Читать книгу Jan in der Schusslinie - Carlo Andersen - Страница 3

Erstes kapitel

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Jan Helmer, Dänemarks jüngster Amateurdetektiv, langweilte sich. Er wartete immer noch auf die Rückkehr seiner Freunde, die sich jetzt auf ihrer Weltreise mit der Jacht «Flying Star» in Südamerika befanden, und er brannte darauf, sich mit Erling Krag auszusprechen. Er lag nämlich mit sich in Widerstreit, ob er mit Erling zusammen die Hochschule besuchen sollte, um sich zum Ingenieur ausbilden zu lassen. Freilich, für Erling kam kaum etwas anderes in Frage; aber er selbst hatte sich seit seinem vierzehnten Lebensjahr als Detektiv betätigt, und er überlegte nun allen Ernstes, ob er nicht doch lieber die Polizeischule besuchen sollte. Er wußte, daß sein Vater, Kriminalkommissar Mogens Helmer, diese Berufswahl unterstützte, im Gegensatz zur Mutter, die stets um ihren Sohn bangte, wenn er sich in gefährliche Abenteuer einließ.

Da er der Polizei schon öfters wertvolle Dienste geleistet hatte, durfte er seit kurzem unentgeltlichen Unterricht im Pistolenschießen nehmen, und sein Lehrer, Polizeimeister Jacobsen, war des Lobes voll über seine Fähigkeit, ins Schwarze zu treffen.

Drei Volltreffer, fünf Neuner, sieben Achter, zwei Sechser und ein Doppeltreffer – im ganzen 153 Punkte mit 18 Schüssen –, das war das Ergebnis des heutigen Schulschießens, wie Jacobsen befriedigt feststellte.

«Wenn du so weitermachst, wirst du ein zweiter Wilhelm Tell», sagte er, bevor er Jan entließ. «Ich wünschte, alle meine Berufsschüler wären so begabt wie du.»

Diese Worte gaben Jan wieder einmal zu denken. Noch blieb ihm ein halbes Jahr Zeit, sich die Sache zu überlegen, dann aber, nach Erlings Rückkehr, mußte er sich endgültig entscheiden.

Er seufzte, als er sich auf den Heimweg begab. Wenn er wenigstens hätte sagen können, ob ihm der Schießunterricht solche Freude machte, weil er gewissermaßen den ersten Schritt zur Ausbildung im Polizeidienst bedeutete, oder weil sich damit die Zeit totschlagen ließ. Denn wie gesagt, er langweilte sich...

Zu Hause wurde er von seiner Mutter mit einem verschmitzten Lächeln empfangen. «Rate einmal, wer heute zum Abendessen kommt», sagte sie vergnügt.

«Hanne», antwortete Jan prompt.

Frau Helmer machte große Augen. «Wie kannst du das wissen? Sie hat ja erst vor einer halben Stunde angerufen. Freust du dich nicht?»

«Wie ein Schneekönig», sagte Jan trocken und verschwand in sein Zimmer.

Natürlich hatte er übertrieben, aber in seiner augenblicklichen Stimmung kam ihm Hannes Gesellschaft durchaus gelegen. Er schätzte Hanne Beyer, die sportgewandt war und außer Mäusen nichts und niemand fürchtete, als Kameradin sehr, und da sie sein Interesse an der Bekämpfung des Verbrecherwesens teilte, hatte es sich ganz von selbst ergeben, daß sie, wenn sich eine Gelegenheit bot, bei der Aufklärung kniffliger «Fälle» mitwirkte. Sie brannte sogar darauf, als seine Assistentin aufzutreten, aber leider, leider hatte er ihr in letzter Zeit nichts mehr zu bieten.

Wieder seufzte Jan, während er ein Buch ergriff. Er war mit den Gedanken nicht ganz bei dem, was er las, sondern streichelte immer wieder den Kopf seines Schäferhundes Boy, der zu seinen Füßen lag.

Er empfand es geradezu als Erleichterung, als er unten in der Diele Hannes muntere Stimme vernahm. Kurz darauf ging die Tür auf, und Hanne begrüßte ihn strahlend: «Hei, Sherlock Holmes!»

«Guten Tag, Hanne.»

Frau Helmer steckte den Kopf herein und sagte: «Wir essen erst in einer halben Stunde. Kann Hanne sich so lange mit dir unterhalten?»

Jan lächelte ein wenig spöttisch. «Sie pflegt wahrhaftig nie zu fragen, so daß ich dazu nicht viel zu sagen habe.»

«Bist du sauer?» fragte Hanne.

«Ja, wie ein Essigbrauer.»

«Na, dann kommt nur gut zurecht», sagte Frau Helmer und eilte in ihre Küche zurück.

«Wie geht’s, wie steht’s?» erkundigte sich Hanne heiter.

«Soso lala.»

«Du hast mir wohl nichts Aufregendes zu erzählen?»

«Nein. Es ist nichts los.» Jans Miene verriet, wie ungern er dieses Bekenntnis ablegte.

«Dem kann ich abhelfen», verkündete sie.

«Was?» Er richtete sich auf und sah sie neugierig an.

«Ich komme als dein rettender Engel. Falls du dich augenblicklich langweilst, habe ich dir eine Gruselgeschichte zu bieten.»

«Worum handelt es sich denn?»

«Um einen Spuk!»

Er lachte. «Komm mir bloß nicht mit so etwas!»

Unbeirrt fragte sie: «Kennst du Dragsholm?»

«Dragsholm? Ist das nicht das alte Schloß im Amt Odsherred? Ich war noch nie dort...»

«Du wirst es bald kennenlernen», sagte Hanne bestimmt. «Wenn du hörst, worum es sich handelt, werden dich acht wilde Pferde nicht zurückhalten können.»

«So red schon!» rief Jan ungeduldig.

«Schön langsam von Anfang an», beschwichtigte sie ihn. «Wie du selbst gesagt hast, ist Dragsholm ein altes Schloß, wo Graf Bothwell, der Gemahl der Königin Maria Stuart, von 1573 an in Gefangenschaft gehalten wurde. Er soll ja im Wahnsinn gestorben sein, und es wird behauptet, er gehe in dem Schloß um. Das ist natürlich reiner Unsinn, aber in letzter Zeit sind auf Dragsholm doch merkwürdige Dinge geschehen.»

«Woher weißt du das?»

«Eine Tante von mir lebt dort. Sie führt eine Schloßpension, und als ich sie am vorigen Wochenende besuchte, erzählte sie mir, was sich dort tut...»

«Na, na!»

«Du brauchst gar nicht zu nanaen, Tante Grethe ist alles andere als eine Phantastin, nämlich eine nüchterne, geschäftstüchtige Frau. Die Gäste haben mir ihre Aussagen übrigens bestätigt. Eines Abends spät begann die Orgel in der Schloßkirche von selbst zu spielen...»

«Blödsinn!»

Hanne warf den Kopf zurück. «Wenn du mit deinen dummen Bemerkungen nicht aufhörst, sage ich kein Wort mehr. Dann kannst du dich meinetwegen in aller Gemütlichkeit weiterlangweilen!»

«In Ordnung», antwortete er friedfertig. «Aber du kannst dir doch denken, daß ich skeptisch bin, wenn es sich um einen Spuk handeln soll. Wie verhielt es sich also mit dem Orgelspiel?»

«Mehrere Gäste hörten die gedämpfte Musik, aber die Kirchentür war abgeschlossen, und der Schlüssel lag auf seinem üblichen Platz im Vorraum.»

«Kann man nicht durch einen anderen Eingang hineingelangen?»

«Nein.»

«Haben die Gäste die Sache näher untersucht?»

«Nein, sie trauten sich nicht. Später erzählten sie es Tante Grethe, die nicht so zimperlich war, sondern sofort in die Kirche ging und sie vom einen Ende bis zum andern durchsuchte. Aber es war keine Menschenseele da!»

«Sonderbar», räumte er ein. «Sind noch ähnliche Dinge geschehen?»

«Ja, eines Nachts hörten andere Gäste knirschende Schritte auf dem großen Dachboden im Ostflügel...»

«Waren es nicht schleppende Schritte?»

«Wieso?»

Jan lächelte. «Jahrhundertealte Erfahrung beweist, daß sich Gespenster immer mit schleppenden Schritten bewegen, niemals mit knirschenden.»

«Quatschkopf!» Hanne mußte lachen. «Von Gespenstern ist überhaupt keine Rede. Und noch etwas. Einmal sah eine Schwedin in einem der Gänge eine große, leuchtende Gestalt. Sie stieß einen Schrei aus und fiel in Ohnmacht; aber als andere Gäste herbeikamen, war nichts Besonderes zu sehen.»

«Doch, die Ohnmächtige.»

«Ja, natürlich. Als sie zu sich kam, schwor sie Stein und Bein, eine große, leuchtende Gestalt wäre auf sie zugekommen, und Tante Grethe sagte mir, daß diese Schwedin weder überspannt noch hysterisch ist.»

«Ist sie immer noch dort?»

«Nein, sie reiste am nächsten Tag ab. Aber die Gäste, die die Orgelmusik und die knirschenden Schritte auf dem Dachboden gehört haben, bleiben noch bis zum Monatsende.»

«Hat deine Tante die Polizei benachrichtigt?»

«Nein, sie sagt, man würde sie doch nur auslachen. Statt dessen hat sie dich und mich für acht Tage eingeladen. Mir paßt das sehr gut, denn ich habe noch eine Woche Ferien, und du liegst ohnehin auf der faulen Haut.»

«Ich soll also mit dir auf Gespensterjagd gehen?»

«Nein, ich will mit dir zusammen ein Geheimnis aufklären. Ich habe meiner Tante erzählt, daß du ein zweiter Sherlock Holmes bist.»

«Nett von dir», sagte Jan lächelnd. «Obwohl ich kein Fachmann bin, nehme ich die Einladung an, weil sich die Sache interessant anhört. Hoffentlich kann ich Boy mitnehmen?»

«Natürlich, dafür habe ich gesorgt. Tante Grethe weiß schon, wie gut er ausgebildet ist.»

«Wann fahren wir?» fragte Jan kurz entschlossen.

«Morgen vormittag, wenn es dir recht ist.»

«Abgemacht.»

Beim Abendessen wurde natürlich über das geplante Unternehmen gesprochen, und wie stets zeigte sich Frau Helmer ängstlich besorgt. «Mußt du dich denn immer auf gefährliche Dinge einlassen, Jan?» rief sie.

Jan klopfte ihr beruhigend den Arm. «Gespenster haben noch nie einem Menschen etwas zuleide getan.»

«Die Schwedin ist immerhin in Ohnmacht gefallen.» Sie wandte sich an ihren Mann: «Was sagst du dazu, Mogens?»

«Ich finde die Sache nicht uninteressant», antwortete der Kommissar nachdenklich. «Wenn verschiedene Menschen unabhängig voneinander etwas Rätselhaftes erleben, muß ja etwas dahinterstecken. Von einer Massenhysterie kann in diesem Fall keine Rede sein, auch wenn ein mittelalterliches Schloß vielleicht dazu herausfordert. Sehen wir einmal von Spuk und übernatürlichen Dingen ab, so bleiben zwei vernünftige Fragen: Was geschieht augenblicklich auf Schloß Dragsholm, und warum geschieht es? Sag, Hanne, könnte deine Tante darauf aus sein, für ihre Pension Propaganda zu machen?»

«Ausgeschlossen», antwortete Hanne. «Wenn es ruchbar würde, daß es im Schloß nicht mit rechten Dingen zugeht, würden sich ja die meisten Leute abgeschreckt fühlen.»

«Da irrst du dich, mein Kind», entgegnete Helmer. «Im allgemeinen siegen Neugier und Sensationslust über die Angst. Im übrigen ist es durchaus möglich, daß irgendein Spaßvogel sein Spiel treibt, und es kann nichts schaden, wenn ihm das Handwerk gelegt wird. Sollte aber etwas Kriminelles dahinterstecken...»

«Das sage ich ja!» rief Frau Helmer. «Die beiden begeben sich in Gefahr!»

«Glaubst du wirklich, es könnte etwas Kriminelles dahinterstecken?» fragte Jan aufgeregt.

«Wie soll ich das wissen?» erwiderte sein Vater. «Jedenfalls habe ich nichts dagegen, wenn ihr beide die Sache näher untersucht. Aber du erinnerst dich an unsere Abmachung, Jan?»

Jan nickte. «Ja, ich habe dir versprochen, mich nicht unnötig in Gefahr zu begeben und die Polizei zuzuziehen, sobald es brenzlig wird.» Zu seiner Mutter sagte er: «Ich weiß sogar die Nummer – Holbaek 1448.»

Hanne staunte. «Woher weißt du sie?»

«Ich habe schon vor Jahren die Nummern aller größeren Polizeistationen auswendig gelernt», erklärte er. «Man kann ja nie wissen...»

Damit sollte Jan recht behalten.

Jan in der Schusslinie

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