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Erstes kapitel Die Flucht

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In der einsamen, jütländischen Heide standen mehrere Gefängnisbaracken, umgeben von großen Äckern. Das ganze Gebiet war mit einem hohen Stacheldrahtzaun eingefaßt, und an dem einzigen Tor, das ins Freie führte, stand immer ein Doppelposten. Innerhalb der Eingrenzung konnten sich die Gefangenen ziemlich frei bewegen, obwohl sie natürlich gewissen Beschränkungen unterworfen waren. Die Bewachung war jedoch so scharf, daß an eine Flucht fast nicht zu denken war. Einige Jahre vorher war es einem Gefangenen gelungen, eine Drahtschere ins Lager zu schmuggeln; damit hatte er in einem günstigen Augenblick den Stacheldrahtzaun durchschnitten und war geflohen. Aber die goldene Freiheit dauerte nur einige Stunden. Die gut abgerichteten Spürhunde der Polizei hatten bald seine Spur entdeckt, und noch vor Sonnenuntergang saß er wieder hinter Schloß und Riegel. Seit der Zeit hatte niemand mehr den Versuch gewagt. Jeden Morgen gingen Kolonnen von graugekleideten Gefangenen durch das Tor, um auf den großen Äckern zu arbeiten. Diese Kolonnen wurden nicht nur von Gefängniswärtern bewacht, sondern jeder Gruppe waren auch zwei Polizeihunde zugeteilt, die ihre Aufgabe genau kannten. Unter solchen Umständen war der Gedanke an Flucht recht sinnlos.

Trotzdem gab es immer einige Gefangene, die sich ständig mit Fluchtplänen befaßten. Ihnen erschien die Freiheit so begehrenswert, daß sie kaum an die Folgen dachten, die ihr Fluchtversuch mit aller Sicherheit haben würde. Selbst wenn ihnen die Flucht gelang, gab es in der einsamen, nur wenige Gehöfte aufweisenden Heide keine Möglichkeiten für sie, lange auf freiem Fuß zu bleiben – und anschließend hatten sie eine zusätzliche Strafe zu erwarten. Obwohl manche von ihnen nur noch wenige Monate in dieser Strafkolonie zu verbringen hatten, weil ihre Strafzeit bald abgelaufen war, versuchten sie es dennoch. Diese Menschen konnten eben nicht weiter als bis zu ihrer eigenen Nasenspitze denken.

An einem schönen sonnigen Morgen im Spätsommer ging eine Gruppe Gefangener durch das Tor hinaus ins Heideland, etwa einen Kilometer vom Lager entfernt. Einer von ihnen war ziemlich klein und hatte einen düsteren, verbissenen Ausdruck im Gesicht. Seine dunkle Haut und die glänzenden schwarzen Haare verrieten, daß er ein Südländer war. Sein wesentlich größerer Nebenmann dagegen sah mit seinem rotbackigen Gesicht, den blauen Augen und den hellblonden Wuschelhaaren eher gutmütig aus, und als er sich in gedämpftem Ton mit seinem Kameraden unterhielt, hörte man, daß er Füne war.

«Wollen wir’s heute versuchen, Manuelo?» fragte er leise seinen Kameraden.

Der Dunkelhäutige schaute sich vorsichtig um und flüsterte fast unhörbar: «Ja, es ist unsere letzte Chance. Wir sind mit der Arbeit an dem langen Entwässerungskanal fast fertig, und später werden wir kaum noch eine Möglichkeit haben.»

«Sollten wir nicht lieber ...?»

«Ruhig!» Manuelo zischte dieses Wort durch die Zähne, und sein Nachbar wußte sogleich, warum.

Einer der vier die Kolonne begleitenden Wärter war in ihre Nähe gekommen. Er warf ihnen einen scharfen Blick zu, sagte aber nichts und ging kurz darauf weiter, an der Reihe der grauen, stummen Gefangenen entlang.

Draußen auf der Heide wurden die Gefangenen in kleinere Gruppen unterteilt und bekamen Schaufeln, Hacken und Spaten; dann begann die tägliche Arbeit.

Am südlichen Ende des Ackerlands war ein schmaler Entwässerungskanal gegraben worden, der die Heide von den versumpften Moorgebieten auf der anderen Seite trennte. Der Kanal war ziemlich tief; das Wasser stand darin jedoch kaum höher als fünfundzwanzig Zentimeter.

Sowohl Manuelo wie sein Freund Peder arbeiteten an diesem Kanal, und als sich der sie kontrollierende Wärter für eine Weile entfernte, bekamen sie wieder Gelegenheit, einige Worte miteinander zu sprechen.

Der Füne flüsterte fast unhörbar und ohne den Kopf zu drehen: «Gibst du das Zeichen, wenn es losgehen soll?»

«Ja», sagte der andere genau so gedämpft und machte sich eifrig mit seinem Spaten zu schaffen. «Ich sage dir Bescheid ... und dann brauchst du mir nur zu folgen.»

«Glaubst du nicht, daß die Hunde uns sofort aufspüren werden?»

«Nein, nicht, wenn wir dem Kanal noch ein Stück nach der Biegung folgen. Der Boden ist glitschig, aber fest genug.»

«Und wenn sie uns nun gleich entdecken?»

«Dann können wir natürlich nichts machen. Fünf Minuten Vorsprung brauchen wir mindestens ... aber die bekommen wir wohl auch.»

«Glaubst du wirklich?» murmelte der Füne. Mißtrauisch schielte er nach dem Wächter, der sich wieder näherte. «Die Kerle sind fürchterlich wachsam!»

«Halt jetzt bloß den Mund und arbeite, damit nichts auffällt!»

«Ja, ja, schon gut.»

Einige Zeit arbeiteten die beiden Gefangenen stumm weiter. Manuelo lauerte auf einen günstigen Moment. Die Wärter hielten sich nie längere Zeit an der gleichen Stelle auf, sondern wanderten zwischen den Gefangenen umher, um die Arbeit zu überwachen. Manchmal gingen sie auch zu zweit, um ein wenig miteinander zu plaudern, denn der Wachdienst war ziemlich eintönig.

Der Füne schielte wieder zu den Wärtern und flüsterte: «Glaubst du, daß Jens ...?»

«Ja, das hat er versprochen.»

«Aber er tut gar nicht so, als ob er ...»

«Halt endlich den Mund! Er muß nur die Wärter näher bei sich haben.»

Eine Viertelstunde später entstand zwischen den Gefangenen, die ein wenig weiter weg arbeiteten, Unruhe. Zwei begannen laut miteinander zu streiten, und sofort waren die Wärter auf dem Weg zu ihnen. Trotzdem artete der Streit in eine Schlägerei aus, und mehrere Gefangene ließen ihre Arbeit ruhen, um zuzuschauen. Einer der Wärter gab laut und scharf Befehle, aber es gab doch eine kurze Verwirrung.

«Jetzt!» befahl Manuelo kurz. «Mir nach!»

Er warf den Spaten weg, glitt lautlos den Abhang hinunter in den Kanal und lief platschend durch das niedrige Wasser, hinter ihm sein Kumpan. Der Boden war ziemlich fest, aber so glatt, daß sie hie und da rutschten; dennoch kamen sie gut voran. Ein Stück weiter hinauf bog der sonst schnurgerade Kanal im rechten Winkel nach Südosten ab, und dieses Biegung war das Ziel der beiden.

Als Manuelo die Biegung erreichte, warf er zum ersten Mal einen Blick zurück und sagte atemlos: «Bis jetzt haben sie unser Verschwinden noch nicht bemerkt, aber lange wird es nicht mehr dauern. Eil dich, mir nach!»

Er sprang hinauf auf das feste Land und lief ein Stück weit an dem schmalen Kanal entlang. Hier konnten die Gefängniswärter sie nicht sehen, und nur etwa vierhundert Meter weiter lag eine große Gärtnerei.

«Zurück ins Wasser!» befahl Manuelo.

Der Füne gehorchte jedem Befehl, und beide liefen jetzt noch ein paar hundert Meter weiter durch das Wasser. Dann wurde die Stille durch schrille Pfiffe gestört. Der Füne blieb unwillkürlich stehen und stöhnte müde: «Jetzt haben sie es gemerkt.»

«Halt den Mund ... weiter!»

Einen Augenblick später hatten die beiden Flüchtlinge das Gelände der Gärtnerei erreicht, aber sie verlangsamten deswegen ihre Schritte nicht, denn kein Mensch war zu sehen. Sie liefen an einem langen, geraden Feuergraben entlang und erreichten etwas später eine zu Löschzwecken angelegte, mit Wasser gefüllte Grube. In diese Grube sprangen sie hinein und wateten durch das ihnen bis zur Brust gehende, spritzende Wasser; denn es galt hauptsächlich, die Polizeihunde von der Spur abzulenken.

Als sie die Grube verließen, befanden sie sich immer noch auf dem Gelände der Gärtnerei, das an dieser Stelle dicht mit Sträuchern bestanden war. Hier machten sie zum ersten Mal eine Pause.

Der Füne atmete schwer. «Glaubst du, daß sie die Spur verloren haben?»

Manuelo grinste triumphierend. «Es wird verflixt schwer für die Hunde sein, unsere Fährte zu finden, nachdem wir durch so viel Wasser gelaufen sind. Schon jetzt haben wir einen großen Vorsprung.»

«Aber woher bekommen wir jetzt andere Kleider?» fragte der Füne.

«Wir werden uns schon ganz schön ausstaffieren.» Manuelo grinste. «Damit hat man hier auf dem Land nie Schwierigkeiten. In manchen Bauernhöfen kann man am hellichten Tag einbrechen und sich bedienen.»

«Und dann?»

«Dann machen wir uns auf nach Kopenhagen.» Manuelos Gesicht wurde plötzlich finster und haßerfüllt. «Wir sind ja nicht nur ausgebrochen, um endlich wieder frei zu sein, sondern auch um Rache zu nehmen.»

«Rache? An wem?» fragte sein Kamerad.

«Du hast wohl Jan Helmer und seine Freunde vergessen, die schuld waren, daß wir erwischt wurden? Das werden wir ihnen heimzahlen, bevor wir das Land verlassen.»

*

Als Kriminalkommissar Mogens Helmer am Abend von seiner Arbeit im Polizeipräsidium nach Hause kam, war er sehr ernst. Beim Abendbrot antwortete er nur einsilbig, was die Familie gar nicht gewöhnt war. Selbst wenn Helmer sehr viel Arbeit hatte, zu Hause war er gewöhnlich lustig und gutgelaunt.

Nach dem Essen saß Jan in seinem Zimmer und machte Schulaufgaben, als der Vater zu ihm kam und sich neben ihn setzte. «Jan», sagte er, «hör zu. Ich habe da eine böse Sache, über die ich mit dir reden muß.»

Jan schob das Physikbuch auf die Seite und schaute seinen Vater erstaunt an. «Nanu, Vater. Was ist los? Eine böse Sache, die mich angeht?»

Der Kriminalkommissar nickte. «Ich bin dessen nicht sicher, aber die Möglichkeit besteht. Erinnerst du dich an die Diebstähle im Warenhaus Dupont, an den Portugiesen Manuelo und seinen Freund Peder Madsen, die beiden Schwerverbrecher, denen du damals auf die Spur kamst und die wir mit Hilfe der Seepfadfinder im Walde bei Kastrup überraschten, als sie gerade mit ihrer Beute ins Ausland fliehen wollten?»a

«Natürlich!»

«Heute morgen sind beide aus der Strafkolonie in Jütland entflohen.»

Jan saß einen Augenblick stumm da. Er dachte an die gefahrvollen Erlebnisse, die er im Warenhaus Dupont und später auch in Kastrup gehabt hatte. Der Portugiese hatte ihn umbringen wollen. Das war gewiß eines der gefährlichsten Abenteuer gewesen, das er und seine Freunde je erlebt hatten.

«Das klingt ja nicht gerade angenehm, Vater», sagte er schließlich ernst. «Aber sicher wird es nicht lange dauern, bis die Polizei die beiden Kerle wieder eingefangen hat.»

«Wir wollen es hoffen.» Der Kriminalkommissar nickte. «Jedenfalls werde ich erst dann beruhigt sein, wenn die beiden Verbrecher wieder hinter Schloß und Riegel sitzen. Vorerst sind sie spurlos verschwunden. Sei deshalb in nächster Zeit unbedingt vorsichtig, mein Junge.»

«Ich?» fragte Jan erstaunt.

Helmers Gesicht war sehr ernst.

«Ja, gerade du. Aber das gilt auch für Erling und deine anderen Freunde. Manuelo ist ein sehr gefährlicher und rücksichtsloser Mensch. Er hat ja damals geschworen, daß er sich an dir und deinen Freunden rächen wolle, weil ihr ihn entlarvt habt.»

«Aber das waren doch leere Drohungen, Vater!»

«Nein, bei Manuelo nicht. Er ist nicht nur ein rücksichtsloser Verbrecher, sondern meines Erachtens auch ein rachelüsterner Mensch, von dem man alles erwarten kann. Peter Madsen ist nicht so geartet, aber er steht völlig unter Manuelos Einfluß und wird alles tun, was dieser ihm befiehlt.»

«So wie damals Fräulein Höyer?»

«Ja, genau so.»

Jan dachte wieder nach. Fräulein Höyer, die so nett und freundlich war, war damals im Warenhaus Dupont in einen großangelegten Juwelendiebstahl verwickelt, zu dem Manuelo sie durch Drohungen gezwungen hatte. Auf Grund der vielen mildernden Umstände erhielt sie jedoch eine sehr milde Strafe mit Bewährungsfrist, und Erling Krags Vater hatte ihr eine Chance gegeben, indem er ihr eine Vertrauensstellung in seinem Geschäft anbot. Herr Krag fand, daß dies die beste Art sei, einem Menschen wieder auf die richtige Bahn zu helfen, und er hatte es nie bereut. Fräulein Höyer gehörte jetzt zu seinen tüchtigsten Mitarbeitern.

Der Kriminalkommissar betrachtete seinen Sohn; dann hellte sich sein Gesicht auf, und er sagte: «Na, mein Junge, laß dich nicht unterkriegen. Die Aussichten, daß die Polizei die beiden Ausreißer bald erwischt, sind natürlich gut, und dann ist ja alles in Ordnung. Ich wollte dich bloß warnen.»

Jan lächelte. «Ich sah schon beim Abendbrot, daß etwas los war, aber sicher wolltest du Mutter nicht beunruhigen.»

Helmer erhob sich und lächelte auch. «Stimmt! Wir kennen doch unsere Mutter, und wollen ihr keine Angst machen. Es besteht ja nur geringe Wahrscheinlichkeit, daß du und deine Freunde den Verbrechern begegnen, aber wenn es dazu kommen sollte, Jan, darfst du nichts riskieren. Wenn es sich um so gefährliche Leute wie Manuelo und Madsen handelt, muß sich die Kriminalpolizei darum kümmern.» — «In Ordnung, Vater.»

«Gute Nacht, mein Junge. Mach jetzt weiter mit deinen Aufgaben.»

Als der Vater gegangen war, fiel es Jan jedoch sehr schwer, sich auf die Schularbeit zu konzentrieren. Seine Gedanken kreisten unablässig um die Ereignisse im Warenhaus Dupont, wo er seinerzeit beinahe ums Leben gekommen wäre. Dann dachte er auch an den darauffolgenden spannenden Kampf draußen im Wald bei Kastrup, wo Björn Höberg und die anderen Seepfadfinder ihm tapfer beigestanden hatten; diese schneidigen Burschen mußte er jedenfalls auch warnen.

Eine Stunde später kam Erling, um ihn zu besuchen. Er setzte sich ihm gegenüber auf einen Sessel und sagte: «Na, edler Herr, kann Onkel Erling dir eine helfende Hand reichen? In Physik vielleicht? Oder bist du schon soweit, daß wir einen Sprung zum Segelklub machen können?»

«Das würde ich vorziehen», erwiderte Jan und schlug das Physikbuch zu. «Ich brauche frische Luft, denn ... ja, Dicker, es liegen Unannehmlichkeiten in der Luft ...»

«Unannehmlichkeiten?» fragte Erling erstaunt und rutschte in seinem Stuhl hin und her. «Sag bloß nicht, daß wir schon wieder ...»

Jan unterbrach ihn lachend. «Nein, das habe ich nicht gemeint. Aber es ist wohl besser, ich erzähle dir alles der Reihe nach, wie ich es eben von Vater erfahren habe.» Und dann erklärte Jan seinem dicken Freund, was er wußte, während der Dicke ein recht unglückliches Gesicht dazu machte.

«Ach Jan», seufzte er, «du bist doch wirklich ein Pechvogel. Jetzt kommen wieder tausenderlei Scherereien auf uns zu. Von allen scheußlichen Leuten, die wir im Laufe der Zeit kennengelernt haben, war Manuelo gewiß der, den ich am wenigsten ausstehen konnte. Es hätte ihm gar nichts ausgemacht, dich seinerzeit vom Dach des Warenhauses Dupont herunterzuwerfen. Ich kann nur prost Mahlzeit sagen, wenn wir mit diesem Schuft nochmals zu tun bekommen.»

Tröstend sagte Jan: «Noch ist ja nichts passiert, Dicker, und die Möglichkeit, daß etwas geschieht, ist äußerst gering. Vater sagte bloß, daß wir aufpassen und uns im Notfall gleich an die Polizei wenden sollen.»

«Bravo!»

«Aber da ist noch etwas, Dicker. Du solltest deinen Vater bitten, Fräulein Höyer zu sagen, daß Manuelo entflohen ist. Wenn er es wirklich schaffen sollte, Kopenhagen zu erreichen, wird er sie vielleicht aufsuchen; sicher ist er unverschämt genug, das zu probieren.»

Erling seufzte tief. «Ach mein Freund, ich habe so ein komisches Gefühl, daß das Ganze schlecht enden wird.»

Jan in der Falle

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