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Erstes kapitel

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Ein alter Feind taucht auf

Die Familie Helmer saß am Frühstückstisch. Der Tisch war wie immer so hübsch und ansprechend gedeckt, daß er zum Zugreifen förmlich verlockte. Dennoch waren drei der Familienmitglieder mit Lesen beschäftigt. Jan überflog zum letzten Mal in seinem Geschichtsbuch das Kapitel «Der amerikanische Bürgerkrieg», während er abwesend seinen Kaffee trank und ein Brötchen aß. Lis las zum bestimmt zwanzigsten Mal den Brief durch, den sie von ihrem Verlobten Jens bekommen hatte, der gerade in Schweden war. Der Herr des Hauses schließlich, Kriminalkommissar Helmer, war ganz in die Morgenzeitung vertieft.

Frau Helmer schob den Korb mit dem duftenden, frischgebackenen Brot zu ihrem Mann hin und sagte leicht vorwurfsvoll: «Mogens, jetzt solltest du aber wirklich etwas essen. Du arbeitest hart im Polizeipräsidium; da darfst du nicht mit leerem Magen hingehen. Leg doch endlich die Zeitung weg und iß ein Butterbrot.»

Helmer legte zögernd die Zeitung hin und lächelte ein wenig. «Ach, Mutti, du brauchst keine Angst zu haben, daß ich Hungers sterbe. Aber in der Morgenzeitung steht ab und zu doch etwas, was einen Polizeimann interessiert...»

Jan hob schnell den Kopf von seinem Buch und fragte: «Steht was Spannendes in der Zeitung, Vater?»

«Spannend?» wiederholte der Kriminalkommissar. «Das kommt darauf an, wie man es betrachtet. Ich würde eher sagen, daß es etwas sehr Trauriges ist, was mich momentan interessiert. Leider liest man dergleichen nur allzuoft in der Zeitung...»

«Was ist es, Vater?»

Helmer schob Jan die Zeitung hin und deutete auf einen Artikel. «Du kannst es ja selber lesen, mein Junge.»

Jan verlor sogleich jedes weitere Interesse am amerikanischen Bürgerkrieg. Er legte sein Geschichtsbuch weg und breitete die Zeitung vor sich aus; dann las er den Artikel, den der Vater ihm gezeigt hatte. Anscheinend fesselte er auch ihn, denn er stützte sein Kinn in die Hände und war für einige Minuten ganz versunken, so daß er die Aufforderung zum Essen seitens seiner Mutter ebenso wenig hörte wie die foppenden Bemerkungen, die Lis fallen ließ. Der Artikel war groß mit folgender Schlagzeile überschrieben:

Furchtbarer Autounfall

Grosser Wagen gegen einen Baum gefahren junger Mann fand den tod

Dann folgte die Beschreibung des Unfalls, der sich in der vorhergehenden Nacht auf der Hauptstraße Nummer 1 abgespielt hatte. Der Fahrer des Wagens, ein junger Mann von sechzehn oder siebzehn Jahren, war auf der Stelle getötet worden. Er war mit einem Buick gegen einen Baum gefahren und hatte sich dabei das Lenkrad in die Brust gestoßen. Ein Bauer hatte den Verunglückten gefunden und sofort die Polizei aus Ringsted herbeigeholt. Die Untersuchung ergab, daß mindestens noch ein Beifahrer im Wagen gewesen sein mußte, als das Unglück passierte, denn es fanden sich deutliche Blutspuren am rechten Trittbrett, und auch auf der Straße waren noch Spuren von Blut entdeckt worden. Sie verliefen bis zu einem Acker. Weiter aber konnte man, trotz eifriger Suche, von dem verletzten Beifahrer nichts entdecken. Im Kofferraum des Wagens fand man eine große Menge Konservendosen sowie Wein und Tabakwaren, außerdem eine grüne, ungeöffnete Geldkassette. Die Polizei kam daher zu der Annahme, daß es sich um sehr junge Autodiebe handeln müsse, die in Mittel- oder Westseeland einen Raubzug verübt hatten. Bisher hatte noch niemand einen Einbruch gemeldet. Man wußte jedoch schon, daß der Wagen von einem Parkplatz in Nörrevold gestohlen worden war. Aus den Bremsspuren ging eindeutig hervor, daß der Wagen mit großer Geschwindigkeit gefahren war. Es wurde angenommen, daß ein Hase oder dergleichen den Fahrer nervös gemacht und zu heftigem Bremsen gezwungen hatte, wodurch der Wagen ins Schleudern geriet. Der Tote trug keine Papiere bei sich, daher wußte man nicht, um wen es sich handelte, aber die Polizei war sicher, daß er Mitglied einer Jugendbande war.

Weiter schrieb die Zeitung, daß die Öffentlichkeit hoffe, die Polizei würde sich mehr in solche Fälle einschalten, um dem entsetzlichen Unwesen der Jugendbanden endlich Einhalt zu gebieten.

Jan faltete die Zeitung zusammen und schaute zu seinem Vater hinüber.

«Das sieht schlecht aus, Vater. Glaubst du auch, daß es sich um eine Jugendbande handelt?»

Helmer nickte ernst.

«Darüber besteht wohl leider kein Zweifel, Jan, wenn ein Junge von sechzehn oder siebzehn Jahren hinter dem Lenkrad sitzt. Die Presse hat leicht reden. Wir würden ja gern mehr gegen dieses Bandenunwesen tun, aber die Autofahrer selber helfen uns wenig. Wie oft lassen sie doch ihre Autos unverschlossen oder mit offenen Fenstern stehen. Es ist dann natürlich sehr verlockend für die autobesessenen jungen Leute, einen Wagen zu stehlen.»

Der Kriminalkommissar hielt inne und starrte auf die weiße Tischdecke, dann fuhr er im gleichen, düsteren Ton fort:

«Kannst du dich an jene Bande von Jugendlichen erinnern, die vor einiger Zeit von der Kriminalpolizei aufgestöbert wurde? Du hast uns damals sehr gute Dienste geleistet. Auch diese Jungen hatten Autos gestohlen und Einbrüche verübt. Einer deiner Schulkameraden war in die Sache verwickelt; aber er kam dann mit einem blauen Auge davon.»

«Ja», stimmte Jan zu. «Ich erinnere mich gut. Asbjörn war eine Zeitlang Mitglied einer Jugendbande; aber er sah bald ein, daß es nicht der richtige Umgang für ihn war. Walther Clausen, der Anführer der Bande, wurde schließlich erwischt und zur Strafe in ein Jugendgefängnis gesteckt, nicht wahr?»

«Mhm», murmelte Helmer, der nun doch das Butterbrot aß, das seine Frau ihm angeboten hatte. «Er bekam eine längere Strafe, aber seine Führung im Gefängnis war so gut, daß er vor kurzem auf Bewährung entlassen wurde.»

«So, Walther Clausen ist wieder frei?»

«Ja, und man kann nur hoffen, daß er die Chance, die ihm dadurch gegeben wird, auch im positiven Sinne nützt. Ich fürchte bloß, daß er zu den Unbelehrbaren gehört. Viele werden ja nach einer solchen Strafe brauchbare Bürger, denn von seiten des Staates und der Kirche wird sehr viel für diese jungen Leute getan, die einmal gestrauchelt sind, aber dann wieder auf den richtigen Weg zurückfinden. Nur ist es eben in manchen Fällen schier unmöglich, sie zur Vernunft zu bringen. Ich möchte dich daher warnen, mein Junge. Walther Clausen kann sich an mir nicht rächen, aber er wird vielleicht versuchen, sich dir zu nähern, denn er weiß ja, daß du und dein Freund Erling bei seiner Festnahme geholfen habt.»

«Hm», sagte Jan bloß.

«Ja, mein Junge», nickte Helmer. «Ich weiß, was du mit deinem ‚hm‘ meinst. Walther Clausen war ein trauriger Geselle; man kann nur das Beste hoffen.» Dann winkte er seiner Familie freundlich zu und ging.

Jans Gedanken aber kreisten um den freigelassenen Walther Clausen, während er einige Minuten später zur Schule radelte. Er mußte auch an seinen Klassenkameraden Asbjörn denken, der durch Walther Clausen in eine Halbstarkenbande gelockt worden war. Als die Polizei schließlich der Bande habhaft wurde, gelang es dem Anführer – eben diesem Walther – zu entkommen. Wenig später trug Jans Schule ein Fußballspiel gegen die Internatsschule Rödbjerg aus. Bei dieser Gelegenheit waren Erling und Jan auf Clausen gestoßen, und es war möglich gewesen, ihm eine Falle zu stellen, die den Bandenführer hinter Schloß und Riegel brachte. Bei der Festnahme hatte Clausen geschworen, sich an Jan und Erling zu rächen, sobald er wieder frei war.

Jan kam der Gedanke, daß Walther Clausen sich im Gefängnis sicher nicht so mustergültig aufgeführt hatte, weil er inzwischen ein neuer und besserer Mensch geworden war, sondern weil er sehr wohl wußte, daß er bei guter Führung eine Strafmilderung zu erwarten hatte. Nun, diese Hoffnung hatte sich jetzt erfüllt.

Jan fühlte sich nicht ganz wohl bei dem Gedanken, daß er seinem Vater nicht erzählt hatte, was Walther Clausen ihm bei seiner Festnahme angedroht hatte. Das hätte er eigentlich tun sollen... aber er hatte den Vater nicht unnötig ängstigen wollen. Es konnte ja schließlich doch sein, daß der Gefängnisaufenthalt den jungen Mann zur Besinnung gebracht und einen besseren Menschen aus ihm gemacht hatte. Vielleicht hatte er alle Rachegedanken aufgegeben.

Eine neue Idee überkam Jan. Warum hatte sein Vater ihm wohl erzählt, daß Walther Clausen frei war? Hatte er es vielleicht als Warnung gemeint, weil er ahnte, daß der junge Mensch sich rächen wollte? Sehr wahrscheinlich war es so, denn der Vater schien manchmal einen sechsten Sinn zu haben. Dem tüchtigen Kriminalkommissar entging so leicht nichts... es wäre auch dumm gewesen, etwas vor ihm verbergen zu wollen.

Während Jan sein Fahrrad unter dem Wellblechdach im Schulhof abstellte, kam der dicke Erling auf ihn zu und sagte munter: «Lieber Freund, es scheint mir, als sei deine sonst so freundliche Miene heute morgen ein wenig verdüstert. Hast du vergessen, deine Geschichtsaufgabe vorzubereiten?»

«Nein...»

«Französisch?»

«Auch nicht», antwortete Jan und mußte nun doch lachen. «Ich glaube, ich habe so ziemlich alles vorbereitet.» Dann wurde sein Gesicht ernst, und er fuhr fort: «Schon möglich, daß ich ein wenig düster aussehe, denn ich habe auf dem ganzen Schulweg an Walther Clausen gedacht. Erinnerst du dich an den Burschen? Er ist kürzlich auf Bewährung freigelassen worden.»

«Natürlich erinnere ich mich an Clausen. Aber warum regt seine Freilassung dich auf?» fragte Erling ohne größeres Interesse.

Jan hob die Schulter. «Nun, ich will nicht behaupten, daß ich allzusehr beunruhigt bin, aber ich kann die Drohung nicht vergessen, die der Kerl damals ausgestoßen hat.»

«Ach was, der wird sich im Gefängnis wieder abgekühlt haben», meinte Erling.

Da klingelte auch schon die Schulglocke, und die beiden Freunde bekamen erst nach dem Unterricht wieder Gelegenheit, miteinander zu sprechen, als sie zusammen mit ihrem Freund Jesper, Krümel genannt, wegradelten. Das Wetter war schön an diesem Tag. Deshalb beschlossen die Freunde, einen kleinen Ausflug mit der «Rex», ihrem Segelboot, zu machen; sie fuhren also in Richtung Helleruper Segelklub. Jesper hatte es sehr bedenklich gestimmt, als Jan ihm erzählte, was mit Walther Clausen geschehen war.

«Ich weiß, daß er ein gefährlicher Mensch ist, und ich bin sicher, daß er seine Drohungen wahrmachen wird.»

Erling gab seinem kleinen Freund einen väterlichen Klaps auf den Rücken. «Lieber kleiner Krümel, ich kann wirklich nicht einsehen, weswegen du dich fürchten müßtest. Bei dem Fußballspiel gegen Rödbjergs Internatsschule und in den darauffolgenden Ereignissen hast du doch kaum eine Rolle gespielt. Ich möchte sagen, daß Walther Clausen überhaupt nicht weiß, daß es dich gibt. Also Kopf hoch, Krümel, du hast nichts zu befürchten. Wenn der Kerl jemandem eins auswischen will, dann wird er sich an Jan und Onkel Erling halten. Aber das wird ihm schlecht bekommen, nicht wahr, Meister Jan?»

«Hm – ja», murmelte Jan bedrückt.

Erling seufzte tief. «Na, hört mal, was habe ich mir da für Schlafmützen als Freunde ausgesucht? Der eine ist bedrückter als der andere! Man sollte geradezu meinen, Clausen sei uns vor Blutdurst schnaubend auf den Fersen. Also, liebe Freunde, ich bitte mir eine bessere Laune aus. Es mag ja sein, daß der Kerl eines Tages auftaucht, um seine Kräfte an den unseren zu messen, aber er ist nun doch wirklich nicht der Schlimmste von all denen, die uns in unserem bisherigen glorreichen Leben begegnet sind. Er wird sich wundern, wenn er an Onkel Erling gerät!»

Jan konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. «Erstaunlich, wie übermütig du geworden bist, Dicker. Sonst bist doch du derjenige, der die Dinge immer sehr schwarz sieht. Warum die vielen stolzen Worte?»

«Dreimal darfst du raten.»

«Ich kann es, glaube ich, beim ersten Mal erraten. Wenn du so übermütig bist, dann wohl, weil du damit rechnest, daß wir Walther Clausen nie zu Gesicht bekommen werden. Stimmt’s?»

«Haarscharf, mein Freund!» Erling nickte. «Ich beuge ehrfurchtsvoll mein Haupt vor deinem Scharfsinn. Meiner bescheidenen Meinung nach werden wir nichts mehr von ihm sehen.»

«Laßt uns in der Hoffnung leben!» sagte Jan trocken.

Die Jungen bogen auf den Weg zum Segelklub ein. Als sie am Klubhaus von den Rädern stiegen, fuhr gerade ein kleiner, gelber Sportwagen mit großer Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Der Wagen fuhr bis zum Ende des Weges, drehte dort um und kam ebenso schnell zurück. Jan, der als letzter durch die Tür ging, warf zufällig einen Blick auf den Wagen – und es gab ihm einen Ruck. Er blieb einige Augenblicke unbeweglich stehen und starrte dem Wagen nach, der gerade an der Ecke zum Strandvejen von der Straße abbog.

Erling gab ihm einen kleinen Stoß in die Seite. «Hallo, edler Herr... du stehst da und siehst aus, als hättest du Gespenster gesehen.»

«Gespenster?» wiederholte Jan geistesabwesend. «Wenn es nur Gespenster gewesen wären!»

«Wie bitte?»

«Ja, wirklich. Hast du den kleinen gelben Sportwagen gesehen?»

«Natürlich.»

«Und hast du auch gesehen, wer darin saß? Walther Clausen höchstpersönlich.»

Erling stöhnte gequält: «O nein, sag das nicht! Bist du ganz sicher?»

«Hundertprozentig.»

«Meinst du, daß er nach uns Ausschau gehalten hat?»

«So sieht es aus. Es wäre doch seltsam, wenn unsere Wege sich gerade hier zufällig kreuzen würden. Scheint es dir jetzt nicht auch, daß es Walther Clausen mit seinen Drohungen bitter ernst war?»

Erling nickte und seufzte gleichzeitig. «Nie mehr werde ich Optimist sein, da wird man nur enttäuscht. Wir sind unter einem Unglücksstern geboren, ich sehe schon die ärgsten Unannehmlichkeiten voraus.»

Jan pass auf!

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