?“

Aus dem Haus, in das Nat den Pfeil geschossen hatte trat schimpfend eine Frau. In der Hand hielt sie einen großen Schinken in dem Nats Pfeil steckte.

Nat ließ den Bogen fallen, als hätte er sich die Finger verbrannt. Der wilde Blick der Frau schoss die Gasse hoch und runter. Dann drehte sie sich um und verschwand schimpfend wieder in ihrem Haus.

Tally und Nat sahen sich an, dann brachen sie in lautes Lachen aus. Als sie sich wieder beruhigt hatten, blickte Nat auf die regungslosen Männer um sich herum.

„Wir sollten sehen, dass die Kerle in Gewahrsam kommen. Und vielleicht könnte … mein … mein Vater veranlassen, dass sie verhört werden. Es würde mich doch brennend interessieren, wer glaubte, uns töten zu müssen.“

Er klopfte mit stolzem Grinsen auf seine Brust.

„Wenn meine Rüstung nicht gewesen wäre … .“

„Dann hättest du nicht ausgesehen wie ein Kampffrosch, als du auf die Männer los gestürmt bist.“ Tally lächelte den jungen Mann zuckersüß an. Dann strich sie über die Weste.

„Nein, du hast Recht. Ich bin deinem Vater sehr dankbar, dass er dir ein solches Geschenk gemacht hat. Dann muss ich nicht ganz so viel Angst um dich haben.“

Sie packte ihn bei den Haaren, zog ihn dicht an sich heran und küsste ihn fest auf den Mund.

Dann schob sie ihn von sich.

„Und bevor du jetzt auf dumme Gedanken kommst, wecken wir diese Mistkerle auf und treiben sie in das Notgefängnis zwei Straßen weiter.“

Sie beugte sich zu den Ohnmächtigen, holte sie mit kräftigen Ohrfeigen in die Wirklichkeit zurück und trieb sie dann, mit gezogenem Säbel vor sich her.“Das ist gar nicht gut.

Jorina starrte brütend auf den Tisch. Neben ihr saßen Parlass Walgardsson und Thorbeil Armstark.

Auch Walgardsson starrte in die Luft, während sein Freund beide Hände vors Gesicht geschlagen hatte.

„Das hat etwas zu bedeuten. Die Elfen verschwinden nicht so einfach, nur weil das Heimweh sie quält. Entweder hecken sie etwas aus oder sie haben Angst.“

Thorbeil Armstark schnaufte verärgert.

„Angst? Die? Das lässt ihr Hochmut doch gar nicht zu. Nein, ich glaube vielmehr, die wissen um Dinge, die mit den Nekromanten zu tun haben. Die könnten uns einiges dazu sagen und wollen es nicht.“

„Kann es sich bei den Nekromanten um verderbte Elfen handeln? Elfen, die durch einen Zauber oder etwas in der Art zu Nekromanten geworden sind?“

Jorina schüttelte den Kopf.

„Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Ich glaube, der Staub, den wir gefunden haben, ist das zerfallene Stück eines größeren Steines. Wie groß kann ich nicht erahnen, aber wenn ich an die Macht denke, die dieser Stein zu verleihen scheint, wird es sich wohl um einen großen Stein handeln. Das könnte bedeuten, dass sich die Wesen durch die Nähe zu diesem Stein verändern. Das wäre aber für die Elfen, deren Magie nur auf dem Glauben an die Natur, an Licht und Schönheit bestimmt wird, ein zu weiter Weg im Denken und Fühlen. Wie der Weg vom hellsten Tag in die tiefste Nacht. Die Zwerge sind dafür zu klein und die Barbaren zu schlicht. Nein, ich glaube, es sind wieder mal wir Menschen, die für das Böse stehen.“

Thorbeil Armstark ließ ein verärgertes Schnaufen ertönen.

„Was für ein anstrengendes Volk, die Menschen.“

Jorina lachte leise.

„Da hast du sicherlich Recht. Immer wieder sind wir es, die den Ärger herauf beschwören. Aber genau deshalb müssen wir auch die sein, die vortreten, um den Ärger wieder einzudämmen und auszulöschen.“

Sie blickte die beiden Männer ernst an.

„Wir machen uns auf den Weg, um den Brandherd zu löschen. Aber was tun wir, um die kleinen Feuer zu verhindern, die jetzt überall auf der Insel entstehen können?“

Sie lehnte sich zurück und schüttelte verärgert den Kopf.

„Mit diesem Drachen können die Nekromanten binnen kurzer Zeit jeden Punkt auf der Insel erreichen. Wenn sie dort ihre unselige Macht einsetzen dauert es Tage, ehe wir davon erfahren und wiederum Tage, bevor wir da sein können, um sie einzudämmen.“

Dumpf brütend starrten die drei vor sich auf den Tisch.

Mit in Falten gelegter Stirn sah Parlass Walgardsson seine Mitstreiter an.

„Gibt es Orte, an denen die Nekromanten nicht angreifen werden? Wo die Entfernung, das Volk das sie angreifen oder der Nutzen für ihre Sache nicht zu der Gefahr passen, in die sie sich begeben?“

„Ich weiß, was du meinst.“ Thorbeil Armstark nickte.

„Werden sie die Elfen angreifen, wenn es möglicherweise so schwierig ist, diese mit ihrer dunklen Magie zu überwinden? Werden sie sich bis nach Arkadien wagen, wenn sie davon ausgehen müssen, dass sich hier der größte Widerstand gegen sie entwickelt? Und … „, Armstark hob den Zeigfinger, „ … wird es sich um einzelne Dolchstiche handeln oder landen sie mehrere ihrer verderbten Kämpfer, die regelrechte Schwertstreiche austeilen, die sich von dort wo sie landen versuchen über die Insel zu verbreiten?“

„Dies alles sind einzelne Zweige an dem verderbten Baum. Uns bleibt nichts anderes, als zunächst die Wurzeln zu kappen und zu verbrennen. Dann stirbt der Baum und wir können seine Ausläufer mühelos zu Kleinholz verarbeiten.“

„Ein schönes Bild.“ Jorina grinste den Kanzler von Rimmond an. „Du solltest Maler werden. Deine Kunst wäre vielleicht nicht die Schönste aber gewiss die Fantasievollste.

Auch Walgardsson musste lächeln. Doch dann wurde er wieder ernst.

„Aber was tun wir gegen diesen Stein? Wenn es sich vielleicht um einen großen Stein, einen Felsen oder gar einen Hügel handelt. Wenn er so viel Böses ausstrahlt, dass sich niemand diesem Etwas nähern kann, ohne in seinen Bann gezogen zu werden. Wie sollen wir ihn zerschlagen oder vergraben oder ins Meer werfen? Wie können wir ihn so vernichten, dass er nie wieder seine böse Macht aufleben lässt?“

Das Lächeln aus Jorinas Gesicht verschwand und ein Schatten der Mutlosigkeit huschte über ihre Züge.

„Das weiß ich nicht, noch nicht. Aber wir werden uns etwas einfallen lassen müssen, bis wir vor dieser Gefahr für alles Lebende stehen.“

Ein Klopfen an der Tür ließ die Drei die Köpfe heben. Die Tür öffnete sich einen Spalt, doch niemand betrat den Raum. Parlass Walgardsson schob verärgert seinen Stuhl zurück, als sich ein kleiner gefiederter Kopf durch den Spalt schob. Schwarze Augen fixierten die Menschen, die lächelnd auf das kleine Etwas blickten, dann öffnete sich der Schnabel und ein kräftiges Kreischen erklang. Eine kräftige Hand schoss hervor und drückte den Schnabel wieder zu. Das Geräusch verklang wie ein Posaunist, dem man die Luft abgedreht hatte.

„Entschuldigt. Eigentlich wollte ich euch zeigen, wie groß er schon geworden ist, nicht wie laut.“

Gronik stand mit einem breiten Grinsen in der Tür. Mit einer schnellen Bewegung schob er das Greifenjunge an seiner Seite in den Raum.

„Bist du dir denn diesmal sicher, dass es sich um einen ER handelt?“

Armstarks Frage war nicht abwegig, denn der Greif, der Gronik lange Zeit begleitete, hatte sich zu seiner Überraschung als Greifenweibchen gezeigt. Noch dazu eines, das ein fast fertig ausgebildetes Ei in sich trug.

Im Kampf gegen den Schwarzen Drachen war der Greif Ilana und Nat zur Hilfe gekommen. Diese Hilfe hatte es Nat ermöglicht den Drachen zu töten, aber leider auch den Greifen das Leben gekostet. In seinem toten Leib hatte Nat das Ei entdeckt, aus dem dann in Groniks Armen das Greifenjunge geschlüpft war.

Der Barbarenfürst nickte grinsend.

„Ich habe ihm sicherheitshalber schon mal unter den Rock geguckt. Diesmal ist ein Irrtum ausgeschlossen.“

Jorina war dem Barbaren am Vortag zum ersten Mal begegnet. Auch jetzt fiel es ihr schwer, sein wildes Äußeres und seine Herkunft mit seiner bildhaften Sprache und seiner gewählten Ausdrucksweise in Einklang zu bringen.

„Sag mal, ist er auch schon enorm gewachsen?“

Gronik nickte stolz.

„Ja. Er frisst wie eine ganze Greifenschar und scheint jeden Bissen für sein Wachstum zu verbrauchen. Es ist noch fast nichts wieder gekommen, wenn ihr wisst, was ich meine.“

„Bis jetzt.“ Angesäuert blickte Thorbeil Armstark auf den Teppich, auf den der Greif soeben einen See von etwa zwei Fuß Durchmesser gesetzt hatte.

„Auch das tut mir leid.“ Das breite Grinsen strafte die Worte des Barbaren Lügen. „Aber ich wollte euch nur zeigen, dass der Kleine auf jeden Fall mit uns reisen kann und vielleicht sogar schon in ersten Kämpfen an unserer Seite stehen kann.“

Parlass Walgardsson schüttelte bedächtig den Kopf.

„Vielleicht sollte er sich zunächst auf ein paar einschüchternde Schreie beschränken.“

„Oder er kann den Gegnern auf den Kopf pissen.“ Thorbeil Armstark war durch Groniks Entschuldigung noch nicht völlig besänftigt.

Jetzt konnten auch Jorina und Walgardsson sich ein kleines Lachen nicht verkneifen.

„Wir freuen uns, dich und deinen Greif an unserer Seite zu wissen. Aber bringe ihn nicht in unnötige Gefahr. Er kann noch sehr wertvoll für die Völker auf Iskandrien werden.“

Jorina war mit den Gedanken bereits weiter, überlegte, wie man ein fliegendes Geschöpf aufhalten sollte, dass man mit Pfeilen wohl gar nicht mehr verletzen konnte.

Gronik nickte zustimmend, verneigte sich leicht und verließ den Raum.

Er überließ die drei Menschen ihren Gedanken an die Zukunft Iskandriens.Die Verbindung war wie ein langes dünnes Seil, wie eine Fessel, die sich um Arme und Beine gelegt hatte und ihm jede Bewegung erschwerte, ja, unmöglich machte. Rrordak verspürte tief in sich den Wunsch nach Freiheit, doch etwas hatte ihn gefangen genommen und war nicht bereit, seinem Wunsch nachzugeben.

Immer noch suchte sein verwirrter Geist nach Antworten. Warum war er hier? Was war passiert? Erinnnerungsfetzen zogen durch die Reste seines Gehirns. Oder durch seine Seele?

Ein großer Raum, hoch und schmutzig, wunderschön. Gefühle. Niederlage, Triumph, Sieg und Tod. Alles ganz nah beieinander. Ein angstverzerrtes Gesicht und ein schneidender Schmerz. Dann Stille, Schwärze.

Und jetzt war er hier. Jemand hatte ihn … benutzt. Hatte Dzyrog benutzt. Dieses furchtbare, machtvolle, wunderbare Wesen. War das gut? Oder war das schlecht?

Ziellos schweifte sein Blick umher. Er sah andere Wesen in seiner Nähe stehen. Menschen, zwei Zwerge, ein Barbar, ihre Körper teilweise in verschiedenen Stadien des Zerfalls, doch ihre Seelen schwebten als fahle weiße Schemen um sie herum. Einige versuchten, sich in ihren Körpern zu verstecken, andere kämpften darum, sich von ihren Körpern zu lösen, doch die meisten schwebten nur teilnahmslos um ihr früheres Dasein herum. Die Körper waren vollkommen unbeweglich. Auch Rrordrak spürte diese Starre. Mit Entsetzen erkannte er, dass sein Körper sich nur noch dann bewegte, wenn er den Befehl dazu bekam, wenn an der unsichtbaren Fessel, die ihn band, gezogen wurden. Wenn eine unsichtbare Macht ihm diktierte, was er zu tun hatte.

Aber kannte er diese Macht nicht? Hatte er nicht selber die Kräfte, um unsichtbare Fesseln zu legen? Konnte er sie dann nicht auch lösen?

Seine Gedanken zogen wirr umher. Der untote Schwarzdruide musste darum kämpfen, einen Zusammenhang zwischen diesen wirren Fetzen herzustellen.

Es gab machtvolle Zauber, die einen Menschen erstarren ließen, die ihm jede Möglichkeit nahmen, über seinen Körper zu herrschen und ihn zu steuern. Rrordrak kannte diese Zauber, hatte sie gelernt, verinnerlicht. Und er hatte aus Angst vor ihrer Macht gelernt, ihnen zu widerstehen oder sie aus seinem Körper zu verbannen. Doch das war auf dem Höhepunkt seiner magischen Leistungsfähigkeit. Jetzt war er ein Abklatsch dieser Macht. Dennoch war noch etwas davon da. Er blickte an seinem Körper herunter, losgelöst und doch verbunden mit diesem Knochengestell, dass er Körper nannte.

Sein Gehirn murmelte immer wieder dieselben Worte, an seinen Lippen kamen sie nicht an. Und dennoch reagierte etwas in seinem Körper auf die stummen Befehle.

Er sah den Zeigefinger seiner rechten Hand der zuckte, einmal zweimal, dann eine längere Bewegung, einen Wimpernschlag lang. Sein Finger, dann die Hand, er musste … .

Langsam gewannen Dumpfheit, Müdigkeit und innere Leere die Oberhand. Was tat er hier? Wer waren die Anderen? Jetzt verkroch auch Rrordraks Seele sich im Inneren seines untoten Körpers.

Ein Anfang, das war ein Anfang.

Oder war es das Ende?

Er wusste es nicht, er wusste vielleicht gar nichts.

Angst, Tod, Schmerz und Schwärze. Anscheinend gab es doch noch einen Funken, der in seinem modernden Hirn glomm.“Rede, wer hat euch geschickt?“ Drohend wollte Nat sein Schwert ziehen. Sein, wie er fand, wutverschleierter Blick war fest auf den Mann gerichtet, der vor ihm auf einem niedrigen Hocker saß. Tally lehnte hinter ihm am Türrahmen und sah den Bemühungen ihres Freundes ungerührt zu, die Hintergründe über die Angreifer zu entschlüsseln.

„Wieso geschickt? Wir haben uns selber geschickt.“ Nat wollte aufbrausen, fühlte sich veralbert. Aber die Aufrichtigkeit in den Worten des Mannes war mit Händen zu greifen.

„Wie, selber geschickt?“

„Naja, wir sind … äääh … waren eine Gruppe von etwa zwanzig Mann. Wir haben uns Rrordrak angeschlossen, weil wir uns davon Macht und Reichtum versprochen haben. Aber wir haben gar nichts gemacht. Wir sind erst seit einigen Tagen hier und Rrordrak hat uns in dieser Zeit keinen Auftrag erteilt.“

Eine Fliege umschwirrte das verschwitzte Gesicht des Mannes. Da seine Hände gefesselt waren, versuchte er durch Pusten, die Fliege zu vertreiben.

„Pffft … jetzt kam einer von uns darauf, dass im Schloss doch noch … pffft … Schätze liegen müssen und das im derzeitigen Chaos vielleicht eine Möglichkeit war …. pffft … etwas davon mitzunehmen.“

Der Gefangene blies erneut die Backen auf, aber bevor er pusten konnte, riss Nat das Schwert aus der Scheide und schlug blitzschnell nach der Fliege. Mit einem wütenden Brummen stieg die Fliege hoch und flog davon.

Der Gefangene aber schrie auf, auf seiner Stirn zeigte sich eine feine rote Spur, wo das Schwert ihn getroffen hatte.

„Oh, das tut mir leid. Ich kenne mich mit der Länge meines Schwertes noch nicht so gut aus.“

Die Tür wurde aufgerissen und ein vierschrötiger Mann steckte seinen Kopf in den Raum. Er blickte erst auf das Schwert in Nats Hand, dann auf das Gesicht des Gefangenen, dem das Blut von der Stirn tropfte. Er grunzte zufrieden.

„Das ist richtig, zeigt diesen Dreckskerlen gleich, was wir mit ihnen anfangen, wenn sie nicht tun was wir wollen. Lasst sie bluten.“

Mit einem bösen Lachen ließ er die Tür wieder zuknallen.

„Herr, lasst mich bitte nicht hier. Wenn ich euch alles sage, was ihr wissen wollt, nehmt ihr mich dann mit hier heraus?“

Sein Blick irrte zur Tür, ein Zittern lief durch seinen Körper. Von seiner Nasenspitze hing ein Tropfen Blut.

Nat nickte.

„Ja, versprochen. Wie gesagt, es tut mir leid.“

„Schon gut, hätte mir auch passieren können.“

Kopfschüttelnd trat Tally Nat in den Hintern.

„Wenn Du ihm jetzt noch die Freundschaft anbietest und ihn zu deiner Hochzeit einlädst, renne ich schreiend raus. Frag was du fragen willst und dann lass uns seine Kumpane suchen.“

Fast hätte Nat sich auch bei Tally entschuldigt, doch dann ging ihm auf, was sein freundliches Gehabe in dieser Situation für einen unpassenden Eindruck machen musste.

Doch noch bevor er wieder den wütenden Blick aufsetzen konnte, fuhr der Gefangene unaufgefordert fort.

„Wir haben mehrere Straßen besetzt und sollten versuchen, möglichst viele von euch zu töten oder gefangen zu nehmen, damit uns noch weniger Widerstand entgegen schlägt, wenn wir in das Schloss eindringen.“

„Wann sollte das passieren?“

„Heute Abend. Wir wollten uns in einem leerstehenden Lagerhaus am Hafen treffen und dann zum Schloss vordringen.“

„Verdammt!“ Nat schlug die Faust klatschend in die flache Hand.

„Wer von uns ist alleine unterwegs?“

„Sharn, Ilana, Walgardsson, Jorina und dein Vater sind im Schloss. Kalistan ist in die Kaserne gegangen, er versucht, der Stadt wieder eine Verteidigung zu geben.“

„Was dringend nötig ist.“ Nat blickte auf den Gefangenen.

„Wallin und die drei Städter sollten eigentlich helfen, die Ansprüche der Bürger aufzunehmen, sie werden also auch im Schloss sein. Gronik … Nein, niemand würde so dumm sein, Gronik anzugreifen. So allein kann der gar nicht sein, dass man das versuchen sollte. Und Greife sind Nestflüchter. Der Kleine ist jetzt schon gefährlicher als ein ganzer Trupp von diesen Orgelpfeifen hier.“ Sie deutete auf den Mann, der gerade versuchte, das Blut weg zu blinzeln, das ihm in die Augen lief. Mit einer entschlossenen Bewegung nahm Tally einen Eimer Wasser und schüttete ihn dem Mann ins Gesicht, um das Blut wegzuspülen. Der Mann prustete.

Wieder wurde die Tür aufgerissen und der Wärter betrat den Raum.

„Aah, jetzt auch noch mit Wasser gefügig machen. Ihr habt es echt drauf, das sieht man schon.“ Er drehte sich um und verließ türenknallend den Raum.

Tally und Nat sahen sich wortlos an, dann brachen beide in Lachen aus. Doch schnell wurden sie wieder ernst.

„Bleiben noch Odu und Mahti.“ Tally Augen weiteten sich vor Schreck.

„Wir müssen sofort zum Hafen.“ Sie riss die Tür auf und wollte losstürmen.

„Was machen wir mit ihm?“ Nat hielt sie am Arm zurück. „Er hat nicht auf uns geschossen und uns eigentlich auch nicht angegriffen, als wir uns gewehrt haben.“

Tally verzog das Gesicht. Für derartige Überlegungen hatte sie einfach keine Zeit.

„Ich hab‘s.“ Nat durchschnitt die Fesseln des Mannes und zog ihn von dem Hocker hoch. „Du läufst ins Schloss und berichtest meinem Vater, Thorbeil Armstark. Sollten wir dich nachher nicht im Schloss antreffen, werden wir dich in der ganzen Stadt suchen. Wenn wir dich dann erwischen, werden wir dich gefesselt in den Käfig des Greifen setzen.“

„Oh Mann …;“ Wieder blickte der Wärter durch die Tür. Offensichtlich hatte er nur die letzten Worte gehört. „Gefesselt in den Käfig des Greifen. Ihr seid ja noch viel grausamer, als Alle, die ich je erlebt habe. Vielleicht sollte ich mir eine andere Arbeit suchen. Ich weiß nicht, ob ich für derartig gnadenlose Taten gemacht bin.“ Er zog den Kopf zwischen die Schultern und ging schnell davon.

Nat stieg ein Lachen in der Kehle auf, doch der Gedanke an Odu und Mahti ließ es ihn herunter schlucken. Er fasste den Gefangenen am Arm und schob ihn vor sich her aus dem Raum. Tally war schon vorausgeeilt. Vor dem großen Speicher, in dem man notdürftig einige Zellen und Verhörräume eingerichtet hatte, um der Flut von Gefangenen Herr zu werden, blieb sie stehen.

Nat gab dem Gefangenen einen Stoß.

„Du gehst jetzt direkt und ohne Umweg zum Schloss. Du sprichst mit niemandem und du kehrst nirgendwo ein. Du bittest darum zum Kanzler von Arkadien geführt zu werden und sagst, dass sein Sohn Nat dich schickt. Dann erzählst du ihm dasselbe, was du mir gesagt hast und wartest dort auf uns. Wenn du nicht da sein solltest … .“

Der Mann winkte ab.

„Ja, das habe ich schon verstanden. Noch etwas. Das Lagerhaus am Hafen ist ein sehr großes, stabiles Gebäude, deren Nordende bei einem Feuer bereits fast heruntergebrannt ist. Die Löcher, die durch den Brand entstanden sind hat man allerdings schon wieder gesichert. Das Lagerhaus liegt zwei Häuser neben der Drallen Dirne.“

Der Name sagte Nat nichts, aber er ließ auf die Verwendung des Gebäudes schließen. Damit sollte es wohl zu finden sein.

„Sag auch das meinem Vater und er soll so schnell es geht einige Männer dort hinschicken.“

Damit drehte er sich um und gab Tally ein Zeichen, die schon unruhig von einem Fuß auf den anderen trat.

Schnell liefen die Beiden los in Richtung Hafen.

Sorgfältig behielten sie die dunklen Gassen und die Hausdächer im Auge, immer auf der Hut vor einem weiteren Hinterhalt. Trotzdem waren sie in kurzer Zeit am Hafen.

Ohne Rücksicht arbeiteten sie sich an den Leuten vorbei, die hier arbeiteten, um den normalen Betreib wieder aufzunehmen. Rrordrak hatte während seiner kurzen Herrschaft jeglichen Schiffsverkehr, sogar für Ruderboote untersagt. Die gesamt Ausfahrt aus dem Hafen war durch Brander blockiert, kleine, eben unter der Wasseroberfläche befestigte Schwimmfallen, auf denen Krüge mit Welfernbrunst vertäut waren. Traf ein Schiff oder Boot auf diese Brander, zerbrachen die Krüge und die Welfernbrunst entzündete sich durch den Kontakt mit Wasser und Luft. Jetzt waren Boote draußen, die versuchten, mit gezieltem Beschuss aus Bombarden die Brander zu entzünden und damit die Zufahrt wieder freizulegen.

Überall wurden Boote und Schiff wieder flott gemacht, um den Seehandel wieder aufzunehmen oder zum Fischen raus zu fahren.

Keuchend erreichten Nat und Tally die Hütte des Hafenmeisters. Auch hier standen mehrere Männer herum und klopften ungeduldig gegen die Tür.

„Was ist hier los?“ fuhr Nat den am nächsten Stehenden an.

„Häh, wassn‘ das für’n Ton?!? Der Hafenmeister is‘ nich‘ da und wir haben Bescheid, dass wir erst raus dürfen wenn der Hafenmeister da ist. Den alten haben sie ja umgelegt, weil er mit diesem Mistkerl Blackard rausgefahren is‘. Jetzt sollte einer aus dem Schloss komm‘n, aber der is‘ noch nich‘ da.“

Tally wurde bleich. Odu und Mahti hätten schon lange hier sein müssen, außer, sie waren in eine Falle getappt.

Zu diesem Schluss war auch Nat schon gekommen.

„Wir müssen zu dem Lagerhaus.“

„Nur wir zwei? Du weißt nicht, wie viele uns dort erwarten.“

Nat winkte ab.

„Die erwarten uns nicht, das ist unser Vorteil. Und wenn sie alle so tolle Kämpfer sind, wie die, die uns angegriffen haben, sind das keine Gegner für uns. Aber mit jedem Moment, den Odu und Mahti länger in ihrer Gewalt sind, wird die Gefahr größer, dass man sie tötet.“

Wenn man das nicht sowieso gleich getan hatte. Dieser Gedanke schoss Nat unweigerlich durch den Kopf, aber er war nicht bereit ihn auszusprechen. Tally ging es anscheinend genauso. Denn ihr stiegen Tränen in die Augen, aber sie nickte entschlossen und fasste mit der Hand nach ihrem Säbel.

Nat ging zu einigen Jungs, die an der Hafenkante saßen und das rege Treiben beobachteten. Er rief einen der Jungen an, der einen aufgeweckten Eindruck machte.

„Hey Kleiner. Ich brauche deine Hilfe.“

Der Junge starrte ihn abschätzig an, dann klappte sein Mund auf. Aber schnell hatte er sich wieder gefangen.

„Ja Herr, ihr seid der, der uns von dem Schwarzen befreit hat.“

Nat hatte keine Zeit, seine Rolle in der Befreiung der Stadt genauer zu beschreiben, also nickte er nur stumm.

Er fasste den Jungen am Arm und zog ihn zu sich heran.

„Ich möchte, dass du so schnell es geht zum Schloss läufst und dich sofort zu meinem Vater, Thorbeil Armstark, bringen lässt. Dem sagst du, dass wir hier am Hafen in Schwierigkeiten stecken. Es werden einige Leute aus dem Schloss auf dem Weg hierher sein. Die sollen direkt zu … .“ Nat tat so als würde er sich suchend umsehen. „… zu diesem Lagerhaus da, mit der angebrannten Nordwand kommen. Ja, ich denke, das ist ein guter Treffpunkt, das kann man leicht erkennen. Wir werden schon rein gehen.“

Der Junge nickte eifrig. Er wollte mit einem Blick auf das Lagerhaus noch etwas sagen, aber Nat klopfte ihm auf die Schulter und schob ihn in Richtung Stadt. Der Junge schluckte, warf ein Blick auf das Lagerhaus, dann rannte er los. Seine Freunde, die Nat mit offenem Mund bestaunt hatten, guckten hinter ihm her.

Nat fasste Tally bei der Hand und unauffällig aber entschlossen schoben sie sich durch die Menschen auf das Lagerhaus zu.

Ein lauter Knall, eine Qualmwolke, dann gepresstes Fluchen.

„Verdammter Gestank … klingelt in den Ohren … gar nicht sehen … muss verändert werden.“

Die Vögel, die erschrocken aufgeflogen waren, ließen sich langsam wieder auf den Bäumen nieder. Einer musste sich einen neuen Platz suchen, denn der Ast, auf dem er gerade noch gesessen hatte, war weg.

Aufgeregtes Gezwitscher erklang, wie eine Gruppe Kinder, die alle gleichzeitig über etwas besonders Spannendes sprechen wollten. Einige Rehe sprengten durch den Wald, aufgeschreckt von dem lauten Krachen und der stinkenden Wolke, die langsam davon zog und sich nur zögerlich auflöste.

Nach und nach verklang das Fluchen, dann herrschte wieder Ruhe.Laut schmatzend lief Vrogak den schmalen Weg zur Hügelkuppe entlang. Natürlich war er zu spät, um seine Wache zu übernehmen. Aber Zeit hatte für Barbaren nun mal keine besondere Bedeutung. Wichtig war doch nur, dass er sich überhaupt auf den Weg gemacht hatte. Eigentlich hatte er noch einige Worte mit seinem Nachbarn wechseln wollen, der ihn schon wieder so schief angeguckt hatte. Wurde Zeit, dass sie sich mal wieder eine kleine Hauerei lieferten. Es war irgendwie nicht mehr ganz klar, wer von ihnen jetzt der Stärkere war.

Was sollte überhaut diese Bewacherei auf dem Hügel. Als ob jemand so blöd wäre, sich mit den Barbaren anzulegen. Wache stehen war eine dumme Idee für einen Barbaren. Nein, sie alle nutzten die Zeit auf dem Hügel um sich mal so richtig auszuschlafen. Das wusste doch jeder.

Jetzt war er gleich oben. Da stand schon Negrez und blickt ihn triefäugig an. Was sollte das? Warum stand er da so blöd? Vrogak spürte, wie die Wut in ihm hochkochte. Dem hatte er auch lange keine mehr gelangt, mindestens drei… äääh … vielleicht sogar noch länger her.

Vrogak bückte sich nach einem Stein, hob ihn auf und warf ihn nach dem Wartenden. Ja, das war jetzt genau das Richtige. Gleich würde Negrez den Hügel hinunter stürmen und die beiden würden sich eine schöne Klopperei liefern.

Der Stein sauste dicht an Negrez vorbei, doch der rührte sich überhaupt nicht. Verblüfft runzelte Vrogak die flache Stirn. Was sollte das denn? Er bewarf einen Barbaren mit Steinen und der rührte sich gar nicht?!?

Wieder hob er einen Stein auf, zielte sorgfältig und warf. Er hatte gut gezielt, hörte den dumpfen Aufprall, als der Stein gegen Negrez‘ Brust schlug. Der Andere taumelte kurz.

Auflachend hob Vrogak die Fäuste. Jetzt würde diese Memme gleich den Hügel hinunter kommen und dann gab’s Kloppe.

Aber Negrez rührte sich nicht, starrte weiterhin ungerührt nach unten. Jetzt reichte es Vrogak. Diese Gemeinheit, diese unglaubliche Frechheit, seine Annäherungsgrüße so zu ignos…, zu ignar…, zu übergehen. Das bedeutete Kampf.

Mit einem Schrei rannte Vrogak los, hastete den Hügel hinauf und warf sich ohne Zögern auf seinen Gegner. Er stieß ihn zu Boden, schlug ihm die Hände gegen die Brust, ließ seine Fäuste in das Gesicht seines Gegners krachen. Doch plötzlich hielt er inne. Selbst jetzt zeigte Negrez nicht die kleinste Spur einer Gegenwehr. Er lag bewegungslos auf dem Boden. Die Haut auf der Nase und der Lippe waren aufgeplatzt, bluteten aber nicht. Trotz der Treffer blinzelte er nicht einmal, starrte Vrogak nur unverwandt an. Vielleicht hätte Vrogak jetzt Angst gehabt, wenn er dieses Gefühl gekannt hätte, doch stattdessen war er nur verwundert, völlig überrascht, von der Situation, in der er sich befand.

Er ließ hilflos die Arme sinken. Da plötzlich schossen Negrez Hände hoch und umfassten Vrogaks Handgelenke wie Zangen.

Vrogak schrie auf vor Überraschung, wollte sich nach hinten werfen, weg von diesem seltsamen Kontrahenten. Doch Negrez hielt ihn unverändert fest.

Eine andere Hand legte sich auf Vrogaks Schulter.

Der wandte ruckartig den Kopf herum und blickte direkt in zwei Augen, die tiefrot funkelten, als würden kleine Feuer in ihnen brennen und Blitze daraus hervor schießen. Wütend wollte Vrogak den Blick abwenden, wollte sich von Negrez losreißen, doch er blieb wie gebannt hocken. Seine Bewegungen wurden schwächer, alle Kraft schien seinen Körper zu verlassen. Er hörte Worte, fremdartig und irgendwie falsch, böse klingend. Eine unnatürliche Kälte drang in seinen Körper, ließ seine letzten Bewegungen erstarren. Irgendetwas schien in sein Innerstes zu greifen ohne dabei die Haut zu durchdringen. Er stieß einen lauten Schrei aus, ohne dabei einen Ton von sich zu geben. Etwas schien seinem Körper entrissen zu werden, ohne eine Wunde zu hinterlassen.

Barbaren glaubten nicht an die unsterbliche Seele. Sie glaubten daran zu kämpfen, im Kampf zu fallen und dann von den Göttern ein neues Dasein zu erhalten, machtvoller als sie in diesem Leben jemals sein würden. In diesem neuen Dasein würden sie dann endlose Kämpfe ausfechten, ein immer währendes Barbarentum, wie es sich gehörte. Und doch spürte Vrogak, das ihm etwas genommen wurde, etwas ihm seinen Willen aufzwang, ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte. Es kam ihm vor, als würde er seinen Körper verlassen, nur noch ein dünner, aber starker Faden verband ihn mit seinem Fleisch, seinen Knochen und Muskeln. Aber das, was seinen Körper verließ, war nicht frei. Oh nein, es war gebunden, stärker als alles, was er je gefühlt hatte. Gebundenheit, Unfreiheit, Dinge, die für einen Barbaren unerträglich waren. Wieder stieß das Etwas, das seinen Körper verließ einen tonlosen Schrei aus, versuchte zu kämpfen, gegen den unerträglichen Zwang, der ihm auferlegt wurde. Der Blick löste sich von dem, was einst die Hülle gewesen war, schoss herum, auf der Suche nach einem Ausweg.

Wieder diese Augen, in einem Gesicht, hager, bleich, wie von einer inneren Anstrengung verzerrt. Das war er, der Wächter seines Gefängnisses, der Folterer seines Daseins, der ihm den Weg in die Hallen der ewigen Kämpfe verwehrte.

Vrogaks letzte Gefühle waren Wut, Hass und eine nie gekannte Hilflosigkeit, dann war sein Körper nur noch eine leere Hülle, ein Behälter aus Haut und Knochen, in den sein anderes Etwas hineinfahren konnte und es steuern, wie ein Kutscher sein Gespann. Aber die Befehle an die Muskeln, die Steuerung aller Bewegungen, die Zielrichtung für Alles was er tat, die hatte ein anderer übernommen. Dieses furchtbare Wesen, das jetzt neben seinem Körper kniete, die Hände auf dem Boden aufgestützt, schwer atmend.

Siegoin blickte auf den Novizen der am Boden kniete. Neben ihm saß ein weiterer Novize, Nekromanten in der Ausbildung. Der Gedanke wäre belustigend gewesen, wenn Siegoin noch Interesse an Humor gehabt hätte.

Er hatte die Beiden mit ins Barbarenland genommen, um zu üben, die Seelen anderer Wesen an sich zu binden. Den Zugang zur Seele eines Barbaren zu finden war leicht, die Gedanken der Barbaren zu ergründen ein Kinderspiel. Ihre Sperren, die ihr Innerstes, ihren Verstand, den Zugang zu ihrer Seele abschirmten, waren schwach. Da reichten auch die Kräfte eines Novizen locker aus.

Doch die gepeinigten Seelen zu binden, dass bedurfte einer ungleich größeren Anstrengung. Der Freiheitsdrang und der Wille zu kämpfen, auch wenn keine Aussicht auf einen Sieg bestand, waren bei den Barbaren so stark ausgeprägt, dass es dem Einsatz größerer nekromantischer Macht bedurfte, die Bindung zu vollenden.

Mitleidlos blickte Siegoin auf seine Novizen. Beide hatten sich gut geschlagen. Sie hatten die Barbaren an sich gebunden, hatten den Kampf bestanden und sich dabei vollständig verausgabt.

Siegoin blickte zu einer nahen Baumgruppe. Dahinter warteten Rrordrak und sein Drache darauf, Siegoin und die Anderen wieder zurück zu bringen.

Der Nekromant war beeindruckt von der magischen Kraft, die das Knochengerüst des Drachen aufbrachte. Es hatte die vier Männer problemlos transportiert und Siegoin würde jetzt auch die beiden Barbaren mit sich nehmen. Würde er sie hier, gebunden wie sie waren, zurücklassen, könnten möglicherweise die Barbaren erkennen, dass hier Nekromantie am Werk war. Die meisten Barbaren waren so dumm wie zwei Handvoll Wüstensand, aber es gab einige Wenige unter ihnen, deren Verstand vielleicht doch dafür ausreichte, zu erkennen, was mit ihren Freunden geschehen war. Das wollte Siegoin nicht riskieren, weil es bei denen ankommen könnte, die um die Freiheit Iskandriens kämpften.

Er machte sich keine Illusionen, dass man das Verschwinden Rrordraks und des Drachen nicht bemerkt hatte. Und es gab genug Menschen, Elfen und vielleicht sogar Zwerge, deren Kenntnis über Magie ausreichte zu erkennen, dass hier schwarze, nekromantische Magie an der Macht war. Also würde es Gegner geben. Die wollte Siegoin nicht zu früh auf seine Spur ziehen.

Mit festem Griff zog Siegoin die beiden Nekromanten auf die Beine und gab ihnen Anweisung, die Barbaren hinter sich her zum Drachen zu führen. Stockend setzte die kleine Gruppe sich in Bewegung. Siegoin sah sich immer wieder sichernd um. Es schien endlos zu dauern, bis sie endlich die Bäume erreicht hatten. Sie umrundeten die Bäume und kamen zu Rrordrak, der bewegungslos neben seinem Drachen stand.

Siegoin ließ den untoten Schwarzdruiden, die beiden Nekromanten und die Barbaren in das Knochengerüst des Drachen steigen, wie in eine Kutsche. Die Rippenbögen, die Hüftgelenkspfanne und die Wirbelsäule boten ausreichend Platz für die sechs Passagiere. Allerdings forderte es von den Personen, die noch über eine ausreichende Denkfähigkeit verfügten ein erhebliches Maß an Überwindung, sich auf Knochen in die Lüfte zu erheben, die über keinen erkennbaren Zusammenhalt verfügten. Sicherlich hätte es geholfen, wenn man die magischen Stränge gesehen hätte, die das Konstrukt vervollständigten, doch über diese Fähigkeit verfügte nur Rrordrak. Und der verspürte kein Interesse mehr, jemandem etwas zu erklären.

Allerdings war sein Innerstes auch nicht so tot, wie ein Nekromant dies vermutet hätte und wäre Siegoin sich seines Dieners nicht so sicher, hätte er vielleicht den Aufruhr in dessen Seele gespürt. Rrordrak beobachtete aus seiner toten Hülle heraus wie sich die Dinge um ihn herum entwickelten. Doch im Gegensatz zu den anderen gequälten Seelen, die jedes Interesse an den Dingen um sich herum verloren hatten und die nur noch unter ihrer eigenen Haltlosigkeit litten, schien ein kleiner Funke in seinem Inneren immer noch eigene Ziele zu verfolgen. Die Seelen der Untoten griffen nach jedem Strohhalm, der ihnen Halt bot, in dieser Welt, in der sie ihre physische Existenz verloren hatte. Sicher, ihr Körper war noch da, doch er reagierte nur noch indirekt auf die Anweisungen der Seele, weil der Verstand seine Macht verloren hatte. Die Verbindung zum Hirn war getrennt, das war nur noch ein vertrocknender Klumpen grauer Masse in den Schädeln der Untoten.

In Rrordraks Hirn jedoch sah es anders aus. Die schwarze Magie, der er sich verschrieben hatte, hatte mit dem Tod des Körpers ihr Dasein keineswegs beendet. Wie in einem Glas hatte sie das Gehirn vor allen natürlichen Angriffen von außen abgeschirmt. Ja, sogar dem Angriff der nekromantischen Fähigkeiten hatte sie wiederstanden, ohne das Siegoin dies bemerkt hätte. Die Seele hatte er gebunden, doch die schwarze Magie in Rrordrak arbeitete bereits daran, Faden für Faden dieser Bindung zu lösen. Anstatt vollkommen bewegungslos da zu sitzen, zuckte immer wieder ein einzelnes Glied, eine Hautfalte oder ein Muskel im Gesicht des Schwarzdruiden. Alles Zeichen dafür, dass die verschiedenen Mächte in Rrordrak einen stillen Kampf miteinander und gegeneinander ausfochten.

Klappernd und knirschend erhob sich der Drache mit magischer Kraft in den Himmel. Der Flugwind in den Knochen erzeugte ein Rauschen, an der einen oder anderen Stelle, wo ein Markknochen offen hervor trat auch ein Heulen oder Pfeifen.

In diesem grausigen Konzert eingebettet, ließ Siegoin sich mit seinen Begleitern zurück tragen auf die Insel der Nekromanten.Scheinbar unauffällig, aber zielstrebig schoben Tally und Nat sich durch die Menschen, die den Hafen bevölkerten. Eigentlich war der Hafen immer ein Treffpunkt vieler Menschen, wie ein Marktplatz oder eine Arena. Doch in der Zeit der Herrschaft Rrordraks war es den Bewohnern Arkadiens verloren gegangen, sich hier zu treffen, den ein- und ausfahrenden Schiffen zuzusehen oder einfach nur mit Freunden und Bekannten an der Hafenmauer zu stehen.

Umso mehr drängten jetzt Alle, die die wiedergewonnene Freiheit genießen wollten, zurück an ihre angestammten Plätze.

Tally kam dieses Gedränge entgegen, weil es ihnen gelang, sich unauffällig dem Haus zu nähern, in dem möglicherweise, nein hoffentlich, Odu und Mahti gefangen gehalten wurden.

Sie schoben sich an den angrenzenden Häusern entlang und passierten die letzte Gasse vor dem Haus, als Nat Tally packte, sie in die Gasse schob und heftig küsste. Einen Moment lang erwiderte sie seinen Kuss, dann schob sie ihn von sich.

„Was zum … ?“ Seine Hand verschloss ihren Mund.

„Da stehen mindestens vier Kerle. Zwei an der Eingangstür zu dem Haus und zwei an der Hafenmauer, die die Leute im Blick behalten. Wenn wir schon auf der Straße den Kampf beginnen, werden wir Odu und Mahti niemals lebend finden.“

Tally stieß Nat grob von sich, dass er nach hinten taumelte. An der Stelle, wo er gerade noch gestanden hatte, sauste eine schwere, mit Nägeln beschlagene Keule durch die Luft. Der vierschrötige Kerl, der versucht hatte, Nat den Schädel einzuschlagen, wurde von dem Schwung des Fehlschlages nach vorne getragen. Im selben Moment traf ihn Tallys Fußspitze unter dem Knie. Der Treffer ließ sein Bein einknicken. Auch Nat hatte seinen Schrecken überwunden und schlug dem Mann ins Gesicht, was ihm ein gedämpftes Grunzen entlockte. Mit einer schnellen Bewegung kniete der junge Mann nieder, packte die Keule seines Gegners mit einer Hand unter dem mit Nägeln beschlagenen Kopf und riss ihn hoch. Er traf den Knienden voll vor die Stirn, die furchtbare Waffe ließ die Haut aufplatzen und Knochen knirschen. Jetzt hatte auch noch Tally ihren Fuß hochgerissen und ließ die Hacke auf den Nacken des Mannes sausen. Mit einem Stöhnen sank er zu Boden und blieb bewegungslos liegen.

„Na das ist ja interessant.“ Nat schüttelte den Kopf.

„Was ist interessant?“ Tally blickte auf den am Boden liegenden Mann.

„Auf was du noch alles achtest, wenn du mich küsst. Sogar noch ob … also gut. Damit wird mir einiges klarer.“

Entgeistert blickte Tally ihren Geliebten an. Dann sah sie das Lächeln in den Fältchen um seine Augen. Mit der flachen Hand schlug sie ihm vor sie Stirn.

„Na das hoffe ich doch, dass alles klar ist. Dann gibst du dir beim nächsten Kuss vielleicht mehr Mühe.“

Doch sofort wurde sie wieder ernst.

„War das einer von den Vier?“

„Nein. Den hier habe ich noch nie gesehen. Aber vielleicht ist er uns den Hafen entlang gefolgt. Du bist ja nun wirklich eine bemerkenswerte Erscheinung und er wird sich gedacht haben, wo wir hin wollen. Nur gut, das er es alleine versucht … .“

Nat blieben die Worte im Hals stecken als sich plötzlich drei weitere Männer in die Gasse schoben. Und auch von der anderen Seite kamen noch zwei heran.

„Ja, nur gut … !“

Tally zog ihren Säbel, Nat ließ sein Schwert aus der Scheide gleiten.

„Also gut, schnell, unauffällig und keiner darf ins Haus entkommen.“

Die beiden jungen Leute stellten sich Rücken an Rücken, um sich Schutz zu geben, sie fixierten die sich nähernden Angreifer.

„Fünf Männer, das sollte doch für uns zu schaffen sein.“

Kaum war Nat verstummt, näherten sich drei weitere Männer, so dass jetzt von jeder Seite vier Angreifer auf die beiden Eingeschlossenen zuhielten.

„Überleg dir das nächste Mal, was du sagst oder noch besser. Sei still“, zischte Tally. Ihr Blick ging die Hauswand entlang.

Zu beiden Seiten der Gasse gingen die Hauswände etwa drei Mannshöhen hoch, Lagerhäuser, mit glatt verputzten Wänden und ohne Fenster. Es gab keine Möglichkeit von hier aus auf eines der Hausdächer zu klettern. Ein langer Riss zog sich über eine der Wände, doch wenn sie versuchen sollten dort hinaus zu klettern, wären die Angreifer schnell heran und würden sie aus der Wand schlagen und stechen.

Einen Moment lang glaubte Tally eine Bewegung an der Dachkante des südlichen Lagerhauses zu sehen. Doch sofort richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Männer, die sich ihnen näherten.

Im Gegensatz zu den Männern, die ihr und Nat in dem Hinterhalt aufgelauert hatten, schienen diese hier erfahrene Schläger zu sein. Die muskulösen Arme, die vernarbten Gesichter und die Art und Weise, wie sie sich vorsichtig näherten, in dem Versuch, sich in der engen Gasse nicht zu sehr zu behindern, dass zeugte von einer reichhaltigen Erfahrung bei Schlägereien und Messerstechereien in dunklen Gassen und Hinterhöfen.

„Tally, … ich … :“

„Ja, ich dich auch. Aber jetzt lassen wir sie bluten.“ Tally löste sich von Nat und wandte sich der Gruppe zu, die vom Hafen her in die Gasse hinein bewegte. Nat straffte die Schultern und nahm Front gegen die andere Seite ein. Er machte einen Schritt, nahm festen Stand, als plötzlich von oben ein Scharren ertönte.

Ein Schatten geriet in Nats Blickfeld, dann regneten plötzlich Steine, Dachziegel und sogar ein Holzfass von oben auf die Angreifer der beiden jungen Menschen.

Einer der Männer wurde von einem Dachziegel am Kopf getroffen und ging blutend zu Boden. Einem anderen prellte ein schwerer Stein das Schwert aus der Hand. Zwei der Männer entgingen nur mit einem schnellen Sprung dem herabfallenden Fass.

Die entstandene Verwirrung nutzten Nat und Tally sofort aus. Nat fasste Tally am Arm und zog sie mit sich auf seine Kontrahenten zu. Schnell waren sei an den vier Männern dran. Anscheinend hatten die unbekannten Helfer auf dem Dach das Geschehen im Blick, denn im selben Moment endete der Regen von Steinen und Holz.

Nat sah sich einem Mann gegenüber, dessen Gesichtsausdruck Überraschung aber auch grimmige Entschlossenheit zeigte. Er hielt eine schwere Holzkeule in der Hand, durch die ein langer Eisennagel getrieben worden war. Scheint ja echt beliebt zu sein, ging es Nat durch den Kopf. In vollem Glauben an sein Elfenschwert, ließ er dieses zweimal diagonal hin und her Sausen. Er spürte einen heftigen Ruck, als das Schwert die Keule durchschnitt. Verblüfft starrte sein Gegenüber auf das kurze Stück Holz, dass er nur noch in der Hand hielt. Nat stieß ihm das Schwert in die Schulter und rammte ihm die Faust ins Gesicht.

Neben ihm hatte Tally mit schnellen Schlägen ihren Gegner entwaffnet und trat ihm wuchtig zwischen die großen Zehen, während sie gleichzeitig einen halbherzigen Angriff des dritten Angreifers abwehrte. Der vierte Mann lag bewegungslos am Boden, ein Stück des Dachziegels lag halb auf seinem Gesicht.

Nat wirbelte herum. Die ganze Aktion hatte nur wenige Augenblicke gedauert, aber schon kamen die Männer, die vom Hafen her in die Gasse eingedrungen waren, mit schnellen Schritten auf Nat zu. Einer von ihnen hielt ein Wurmesser in der Hand und blickte nach oben, als wollte er es auf weitere Angreifer schleudern. Doch mit einem Mal richtete er den Blick auf Nat und schleuderte das Messer. Von dieser List überrumpelt gelang es Nat nicht mehr auszuweichen. Das Messer schlug mit einem dumpfen Laut gegen seine Zwergenrüstung und fiel wirkungslos zu Boden. Die Angreifer waren verwirrt, sie hatten mindestens mit einer Verletzung ihres Gegners gerechnet, die ihn für einen Moment aus dem Konzept bringen würde.

Aber stattdessen drang er ungestüm auf sei ein, sein Schwert beschrieb einen Halbkreis und der erste Angreifer sah ungläubig auf seine Hand, die sauber abgetrennt zu Boden fiel. Blut spritzte aus dem Stumpf.

Nat sprang sofort einen Schritt zurück, weil ein anderer Mann mit einem Speer nach ihm stach. Diese Gruppe war ungleich gefährlicher als die andere, weil sie aus Nah-, Mitteldistanz- und Fernkämpfern bestand. Mit geweiteten Augen sah er auf den Messerwerfer, der ein weiteres Wurfmesser aus dem Gürtel gerissen hatte und es auf Nat schleuderte. Der junge Mann erhielt einen Stoß, der ihn gegen die Hauswand taumeln ließ. Das Messer sauste um Haaresbreite an seinem Kopf vorbei und schlug klirrend gegen die Gassenwand. Tally war bereits heran und brachte Nat aus der Wurfrichtung.

Nat hatte den Eindruck, alles um ihn herum lief unendlich verlangsamt ab. Er sah Tally, die mit einer eleganten Drehung herum wirbelte und aus der Bewegung heraus ihren Säbel gegen das Schwert eines der Angreifer krachen ließ. Dem Mann gelang es mit Mühe, den wuchtigen Schlag abzufangen und nicht die Waffe zu verlieren. Wieder raste die Speerspitze von unten nach oben auf Nat zu. Er warf sich nach vorne und fing den Stoß mit seiner Rüstung ab. Der Schmerz am Bauch zeigte ihm, dass das Material vielleicht doch nicht jeden Angriff abfangen konnte. Aber er ließ sich davon nicht aufhalten. Er hielt sein Schwert mit der Rückhand, die Schneide den Arm entlang laufend, die Spitze ungefähr auf Höhe der Schulter. Ein Stoß mit dem Arm ließ den Speerträger zur Seite taumeln. Ein geschwungener Schlag mit dem Schwert, das wie ein Schnappfalle nach vorne sauste, die Waffe schnitt durch Arm und Leib des Gegners wie durch ein Reisigbündel. Nat beendete die Bewegung, drehte dadurch dem Messerwerfer den Rücken zu. Dann stieß er das Schwert in der Rückhandhaltung nach hinten. Die Spitze durchbohrte den Brustkorb des Mannes, dessen Hand schon wieder zum Wurf erhoben war. Sein Messer fiel ihm aus der kraftlosen Hand, der Blick brach und er stürzte tot zu Boden.

Nats Blick ging zu Tally, die in diesem Moment ihren Gegner entwaffnete. Sein Schwert flog durch die Luft. Tally griff blitzschnell zu, packte den Schwertgriff in der Luft und ließ beide Waffen mit den Griffstücken gegen den Kopf ihres Gegners krachen. Ein hässliches Knacken, dann fiel er gegen die Wand und sank langsam daran zu Boden.

Suchend sahen Tally und Nat sich um, aber alle Angreifer waren ausgeschaltet.

Ihr Blick ging nach oben. Vorsichtig schob sich ein Kopf über die Dachkante. Einer der Jungen, dessen Freund sie den Auftrag gegeben hatten ins Schloss zu laufen, lugte über die Kante. Als er sah, dass der Kampf vorbei war, sagte er etwas nach hinten. Sofort erschienen drei weitere Köpfe und grinsten auf die verblüfften jungen Leute in der Gasse herab.

Der Erste, offenbar ihr Anführer zeigte auf das Haus, in dem Mahti und Odu sein sollten, sofern sie denn noch lebten.

Die Dachkante lag etwas höher als die der umstehenden Häuser und war mit Glassplittern und Nägeln besetzt.

„Da kommen wir nicht rüber. Ihr müsst schon alleine klar kommen.“

Nat grinste zu den Jungs hinauf.

„Ihr habt uns gerettet, dafür habt ihr Einen gut. Meldet euch heute Nachmittag im Schloss, dann werden wir uns erkenntlich zeigen.“ Mit dem Daumen wies er über die Schulter.

„Das hier drin kriegen wir schon. Ich schicke Tally vor und muss mich dann nur noch um die Reste kümmern.“

Er spürte eine leichte Berührung am Rücken, dann hörte er unterdrücktes Fluchen. Die junge Captrecce hatte ihm in den Rücken boxen wollen und dabei die Zwergenrüstung vergessen.

Jetzt fiel Nat der Treffer am Bauch wieder ein. Er blickte nach unten. An der Stelle, wo der Speer ihn wuchtig getroffen hatte, war die Weste etwas eingedellt, wie eine Falte in der Kleidung. Er öffnete sie und drückte von innen gegen die Falte. Mit einem leisen „Plopp“ sprang die Falte heraus und die Weste sah aus wie vor dem Treffer. Nat verschloss sie wieder und bat Tally, gegen die getroffene Stelle zu schlagen. Sie hob einen der Steine auf, die die Jungs vom Dach geworfen hatten und schlug damit, nicht allzu sanft zu. Nat spürte einen leichten Anprall, aber hatte nicht den Eindruck, dass die Rüstung einen echten Schaden davon getragen hatte.

„Also gut, ich gehe vor.“

Er glaubte ein leises „Ich weiß“ zu vernehmen, war sich aber nicht sicher.

Er ging vorsichtig bis zur Hausecke und spähte die Rückwand des Hauses entlang. Genau in der Mitte war eine zweiflügelige Tür. Hier hatten wahrscheinlich die Männer Wache gestanden, die sie gerade in der Gasse von dieser Seite her angegriffen hatten. Nat und Tally mussten also davon ausgehen, dass man von ihrem Kommen wusste.

Jetzt hieß es schnell sein. Wenn Odu und Mahti noch lebten, würde man sie hier festhalten, um sie als Faustpfand einzusetzen. Aber auch das zeigte nur dann Wirkung, wenn man ihnen ein Messer an die Kehle hielt. Also galt es sie zu befreien, bevor jemand neben ihnen stand, bereit, sie ausbluten zu lassen.

Nat hastete los und war nach wenigen Schritten an der Tür.

Die Tür war geschlossen. Er drückte leicht dagegen, doch nichts bewegte sich. Von Innen musste ein Riegel vorgelegt sein.

„Nach vorne.“ Tally fasste ihren Freund am Arm.

Er schüttelte sie ab.

„Die Zeit haben wir vielleicht nicht. Sie wissen, dass wir kommen. Und die Tür dort wird genauso verschlossen sein.“

Er blickte die Wand entlang und nach oben. Am Nordende sah er die geschwärzten Balken, wie die Knochen eines Skeletts hervor ragen.

Er setzte bereits an, sich dorthin zu bewegen, doch dann lief ein Grinsen über sein Gesicht. Tally sah ihn erstaunt an.

„Was?“

Nat schob sie einen Schritt beiseite, trat einen Schritt von der Tür zurück und fasste sein Schwert fester. Er hob es hoch über den Kopf und ließ es mit aller Kraft herunter sausen.

Sein Schlag teilte das Holz, das den Spalt zwischen den beiden Türflügeln abdeckte, wie ein Henkersbeil Kopf und Körper. Der abgeschlagene Teil fiel herab und gab den Schlitz in der Tür, etwa zwei Fuß oder- und unterhalb der mittleren Höhe frei. In diesen Schlitz sauste das Schwert mit dem nächsten Schlag hinein.

Mühelos fraß sich das Elfenmetall durch den Holzriegel, Nat spürte nur ein leichtes Ziehen in Arm und Schulter.

Ein vorsichtiger Stoß ließ die Türflügel aufschwingen.

Zwei Schritte hinter den aufgehenden Türflügeln stand ein Mann, mit einem Beil in der Hand und blickte verstört auf die beiden jungen Menschen, die plötzlich durch die Tür stürmten, hinter der er sich gerade noch so sicher gefühlt hatte.

Tallys schneller Schlag prellte ihm das Beil aus der Hand. Nat ließ den Griff seines Schwertes gegen die Nasenwurzel des Mannes krachen. Der Schlag riss den Mann von den Beinen, er rollte noch einige Schritte weit über den Boden, dann blieb er bewegungslos liegen.

Tally und Nat sahen sich gehetzt um.

Sie befanden sich in einem schmalen Gang, zur linken und rechten Hand gingen einige Schritte weiter zwei Türen ab, voraus lag eine Tür, die sich in einen großen Raum, wohl das eigentliche Lager, öffnete. Nat und Tally schlichen den Gang entlang. An den Türen verständigten sie sich kurz mit einem Blick, dann sprangen beide in einen der dahinter liegenden Räume hinein. Doch die Räume waren leer. In einem stand ein großer Tisch, übersät mit Karten, Papierrollen und langen Listen. Auf einem schmalen Regal thronte ein Abakus. Der schwere Sessel hinter dem Tisch ließ darauf schließen, dass hier der Lagermeister sein Büro gehabt hatte. Der andere Raum war leer, bis auf ein paar alte Kornsäcke, die verstreut auf dem staubigen Boden standen.

Nat schob sich vor Tally und bedeutete ihr stumm, hinter ihm zu bleiben. Dann schlich er leise zur Tür in den eigentlichen Lagerraum. Ein vorsichtiger Blick ließ seinen Atem stocken.

Von einem Balken in der Mitte des Lagerraumes hingen Mahti und Odu an langgestreckten Armen. Mahtis Gesicht war blutig, Odus Hemd hat einen langen Riss und Blut war in Hemd und Hose gesickert. Doch beide schienen am Leben zu sein. Mahti zuckte nur leicht mit den Beinen, aber Odu hatte den Kopf erhoben und blickte sich mit klaren Augen um. Er entdeckte Nat, ihre Blicke trafen sich, doch das Gesicht des Bootsmannes blieb bemüht unbewegt. Mit einer leichten Bewegung des Kopfes wies er in Richtung Norden, wo die Sonne durch das vom Feuer beschädigte Dach schien. Hier waren Trümmer, angekohlte Balken und Steine zu wilden Haufen aufgeschichtet. An einer Stelle waren die Haufen herunter getreten und Balken notdürftig aus dem Weg geräumt. Hier hatten sich offensichtlich schon mehrfach Eindringlinge einen heimlichen Weg ins Innere des Lagerhauses gebahnt.

Rechts und links von diesem Trampelpfad lauerten mehrere Gestalten, hatten eine geschickt platzierte Falle aufgestellt. Allerdings hatten sie nicht damit gerechnet, dass ihre Beute durch die Tür kommen würde. Anscheinend wussten sie noch nichts von der Niederlage ihrer Wächter, glaubten immer noch, dass sich etwaige Angreifer nur über den Weg durch die heruntergebrannte Wand in das Lagerhaus schleichen würden.

Nat wollte vorsichtig losschleichen, zu Odu, um ihn und Mahti unauffällig zu befreien. Aber die weit aufgerissenen Augen des Bootsmannes ließen ihn stocken. Sein Blick war auf eine Stelle links neben der Tür gerichtet, dann blickte er zu Nat, dann wieder auf die Stelle neben der Tür.

Nat Ließ sich sofort auf die Knie sinken und lauschte angestrengt. Er hörte ein leises Plätschern, langsam versiegend, dann ein zufriedenes Grunzen und das Rascheln von Kleidung.

Nat zog sich noch einen halben Schritt in den Gang zurück und schob Tally hinter sich. Im nächsten Moment stapfte ein grobschlächtiger Mann heran, eine schwere Hellebarde über die Schulter gelegt und den Blick auf die beiden Gefangenen am Balken gerichtet.

„Hey Mann, ich glaube dein alter Freund hier macht es nicht mehr lange. Den brauchen wir nicht mehr eintauschen. Für dieses vertrocknete Knochengerüst gibt uns niemand auch nur ein Goldstück. Eigentlich könnte ich ihn gleich erledigen, dann tue ich ihm sogar noch einen Gefallen. Erlöse ihn von seinen Leiden. Das wäre doch göttergefällig, oder?“ Er lachte dröhnend.

Nat hatte die lauten Worte des Mannes genutzt, um sich bereits aus dem Schutz der Tür heraus auf den Grobschlächtigen zuzubewegen. Plötzlich war Tally neben ihm. Sie zeigte auf ihren Säbel, dann machte sie eine kurze Bewegung an ihrem Hals entlang. Ihr Finger wies auf Nat und sie bedeutete ihm den Mann und seine Hellebarde zu fassen. Nat nickte verstehend und leise schlichen sei weiter.

„Stechen oder schlagen? Schlagen oder stechen? Ach, das ist das Schöne an dieser Waffe. Man kann sich aussuchen, womit man so eine arme Kreatur in ein besseres Leben führen will. Stechen ist schon nicht schlecht, aber mit dem richtigen Schwung kann man so eine jämmerliche Figur in zwei Stücke schlagen. Also gut.“

Er trat einen Schritt zurück und hob die Hellebarde zum Schlag.

Plötzlich spürte er wie etwas den Schaft der Waffe packte und ihm aus den Händen riss. Bevor er sich umdrehen konnte oder auch nur einen Ton der Überraschung ausstoßen, spürte er einen scharfen Schmerz am Hals. Statt eines wütenden Brüllens kam nur ein ersticktes Gurgeln aus seiner durchschnittenen Kehle.

Nat hatte die Hellebarde blitzschnell zur Seite gelegt und umfasste den zusammenbrechenden Körper, bevor er krachend zu Boden stürzen konnte. Langsam ließ er ihn auf den festgestampften Lehm sinken, den Blick dabei auf die Nordwand gerichtet. Doch anscheinend hatte niemand den Angriff auf den Wächter bemerkt.

Tally sah sich suchend um, nach einer Möglichkeit, die hoch oben hängenden Taue durchzuschneiden und die beiden Hängenden zu befreien. Aber Odu machte sie mit einer Fußbewegung auf sich aufmerksam.

„Lass das“, flüsterte er. „Wir sind hier oben nicht besser oder schlechter dran als auf dem Boden. Ich kann euch noch nicht helfen, also müsst ihr das alleine schaffen. Schnappt euch Einen nach dem Anderen und tötet sie leise, dann könnt ihr uns befreien.“

Tally und Nat sahen sich an und der junge Mann glaubte, das Unbehagen in den Augen seiner Freundin fast mit Händen greifen zu können. Einen nach dem Anderen töten. In einem ehrlichen Kampf war das vielleicht unumgänglich, aber jetzt und hier!?! So ohne Not ein Gemetzel anrichten, unter Männern, die ihnen im Kampf kaum gewachsen waren!?!

Nat schüttelte den Kopf und Tallys dankbares Lächeln zeigte ihm, dass er ihre Blicke richtig verstanden hatte.

Der junge Mann richtete sich hoch auf.

„Halloohoo, wartet ihr auf uns?“

Die Köpfe der Männer, die an dem Durchbruch lauerten flogen herum. Hinter vereinzelten Steinhaufen erhoben sich Gestalten, deren Blicke unsicher zwischen dem Durchgang und den beiden Menschen in der Mitte der Halle hin und her wanderten.

„Also, ein kleiner Blick in die Zukunft. Ihr greift uns an, wir töten euch. Oder, ihr bleibt noch etwas unschlüssig stehen, unsere Freunde kommen, sie und wir töten euch. Oder, ihr nehmt die Beine in die Hand und verschwindet so schnell ihr könnt. Ihr überlebt, bis ihr uns das nächste Mal in die Quere kommt oder die Götter euch zu sich berufen. Ist das soweit verständlich?“

Nat sah bereits den ersten der Männer, der sich unauffällig Richtung Tür schob.

„Bleib stehen!“

Hinter einem Steinhaufen schob sich ein kleiner, schmächtiger Mann hervor. Er trug einen Kurzbogen, auf dessen Sehne ein Pfeil lag. Mit kleinen, unsteten Augen in seinem pockennarbigen Gesicht fixierte er den Mann, der zur Tür gehen wollte.

Sein Auftreten war das eines kleinen, bösartigen Tieres, eines Marders oder Wiesels. Gerade diese Bösartigkeit ließ ihn größer erscheinen und machte ihn offensichtlich zum Anführer, des Haufens, der hier lauerte.

„Niemand haut ab. Der Kerl redet doch nur. Wieso sollten hier plötzlich die Kerle aus dem Schloss auftauchen und wieso sollten wir, die wir deutlich in Überzahl sind, gegen diese Beiden hier verlieren.“

„Aah“, Nat nickte beifällig. „Diese Worte sind ein Zeichen von Intelligenz, denn hättest Du auf deinen Instinkt gehört und nicht auf deinen Kopf, dann wärest Du schon zur Tür hinaus. Die Kerle aus dem Schloss tauchen auf, weil wir zwei Boten zu ihnen geschickt haben. Und ihr verliert gegen uns, weil Tally die beste Kämpferin der bekannten Welten ist und ich besondere, ich möchte fast sagen magische Waffen habe.“

Mit diesen Worten schlug er sein Schwert in ein kleines Fass, das auf einem flachen Tisch stand. Das Schwert durchschnitt mühelos das Holz des Fasses und die Eisenringe, die es zusammenhielten. Das Fass zerfiel in zwei sauber durchschnittene Teile, die hin und her wackelnd auf dem Tisch liegen blieben.

Die ersten Männer ließen ihre Waffen sinken und machten sich bereit fluchtartig die Lagerhalle zu verlassen.

„N … Na und? Wir … ich, ich schieße dir einen Pfeil in den Wanst, dann kann dein Schwert noch so magisch sein. Dann freue ich mich, wenn ich eine so gute Waffe erbeuten kann.“ Noch einmal versuchte der kleine Bösartige seine Leute zu überzeugen.

Nat seufzte und schüttelte den Kopf, wie ein Schulmeister, der einem ungelehrigen Schüler seine Lektion nicht verdeutlichen konnte.

„Also gut, ein letzter Versuch, dann schlitzen wir euch auf.“ Er schlug sich mit der Hand gegen die Brust.

„Schieß mir einen Pfeil in den Wanst, dann sehen wir, ob du dich damit vor meinem Schwert schützen kannst.“

Er stellte sich breitbeinig hin und breitete die Arme aus, um den Pfeilschuss zu empfangen.

Es zuckte unsicher im Gesicht des kleinen Mannes, dann hob er den Bogen, zielte kurz und schoss. Nat zuckte zusammen, dann blickte er an sich herunter. Der Pfeil steckte zitternd in seinem Oberschenkel.

„WAS BIST DU DENN FÜR EIN IDIOT. ZU DÄMLICH MEINEN BAUCH ZU TREFFEN. ICH WERDE DIR …!“

Wutschnaubend stürzte Nat los, ignorierte den Pfeil in seinem Bein. Heißes Blut kochte in seinen Adern und ließ ihn den Schmerz vergessen. Der Anführer der Bande schrie auf. Bis gerade eben hatte er sich noch stark genug für einen Kampf gefühlt. Doch als er die unbändige Wut in dem Gesicht des jungen Mannes sah und sich gewahr wurde, was für ein schlechter Schütze er war, ließ er den Bogen fallen, wie ein Stück heißer Kohle. Mit einem Satz war er über den Schutthaufen, der ihm eigentlich Deckung geben sollte und rannte auf das Loch in der nördlichen Mauer zu.

Die Anderen waren von dem plötzlichen Ausbruch völlig überrascht, Panik breitete sich unter ihnen aus. Die, die sowieso schon an Flucht gedacht hatten, waren bereits in heller Aufregung auf dem Weg zu den Türen oder zum Durchbruch in der Mauer. Die zwei oder drei, die sich noch einen Kampf vorgestellt hatten, spürten jetzt auch das Herz in die Hose rutschen. Diesem wutschnaubenden Krieger mit seinem mörderischen Schwert wollte keiner sich in den Weg stellen. Eine Kneipenschlägerei mit acht gegen zwei, das hätten sie sich noch vorstellen können, aber zwei Kämpfer, die alleine das ganze Heer von Rrordrak besiegt hatten und den verrückten Druiden gleich noch dazu. Nein, das war keine Feigheit, das war Klugheit, sich hier ungeordnet zurückzuziehen.

Nat brüllte einen der Flüchtenden an, sein Schwert schlug eine Handbreit hinter dem Mann ein ellenlanges Stück Holz aus einem Balken. Der Mann schrie wie am Spieß, knatternd entleerte sich sein Darm. Wimmernd rannte er auf die Mauer zu und war im nächsten Moment verschwunden.

Nat blieb stehen, brüllte noch einmal laut vor Wut. Dann blickte er sich suchend um.

An der Hafenseite des Lagerhauses schlug die Tür hin und her, an der Tür zu dem Gang, durch den Nat und Tally gekommen waren, war kein Feind mehr zu sehen. Von der Außenseite des Durchbruches hörte Nat Jammern und Wehklagen, das aber immer leiser wurde.

Grinsend drehte der junge Mann sich zu Tally und Odu um.

„Ich glaube, denen habe ich einen Schrecken eingejagt.“ Er blinzelte Tally zu, dann sah er stirnrunzelnd auf sein Bein.

„Was für ein Trottel, unglaublich.“

Wieder ging sein Blick zu Odu, dann das Tau entlang, an dem der Bootsmann hing, zum Flaschenzug am Balken und von dort zu der Stelle, wo das Tau festgebunden war.

Mit wenigen Schritten war er da, löste das Tau und ließ es langsam nach. Schnell war Odu am Boden, wo Tally ihn stützte. Er schob sie weg und zeigte auf Mahti.

„Den könnt ihr hängen lassen. Dem geht’s bestens. Ein Kratzer auf der Stirn, drei Tropfen Blut, dann fällt er zusammen wie ein alter Lappen.“

Tallys Kopf ruckte hoch. Sie sah in die listigen Augen des Alten, die sie aus dem blutverschmierten Antlitz anfunkelten.

„Warum sollte ich mich schlagen lassen, wenn schon unser wichtiger Herr Bootsmann so ein paar Angreifer nicht abwehren konnte. Dann lieber warten, dass unsere jugendlichen Helden uns zur Hilfe eilen.“

Wütend funkelte Tally den Alten an, aber als sie das breite Grinsen in seinem faltenreichen Gesicht sah, konnte sie sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Welche Horden mussten sich denn auf euch stürzen, um zwei so gefürchtete Krieger zu besiegen?“

Odu machte ein zerknirschtes Gesicht.

„Keine Horden. Es waren sechs Männer, die die Enden einer Gassen besetzten und uns einschlossen. Die hätten wir … hätte ich schon geschafft. Aber einer hatte sich in einem Haus versteckt und als die Anderen heran waren, hat er mir die Tür ins Gesicht gerammt.“ Odus Hand betastete eine hühnereigroße Beule, die seine Stirn zierte.

„Ich war einen Moment weg und das hat den Kerlen gereicht mich und diese Memme da oben zu schnappen.“

„Hach.“ Mahti ließ ein lautes Seufzen ertönen. „Es ist doch immer wieder das Los der Klugen, dass der Pöbel ihre Weitsicht und ihre Klugheit nicht begreift. Aber ich verzeihe dir.“

Odu bückte sich, riss das Beil heraus, dass dem Toten zu seinen Füßen im Gürtel steckte und schleuderte es gegen den Balken, an dem der Strick befestigt war, der Mahti hielt.

Sauber durchschnitt das Beil den Strick.

Der Alte fiel wie ein Sack von oben herunter und stürzte bäuchlings zu Boden.

„So.“ Mit langsamen Bewegungen klopfte Odu sich den Staub von der Hose. „Dann hast du wenigstens auch ein paar blaue Flecken zum Vorzeigen.“

Er ging zum Balken, riss das Beil aus dem Holz und steckte es sich an den Gürtel.

Mitleidlos blickte er auf den Alten, der reglos am Boden lag.

„Mahti, hör auf mit dem Scheiß. Wenn du jetzt nicht in die Füße kommst, dann werde ich eben Hafenmeister.“

Wie eine an Fäden gezogene Puppe schoss der Angesprochene in die Höhe.

„Das gilt nicht. Wir haben abgemacht, dass ich der Hafenmeister bin. Ich kenn mich viel besser in den Gewässern hier aus. Du bist mal auf einem Fischerboot rumgegurkt, aber das heißt nicht, dass du Ahnung von der verantwortungsvollen Tätigkeit eines Hafenmeisters hast. Ich dagegen … .“

„Es ist ja gut.“ Mit einem Stoß schob Odu den Hafenmeister in spe zur Tür. „Dann zeig was du kannst, Hauptsache du kommst endlich mal auf die Füße.“

Die Antwort des Alten hörten Nat und Tally nicht mehr, denn die beiden Männer waren schon durch die Tür getreten und im Gewimmel am Hafen verschwunden.

Erst jetzt bemerkte Nat den Schmerz, der durch sein Bein zog.

„Au verflucht. Das tut ja weh.“

Er ließ sich auf eine Kiste sinken und blickte verstört auf den Pfeil in seinem Bein.

Tally schüttelte den Kopf. Sie ging zu ihrem Freund, packte den Pfeilschaft mit beiden Händen und trieb ihn mit einem Ruck durch das Bein des jungen Mannes, so dass die Pfeilspitze auf der Rückseite des Oberschenkels raus ragte.

„AHH, VERDAMMT. GEHT DAS nicht ein bisschen vorsichtiger.“ Im letzten Moment wurde Nat gewahr, dass hier die Frau die er liebte an ihm herumdokterte und er nicht wie ein Schwächling wirken wollte. Außerdem wusste er ja, dass seine Magie alle Verletzungen heilen würde.

Ohne ihn einer Antwort zu würdigen zog Tally ihr Messer und schnitt die blutige Pfeilspitze ab. Nat knirschte mit den Zähnen, als der Pfeil durch die Bewegung in seinem Bein hin und her drehte. Ihr Knie auf seinen Oberschenkel stützend, fasste Tally den Pfeil und riss ihn mit einem Ruck aus dem Bein. Blut floss aus der Wunde.

„Hrrgh. Willst du mich nicht wenigstens verbinden?“

„Wozu, das ist doch sowieso gleich heil.“

Nat verzog angesäuert das Gesicht, doch im Stillen musste er Tally Recht geben.

Er schob schmollend die Unterlippe vor, dann grinste er breit und gab Tally einen schnellen Kurs.

Er sah ihr in die Augen, sein Blick fokussierte sich, schien sich in der Tiefe ihrer Augen zu verlieren. Er spürte ein kurzes Ziehen im Kopf, wie ein angestrengtes Schielen, dann die unnatürliche Wärme, die seinen Körper durchströmte und sich in seinem Bein sammelte. Ein Blick auf den Oberschenkel, die Blutung versiegte, die Wundränder zogen sich zusammen. Nach wenigen Augenblicken war von der Pfeilwunde nicht einmal mehr eine Narbe zu sehen.

„Eigentlich schade.“

Tally sah ihn fragend an.

„Naja, ich kann später unseren Kindern nicht meine Narben zeigen und von meinen Großtaten berichten, weil ich keine Narben habe.“ Tally trat ihm gegen das Schienbein.

„Da sei dir man nicht zu sicher. Auch die Kräfte deines Vaters haben sich irgendwann verbraucht. Seine Narben von der Zeit im magischen Eis wird er unseren Kindern noch zeigen können.“

Ihr Gesicht lief puterrot an, als ihr klar wurde, dass auch sie jetzt von gemeinsamen Kindern sprach.

Dieser Wandel in ihrem Inneren verwirrte sie immer wieder, ließ sie manchmal atemlos innehalten.

Bis vor kurzem war ihr einziges Lebensziel gewesen den Piraten Blackard zu töten, möglichst langsam und qualvoll. Verdammt, da war es schon wieder. Dieses vor kurzem war gestern.

Dann war Nat in ihr Leben getreten, nein getrieben, und seine Bereitschaft sein Leben für eine Welt einzusetzen, die er nicht kannte und Völkern den Frieden zu geben, denen er noch nie begegnet war, hatte sie tief beeindruckt. Sie hatte lange dagegen angekämpft, hatte ihn erst als Eindringling in ihr Leben und dann in ihre Gefühle gesehen und vehement abgelehnt. Aber sein unbeirrtes Vorangehen hatte ihre Schutzwälle nach und nach abgetragen. Erst langsam und zäh und dann immer schneller.

Und jetzt sprach sie darüber Kinder mit ihm zu haben. Unfassbar. Dagegen musste sie schnellstens etwas unternehmen, sonst würde sie sich noch von der stolzen Captrecce in eine Lachnummer verwandeln.

Sie gab ihm einen Stoß.

„Also los, lass uns hier verschwinden, bevor man uns sucht.“

Sie gingen zum Tor, das zum Hafen führte. Dabei sahen sie sich immer noch sichernd um, denn man konnte ja nie wissen.

Als sie das Lagerhaus verließen, herrschte am Hafen rege Betriebsamkeit. Niemand schien von den Vorgängen im Lagerhaus etwas mitbekommen zu haben.

Nat schob sich zwischen zwei Männern hindurch, als sich plötzlich eine Hand auf seinen Arm legte. Er wollte nach seinem Schwert greifen, als er einen der Jungen erkannte, die mit Steinen nach den Männern in der Gasse geworfen hatten.

„Sie sind weg.“ Der Junge sprach unauffällig, ohne den jungen Mann neben sich anzusehen.

„Sie kamen wie die Ratten aus den Löchern und haben sich verteilt. Von denen ist nichts zu befürchten. Wir passen schon auf euch auf.“

Nat lächelte und wollte sich dem Kleinen zuwenden, doch er sah nur noch einen davon eilenden Haarschopf, der schnell zwischen den Leuten verschwand.

Er erzählte Tally von den Worten des Jungen.

Sie schüttelte zweifelnd den Kopf.

„Das ist kein so gutes Zeichen, wenn die so verschwinden. Damit ist klar, dass sie einen Plan hatten, wenn etwas schief geht. Ich wette, die wissen genau, wann und wo sie sich wieder treffen. Und es sind immer noch genug, um hier in Arkadien Ärger zu machen.“

Nat nickte zustimmend. Vom Kai her kam Odu auf die beiden jungen Leute zu.

„Ich hab den Großkotz erstmal zum Hafenmeister gemacht. Aber auszuhalten ist er nicht, wenn er sich auch noch wichtig vorkommt.“ Er griente. Nat schlug ihm lachend auf die Schulter.

„Wir werden uns etwas einfallen lassen müssen, damit hier kein Chaos ausbricht, wenn wir die Stadt verlassen. Die Einheiten, die meinem Vater unterstanden, sind durch Rrordrak und seine Spießgesellen zerschlagen worden, eingesperrt, getötet und einige sind sogar übergelaufen. Das wird einige Zeit dauern, bis sich wieder eine Truppe gebildet hat, mit der man auch einen Stadt verteidigen kann.“

„Nach innen verteidigen. Ich glaube nicht, dass Arkadien derzeit durch Invasoren von außen eine Gefahr droht.“

„Wir müssen das mit den Anderen besprechen, denn wir haben auch nicht die Zeit, hier erst den Frieden wieder herzustellen. Wer weiß, wie viele verborgene Trupps Rrordrak noch im Lande hatte. Ich kenne mich mit der Nekromantie nicht aus. Vielleicht kann man sogar seinen Körper und Geist soweit wieder herstellen, dass er diese Truppen noch anführen kann.“

„Das glaube ich eher nicht.“ Odu erläuterte den beiden jungen Menschen seine Worte nicht, doch vor seinem inneren Auge sah er den gelben Slim. Der war einer der Seeleute Tallys gewesen und hatte ziemlich plump versucht, sie für sich zu gewinnen. Nachdem er gescheitert war, hatte er sich Rrordrak angeschlossen und im Krater, in dem Jorina, Mahti, Odu und Tally mit ihren Leuten eine Heimat gefunden hatten, spioniert.

Nat hatte das heraus gefunden und den Mann überwältigt.

Jorina hatte ihn dann einer Spezialbehandlung unterzogen, die von Nekromantie nur wenig abwich. Jetzt war der Geist dieses Mannes so weit verkümmert, dass er einfache Befehle ausführen konnte, mehr nicht. Dass er etwas anderes als eine Prozession von Küchenschaben anführte war undenkbar.

„Aber dennoch bedeutet der Drache und die Leiche Rrordraks in den Händen eines Nekromanten gewiss nichts Gutes.“

„Nat, Hey Nat.“ Sharn bahnte sich einen Weg durch die Menschen und eilte auf die kleine Gruppe zu. Wenige Schritte hinter ihm folgte die schlanke Gestalt Ilanas, mit hochgeschlagener Kapuze, um mit ihrem elfischen Äußeren keine Aufregung zu verursachen. Sharn blickte an Nat vorbei. Als der einen Blick über die Schulter warf, entdeckte er Kalistan und Ygomir Wallin. Nat spürte leichten Ärger, als er sah, dass man nur diese Vier zu ihrer Unterstützung geschickt hatte. Doch der Ärger verflog sofort wieder, als der an die Kampfkraft dachte, die diese Vier bedeuteten. Und vielleicht wäre es nur im Sinne der Entführer gewesen, wenn das Schloss verwaist dagelegen hätte, während alle durch die Stadt hetzten.

Als sich alle sammelten berichtete Tally in kurzen Worten, was vorgefallen war. Schnell einigte man sich darauf, ins Schloss zurückzukehren und das weitere Vorgehen zu besprechen.

„Und was ist mit mir? Ich bin doch der Hafenmeister.“ Unauffällig hatte auch Mahti sich wieder zur Gruppe gesellt.

„Du kannst ja hierbleiben, wenn du Freund und Feind unterscheiden kannst. Ich wüsste noch nicht, wem ich hier vertrauen könnte.“ Odu schaute den Alten grinsend an.

„Aber ich schneide dich nicht noch mal vom Balken. Dann kannst du da hängenbleiben, bis du Trockenfleisch bist. Was bei dir nicht allzu lange dauern sollte.“ Lachend sprang er beiseite, als der Alte nach seinem Schienbein trat.

„Jetzt hört schon auf damit“, befahl Tally. „Wir müssen dem Nekromanten hinterher, aber wir dürfen Arkadien auch nicht unbewacht lassen. Das wird uns viele Leute kosten. Also, gehen wir ins Schloss und sprechen mit den Anderen. Vielleicht haben die eine Idee, wie wir trotzdem eine schlagkräftige Truppe aufstellen können.“

Sie gab Nat einen Schubs und trieb ihn vor sich her zum Schloss. Grinsend folgte ihr der Rest der Gruppe auf den Fersen.In schnellem Trab zog die kleine Armee der Elfen von Arkadien in Richtung ihrer Heimatwälder. Garondir hielt den Kopf stur geradeaus, das Kinn stolz aufgerichtet, durch und durch das Bild eines souveränen Anführers. Doch in seinem Inneren sah es anders aus. Eine gewisse Unruhe machte sich in ihm breit, gepaart mit etwas, das man für ein schlechtes Gewissen hätte halten können. Allerdings nicht gegenüber den Menschen, Zwergen oder Barbaren. Diese minderwertigen Völker hatten alles, was ihnen widerfuhr sicherlich auch verdient. Aber auf die Elfen durfte es sich nicht auswirken.

Es war an sich schon unsäglich, dass die unfehlbare Magie der Elfen …, nein, undenkbar.

Seine Gedanken schweiften zurück zu einer Zeit, in der die Elfen alle anderen Bewohner dieser Insel mit aller Macht ins Meer zurück treiben wollten, dem sie entstiegen waren. Oder wieder in ihre Erdlöcher stopfen, aus denen sie gekrochen waren wie Maulwürfe.

Menschen, dieses unverschämte Volk, das glaubte Herr über alles sein zu können, was es sah. Jeden Fußbreit Boden für sich beanspruchen zu können, den sie jemals betreten hatten. Natürlich sprachen sie von Frieden, aber nur, damit man sie in Frieden ließ, während sie den anderen Völkern Schritt für Schritt ihren Willen aufzwangen.

Dann die Barbaren. Dieses laute, übelriechende, kleingeistige Volk, eigentlich nur eine große Horde völlig irrer Schläger und Meuchler, die sogar auf Steine einprügelten, wenn sie ihnen im Weg lagen. Völlig unverständlich, was die Natur sich von ihnen erhofft hatte.

Und die Zwerge?!? Da hätte Mutter Natur sich einen großen Gefallen getan, wenn sie diese vom Angesicht der Welt getilgt hätten. Diese wühlenden Ratten, die Mutter Erde aushöhlten wie Maden einen Kadaver. Die seine Edelsteine und sein Gold aus ihm heraus brachen und diese Wunder der Natur mit roher Gewalt in Abbilder ihrer armseligen Götter verwandelten. Die sich unter der Erde versteckten und Freiheit und Weite wie einen Feind betrachteten.

Garondir spürte wie sein Blut in Wallung geriet. Nur gut, dass die Elfen so destruktive Gefühle wie Wut schon längst hinter sich gelassen hatten. Sonst hätte er jetzt denken können, dass er wütend wurde. Ein Schauder durchlief seinen Körper. Was für ein Grauen, vielleicht noch genauso wütend zu werden, wie die Barbaren, die scheinbar immer unter Druck standen wie ein Geysir, der in regelmäßigen Abständen hochkochte und heißes Wasser wie Gift und Galle in die Luft spie.

Die Mundwinkel des Elfenfürsten verzogen sich zu der Andeutung eines Lächelns, als er daran dachte, Thibold Eisenhammer, den Anführer der Zwerge auf einem Geysir tanzen zu lassen.

Nur gut, dass die Elfen auch so etwas Peinliches wie den Humor hinter sich gelassen hatten. Ein elfisches Fest mit lautem Lachen … :

Garondir glaubte, dass kleine Pfeile sich in seinen Nacken bohrten. Entsetzlich, nur wenige Tage in der Nähe dieser …, dieser Beleidigungen wider die Natur und schon zogen solch ekelerregende Gedanken durch seinen Kopf.

Es war gut, dass er seinen kleinen Trupp wieder zurück ins Elfenreich führte, bevor die Jüngeren unter ihnen vielleicht zu lange mit den Auswüchsen des menschlichen Lebens in Berührung kamen.

So wie Ilana. Seine Hände krampften sich um die Zügel.

Merkte sie nicht, wie sie die Elfen mit ihrem Gehabe verriet. Diese Freundschaft mit den Menschen, ihre … ihre Gefühle für dieses … dieses Individuum.

Garondir spürte, wie das aufwallende Blut seine Gedanken blockierten. Nur gut, dass er keine Wut mehr kannte, sonst … .

Er hatte ihr die Freundschaft der Elfen wieder angeboten, mit einem Lächeln auf den Lippen. Was war er doch für ein fantastischer Schauspieler. Er hatte ihre Freude bemerkt, sie hatte sich nicht so unter Kontrolle, wie man es von einem Elf erwarten konnte.

Natürlich konnte sie in das Land der Elfen zurückkehren, den Hain ihrer Eltern besuchen.

Und dann? Dann würde man sie aufhalten, vielleicht töten. Auf jeden Fall dafür sorgen, dass sie nicht mehr in der Welt der Menschen durch ihre Art und durch ihre Reden das Ansehen der Elfen besudeln konnte. Wie konnte sie glauben, dass die Elfen über ihr minderwertiges Blut hinwegsehen, ihre Abstammung vergessen, ihre Worte gegen die Gedanken der Elfen hinnehmen würden. Undenkbar.

Wieder ein Aufwallen des heißen Bluts. Garondir fürchtete einen kurzen Moment, dass die Spitzen seiner Ohren so rot leuchteten wie eine Flamme.

Dann beruhigte er sich wieder.

Alles lief gut. Die Bedrohung für die Insel war abgewendet, die Verantwortlichen für die Schandtaten der letzten Zeit zur Rechenschaft gezogen. Die Zwerge standen in einer unglücklichen Position, da sie in ihrem Hinterland die Entwicklung der Nekromantie zugelassen hatten. Gut so.

Allerdings musste er jetzt unbedingt darauf achten, dass niemand das Geheimnis entdeckte, dass hinter der ganzen Sache steckte. Und wenn Garondir dafür zu drastischeren Maßnahmen greifen sollte. Am einfachsten war es, zu verhindern, dass jemand die Insel betrat. Dann den Drachen vernichten, damit auch niemand die Insel verlassen konnte und alles wäre zur vollen Zufriedenheit geregelt. Aber dafür nahmen die Menschen sich mal wieder zu wichtig. Ihnen war daran gelegen, einer problematischen Situation auf den Grund zu gehen. Sie einfach nur in eine unproblematische Situation zu verändern, genügte ihnen ja nicht.

Also gut, jetzt ging es darum, die Menschen und Zwerge von der Insel fernzuhalten. Eine gute Möglichkeit wäre es gewesen, in Arkadien zu bleiben und mit den Anderen die weiteren Aktionen zu planen. Doch seine Nähe zu den Zwergen und den Menschen, die glaubten, sie könnten die Welt verändern, hatte ihm Kopfschmerzen verursacht. Seine Selbstbeherrschung war natürlich über jeden Zweifel erhaben, aber wenn man den Anderen so gnadenlos überlegen war, dann war die eigene Geduld sehr begrenzt.

Jetzt streckte der Anführer der Elfen sich im Sattel. Er hatte bereits einen Plan für das weitere Vorgehen.

Er würde einen seiner niederrangigen Stellvertreter mit einigen Kämpfern losschicken. Sie würden sich den Anführern des Feldzugs gegen die Inseln anschließen. Diese wären so froh, die Elfen wieder in ihren Reihen zu sehen. Dann würden Spione ihn immer auf dem Laufenden halten, was die Fortschritte auf dem Weg zur Insel anging.

Wenn die Gefahr drohte, dass die Wahrheit ans Tageslicht kommen sollte, dann würde Garondir sich etwas einfallen lassen, was verhinderte, dass ein schlechtes Licht auf die Elfen fallen konnte.

Ein schlechtes Licht. Welch unzureichende Beschreibung für das Unglück, dass sein stolzes Volk getroffen hatte. Dabei waren ihre Ziele doch über jeden Zweifel erhaben gewesen. Garondirs Gedanken schweiften zurück, zu den unseligen Tagen.

Stille herrschte in dem weiten Rund des Versammlungsraums der Elfen in Hochweiden. Nur unterbrochen von dem seltenen Geräusch eines Vogels und dem Knacken eines Baumes, der sich unter sanftem Wiegen den Strahlen der Sonne entgegen streckte. Zwölf Elfen standen in der Mitte des Saales, ohne Blick für die Schönheit des umgebenden Raumes.

Unzählige Bäumen bildete die Wände des Saales, feine weiße Rinde mit Maserungen, die sich zu Bildern zusammenfügten. Bilder über das Entstehen der stolzen Rasse der Elfen, ihren Aufstieg, ihr Präsenz auf dieser Welt und ihren Weg zum Volk, das der Perfektion so nahe stand.

Das Dach des Saales waren die geflochtenen Äste und Zweige der Bäume, die sich zu einer erhabenen Kuppel wölbten, an der höchsten Stelle mehr als fünfzehn Mannshöhen empor. Der Saal bot Platz für mehr als fünfhundert Elfen. Doch jetzt waren nur zwölf anwesend.

Es handelte sich um die Anführer einzelner Haine, die die Geschicke ihres Volkes lenkten und dabei nach Garondirs Sinne handelten, sowie Garondir, den derzeitigen Anführer aller Elfen. Neben ihnen standen die sieben besten Magier, Druiden und Alchemisten, die das Elfenvolk aufbieten konnte.

Ihr Wissen und ihre Fähigkeiten waren einzigartig, sie bildeten eine geistige Elite, wie sie keines der anderen armseligen Völker jemals erreichen würde. Und doch standen auch sie jetzt vor einem Problem, dass zu lösen ihre ganze vereinte Kraft erforderte.

„Dann erklärt uns noch einmal, was passiert ist.“ Garondirs Stimme klang gepresst. Auch wenn er wie immer bemüht war, seine Stimme und sein Auftreten zu kontrollieren, war die unterdrückte Wut deutlich hörbar.

Der älteste aus der Gruppe trat vor und blickte sich ruhig um.

„Ich werde noch einmal kurz die Situation zusammenfassen, damit wir alle wissen, an welchem Punkt wir jetzt stehen.“

Garondirs Augen schienen Blitze zu schießen, doch der Alte blieb davon ungerührt.

„Der Hohe Rat der Elfen hatte beschlossen, einen Weg zu finden, das Leben der Elfen zu verlängern. Wir leben bereits jetzt deutlich länger als die Menschen und etwas länger als die Zwerge, doch einem Volk wie dem Unseren steht eine deutlich längere Lebensspanne zu, eigentlich sogar die Unsterblichkeit.“

Niemand erhob Einwände gegen diese extreme Darstellung der elfischen Überlegenheit über die anderen Völker. Sie war einfach Teil ihres Selbstverständnisses.

„Die Natur ist Ausdruck unseres Glaubens, des Willens unserer Götter, Teil dieses Ganzen zu sein. Dazu gehört vielleicht auch der Wille, unsere Lebenszeit endlich zu machen. Doch warum sollen wir nicht die Mittel der Natur einsetzen, unsere auf ihr basierende Magie und unsere Erkenntnisse, die wir im Zusammenwirken mit der Natur gemacht haben, um diese Endlichkeit auszudehnen oder aufzuheben.“

Garondir spürte Unruhe in sich aufsteigen. Er kannte all die Hintergründe für die Entwicklung dieser Idee. Er war ihr brennendster Befürworter gewesen, hatte sich über die Widerstände hinweg gesetzt, die einen solchen Einfluss auf den göttlichen Willen ablehnten. Er wollte jetzt von den Ergebnissen hören und nicht noch einmal den Entstehungsweg beschreiten. Doch Ungeduld stand einem Elfen nicht zu, daher beherrschte er sich mühsam, dem Magier weiter zuzuhören.

„Also haben unsere besten Alchemisten nach den Kräften gesucht, die wir benötigen, um unser Leben zu verlängern. Was hat eine so lange Lebensspanne, dass es für uns Elfen erstrebenswert ist, unsere Lebensspanne anzupassen.

Ein Stein war unsere erste Idee, doch die Nähe zu den Zwergen und ihrem Wühlen in den Eingeweiden der Erde war uns zu unsäglich, als das wir dieses wirklich ins Auge fassten.

Dann kamen wir auf das Leben eines Baumes und diese Idee erfüllt alle Kriterien, die wir uns vorstellen. Eine lange, aber nicht endlose Lebensspanne, die Nähe zur Natur und die Großartigkeit dieser Schöpfung. Und wenn die Götter den Bäumen ein solch langes Leben zugedacht haben, dann doch auch gewiss uns, den Hütern des Wissens über die Natur, den Beschützern der Bäume.“

Der Alte wischte sich über das Gesicht.

„Dann kamen wir Magier an die Reihe und suchten nach Möglichkeiten die naturgebundene Magie einzusetzen, um die Endlichkeit unseres Lebens zu überwinden.

Und wir fanden einen Weg. Zauber, so komplex, basierend auf den Zusammenhängen der natürlichen Lebensgrundlagen, ergänzt durch die umfassenden Kenntnisse unserer besten Alchemisten und Druiden.

Doch wir stießen auf ein Problem. Der Zauber war flüchtig, aufgrund seiner Komplexität, den Ingredenzien, die für seine Umsetzung benötigt wurden und der machtvollen Wucht seiner Worte. Ihn an einen einzigen Elfen zu binden, hätte diesen vernichtet, ebenso einen Baum oder ein anderes lebendes Wesen. So kamen wir letztendlich doch zurück zu den Steinen. Ein Stein lebt, doch er lebt sehr langsam. Dabei ist er so standhaft, dass kaum ein Zauber ihn vernichten kann. Die Macht, die er ertragen kann ist ungeheuer.“

Ein innerer Schauer schien den Magier zu schütteln.

„Wir suchten nach einem passenden Stein und fanden einen Monolithen, groß, schön, sofern man das für etwas Unbeseeltes wie einen Stein sagen kann und dazu geeignet, den Zauber aufzunehmen und wieder abzugeben. Ziel war es, den Zauber so einzubinden, dass jeder Elf, der sich für einige Zeit in der Nähe des Monolithen aufhält, von der Unsterblichkeit oder zumindest einer verlängerten Lebensdauer beseelt ist und sie Teil seines Daseins wird.

Doch etwas misslang. War es ein Zauber, war es eine der Zutaten der Druiden oder war es ein Fehler der Alchemie, es ist nicht zu sagen.“

Die Stimme des Alten wurde brüchig.

„Es trat eine Wirkung ein, wenn man sich für eine Zeit in der Nähe des Monolithen aufhielt. Es entstand eine unstillbare Sehnsucht nach dem Tod. Nicht nach dem eigenen, sondern danach andere in einen totenähnlichen Zustand zu versetzen, in dem sie keinen eigenen Willen mehr hatten, sondern dem Willen desjenigen, der sie in diesen Zustand versetzt hat völlig unterworfen sind.“

Der Alte hob die Hand, sie Worte die er sprach, schienen ihn seine gesamte Kraft zu kosten. Obwohl er nur von dem Monolithen berichtete, schien dieser ihm Lebenskraft zu entziehen. Einer der anderen Magier zog eine kleine Flasche aus seinem Umhang und reichte sie dem Alten. Dieser nahm einen Schluck und sofort schienen seine Lebensgeister wieder zu erwachen. Mit neuer Stärke in der Stimme fuhr er fort.

„Wir ließen Gefangenen die Ehre angedeihen, als Erste die Wirkung des Steines zu erfahren.“

Dass es aus den Kämpfen mit den anderen Völkern noch menschliche und barbarische Gefangene bei den Elfen gab, war den anderen Völkern nicht bekannt. Sie glaubten ihre Freunde und Verwandten in den Kämpfen um Iskandrien gestorben oder verschollen. Stattdessen dienten sie den Elfen als Arbeitskräfte für die niederen Arbeiten und gelegentlich als Versuchskaninchen für ihre Forschungen.

„Die Veränderungen, die die Gefangenen erlebten waren … bemerkenswert. Zuerst schienen sie vor dem Einfluss des Monolithen fliehen zu wollen, dann drängten sie sich ganz eng an den Stein. Einige wenige versuchten sich ganz am Rande des Käfigs zu halten.“

Unnötig zu sagen, dass die Elfen ihren Gefangenen nicht die Wahl gelassen hatten, ob sie an dem Versuch teilnehmen wollten. Sie hatten ihre Versuche an dem Monolithen in einem von hohen Gittern abgetrennten Bereich abgeschlossen, dann die Gefangenen dort hinein getrieben und abgewartet, was passiert. Die Wirkung war überraschend schnell eingetreten.

„Die, die sich an den Stein drängten, machten eine erschreckende Verwandlung durch. Ihre Körper schienen auszuzehren, schmale, hohlwangige Gestalten. Doch ihre Augen begannen in einem intensiven rot zu leuchten. Schon da waren wir uns ziemlich sicher, dass unsere Versuche gescheitert waren. Dann griff einer der Rotäugigen einen anderen an, der sich am Gitter zu verstecken versuchte. In wenigen Momenten schien auch der zu zerfallen. Nur durch bloßes Festhalten, entzog der Angreifer dem Körper seines Opfers jegliche Lebenskraft. Aber anstatt in sich zusammen zu fallen, blieb das Opfer auf den Beinen und folgte seinem Mörder auf Schritt und Tritt, wie ein gehorsames, abgerichtetes Schoßtier.“

Seufzend und mit einem trockenen Würgen, warf der alte Elfenmagier das schreckliche Wort in die Runde.

„Nekromandus.“ Schweigen senkte sich über die Runde, lähmendes Entsetzen machte sich breit. Garondir spürte, wie die Wut in ihm hochkochte.

„Heißt das, die besten Magier, Druiden und Alchemisten der Elfen haben nicht nur keine Unsterblichkeit erreichen können, sondern auch noch ein Artefakt geschaffen, dass andere Wesen in Nekromanten verwandelt?“

Seine Stimme war eiskalt. Einer der Angesprochenen trat vor und sah ihm furchtlos in die Augen.

„Das ist insofern nicht ganz richtig, Fürst Garondir, als wir sehr wohl das erreicht haben, was unser Auftrag war. Nämlich eine Möglichkeit, das eigene Leben zu verlängern, vielleicht sogar unsterblich zu werden. Nur auf eine … ungewollte Art und Weise.“

„Und was bringt uns das dann, außer einer großen Gefahr inmitten unserer Wälder?“ Die Stimme des Anführers der Elfen war nur ein Zischen.

„Eine Aufgabe.“ Immer noch blieb der andere Magier scheinbar ungerührt. „Es ist wie immer, wenn man etwas Neues schaffen möchte. Es entstehen möglicherweise unerwünschte Dinge, die es dann zu beseitigen gilt. Und das möglichst schnell.“

„Was soll das heißen?“

„Nun, wir haben festgestellt, dass der Boden um den Monolithen herum sich verändert. Alles in seiner Nähe stirbt, nicht so schnell und auf einem begrenzten Raum, doch wir wissen nicht, wie weit das noch geht.“

Garondirs Augen schrien Mord, doch ein Elf durfte nicht derartig überbordende Gefühle zeigen.

„Also, was gedenkt ihr zu tun?“

„Nun.“ Jetzt erhob wieder der Alte die Stimme. „Wir hatten überlegt, den Stein zu zerschlagen, doch wir haben festgestellt, dass jedes einzelne, noch so kleine Teil die Nekromantie in sich trägt. Damit würden wir das Problem also vervielfachen. Dann haben wir überlegt, den Monolithen im Meer zu versenken. Doch das Wasser umspült den Stein, verdunstet, wird zu Wolken und Regen, der dann auf uns herunterfällt. Was könnte das für uns und die Natur bedeuten? Wir wissen es nicht und sind nicht bereit, es auszuprobieren. Genauso ist es mit dem Vergraben, wenn der Monolith den Boden um uns herum verseucht.“

„Sagt mir nicht, was ihr nicht tun könnt, sagt mir was ihr tun werdet.“ Dem Magier fiel auf, dass Garondir die Verantwortung für den Verbleib des Monolithen offensichtlich ausschließlich in die Hände der Magier, Druiden und Alchemisten legte. Solange Aussicht bestanden hatte, dass der Monolith sein Heil über das Volk der Elfen bringen würde, hatte Garondir keine Gelegenheit ausgelassen, über seine Idee und die Fortschritte zu schwelgen. Jetzt distanzierte er sich rasend schnell von Allem und ließ die, denen er den Auftrag erteilt hatte alleine mit dem Problem zurück.

„Wir werden den Monolithen weg bringen.“

„Wohin“, bellte der Elfenfürst.

„Es gibt eine kleine Insel vor dem Land der Zwerge. Sie ist nur durch eine schmale Brücke mit dem Festland verbunden. Wenn es uns gelingt, den Monolithen unbemerkt dort hin zu bringen, dann kann er kein Unheilmehr anrichten. Die Menschen, die dort leben, sind Abtrünnige, Flüchtige und Wesen, die die Einsamkeit suchen. Es gibt praktisch keine Verbindung zur sonstigen Welt.“

„Und sollte sich etwas Böses auf der Insel regen, so wird es die Zwerge angreifen und nicht uns.“ Die Augen des Anführers verengten sich, ein Anzeichen besonderer Belustigung.

„Ein Gedanke, der mir durchaus zusagt. Aber wie kriegt ihr den Stein dort hin.“

„Nun.“ Jetzt fühlte auch einer der Alchemisten sich gefordert. „Wir werden den Stein auf ein Schiff laden und damit an der Küste des Zwergenreiches landen. Einige werden dann von Bord gehen und sich über die Brücke auf die Insel schleichen. Das sollte kein Problem sein. Dann wird das Schiff an der Steilküste entlang fahren, bis es eine ausreichend ruhige Stelle findet. Die Elfen auf der Insel werden Seile … .“

„Ich will das gar nicht wissen. Tut was getan werden muss und sorgt dafür, dass diese Monstrosität das Reich der Elfen nicht länger besudelt.“

Und so war es geschehen. Die Elfen hatten mit Hilfe ihrer Gefangenen den Monolithen auf das Schiff und dann weiter ins Zwergenreich geschafft. Dieser Weg hatte etliche Gefangene das Leben gekostet, weil sie dem Wahn des Steines verfielen und getötet werden mussten. Kleinere Einflüsse konnten die Elfenmagier noch zurück drängen, aber wenn die Umwandlung abgeschlossen war, half nur noch ein schneller Schwerthieb, am besten zum Abschlagen des Kopfes, um die Ausbreitung der Nekromantie zu verhindern. Sogar zwei der begleitenden Elfenkrieger verfielen der unseligen Macht des Monolithen.

Durch Glück und Einsatz von Magie gelang es auch die Brücke zu überwinden und den Stein im Dschungel der Insel zu platzieren. Die Elfen, die von der Mission zurück kehrten waren von Grauen geschüttelt, doch der Friede in den elfischen Hainen hatte ihnen geholfen, wieder zur Ruhe zu kommen. Sie wurden einem Zauber unterzogen, der sie alles vergessen ließ, was sie erlebt hatten, ihren Geist völlig reinigte von dem Wissen um den Monolithen … und um die Verantwortlichen für dieses Desaster. Am Ende gab es nur einige wenige Mitglieder des Elfenrats und der Druiden- und Magierzirkel, die von dem gescheiterten Experiment wussten. Als zwei von ihnen eines überraschenden und möglicherweise nicht so natürlichen Todes starben, verschwanden auch die letzten Informationen über den Monolithen in der totalen Versenkung.

Zudem half die Fähigkeit der Elfen, ungeliebtes Wissen so zu verdrängen, dass sie es wirklich vergaßen, aus ihren Köpfen verbannten.

Eigentlich war damit alles gut. Die Elfen hatten das Problem verlagert, wenn jetzt die Nekromantie ausbrechen sollte, dann wäre es das Problem der Zwerge.

Langsam nahm Garondir wieder die Gegenwart um sich herum wahr. Er verfluchte innerlich das Schicksal, dass die Götter ihm aufgezwungen hatten.

Wer konnte denn ahnen, dass diese rotäugigen Monster sich gleich einen Verbündeten auf Iskandrien suchten und in diesem Maße Unruhe stifteten. Dann wurde die Brücke zerstört und das ganze Elend hätte auf den paar Quadratfuß Land bleiben können. Aber nein, einer der verdammten Untotenmacher musste einen Drachen an sich binden und mit diesem über die Insel reisen. Warum, ihr Götter?

Im Nachhinein musste Garondir zugeben, dass es ein Fehler war, Arkadien so fluchtartig zu verlassen. Doch die Nachricht von der Flucht des Nekromanten hatte etwas in ihm ausgelöst, dass er nicht mehr sicher war, ob er seinen Ärger über die tölpelhaften Menschen und Zwerge noch länger unterdrücken konnte. Ja, er war ein Elf, er hatte seine Gefühle eisern unter Kontrolle, aber der Anblick dieser unzureichenden Völker, die über diese Insel stolzierten, als wäre sie ihre, das war mehr, als ein aufrechter Elf ertragen konnte.

Er musste jetzt einen guten Grund finden, warum die Elfen verschwunden waren, insbesondere dann, wenn einige von ihnen wieder zu den anderen Trupps zurückkehren sollten. Aber da würde ihm schon etwas einfallen, ihm fiel immer etwas ein.

Vielleicht sollte er Yillimar schicken. Dieser unechte Elf, der immer wieder die Freundschaft mit den anderen Völkern predigte. Der wäre da doch genau richtig. Und wer weiß, vielleicht könnte es sogar ein großes Unglück geben, dass ihm etwas zustieß. Das wäre sehr bedauerlich.

Garondir spürte, wie seine innere Ruhe wieder Einzug fand in seine Seele. Vielleicht bot diese unselige Situation ja doch Möglichkeiten, die er noch nicht vorher gesehen hatte. Vielleicht hatten die Götter ihm Gelegenheiten geschickt und es lag an ihm, diese zu nutzen. Ein tiefes Gefühl der Ruhe und Zufriedenheit breitete sich in ihm aus. Er überließ seinen Körper wieder dem kaum spürbaren Schwanken des Pferdekörpers unter sich und etwas, dass Unwissende für ein Lächeln halten könnten, umspielte seine Züge.Unter dem Licht einer blakenden Welfernbrunstlampe standen Siegoin und Brenok in einem Zelt, in der Nähe des Monolithen, über eine Karte gebeugt. Die Karte hatte Siegoin aus Arkadien mitgebracht. Sie zeigte sehr genau alle Besonderheiten Iskandriens, alle Städte, Berge, Flüsse, die Küstenlinien, ja sogar die Brücke zur Insel der Nekromanten.

Siegoins knochiger Finger fuhr langsam über den Strich, der die Meerenge überspannte.

„Ich bin noch unentschlossen, ob es ein Nachteil für uns ist, dass es die Brücke nicht mehr gibt. Vielleicht schützt uns das auch davor, von einem vereinten Heer der Zwerge, Menschen und Elfen überrannt zu werden.“

Brenok gab ein trockenes Geräusch von sich, fast wie ein Seufzen.

„Vereintes Heer. Das hätte nie passieren dürfen. Dieser Verrückte, der glaubte, die Völker gegeneinander aufbringen zu können hat dafür gesorgt, dass sie sich so nahe stehen, wie noch nie zuvor. Vor einigen Umläufen wäre es noch undenkbar gewesen, dass Zwerge und Elfen, Menschen und Barbaren gemeinsam Schulter an Schulter in einen Kampf ziehen.“ Der Nekromant schüttelte sich.

„Die Zwergen hätten jedem, der versucht hätte ihr Land zu betreten, sehr deutlich einen Felsbrocken vor die Füße geworfen.“

Er ließ ein keuchendes, freundloses Lachen ertönen.

„Jetzt öffnen sie ihnen die Tore in ihre Berge und servieren ihnen Bier und Ziegenfleisch.“

Zweifelnd schüttelte Siegoin den Kopf.

„Ich glaube nicht, dass der Zusammenhalt so stark ist. Ich habe die Truppen der Menschen, Zwerge und Elfen ziehen sehen. Die Elfen und Zwerge schienen sich sehr misstrauisch zu beäugen. Die Menschen waren wie ein Bindeglied oder aber wie ein Puffer dazwischen, um eine sehr zweifelhafte Gemeinschaft aufrecht zu erhalten, allerdings auch gegenseitige Übergriffe zu verhindern.“

„Irgendwie müssen wir das doch nutzen können, um nicht irgendwann einer geballten Macht gegenüber zu stehen.“

Mit dem Daumen wies Siegoin über die Schulter auf die beiden Barbaren, die vor dem Zelt standen. Er machte sich einen Spaß daraus, die beiden wie Hunde hinter sich her traben zu lassen, als seine Leibwächter.

„Die Barbaren müssen wir dabei nicht fürchten. Die sind nicht in der Lage sich für mehr als einen Kampf mit jemandem zu verbünden. Eigentlich nicht einmal für einen Kampf. An irgendeinem Punkt schlagen die einfach nur auf alles ein, was nicht so nach Pferdemist stinkt wie sie selber. Warum sie sich davon abbringen ließen die Menschen anzugreifen und stattdessen die Bande Rrordraks zu vernichten ist mir schleierhaft.“

Über das wie und warum der Vernichtung der Bande hatte der Falkenreiter, der die Nachricht gebracht hatte, nichts gesagt. Siegoin hätte das gerne aus ihm herausgeholt, doch Rrordrak hatte getobt vor Wut und den Boten verjagt, um ihn nicht in einem Anfall zu pulverisieren. Falkenreiter waren selten und wertvoll.

„Auch Elfen und Zwerge werden keinen andauernden Frieden halten können. Wenn sie nicht aufeinander losgehen ist das schon eine Situation, die an ein Wunder grenzt. Der Hochmut der Elfen und die Sturheit der Zwerge können eigentlich nicht nebeneinander bestehen.“

Siegoins Stirn legte sich in Falten und er kniff die Augen zusammen, als er nachdachte.

„Vielleicht könnten wir diesen … Unfrieden in Krieg verwandeln. Wir müssten einige unserer Zwerge … . Andererseits hat es diese Versuche in der Vergangenheit gegeben, durch Rrordrak geplant und durchgeführt. Inzwischen fällt niemand mehr darauf rein“

Brenok lachte leise.

„In deinem ersten Leben hattest du offensichtlich wenig mit dem Krieg zwischen den Völkern zu tun. Ich war Soldat und ich kann dir sagen, den Kampf hat es nicht gegeben, weil dies einer großen Sache diente. Es gab ihn, weil man die Anderen bekämpfen wollte. Uns interessierten nicht diese endlosen Wälder, wo du keine zehn Schritt weit sehen kannst vor lauter Grün. Wo kein Pflug in die Erde dringt, weil die Wurzeln alles für sich vereinnahmt haben. Nein, es ging darum, dass man nicht wollte, dass es noch Elfen gibt, die ihren Fuß auf Iskandrien setzen.“

Er schlug mit der flachen Hand auf das Grenzland zwischen Borgkarst und Endoria.

„Und hier wird in Äonen kein Frieden herrschen, auf den man sich wirklich verlassen kann. Der Hass zwischen Zwergen und Elfen steckt so tief, der Wunsch den Anderen zu töten ist ihnen mit der Muttermilch eingeflößt worden. Das ist immer ein Fass voller Welfernbrunst und wenn wir genug Lunten an dieses Fass legen, wird es eines Tages explodieren.“

Ein schmales Grinsen verzerrte sein Gesicht.

„Außerdem sollten wir darüber nachdenken, ob wir nicht auch eine Armee aus Abschaum aufstellen können, so wie dein Freund Rrordrak.“

Er kicherte, ein Geräusch wie das Knistern von Pergament und sein Blick wanderte zu einem der Feuer auf dem Platz vor dem Zelt.

Der Schwarzdruide stand bewegungslos da, das Spiel der Flammen ließ sein Gesicht bewegt aussehen, als würde er in unruhigem Spiel die Miene verziehen. Brenok schüttelte den Kopf. Das war natürlich unmöglich. Die Untoten hatten keine eigenen Empfindungen und Gedanken mehr, also konnten sich diese auch nicht in ihren Fratzen widerspiegeln.

Siegoin folgte dem Blick, dann schüttelte er sich und nahm wieder die Karte in Augenschein.

„Das würde sehr lange dauern. Ich glaube, die wenigsten wären mit der Aussicht einverstanden, dass nur noch Untote über ihr Land wandeln. Das Chaos und die Gesetzlosigkeit, die Rrordrak ihnen versprach, hatten noch eine gewisse Anziehungskraft. Aber ein Leben mit dumpf in die Gegend Blickenden, denen hin und wieder ein Körperteil abfällt … nein, ich denke eher nicht.“

Er nahm die Karte und rollte sie sorgfältig zusammen.

„Wir werden die Flüge mit dem Drachen nutzen, um die Kräfte unserer Freunde zu verbessern und für kleine Störungen und Unannehmlichkeiten bei den Bewohnern Iskandriens zu sorgen. Ansonsten warten wir, bis die Tunnel fertig gestellt sind und dann breiten wir uns nach und nach aus.“

Brenok nickte zustimmend. Eigentlich ging ihm die Eroberung Iskandriens nicht schnell genug, aber er verstand die Bedenken Siegoins. Wenn sie ohne die entsprechende Deckung auf die Insel kamen, würde man sie überrennen. Nein, langsam und vorsichtig, aber unaufhaltsam, das war der Weg, den es zu gehen galt.

„Mir ist gerade noch ein anderer Gedanke gekommen.“ Siegoin riss ihn aus seinen Überlegungen.

„Glaubst Du, der Drache könnte den Monolithen tragen? Dann könnten wir ihn, sobald wir eine sichere Stellung errichtet haben, zu uns holen und damit seine Wirkung nutzen.“

Die Stirn in Falten legend dachte Brenok nach.

„Ich weiß es nicht, doch es wäre sicherlich einen Versuch wert. Ansonsten müssten wir den Monolithen in kleine Stücke zerteilen und seine Macht würde sich aufbrauchen. Doch im anderen Fall könnte er unsere ausgezehrten Kräfte wieder auffüllen.“

Mit einem zufriedenen Grinsen nickte Siegoin.

„Dann sollten wir es versuchen. Mit einigen Seilen können wir ihn unterlegen und sichern, dann einige Halteseile an den Krallen des Drachen befestigen, das könnte klappen. Vielleicht verleiht die Magie ihm mehr Stärke, denn ich hab ihn sogar dann, als wir zu sechst geflogen sind nicht schwitzen sehen.“

Er wartete einen Moment, ob Brenok auf seine Worte reagierte, doch der Nekromant hatte jegliche Fähigkeit verloren, die Bemerkungen anderer als witzig zu empfinden. Auch Siegoin hatte bereits erkannt, dass die Sätze, die Brenok mit einem Kichern oder Lachen untermalte ihm keinerlei Belustigung entlockten. Nun ja, es gab Schlimmeres.

„Aber das werden wir zu anderer Zeit angehen, für heute reicht es erst einmal.“

Mit diesen Worten verließ Siegoin das Zelt und ging davon. Die beiden Barbaren folgten ihm auf dem Fuß, doch Rrordrak zögerte einen Moment. Der Funke des eigenen Willen, den seine Magie in ihm erhalten hatte, war inzwischen bereits eine kleine Flamme und diese Flamme verlangte nach Selbstbestimmung. Er konnte dahin gehen, wohin er wollte und musste nicht diesem … Grauen folgen. Doch die Flamme war noch nicht stark genug, um sich den unsichtbaren Kräften der nekromantischen Macht zu widersetzen. Aber sie arbeitete daran.

Dieses Arbeiten führte dazu, dass in Rrordraks Mimik bereits ein feiner Spiel der widerstreitenden Kräfte zu erkennen war. In wenigen Momenten des Tages spürte er eine Klarheit, spürte seine eigenen Gedanken, sogar seinen Körper.

Hätten Siegoin und Brenok ihn genauer beobachtet, hätte sie festgestellt, dass sein Körper nicht zerfiel, im Vergleich zu den anderen Untoten um sie herum. Sogar die tödliche Wunde am Rücken, die Thorbeil Armstark ihm zugefügt hatte, verheilte bereits an manchen Momenten des Tages. Sein Körper begann bereits wieder mit der Bildung von Blut, löste die eingetrockneten Klumpen auf und bildete daraus neues frisches Blut. Allerdings immer nur in den kurzen Zeiten, wenn seine von der schwarzen Magie gespeiste Lebenskraft die Oberhand gewann. In den anderen Zeiten versank die Welt für ihn in Unerreichbarkeit und er musste damit zufrieden sein, wenn sein Körper zumindest nicht weiter zerfiel.

Doch die Phasen der Klarheit wurden immer länger. Es hatte sogar schon für zusammenhängende Gedankenspiele gereicht, etwas was er auch vor seinem Tod nicht immer geschafft hatte.

Diese zusammenhängenden Gedanken warfen die Frage auf, ob die Nekromanten seine Feinde waren oder nicht. Wie würden sie reagieren, wenn sie erkannten, dass er sich aus dem Untotendasein lösen konnte? Solange er sich darüber nicht sicher war, sollte er … . Weiter war er in den Gedanken bisher noch nicht gekommen, aber tief in seinem Inneren wusste er, dass die Beantwortung dieser Frage entscheidend für den Fortbestand seiner Existenz sein konnte.

Jetzt spürte Rrordrak das Ziehen, die Forderung des fremden Geistes, der seinen Körper beherrschte, das ihn antrieb dem Grauen, der das Zelt dort verließ zu folgen. Noch war dieser fremde Geist viel stärker, daher folgte Rrordrak ihm widerstandslos, doch wie lange noch?“Ilana, hast du einen Moment Zeit?

Jorina winkte die junge Elfin zu sich. Nach der Rückkehr ins Schloss hatten Nat, Tally, Odu und Mahti kurz von den Vorkommnissen der letzten Stunden berichtet. Man hatte den Gefangenen, der Nat und Tally den Hinweis auf das Haus am Hafen gegeben hatte in Schutzarrest genommen, bis seine ehemaligen Kumpane gefangen genommen waren. Dem Botenjungen und seinen Freunden hatte man einige Goldstücke als Belohnung gegeben, woraufhin sie gelobt hatten, immer als Boten und als unauffällige Späher zur Verfügung zu stehen.

Tally hatte die Jungen eindringlich ermahnt, sich nicht in Gefahr zu bringen und immer genug Abstand zu halten. Vielleicht hatten die Männer am Hafen gesehen, wer ihnen Steine auf den Kopf geworfen hatte. Zuerst einmal sollten die Kinder auf sich aufpassen und den Straßen vielleicht etwas fernbleiben.

Und Nat hatte ihnen gesagt, und das machte ihn immer noch fassungslos, dass sie darauf achten sollten in die Schule zu gehen, weil nur dann etwas aus ihnen werden konnte, was über die Tätigkeit als Hafenarbeiter, Soldat oder einfacher Handwerker hinausging.

Ein Schauder überlief ihn, wenn er daran dachte. Was wurde nur aus ihm? Wurde er etwa ernsthaft und vorsichtig?

Jetzt löste sich die kleine Versammlung auf und alle machten sich daran, die weiteren Vorbereitungen für den Aufbruch aus Arkadien zu treffen.

Jorina wollte aber die Gelegenheit nutzen, um Gedanken zu ordnen, die ihr unablässig im Kopf herumspukten. Doch dafür brauchte sie die Hilfe der Elfin.

„Ich möchte dir einige Fragen stellen, zu dem plötzlichen Aufbruch Garondirs und der Elfen.“

Ilana streckte das Kinn vor.

„Ich bin nicht gut darin, über die Elfen zu sprechen. Ich verstehe ihr Verhalten nicht gut genug, um beurteilen zu können, warum sie etwas tun oder nicht tun. Ich weiß nicht, ob ich helfen kann.“

Jorina lächelte.

„Ich glaube, du weißt viel mehr als du dir selber eingestehen kannst. Du blickst nur aus einer anderen Richtung. Du siehst das Verhalten der Elfen nicht als eine Elfin, sondern als jemand, die aus verschiedenen Gründen sehr viel enger an die Elfen gebunden ist, als alle andere. Du hast sofort gemerkt, dass Garondir verschwunden ist, ich habe deine Reaktion gesehen. Seit dem wirst du dir Gedanken gemacht haben, warum er so plötzlich und so unvermittelt aufbrechen ließ.“

Sie blickte die junge Frau abwartend an.

Ilana zögerte. Natürlich hatte sie sich Gedanken gemacht, ihre Überlegungen waren in verschiedene Richtungen gegangen, aber immer wieder an einen Punkt zurückgekehrt. Doch sie wusste nicht, ob sie der alten Frau ihre Überlegungen mitteilen wollte.

Auch wenn die Elfen sie verstoßen hatten, so waren sie doch mehr ihr Volk als jedes andere auf dieser Insel. Auch den Menschen war sie sehr nahe, durch das menschliche Blut, das in ihr Adern floss, den Menschenfreunden, die sie hatte und durch ihre Liebe zu Sharn. Ja, sie gestand sich vorbehaltlos ein, dass sie sich in den jungen Mann verliebt hatte. Sie wusste nicht woran es lag, aber sie erkannte dieses unfassbar starke Gefühl, dass ihre Mutter ihr in schillernden Farben beschrieben und ihr so sehr gewünscht hatte. Ein Gefühl, dass die kühlen Elfen nie erleben, nie zulassen würden. Es brachte auch Probleme, wenn sie in einem Kampf Angst um Sharns Leben hatte. Aber das war kein Grund, darauf zu verzichten.

Doch jetzt ging es um die Frage, ob sie ihre Gedanken mit Jorina teilen wollte, auch wenn dies vielleicht bedeutete das Volk, bei dem sie aufgewachsen war in ein schlechtes Licht zu stellen.

In ihre Überlegungen hinein kam die Alte ihr zuvor, wie um die letzte Mauer ihrer Zurückhaltung zu überwinden.

„Sie wissen etwas.“ Die Stimme der Alten war rau und trocken, die Worte hart und klar.

„Sie wissen, was dieser Stein ist, wie er entstanden ist und woher er kommt. Und sie wissen, wo er ist. In wie weit sie für die Mächte des Todes verantwortlich sind, die in diesem Artefakt zu liegen scheinen, bin ich ratlos. Aber sie hätten uns sehr viel weiter helfen können.“

„Hätten … können. Ja, ich stimme dir zu, das hätten sie können, aber sie hätten es niemals getan Es muss ein dunkles Kapitel in ihrer Geschichte sein. Garondir ist nicht so beherrscht, wie er es gerne wäre. Kein so unbeseelt erscheinender Elf wie die meisten anderen. Er trägt eine tiefe Wut in sich, die so groß ist, dass sie immer wieder die eisernen Fesseln der Beherrschung sprengt, die jeder Elf bis zur Selbstgeißelung übt und verinnerlicht. Er war sehr wütend, aber er war keinen Augenblick überrascht. Er wusste, was kommen würde, als wir den Staub des Monolithen gefunden hatten. Eigentlich eine Überraschung, dass er dann noch da war.“

„Er konnte nicht wissen was wir vorfinden würden. Er hatte geglaubt, wir finden …nichts oder etwas anderes. Doch der Hinweis auf ein möglicherweise großes, nekromantische Fertigkeiten unterstützendes Artefakt, das hatte er nicht erwartet. Ja, er wusste genau, wovon wir reden. Doch vielleicht ist er der Einzige.“

Die Alte sah die Elfin fragend an.

„Ich kenne die Strukturen der Elfen genau genug um zu wissen, dass es einen Elfenrat gibt, der die Entscheidungen über die Angelegenheiten der Elfen trifft. Mindestens die Mitglieder dieses Rates müssen davon wissen, wenn es eine Beteiligung der Elfen gegeben hat.“

„Ja und nein.“ Ein schmales Lächeln hellte die Züge der schönen Elfin auf. „Es gibt den Elfenrat und er ist dazu auserkoren, die Geschicke der Elfen zu leiten. Aber seit Anbeginn der elfischen Geschichtsschreibung hat es Beispiele dafür gegeben, dass Mitglieder des Rates oder andere hervorragende Elfen Entscheidungen getroffen haben, Dinge in Bewegung gesetzt haben, die dem Wohl der Elfen dienten und ihre Vormachtstellung in den bekannten Welten hervorhoben. Der Elfenrat ist in solchen Dingen häufig zu unbeweglich und die Erfüllung der Wünsche aller Haine blockiert viele Wege. Diese werden dann von anderen Mutigen begangen. Es sind natürlich auch keine Beispiele bekannt, dass ein solcher Alleingang jemals zu einem schlimmen Ende geführt hätte.“ Ein kurzes, bitteres Lachen. „Das würde ja auch bedeuten, dass Fehler gemacht worden wären und das ist natürlich undenkbar.“

Jorina nickte verstehend.

„Das heißt, es kann sehr wohl so sein, dass einzelne Elfen um die Entstehung oder Herkunft des Artefakts wissen, dieses aber niemals zugeben würden und alle Gerüchte oder Tatsachen darüber aus dieser Welt verbannen möchten? Dass Garondir seine Elfen zurück in die Wälder führt, um eine mögliche Beteiligung weiterhin zu vertuschen.“

„Und das nicht nur uns gegenüber, sondern auch seinen eigenen Leuten. Wie ich schon sagte, ein Fehler wird in der Elfenwelt nicht bekannt gemacht, wird verschwiegen. Und das ist schwierig, wenn hier die Erkenntnisse getroffen werden und dann ein gemeinsames Vorgehen zur Aufklärung führen soll. Dann würden mindestens die Elfen in dem Trupp, der vor den Toren lagerte, mit der Zeit weitere Tatsachen erfahren.“

Aufseufzend ließ Jorina sich auf einen Schemel sinken.

„Wie würdest du an Stelle Garondirs weiter verfahren?“

Ilana schüttelte abwehrend den Kopf, doch dann legte sie ihre Stirn in Falten und überlegte angestrengt. Jorina beobachtete mit Faszination das schöne Gesicht der Elfin. Falten, so etwas hatten Elfen eigentlich nicht. Wenn es eines Beweises für den Anteil menschlichen Blutes in Ilanas Adern bedurfte, war er hiermit angetreten. Für die alte Frau war Ilana damit noch um ein Vielfaches schöner.

„Es ist ein Fehler, sich mit dem gesamten Trupp davongestohlen zu haben. Es ist klar, dass Menschen und Zwerge jetzt versuchen werden, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Hierüber brauche ich Informationen. Ich kann mich nicht in die Wälder zurückziehen, ohne die geringste Kenntnis darüber, was bei dieser Suche nach der Wahrheit herausgefunden wird. Dann gibt es aber nur zwei Möglichkeiten. Ich beobachte die Bemühungen der Menschen und Zwerge heimlich oder ich schicke einige Elfen wieder nach Arkadien, mit einer Ausrede für den überstürzten Aufbruch und dem Auftrag alle Entwicklungen nach Endoria zu melden.“

Jorina nickte zustimmend. „Heimlich ist gefährlich. Was tue ich, wenn die anderen Völker das herausfinden und wie komme ich an Informationen über die Absprachen der Anführer?“

„Das die anderen Völker das bemerken ist für Garondir undenkbar. Ein Mensch, der einen Elf entdeckt, der nicht entdeckt werden will?“ Ilanas Gesicht verzog sich, als hätte sie auf etwas Ekliges gebissen.

„Das hält ein Elf wie Garondir für so wahrscheinlich wie ein Kleinkind, dass einen Kampf gegen einen Behemoth gewinnt. Einfach unmöglich. Dennoch reichen ihm die Informationen nicht, die er bekommen würde.“

„Wird er denn Jemanden schicken, der das Geheimnis um das Artefakt kennt?“

Wieder legte sich Ilanas Stirn in Falten. Jorina hätte gerne mit der Hand darüber gestrichen.

„Nein, das Wagnis kann er nicht eingehen. Garondir ist … die Elfen sind … es fällt mir schwer es auszudrücken. Menschen kennen den Ehrgeiz, der daraus gespeist wird, dass es ihr Ziel ist möglichst viel zu erreichen. Reichtum, Macht, innere Zufriedenheit. Bei den Elfen ist das anders. Die meisten von ihnen sind zufrieden damit zu existieren, im Einklang mit der Natur. Sie verteidigen ihre Haine und sie greifen andere Völker nur widerwillig an. Eigentlich nur dann, wenn ihnen jemand sagt, dass dies für die Freiheit der Natur und des Lebens der Elfen sein muss.“

Die junge Elfin holte tief Luft.

„Doch diese sind kaum vertreten unter den Hervorragenden, den Mitgliedern des Elfenrats, der Magier, Druiden und Alchemisten, den Vorsitzenden der Haine. Diese aber haben einen anderen Ehrgeiz. Sie glauben, dass sie jeder Welt ihre unendliche Überlegenheit beweisen müssen und einfach das Recht haben, zu herrschen. Auch wenn sie dafür andere Völker unterdrücken, bekämpfen oder vernichten möchten. Sie haben das Recht und … die Kämpfe füllen ihr Leben. Sie bekämpfen damit ihre … ihre Langeweile. Es … Es gelingt mir nicht, das besser auszudrücken. Das Leben in den Hainen füllt sie nicht aus, der Gleichklang, die Vollkommenheit, die Einigkeit, all das fordert nicht ihre herausragenden Fähigkeiten. Ich … womit begann die Frage?“

Die Gedanken über ihr ursprüngliches Volk, der Versuch, sich in die Psyche der reinen Elfen hinein zu denken schien Ilana erheblich zu belasten. Jorina kannte die junge Elfin noch nicht lange, aber sie hatte sie bisher ruhig, sicher und beherrscht erlebt. Außer wenn sie sich Sharn zuwandte. Jetzt war ihr Gesicht angestrengt und sie rang nach Worten.

„Wird Garondir jemand schicken, der das Geheimnis kennt?“

Ilana schüttelte bestimmt den Kopf.

„Nein. Er wird jemanden schicken, der schlau, geschickt, diplomatisch und aufmerksam ist. Offen im Umgang mit den Menschen, aber dabei geschickt taktierend. Ein solcher Elf aber würde zu der Gruppe der besonderen, der ehrgeizigen, der gelangweilten Elfen gehören. Sonst wäre es schwierig ihm die Wichtigkeit der Aufgabe zu verdeutlichen und ihn zu motivieren, vielleicht für längere Zeit fernab seines Hains zu bleiben. So einem ehrgeizigen Elf darf aber der Anführer der Elfen nichts in die Hand geben, was dieser gegen ihn einsetzen könnte. Womit er die Menschen und Zwerge zu seinen Verbündeten machen könnte und was vielleicht sogar andere Elfen gegen ihn aufbringen würde.“

Mit einer fahrigen Bewegung fuhr die junge Elfin sich durch das Haar.

„Ich weiß nicht, ob es einen anderen Elfen gibt, der genauso ehrgeizig seine Ziele verfolgt wie Garondir, doch er wird in jedem einen solchen Ehrgeizling sehen. Nein, Garondir wird jemanden wählen, der nichts über ein nekromantisches Artefakt weiß. Es wird ein Spion bei der Gruppe der Elfen sein, die Garondir zu uns schickt. Einer, der das Geheimnis kennt, jemand der Garondir treu ergeben ist. Doch wir werden nicht wissen, wer es ist.“

Sie sah Jorina eindringlich an.

„Denkt daran, ich versuche nur wie ein Elf zu denken, wie ein ehrgeiziger Elf zu denken. Ich strebe keine hohen Ziele an, mir ist nicht langweilig, mir fehlt ein gehöriges Maß an Hochmut. Ich kann nicht denken wie ein Elfenführer. Daher mag ich völlig daneben liegen. Ich weiß es nicht.“ Ein kurzes Zögern. „Vielleicht bin ich zu verwirrt, um … .“

„Kein Wunder, das liegt an mir.“

Die beiden Frauen hatten gar nicht bemerkt, dass Sharn sich ihnen genähert hatte. Jetzt fasste er Ilana um die Taille und zog sie an sich. Diese kuschelte sich in seinen Arm und legte den Kopf an seine Schulter.

„Natürlich liegt es an dir, mein Lieber. Es ist nicht einfach für mich, in kurzen Sätzen und mit einfachen Worten zu sprechen, damit sogar du begreifen kannst, was ich sage. Wenn ich dann mal wieder einige schwierige Worte finden muss, dann verwirrt mich das zutiefst.“

Jorina fiel es immer noch schwer, die schöne Gestalt der Elfin und das Bild, dass sie nach vielen Jahren von diesem Volk hatte mit der jungen Frau in Einklang zu bringen, die herzlich, voller Wärme und Humor auf einen Menschen reagierte. Ja, Ilana hatte Recht. Sie war vollkommen anders als ein Elf wie Garondir. Man würde sehen, wie der Elfenführer seinen Weg zurück in die Reihe derer finden würde, die nach dem Nekromantenstein suchten.

Jorina schüttelte die schweren Gedanken ab und sah das Paar vor sich an.

„Ich habe die Idee, dass wir jetzt alle Drei das gleiche machen, nämlich ein kleines Mittagsschläfchen.“

Ilana wurde puterrot, Sharn grinste breit, dann nahm er die Elfin bei der Hand und zog sie hinter sich her zur Treppe. Jorina sah den Beiden lächelnd nach, dann machte sie sich auf den Weg in den Thronsaal. Dort wollten Thorbeil Armstark und Parlass Walgardsson die Arbeiten für die Reparatur des Schlosses besprechen, bevor man aufbrach, zur Insel vor Borgkarst.

Was habt ihr getan, ihr Elfen? Was werdet ihr tun, wenn wir herausfinden, was ihr getan habt? Der alten Frau irrten zahllose Gedanken im Kopf herum. Ich bin zu alt für diesen Scheiß, sollten sich doch andere darüber den Kopf zerbrechen. Sie fluchte in sich hinein, wusste sie doch genau, dass es ihr niemals gelingen würde, sich einfach still in einen Stuhl zu setzen und darauf zu warten, dass Gevatter Tod vor der Tür stand. Das Bild ihres Bruders Jargo erschien vor ihrem inneren Auge. Er hatte Nat in Sylthania gefunden, hatte ihn auf den Weg nach Iskandrien gebracht, weil das Orakel ihm diesen Auftrag gegeben hatte. Und er war bei der Erfüllung dieser Pflicht gestorben. Tränen schossen ihr in die Augen. War ein solcher Tod nicht der schönste, in Erfüllung der Aufgaben, die man anging, um den Menschen, denen die man liebte und allen anderen, etwas Gutes zu tun?

Baah, was für ein sentimentaler Quatsch, Aufgaben sind Aufgaben und Tod ist Tod, beides ein Art Ziel. Das eine erreicht man möglicherweise, dass andere erreicht man zwangsläufig. Nicht mehr und nicht weniger. Sie lachte auf. Jetzt wurde sie auf ihre alten Tage noch rührselig. Das war ja eklig. Kopfschüttelnd ging sie mit schlurfenden Schritten den Gang entlang.

Das Geräusch war nur ein ganz zartes Knistern, kaum zu hören, nur wenn man sein Ohr sehr nahe an den faustgroßen Stein herangehalten hätte. Und selbst dann hätte das Säuseln des Windes, der über die kleine Senke zog das Geräusch sogar noch übertönt.

Zwei wachsame Augen beobachteten wie gebannt den Stein, fixierten die beiden dunklen Flecken, die die Flüssigkeit hinterlassen hatte. Winzige Blitze begannen über den Flecken zu tanzen, nicht höher als die Dicke eines kleinen Fingers. Dann erstarb das Blitzgewitter und der Stein lag völlig ruhig. Die Flecken waren verschwunden und an ihrer Stelle überzog ein sanfter, goldener Schimmer den Stein. Sollte es etwa gelungen sein. Eine Hand schob sich über den Rand der Senke, ergriff den Stein und hob ihn vorsichtig auf. Als der Stein über den Rand der Senke gehoben wurde, zog ein Windhauch über die schimmernden Stellen. Sie lösten sich auf und ein hauchfeiner Staub wirbelte durch die Luft. Eine andere Hand griff verzweifelt nach dem Staub, doch er rann durch die Finger wie Wasser.

Fluchen, erst verhalten, dann immer lauter übertönte das Säuseln des Windes. Die greifende Hand legte sich über die beiden, fingerkuppengroßen Löcher im Stein, doch der Staub war bereits verwirbelt.

Ein wütender Aufschrei, der Stein flog durch die Luft, stampfende Schritte, dann herrschte wieder Ruhe.

Iskandrien - Die Welt im Nebel

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