Читать книгу Jan in der Schusslinie - Carlo Andersen - Страница 4

Zweites kapitel

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Dragsholm, das ehemalige königliche Schloß und Staatsgefängnis, wo Graf Bothwell 1573 bis 1578 gefangen saß, liegt auf der dänischen Insel Seeland zwischen der Seierö-Bucht und dem trockengelegten Lammefjord in schönster Landschaft, umkränzt von Meer, Wäldern und weichgeschwungenen Hügelzügen; aber als es von einem streitbaren Roskilder Bischof erbaut wurde, geschah es gewiß nicht im Hinblick auf die Naturschönheiten. Damals schnitt der Lammefjord noch tief in Odsherret ein, und da es nur ein kurzer Weg bis zur Seierö-Bucht war, bildete Dragsholm sozusagen den Schlüssel für Odsherret und diente als stärkste Festung der damaligen Zeit, auf drei Seiten von Sümpfen umgeben und nur von Norden her zugänglich.

An ein so altes Schloß knüpfen sich natürlich viele Sagen und unheimliche Erzählungen. Doch waren die heutigen Schloßbewohner nie unerklärlichen Ereignissen ausgesetzt gewesen; aber seit einem Monat ging es auf Dragsholm wirklich seltsam zu. Die sonst so nüchterne und kaltblütige Frau Grethe Voigt, die auf dem Schloß eine Pension für Feriengäste führte, war sich darüber klar, daß wirksam eingegriffen werden mußte. Da sie sich nicht an die Polizei wenden mochte, kam ihr der Vorschlag ihrer Nichte Hanne Beyer sehr gelegen. Sie glaubte zwar nicht recht daran, daß dieser Jan Helmer das Rätsel lösen würde, aber ein Versuch würde ja nicht weiter schaden. Frau Voigt gestand sich selbst ein, daß sie, milde gesagt, ein wenig nervös geworden war. Die Schwedin, die dem «Gespenst» begegnet war, hatte auf der Stelle ihre Rechnung verlangt, und wenn es mit den übrigen Gästen so weiterging, konnte die Pension zumachen. Bei Tisch herrschte neuerdings eine düstere Stimmung, und wenn die Gäste auch bestrebt waren, keinen Aberglauben zu zeigen, so konnte man doch merken, daß sie sich ungemütlich fühlten.

Hanne und Jan wurden von Grethe Voigt herzlich empfangen und in ihrer Privatwohnung sogleich mit Tee und Kuchen bewirtet. Die Schloßherrin musterte Jan mit forschendem Blick und sagte: «Ja, junger Mann, mit Muskelstärke dürfte diese unheimliche Geschichte nicht zu klären sein.»

«Jan hat aber auch einen klugen Kopf, Tante Grethe», wehrte sich Hanne für ihren Freund. «Außerdem hat er mich als Gehilfin.»

«Deine Bescheidenheit ziert dich», antwortete Frau Voigt ein wenig spöttisch. «Wie wollen Sie die Sache nun angreifen, Jan?»

Er zuckte die Schultern. «Einen bestimmten Plan habe ich noch nicht. Es wird wohl von den Umständen abhängen. Aber zuerst würde ich gern Genaueres über die Vorfälle in der letzten Zeit hören.»

Während Frau Voigt sie ihm in allen Einzelheiten schilderte, warf er ab und zu eine Frage ein, und nach zehn Minuten glaubte er einen ganz guten Überblick über die Lage zu haben. Dann wies er lächelnd auf Boy und sagte: «Mein Hund hat sich von Gespenstern nie imponieren lassen, und zu dritt werden wir das Rätsel gewiß lösen. Ich habe die interessante Geschichte des Schlosses bis zum Zweiten Weltkrieg nachgelesen, aber was ist eigentlich danach geschehen?»

«Während des Krieges war das Schloß von den Deutschen besetzt, und bei der Befreiung 1945 rückten die Widerstandskämpfer ein...» Frau Voigt schwieg einen Augenblick, als ob ihr etwas eingefallen wäre. Ihr Gesicht war nachdenklich, als sie fortfuhr: «Damals ereignete sich übrigens etwas Sonderbares, das nie aufgeklärt wurde. Als die Widerstandskämpfer einrückten, kannten sie die Zahl der Deutschen, die sich im Schloß aufhielten; aber es zeigte sich, daß ein Offizier fehlte. Man suchte ihn überall, vom Keller bis zum Dach, doch er war und blieb verschwunden, und keiner wußte etwas von ihm. Und dann geschah das Merkwürdige. Mehrere Freiheitskämpfer – lauter ruhige und besonnene Leute – hielten sich in einem Salon auf, als plötzlich der vermißte Deutsche quer durch den Raum ins Nebenzimmer ging. Natürlich stürzten die Freiheitskämpfer hinterdrein... aber er war verschwunden!»

«Verschwunden?» wiederholte Jan verblüfft. «Wie konnte er denn so schnell entkommen?»

«Das Nebenzimmer, ein kleinerer Salon, hat keinen andern Zugang, und sämtliche Fenster waren von innen zugehakt. Nirgends war der Mann zu finden. Wenn nur einer ihn gesehen hätte, könnte man eine Sinnestäuschung vermuten, aber sie hatten ihn ja alle zusammen gleichzeitig gesehen.»

«Wirklich sonderbar», murmelte Jan.

«Es war ein höherer Offizier, und es ging das Gerücht, er wäre in einer besonderen Mission nach Dragsholm gekommen.» Frau Voigt machte eine wegwerfende Handbewegung und lächelte. «Aber das hat gewiß nichts damit zu tun, daß es jetzt hier spukt. Das Schloß hat zwar unzählige Räume, aber ein Mann kann sich unmöglich so viele Jahre unbemerkt versteckt halten, und wozu auch?»

Jan nickte. «Aber das macht die alte Geschichte nicht weniger merkwürdig oder unerklärlich. Dürfen wir uns im Schloß umsehen, Frau Voigt?»

«Ja, überall außer in den bewohnten Gästezimmern», antwortete sie. «Hanne kennt das Schloß inund auswendig, eine bessere Fremdenführerin könnten Sie gar nicht haben.»

Als er kurz darauf mit Hanne auf dem Kopfsteinpflaster des Schloßhofs stand, sagte er: «Für die Geschehnisse der letzten Zeit werden wir schon eine Erklärung finden – jedenfalls hoffe ich es –, aber die Sache mit dem verschwundenen deutschen Offizier verstehe ich einfach nicht.»

«Könnte es sich dabei nicht um die Massensuggestion gehandelt haben, die dein Vater gestern erwähnte?» meinte Hanne.

Jan wiegte den Kopf. «Möglich. Eine Massensuggestion entsteht aber nicht von einer Minute auf die andere. Sie ist immer irgendwie psychologisch unterbaut oder vorbereitet. Na, lassen wir das, es geht uns ja nichts an. Wir wollen uns zuerst einmal die Kirche ansehen, wo die Orgel von selbst gespielt hat.»

Sie überquerten den Hof und betraten die fliesenbelegte Vorhalle, von der eine Tür in die Schloßkirche führte. Der handgeschmiedete große Türschlüssel lag auf einem Brettchen, und im Nu hatte Hanne die Tür geöffnet. Jan betrachtete das alte Schloß und sagte: «So, ein Rätsel wäre immerhin gelöst.»

«Wieso?»

«Wir sind uns doch einig, daß eine Orgel nicht spielen kann, ohne daß sie von einem Menschen bedient wird. Folglich befand sich an dem fraglichen Abend ein Mensch in der Kirche.»

«Die Tür war aber abgeschlossen, und der Schlüssel lag an seinem Platz», entgegnete Hanne.

«Hat gar nichts zu bedeuten. Dieses Schloß ist mit den meisten großen Schlüsseln oder mit einem Dietrich zu öffnen, und natürlich geht es von innen ebenso leicht. Als deine Tante dem geheimnisvollen Orgelspiel nachging, war der Mann, der offenbar gehört werden wollte, längst verduftet.»

«Aber warum vollführt ein Mensch einen solchen Streich?»

«Vielleicht handelt es sich um einen schlechten Spaß... hm... oder um einen Geisteskranken.» Als Jan Hannes zweifelnde Miene sah, fügte er hinzu: «Es wäre nicht der erste Geisteskranke auf Dragsholm – denk an Bothwell!»

«Das glaubst du wohl selbst nicht», entrüstete sie sich.

«Also gut, ich will ehrlich zu dir sein, Hanne. Ich habe eine ganz bestimmte Idee, aber ich will erst damit herausrücken, wenn wir das ganze Schloß untersucht haben. Schauen wir uns drinnen um.»

Die Schloßkirche war nicht groß, aber mit ihren schlichten, klaren Linien sehr schön. Oben links war die Kanzel, auf der rechten Seite die Orgel. Auf der Bank des Organisten lag eine Felldecke, die Jan geistesabwesend betrachtete.

Schließlich fragte er: «Ist das hier eine Pfarrkirche?»

«Ja», antwortete Hanne, «jeden zweiten Sonntag wird hier ein Gottesdienst abgehalten, an den übrigen Sonntagen in der Kirche von Faareveile. Warum fragst du das?»

«Ach, mir ist nur ein neuer Gedanke gekommen, aber vielleicht ist er falsch. Es wird sich später zeigen.»

«Du redest in Rätseln.»

«Ich möchte mich nicht lächerlich machen. Augenblicklich sammle ich bloß Bruchstücke eines ziemlich verwickelten Mosaiks, und wenn mir das Zusammensetzen gelingt, werde ich dir alles erklären.»

«Vielen Dank», spöttelte sie.

In der nächsten Stunde wurde das Schloß einer gründlichen Besichtigung unterzogen, wie sie noch kein Tourist erlebt hatte. Mit Boy auf den Fersen gingen Jan und Hanne in Bothwells Verlies, ins sogenannte «Hundeloch», wo die Verbrecher einst ihre Sünden abgebüßt hatten, durch den Wehrgang mit den Schießscharten, durch die recht baufälligen Zimmer und Flure des Kavaliersflügels, durch die schönen Säle des Hauptflügels, ja, sogar den Heizungskeller sah sich Jan genau an.

Zuoberst im südlichen Flügel war ein kleiner Raum vollgestopft mit Plunder und Gerümpel. Die dumpfe, beklemmende Luft ließ sich kaum atmen, und in dem verschleierten Halblicht konnte man sich vom Inhalt des Zimmers kein richtiges Bild machen.

Jan bückte sich und befühlte einen verstaubten, gräulichen Stoff, der zu einem Bündel zusammengeklebt war. «Was ist denn das?» rief er überrascht. «Wenn ich mich nicht irre, haben wir hier einen Fallschirm!»

«Möglich», antwortete Hanne gleichmütig. «Tante Grethe erzählte mir, daß die Deutschen eine Menge altes Zeug zurückgelassen haben. Wahrscheinlich hat man es in dieser Kammer verstaut.» Sie lachte. «Würde mich wundern, wenn Tante Grethe jemals die Nase in dieses stickige Loch gesteckt hat. Gibt es hier etwas Interessantes, Jan?»

«Ich will es morgen untersuchen, wenn’s hell ist.»

Boy schnüffelte neugierig an dem aufgehäuften Plunder, aber Jan befahl kurz: «Weiter, Boy!»

Kurz darauf standen sie im sogenannten Theatersaal, und Hanne erläuterte: «Das ist das sonderbarste Theater der Welt. Wie du siehst, ist die Bühne doppelt so groß wie der Zuschauerraum, doch das hat seinen Grund. Wenn die Könige und Fürsten früher zu Besuch nach Dragsholm kamen, wurden sie oft von Wanderschauspielern unterhalten; aber außer den hohen Herrschaften bestand das Publikum nur aus Lehnsleuten und einzelnen hervorragenden Persönlichkeiten, so daß es auf ein paar Bankreihen Platz fand. Ob das wohl das kleinste Theater der Welt ist?»

«Ja, kleiner könnte es kaum sein», räumte Jan ein.

Auf dem zerlumpten Bühnenvorhang hatte ein unbekannter Maler eine hübsche Meerjungfrau abgebildet, die das alte Schloß Dragsholm betrachtete. Jan zog den mürben Vorhang vorsichtig auf und betrat die abgeschrägte Bühne. Hanne und Boy folgten ihm.

Der Bretterboden ruhte auf festen Holzböcken; dichter Staub wirbelte auf, als er betreten wurde. Jan begnügte sich mit einem Blick unter die Bühne, weil der Staub eine nähere Untersuchung unmöglich machte; aber plötzlich kam ihm ein Gedanke, und er wies mit dem Befehl «Such, Boy, such!» hinunter.

Obwohl Boy ebensowenig wie Jan wußte, was er suchen sollte, befolgte er das Kommando und kroch in den dunklen Hohlraum.

Hanne fragte verwundert: «Was treibt Boy dort unten?»

«Er vergnügt sich», antwortete Jan lächelnd. «Er macht sich gern nützlich, doch ich fürchte, diesmal wird er enttäuscht werden.»

Darin irrte er sich, denn Boy schleppte gleich darauf ein verstaubtes, zusammengerolltes Bündel herbei. Zu seiner großen Überraschung stellte Jan fest, daß er eine Mütze und Uniform mit deutschen Offiziersabzeichen vor sich hatte.

Es dauerte eine Weile, bis er sich gefaßt hatte. «Etwas wäre damit aufgeklärt», sagte er schließlich. «Diese Uniform hat sicher dem verschwundenen deutschen Offizier gehört, von dem deine Tante erzählt hat. Als die Freiheitskämpfer einrückten, hat er sich wahrscheinlich hier in der Versenkung versteckt, wo kein Mensch gesucht hat, dann seine Uniform mit irgendeinem unauffälligen Kostüm vertauscht, und so konnte er unerkannt aus Dragsholm entkommen. Aber diese Angelegenheit braucht uns nicht weiter zu kümmern, wir wollen ja ein anderes Rätsel lösen.»

In diesem Augenblick ertönte ein Gong, und Hanne sagte munter: «Essenszeit! Komm schnell, wir müssen uns wenigstens die Hände waschen nach all dem Staub. Ich habe einen Bärenhunger!»

Im großen Speisesaal waren alle Tische besetzt. Hanne und Jan erhielten einen Platz am Tisch der Schloßherrin, der nahe bei der Tür zur Küchenregion stand. Frau Voigt war stets auf dem Sprung, einzugreifen, wenn einer der Gäste irgend etwas verlangte, und sie verfolgte mit wachsamem Blick die Mädchen, die das Essen auftrugen. Trotzdem fand sie Zeit, Jan das eine oder andere von den verschiedenen Gästen zu erzählen. Größtenteils waren es alte Stammgäste, die schon seit Jahren nach Dragsholm kamen. Jan interessierte sich mehr für die neuen Pensionäre, die er verstohlen unter die Lupe nahm: Es waren ein Professor mit Frau und zwei Kindern aus Aarhus, ein unverheirateter Redakteur aus Kopenhagen, Schiffsreeder Wang aus Norwegen, Großhändler Otto Schrad aus Hadersleben und vier vielköpfige Familien aus Schweden.

«Was plagt dich, Sherlock Holmes?» fragte Hanne, der auffiel, daß Jan dem Essen nicht die gebührende Aufmerksamkeit widmete.

«Ach, nichts Besonderes.»

«Heraus mit der Sprache!»

Jan ließ die Augen im Speisesaal umhergehen. «Einer der vielen Menschen hier kommt mir bekannt vor.»

«Wer?» forschte sie neugierig.

«Otto Schrad aus Hadersleben.»

«Woher kennst du ihn?»

«Keine Ahnung. Ich sage ja nicht, daß ich ihn kenne. Er kommt mir nur bekannt vor.» Sein Ton war ein wenig gereizt.

Sogar der Nachtisch – köstlicher Pfirsich Melba – vermochte ihn nicht in die Wirklichkeit zurückzubringen. Er löffelte ihn achtlos, während seine Gedanken um den südjütländischen Großhändler kreisten, einen großen, eleganten Herrn mit dunklem gelocktem Haar und gepflegtem Spitzbart. Wo hatte er dieses Gesicht schon gesehen? Vielleicht in einer Zeitung? Oder wo sonst?

«Du läßt ja dein Eis schmelzen», mahnte Hanne. «Grübelst du immer noch nach?»

«Ja, ich kann es einfach nicht lassen.»

Der Kaffee wurde im Salon nebenan serviert. Mittlerweile war Jan zu der Auffassung gelangt, daß etwas getan werden mußte. Er setzte sich mit Hanne an einen der kleinen Tische, und obwohl etliche Zuckerschalen in Sichtweite waren, ging er zu Schrads Tisch hinüber und fragte höflich: «Verzeihen Sie, darf ich den Zukker entlehnen?»

«Ja, natürlich», antwortete der Großhändler mit liebenswürdigem Lächeln.

Als Jan an seinen Platz zurückkehrte, mußte er Hanne gestehen, daß er kein bißchen klüger geworden war. «Ich möchte wetten, daß ich den Mann kenne», fügte er hinzu, «aber ebenso bombensicher ist es, daß er mich nicht kennt.»

«Dann hebt es sich ja auf», erwiderte sie kurz.

«Nein, nicht ganz...»

Jan grübelte stumm weiter. Er hielt sich etwas darauf zugute, daß er bekannte Gesichter stets unterzubringen wußte, und es ärgerte ihn, daß Schrad eine Ausnahme von der Regel bildete. Wo hatte er diesen Mann schon gesehen? Offenbar hatten sie einander nie kennengelernt, sonst hätte sich Schrad – sofern er kein blendender Schauspieler war – bestimmt verraten.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Zu Hannes Verwunderung ergriff er eine Zeitung, die auf dem Tisch lag, und hob sie langsam vor sich in die Höhe, bis er nur noch die obere Gesichtshälfte des Mannes sehen konnte. Als der wohlgepflegte Spitzbart sozusagen ausradiert war, gewann Schrads Gesicht ein ganz anderes Aussehen, und Jan seufzte zufrieden auf. Kein Zweifel, er hatte den Mann schon irgendwo irgendwann einmal erblickt, aber ohne Bart.

Jan ließ die Zeitung sinken, beugte sich zu Hanne vor und fragte leise: «Verstehst du etwas vom Haarefärben, Hanne?»

«Woher sollte ich?» fragte sie verblüfft zurück. «Dafür hatte ich bisher noch keine Verwendung. Ich bin mit meinen Haaren ganz zufrieden.»

«Dazu hast du auch allen Grund», sagte er lächelnd. «Aber könntest du gefärbte Haare erkennen? Ich meine dunkle Haare, die von Natur blond sind.»

«Sicher. Wie kommst du darauf?»

«Ich hege den Verdacht, daß sich Herr Otto Schrad aus Hadersleben die Haare gefärbt hat, und das sollst du nachprüfen. Schlendre doch herum und richte es so ein, daß du zufällig nahe an ihm vorbeikommst.»

«Wird gemacht.»

Sie erhob sich und ging im Salon umher, betrachtete die Bilder, die vergoldeten Möbel und die Aussicht durchs Fenster auf den Park. Schließlich kam sie nahe an Schrad heran, der in einer Illustrierten blätterte. Sie gab sich den Anschein, als schaute sie in den Schloßhof hinunter.

Nachdem sie sich wieder gesetzt hatte, sagte sie laut: «Mit dem Wetter haben wir entschieden Glück.»

Jan nickte. «Ja, wenn es morgen ebenso schön ist, machen wir einen Ausflug.» Er warf einen Blick auf den nichtsahnenden Schrad und fragte leise: «Na, habe ich recht?»

«Hundertprozentig!»

«Kein Zweifel?»

«Hast du jemals gehört, daß hundertprozentige Sicherheit Platz für Zweifel bietet? Wenn ich mich irre, will ich einmal ringsum im Entenflott des Schloßgrabens schwimmen! Das Licht fiel so günstig, daß ich es genau erkennen konnte. Was nun?»

«Hm. Ich muß nachdenken.»

«Gib acht, daß du keine Kopfschmerzen bekommst!»

Er überhörte diese Bemerkung. Nach einer Weile stand er auf und sagte: «Komm, Hanne, wir müssen Boy an die frische Luft bringen.»

Oben im «Schulgang», an dem ihre Zimmer lagen, sagte Hanne mißmutig: «Wird es nicht allmählich Zeit, daß du mit der Geheimniskrämerei aufhörst?»

Er lachte. «Meiner Schätzung nach muß ich dich noch eine Viertelstunde auf die Folter spannen. Zuerst will ich noch ein kleines Experiment vornehmen... hm... das vielleicht mißglücken wird. Ob deine Tante wohl etwas dagegen hätte, wenn wir Boy in die Kirche mitnähmen?»

«Nein, eher der Pfarrer», antwortete sie. «Aber wenn wir nicht um Erlaubnis fragen, kann es uns auch nicht verwehrt werden.»

So wurde Boy nach seinem Spaziergang im Park in die Schloßkirche geführt, wo Hanne das elektrische Licht einschaltete.

«Komm, Boy!» rief Jan.

Der Hund folgte ihm zur Orgel hinauf. Jan ließ ihn an der Felldecke schnuppern, die auf der Bank lag, und befahl dann: «Such, Boy, such!»

Mit der Schnauze nahe am Fliesenboden begann Boy sogleich umherzustöbern, aber das geschah derartig aufs Geratewohl, daß Jan keinen Zweifel hegte: Der Hund hatte zwar Witterung genommen, konnte der Fährte aber von der Felldecke aus nicht folgen. Jan war deswegen nicht enttäuscht – eigentlich hatte er nichts anderes erwartet; er gedachte das Experiment in dem großen Salon fortzusetzen, wo die Gäste immer noch beim Kaffee saßen.

Als er Hanne auf dem Wege zum Salon davon in Kenntnis setzte, sagte sie mit blitzenden Augen: «Jetzt verstehe ich! Du vermutest den geheimnisvollen Orgelspieler unter Tante Grethes Gästen, nicht wahr?»

«Bravo, Hanne!» lobte er sie. «Boy hat die Witterung noch in der Nase und wird ihn schon herausfinden.»

«Aber eins hast du dabei vergessen, Jan», wandte sie ein.

«Was?»

«Der richtige Orgelspieler hat auch auf der Bank gesessen.»

«Ja, aber nicht mehr seit dem Gottesdienst am vorigen Sonntag. Der geheimnisvolle Orgelspieler hat als letzter auf der Bank gesessen, und seine Witterung ist für Boy ausschlaggebend. Wir werden ja sehen, was geschieht.»

«Ich tippe auf Otto Schrad», sagte Hanne entschieden.

Vor der Tür zum Salon blieb Jan stehen, beugte sich zu Boy nieder und sagte in gedämpftem, eindringlichem Tone: «Such, Boy, such!»

Hierauf traten sie ein.

Dann aber kamen Jan doch Bedenken, ob er richtig gehandelt hatte, denn Boy ging mit solchem Feuereifer an die Arbeit, daß mehrere Gäste, namentlich die Kinder, in Angst gerieten. Der gutabgerichtete Schäferhund wirkte jetzt bissig, und niemand konnte ahnen, daß er nur auf Jans Kommando angreifen würde und eine Spur verfolgte, ohne einem Menschen etwas zuleide zu tun. Zu allem Unglück hegten manche Gäste die falsche Auffassung, Schäferhunde seien gefährliche Raubtiere, und einige Damen schrien empört, als Boy zwischen ihnen herumschnüffelte.

«Nein, das geht nicht», flüsterte Hanne erschrocken, «du mußt ihn zurückrufen!»

«Scheint mir auch so...»

«Wenn Tante Grethe kommt, wird sie böse werden.»

Ein dicker Herr mit rotem Gesicht rief zornig: «Was soll der Hund hier? Wem gehört er?»

«Mir», antwortete Jan kleinlaut. «Er tut nichts...»

«Hinaus mit ihm! Augenblicklich!»

Gerade wollte Jan das Kommando geben, da zauderte er doch. Etwas Überraschendes war geschehen. Auf seinem hastigen Rundgang hatte Boy den verschiedenen Gästen kein sonderliches Interesse bezeigt, jetzt aber blieb er vor einem Mann stehen und blickte auf Jan, als wollte er sagen: «Das ist er!»

Es war der Redakteur aus Kopenhagen.

«Boy, komm her!» befahl Jan.

Ohne zu zögern, gehorchte der Hund. Jan sagte mit erhobener Stimme zu den Gästen: «Ich bitte vielmals um Entschuldigung, wenn mein Hund Sie belästigt hat. Es soll nicht wieder vorkommen, aber ich möchte Ihnen doch sagen, daß er ein gutartiges Tier ist, das keiner Katze ein Leid antun würde.»

Einer der Herren kam herbei und betrachtete Boy mit Kennermiene. «Ja, wirklich ein ausnehmend schönes Exemplar. Natürlich mit erstklassigem Stammbaum?»

Jan nickte vergnügt. «Und er ist tadellos abgerichtet.»

Der dicke Herr jedoch rief entrüstet: «Hinaus mit dem Vieh!»

Jan führte Boy hinaus, und Hanne eilte hinterdrein. Sie war erfüllt von Spannung und unterdrückter Heiterkeit. Auf dem Schloßhof ließ sie ihrer Lachlust die Zügel schießen, ahmte den Dicken nach und sagte dann ernster: «Das war eine Überraschung, was?»

«Ja, wahrhaftig», antwortete Jan. «Ich war ebenso sicher wie du, daß Boy diesen Otto Schrad überführen würde, hm... aber nun müssen wir uns mit dem Redakteur befassen.»

«Ob sich die beiden kennen?»

«Wenn ja, vertuschen sie es gut, jedenfalls müssen wir die Sache näher untersuchen. Zuerst wollen wir Boy ins Zimmer hinaufbringen und einen Schlachtplan aufstellen.»

Oben in seinem Zimmer sagte Jan: «Tja, ich habe dir versprochen, dich nicht länger auf die Folter zu spannen, doch offen gestanden, jetzt sitze ich selbst in der Klemme. Es wäre alles viel leichter, wenn ich mich erinnern könnte, wann und wo ich Schrad früher gesehen habe... Jedenfalls sollst du nun erfahren, was ich mir zusammengereimt habe.»

«Ja, laß hören», drang Hanne in ihn.

«Meiner Ansicht nach wurde der ganze Spuk – das Orgelspiel und das leuchtende Gespenst im Gang – nur zu dem Zweck inszeniert, den Gästen solche Angst einzujagen, daß sie das Schloß verlassen.»

«Von der Konkurrenz meiner Tante? Aus Brotneid?»

«Nein, das glaube ich nicht. Wenn meine Theorie stimmt, gibt es hier einen Menschen oder auch mehrere Leute, die es darauf angelegt haben, die Gäste zu verjagen, damit sie ungestört etwas ganz Bestimmtes im Schloß suchen können.»

«Und das wäre?»

«Keine Ahnung. Die Schritte oben auf dem Dachboden gehören vielleicht zu der Abschreckungskampagne, aber mir leuchtet es mehr ein, daß man dort in der Nacht etwas gesucht hat. Wenn sie wirklich knirschten, wie deine Tante gesagt hat, sollte es sich nicht nach einem Gespenst anhören, sondern das Geräusch wurde unabsichtlich hervorgerufen. Und was die leuchtende Gestalt betrifft... na ja, dieser Zauber läßt sich mit Phosphor bewerkstelligen. Er diente wahrscheinlich einem doppelten Zweck. Der Kerl war auf der Suche nach etwas, und wenn ihm irgendein Mutiger entgegengetreten wäre, hätte er behaupten können, er habe sich nur einen Spaß machen wollen. Niemand hätte diese Erklärung bezweifelt.»

«Und das Orgelspiel?» fragte Hanne.

«Ja, das ist eine Sache für sich. Dahinter steckt der Redakteur, wie wir jetzt wissen. Er ist tollkühn, das muß man ihm lassen. Wie gesagt, den Gästen sollte damit höllische Angst eingejagt werden, aber wenn einer von ihnen den Mut gehabt hätte, die Sache zu untersuchen, wäre der Redakteur in Verlegenheit geraten. Er hätte sich so schnell nicht unter die übrigen Gäste mischen können, und die Ausrede mit dem lustigen Spuk wäre nicht möglich gewesen.»

Jan machte eine Kunstpause. Dann fuhr er fort: «Der Orgelspieler und die leuchtende Gestalt sind schwerlich ein und dieselbe Person. Die Schwedin sagte ja, es wäre eine große Gestalt gewesen, und der Redakteur ist klein und gedrungen.»

«Otto Schrad ist sehr groß!»

«Allerdings. Aber es ist bei weitem nicht gesagt, daß er in die Sache verwickelt ist. Selbst wenn ich ihn tatsächlich schon gesehen habe, spricht das nicht ohne weiteres gegen ihn.»

«Da fällt mir etwas ein», sagte Hanne eifrig. «Wäre es nicht möglich, daß zwischen der Suche nach einem versteckten Gegenstand und dem verschwundenen deutschen Offizier ein Zusammenhang besteht?»

«Der während der Besetzung in einer besonderen Mission hierher kam...» Jan wurde nachdenklich. «Du meinst...»

«Ja, ja!» Sie wurde immer aufgeregter. «Während des Krieges spielte Odsherret für die deutsche Besetzung eine wichtige Rolle. Das weiß ich von Tante Grethe. Wäre es nicht denkbar, daß der deutsche Offizier mit irgendwelchen strategischen Plänen oder neuen Waffen hierher kam...»

«Durchaus denkbar», pflichtete er bei.

«Dann kam die Kapitulation, und der Deutsche hatte nichts anderes im Kopf, als zu verschwinden. Die wichtigen Pläne oder Waffen konnte er nicht mitnehmen; also verbarg er sie irgendwo im Schloß, um sie später zu holen... Na ja, eigentlich sonderbar, daß darüber so viele Jahre vergangen sein sollen, aber dabei können ja Zufälle mitgewirkt haben... Du, Jan, es würde mich gar nicht wundern, wenn Otto Schrad der verschwundene deutsche Offizier wäre!»

«Na, na, immer langsam mit den jungen Pferden», lachte Jan. «Jetzt geht die Phantasie mit dir durch.»

«Wieso?»

«Wenn Schrad mit dem deutschen Offizier identisch ist, muß er doch wissen, wo er die Pläne im Mai 1945 versteckt hat, und dann brauchte er den ganzen Spuk hier nicht zu inszenieren. Außerdem ist er zu jung. Wie kommst du übrigens darauf, daß er der Offizier sein könnte?»

«Er ist ja angeblich Südjütländer, und die Südjütländer haben einen ähnlichen Tonfall wie die Deutschen, wenn sie Dänisch sprechen. Außerdem ist Schrad ein deutscher Name.»

Er lächelte. «Ein schwacher Beweis, Hanne. Wir kommen so nicht weiter, wenn wir nicht einmal wissen, ob Schrad den Redakteur kennt. Darüber wird uns deine Tante vielleicht aufklären können. Weißt du was, lauf schnell zu ihr und frag sie!»

«Wird gemacht.»

Jan wartete ungeduldig auf Hannes Rückkehr. Seine Gedanken gingen im Kreise, und je länger er darüber nachdachte, desto mehr leuchtete ihm Hannes Erklärung ein. Wirklich ein zweiter Doktor Watson, diese Hanne...

Hanne stürzte so aufgeregt herein, daß er unwillkürlich zusammenzuckte.

«Es stimmt, Jan!» rief sie begeistert. «Tante Grethe sah Schrad und den Redakteur mehrmals im Park zusammen Spazierengehen, anscheinend in ein Gespräch vertieft. Tante Grethe wunderte sich sogar darüber, weil sie im Salon nie miteinander sprechen. Sie sitzen ja auch beim Essen an verschiedenen Tischen. Wie findest du das?»

«Hört sich gut an», räumte er ein. «Wir müssen im Telephonbuch nachsehen, ob es in Hadersleben einen Großhändler Otto Schrad gibt. Wie heißt übrigens unser orgelspielender Redakteur?»

«Nielsen... ganz einfach Nielsen.»

«Ob er wohl wirklich Redakteur ist...»

«Da fällt mir ein», unterbrach sie ihn, «ich habe als deine Assistentin dafür gesorgt, daß du jetzt einen andern Namen trägst.»

«Ich soll unter falschem Namen auftreten?» empörte er sich.

«Selbstverständlich. Solange du auf Dragsholm wohnst, heißt du Jens Hansen. Als Jan Helmer bist du zu berühmt. Selbst wenn dich Herr Schrad nie gesehen hat, so hat er vielleicht von dir gehört und ist gewarnt, wenn er erfährt, daß sich der dänische Amateur-Meisterdetektiv unter die Gäste gemischt hat. Darum habe ich Tante Grethe gebeten, dich als Jens Hansen zu führen.»

«Hanne, du bist ein Engel! Natürlich hast du recht.»

«Vergiß also deinen neuen Namen nicht. Laß uns nun zu den Gästen hinuntergehen, aber ohne Boy!»

Jan in der Schusslinie

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