Читать книгу Höllische Tage - Carlo Fehn - Страница 5
Оглавление14 Tage vorher, Freitag, 1. August 2003
Pytlik verließ - wie fast immer - gegen halb acht seine Doppelhaushälfte in der Rhodter Straße. Irgendwie schien es ihm selbst so, als hätte er nur widerwillig seine beiden Füße vor die Tür gesetzt. Es hatte in den Tagen zuvor kein Thema gegeben, das in allen Medien mehr diskutiert worden war, als der bisherige Sommer und das, was nun noch kommen sollte. Der Hauptkommissar war beileibe keiner, der vor Wärme und Sonnenstrahlen davonlief, das Jahr 2003 würde selbst er jedoch später als klimatisch anstrengend bezeichnen.
Welcome sunshine, murmelte er leise, fast schon resignierend, als er sein Fahrrad aus dem Carport holte und sich gemächlich auf den Sattel setzte, den Helm bereits festgezurrt. Er würde auch heute durch das Gelände der Landesgartenschau fahren, bloß nicht zu schnell, immerhin hatte das Thermometer schon deutlich über 20 Grad angezeigt. Nach wenigen Metern Fahrt nahm er im Augenwinkel einen hellen Schatten und leichte, dumpfe Geräusche wahr, die er nach einem spontanen Blick nach rechts sogleich zuzuordnen wusste. Die neue Nachbarin, drei Häuser weiter, links gegenüber, räumte die letzten Kartons vor die Haustür, wo sauber gestapelt bereits die Überreste des Umzugs auf Entsorgung warteten. Es hatte sich bisher noch nicht die Gelegenheit ergeben, mit der gutaussehenden Frau zu sprechen. Zu froh war er jedes Mal, wenn er aus dem Präsidium nach Hause gekommen war und sich abends in seinem Garten in ein schattiges Plätzchen legen konnte, anstatt die Aus- und Einräumarbeiten der Umzugshelfer und der neuen Hauseigentümerin zu unterbrechen.
"Ach, Entschuldigung! Herr Pytlik?"
Der Hauptkommissar war einigermaßen überrascht, als die in einen weißen Jogginganzug gekleidete Frau plötzlich in einer Art Hilferuf auf sich aufmerksam machte und mit einer winkenden Handbewegung seine Aufmerksamkeit gewonnen hatte. Pytlik zog beide Bremshebel an seinem Trekkingrad und lenkte seinen Drahtesel langsam auf den Gehweg vor dem Anwesen der Brünetten, die verlegen lächelnd an die kniehoch und sauber geschnittene Hecke gekommen war. Nun sah er sie das erste Mal aus unmittelbarer Nähe und es gefiel ihm, was er sah. Das braune Haar hatte einen leicht rötlichen Stich, das sehr weibliche Gesicht mit der gepflegten, hellen Haut und das sympathische Lächeln ließen seine eher missmutige Stimmung etwas verschwinden. Er stand da wie ein Teenager, der sich von einem Mädchen verabschiedete, mit dem er gerade beim Picknick gewesen war, es dort nicht geschafft hatte, sie zu küssen und jetzt vergeblich darauf wartete, dass sie zum Abschied die Initiative ergreifen würde. Beide Hände am Lenker, die Beine rechts und links der Querstange. Sie hatte ihn anscheinend kurz gedanklich gefesselt, dann machte er sich aber zumindest daran, seinen Helm abzunehmen, während sie ihre strahlend weißen Zähne präsentierte, leicht außer Atem.
"Guten Morgen! Angelika Küppers. Ich bin die neue Nachbarin - sozusagen. War ja sicherlich nicht zu übersehen die letzten Tage."
Pytlik spürte einen warmen Händedruck und versuchte gleichzeitig die ersten Worte dieser Frau irgendwie zu deuten: "...sozusagen... - ...sicherlich nicht zu übersehen...". Was meinte sie damit? Hieß das: Du hättest dich ruhig schon mal blicken lassen können, Blödmann und fragen, ob ich Hilfe brauchen kann. Du hast doch sicherlich schon bemerkt, dass hier kein Mann rumläuft, der augenscheinlich zu mir gehört. Denn du hast doch bestimmt von deinem Küchenfenster aus verfolgt, wie die Umzugsfirma und ich hier in den letzten Tagen geschuftet haben. Für uns war das Wetter übrigens auch nicht angenehmer.
"Sie sind der Polizist, oder? Ich habe mich schon ein bisschen informiert. Die Merkels - ist das richtig? - und die Frau, äh, Porzel, nein Porzig, ja, Porzig, heißt sie. Mit denen habe ich schon geredet. Nette Leute, ich glaube, ich werde mich hier richtig wohlfühlen. Aber entschuldigen Sie bitte, ich wollte Sie nicht überfahren, Sie müssen ja sicherlich auch ins Büro."
Das musste Pytlik tatsächlich, aber außer der weiteren Vorbereitung auf das bevorstehende Freischießen schob er im Moment eine eher ruhige Kugel.
"Ich hoffe, die haben alle nichts Schlechtes über den Polizisten erzählt! Pytlik, Franz Pytlik. Ich wohne hier vorne, aber Sie sind ja anscheinend schon bestens informiert. Frau... Küppers, ja?"
"Ja, Angelika Küppers. Herr Pytlik, ich wollte Sie nicht lange aufhalten, ich habe eigentlich nur eine kurze Frage: Wissen Sie vielleicht, wo und wie ich diese ganzen Kartons und Verpackungen am besten entsorgen kann? Ich möchte so schnell wie möglich alles weg haben. Sie wissen ja, man schiebt das dann auf und im Winter liegt das Zeug immer noch rum."
Pytlik wusste, was sie meinte und fragte sich gleichzeitig, ob seine anderen Nachbarn diese Frage nicht auch hätten beantworten können. Sie wollte also einfach nur den Kontakt zu ihm herstellen, kombinierte er und fühlte sich innerlich geschmeichelt.
"Am besten, Sie fahren die Sachen auf den Wertstoffhof. Wenn ich das richtig sehe, ist das Meiste Pappe und Papier, das können Sie dort kostenlos entsorgen."
"Okay. Und wo ist dieser Wertstoffhof?"
"Ach so. Es lohnt sich nicht, das zu erklären. Wenn Sie hier neu sind, wäre es wohl das Beste, ich zeige Ihnen den mal. Die haben samstags auch geöffnet. Wenn Sie möchten, fahre ich da morgen früh mit Ihnen hin und Sie laden mich hinterher auf einen Kaffee ein. Ich bin nun mal Ermittler und möchte natürlich auch einiges über Sie wissen."
Er schickte diesem charmanten Annäherungsversuch ein gekonntes Schmunzeln hinterher, weshalb die Reaktion seines Gegenübers auch spontan erfreut ausfiel.
"Das würden Sie tun? Klasse! Aber wollen wir es dann nicht lieber umgekehrt machen? Sie kommen zum Frühstück und danach machen wir uns an die Arbeit?"
"Äh..."
Pytlik war sichtlich überrascht. Nicht, dass Frauen, die ihn offensiv angingen, ihm nicht lieber waren als kleine stumme Mäuschen. Nein, so war es nun wirklich nicht. Allerdings hatte er nach Beendigung seiner letzten Liaison im Anschluss an eine Mordermittlung keine interessante Bekanntschaft mehr gemacht. Kronach war diesbezüglich einfach überschaubar. Insofern erwachte langsam sein Jagdinstikt. Das Gehirn schien dem Tempo aber noch nicht folgen zu können.
"Keine Angst, ich beiße nicht. Ich dachte nur, es wäre vielleicht besser, vor der Arbeit was im Magen zu haben."
"Klar!" Pytlik hatte sich gefasst. "Dann bin ich morgen - ja wann denn? - so gegen neun bei Ihnen? Ist das okay?"
"Super, das freut mich! Mögen Sie Rührei mit Speck? Westfälische Art?"
Aha! Pytlik hatte während der paar kurzen Sätze schon gemerkt, dass diese Angelika Küppers keine von hier - also aus Franken oder Bayern - war. Zu exakt und dialektfrei sprach sie. Westfalen also. Oder war das westfälische Rührei nur eine ihrer Spezialitäten, ohne dass es mit ihrer Herkunft zu tun haben sollte? Egal, dachte er, ich werde es herausfinden.
"Ja, prima. Ich liebe Rührei mit Speck. Mal schauen, ob mich die westfälische Variante überraschen kann."
"Wir werden es sehen. Also dann: Vielen Dank schon mal und lassen Sie die Woche gut ausklingen! Schönen Tag noch!"
Angelika Küppers gab Pytlik die Hand und er schaute ein letztes Mal in ihr freudestrahlendes Gesicht, bevor er sich verabschiedete. Ende dreißig, schätzte er nun, also gut fünfzehn Jahre jünger als er. Was würde sie wohl beruflich machen? War sie womöglich tatsächlich nicht liiert? Kinder? Scheidung - wie bei ihm? Alles Fragen, die sich Pytlik stellte, als er, mit fantastischem Blick auf die Festung Rosenberg, Richtung Innenstadt radelte.
Er hatte in den letzten Tagen sogar auf seinen obligatorischen Besuch in Müller’s Backhaus verzichtet. Das nervige Wetter hatte ihm den Appetit auf seine geliebten Puddingbrezeln genommen. Beflügelt von der Begegnung mit Angelika Küppers schien nun aber auch dieses Problem behoben zu sein.
***
"No, Herr Kommissar! Ich hobb fei scho gedocht, mit Ihna wär woss bassierd. Mensch, wo wonn Sie denn die letzten Douch?"
Spätestens jetzt wurde Pytlik bewusst, wie sehr er in der kleinen Bäckereifiliale wohl schon zum Inventar gehörte. Nichtsdestotrotz war ihm die überschwänglich besorgte Begrüßung durch Maria Beierkuhnlein irgendwie peinlich, drehten sich doch alle Anwesenden - ähnlich verzweifelt wie der Polizist, mit permanenten Schweißtropfen im Gesicht kämpfend - zu ihm um und konnten sich die ihm zugedachte Aufmerksamkeit nicht erklären.
"Dess is fei heuer ein richdicher Mördersommer. Ich konn mich nier erinnern, dass ich so woss schonn erlebbd hobb. Ich bin fei richdich schlabb. Irgendwie gehds mer nier so gud."
Maria Beierkuhnlein hatte den Hauptkommissar wie immer, wenn sie kurz mit ihm ein Pläuschchen halten wollte, an die Seite der Theke gebeten, wo sie hinter der großen Kaffeemaschine ihre gesundheitlichen Bedenken preisgab.
"Irgendwie, ich waaß nedd..."
"Gehen Sie lieber zum Arzt, Frau Beierkuhnlein! Gerade in Ihrem Alter sollten Sie damit nicht zu fahrlässig umgehen. Sie haben genügend junge Kolleginnen. Die kommen auch mal ein paar Tage ohne Sie zurecht. Hören Sie auf mich!"
Maria Beierkuhnlein musterte Pytlik ungläubig. Wollte er ihr tatsächlich den Rat geben, zuhause zu bleiben?
"Ja, dess gedd nier! Hier muss Ordnung sei, die brauchen mich!"
Pytlik schmunzelte, nahm seine Tüte mit den geliebten Puddingbrezeln und hob den Zeigefinger.
"Denken Sie darüber nach, Frau Beierkuhnlein! Schönen Tag noch."
Als er die Bäckerei verlassen hatte, machte er sich kurz Sorgen um die alte Frau, die nun doch schon auf die Siebzig zusteuerte, aber ihre Arbeit einfach zu sehr mochte. Als er mit dem Fahrrad über den Herrenmühlsteg fuhr, hielt er in der Mitte der kleinen Holzbrücke an und blickte nach links und rechts in die Kronach. Der Fluss war zum Flüsschen verkommen, träge schob sich das Wasser an den freiliegenden Steinen vorbei.
Zwei Minuten später betrat Pytlik die Dienststelle am Kaulanger. Freitage mochte er grundsätzlich. Gerade in Zeiten, in denen keine Ermittlungen stattfanden, bedeutete dies einen frühen Dienstschluss. Die Vorbereitungen für das Schützenfest hatte er gut delegiert, so blieb ihm endlich einmal etwas Zeit für Ablage und allgemeine Bürotätigkeiten. Diese würde er heute relativ rasch am Nachmittag beenden, überlegte er sich. Vielleicht gab es ja zufällig noch etwas, bei dem er seiner neuen Nachbarin behilflich sein könnte. Seine Stimmung war nun, kurz bevor er das Büro im ersten Stock betrat, fast schon ein bisschen euphorisch. Er konnte nicht ahnen, dass ihm in den kommenden Tagen nicht nur der mörderische Sommer alles abverlangen würde.
***
"Guten Morgen!"
Pytlik hatte den Oberkörper nach vorne gebeugt und den Kopf nach rechts geneigt, so, als hätte er sich versteckt und würde sich nun wieder zeigen. Die betont begrüßende Handbewegung schien seiner Sekretärin etwas unangebracht. Adelgunde Reif schaute zumindest sehr verdutzt über ihren Schreibtisch zur Tür, erwiderte Pytliks Gruß aber ebenso freundlich, wenn auch mit einem unübersehbaren Runzeln der Stirn. Danach verschwand der Hauptkommissar im Zimmer gegenüber. Nachdem er auch dort ein gutgelauntes "Morgen allerseits" verkündet hatte, sah er sich wiederum mit zwei merklich überraschten Augenpaaren konfrontiert. Es war einfach nicht die Zeit für gute Laune. Die Menschen waren angeschlagen und die Wetteraussichten drückten umso mehr auf das Gemüt. Heiterkeit musste in diesen Tagen auf Unverständnis stoßen.
Pytliks Assistent, Cajo Hermann, saß am Schreibtisch vis-à-vis und deutete mit dem Zeigefinger auf seinen Bildschirm, um der jungen Dame neben ihm etwas zu erklären. Er unterbrach seine Ausführungen und grummelte ein ebenso unmotiviertes wie gestresst wirkendes "Morgen, Franz!" zurück. Die schlaksige Frau schenkte dem Hauptkommissar ein kurzes "Hallo" und schaute dabei genau so prüfend, wie sie es die letzten zwei Wochen bereits getan hatte, seitdem sie hier war. Pytlik konnte sich nicht daran erinnern, schon jemals eine Praktikantin bei sich gehabt zu haben. Nun ja, eigentlich war sie auch mehr bei Cajo, der sich der Psychologiestudentin aus Bamberg vom ersten Tag an angenommen hatte. Pytlik war nicht entgangen, dass die Beiden ganz gut miteinander konnten. Sie sollte in erster Linie bei Vernehmungen und Recherchen mit einbezogen werden. Da diesbezüglich aber gerade nicht viel vorlag, erklärte Hermann ihr jede Menge Inhaltliches zum polizeilichen Alltag. Vanessa Zenk schien sehr interessiert und unansehnlich war sie auch nicht. Also hatte Pytlik im Nachhinein auch ein ruhiges Gewissen, dass er seine Zustimmung gegeben hatte, als sein Chef ihm den Vorschlag unterbreitet hatte. Es war auch nicht wirklich ein Vorschlag. Alfons Geuther und Pytlik waren sich in zunehmendem Maße immer unsympathischer. Ob es daran lag, dass beide von den jeweiligen Kompetenzen des Anderen eine eher unterschiedliche Meinung hatten, war nicht klar. Pytlik, der Ermittler, sah in Geuther, den er äußerlich immer irgendwie für den Vater des bayerischen Schauspielers Ottfried Fischer hielt, nur eine unbedeutende Lachnummer, die für den Praxisalltag schon länger nicht mehr geeignet war. Dass Beide nur wenige Monate zuvor im Kreis des gesamten Teams lautstark aneinander geraten waren, stellte den bisherigen Höhepunkt der Beziehung dar.
Pytlik hatte seinen PC hochgefahren und wollte sich trotz der Schwüle und der stickigen Luft im Büro gerade eine Tasse Kaffee holen, als ihm ein braunes, DIN A5-formatiges Kuvert links neben seiner Tastatur auffiel. Dass auch noch "An dem Hauptkommissar" darauf stand, machte ihn aus zweierlei Gründen neugierig. Erstens wunderte es ihn, dass er einen Brief - allem Anschein nach auch noch ohne Absender - nicht über die normale Postverteilung bekommen hatte, sondern jemand persönlich den Umschlag bei ihm deponiert haben musste. Außerdem fiel ihm sofort der falsche Akkusativ auf. Sein Telefon klingelte, Pytlik sah im Display Geuthers Nummer und überlegte kurz, ob er überhaupt abnehmen wollte. Er tat es und schnappte sich im gleichen Moment den Brieföffner von Cajos Schreibtisch gegenüber.
Als er langsam in den kleinen Schlitz an der kurzen Seite des Kuverts fuhr, hörte er die monotone und wenig erfreuliche Stimme seines Vorgesetzten. Er hätte ihm einen Umschlag auf den Schreibtisch gelegt, ob er das schon gesehen hätte. Der hätte vor dem Eingang gelegen, als er heute morgen gekommen war. Pytlik wisse ja sicherlich, dass er - also Geuther - hier immer der Erste sei. Ja, dachte sich Pytlik und schickte innerlich schon wieder wilde Flüche los. Dafür gehst du aber auch vor allen anderen. Als Geuther dann auch noch auf den grammatischen Fehler hinwies, beendete Pytlik mit einem artigen Dank das Gespräch und hörte noch einige Wortfetzen seines Chefs, als er den Hörer wieder auflegte.
"Der Alte schon wieder? Was will er denn diesmal?", fragte Cajo, der genau wusste, wie es zwischen Pytlik und Geuther stand.
"Ach!"
Pytlik winkte nur kurz ab und war schon im Begriff, den Inhalt des Kuverts herauszuziehen. Er stutzte. Noch bevor er das weiße Blatt Papier ganz herausgenommen hatte, fiel ihm etwas auf, dass er wenige Augenblicke später auch bestätigt bekam. Seine gute Laune wurde gedämpft und er wusste nicht so recht, was er mit den eher unsauber ausgeschnittenen und in gleichem Maße aufgeklebten Buchstaben anfangen sollte, die anscheinend aus einem Magazin entfernt worden waren.
J E T Z T G E H T S L O S
Was geht los, dachte sich Pytlik als er die bunten Letter noch einmal las und spontan meinte, es könne sich eventuell um einen Hinweis darauf handeln, dass er bei den Vorbereitungen für das Freischießen in diesem Jahr die Koordination mit den verschiedenen Organisationen an seine Kollegen verteilt hatte. Ja, genau, da hat sich jemand einfach einen Spaß gemacht und will mir mitteilen, dass es in 14 Tagen losgeht und ich das ja möglicherweise vergessen könnte, weil ich mich nun einmal in diesem Jahr ein bisschen abgeseilt habe. Ja, gut, lass’ den Jungs mal ihren Spaß! Die arbeiten ja auch hart. Basta!
"Ist was?", wollte Vanessa wissen. Sie hatte anscheinend bemerkt, dass der Hauptkommissar plötzlich sehr ruhig geworden war.
"Wie? Äh, was?" Pytlik war noch in Gedanken.
"Na, der Brief. Steht was Wichtiges drin? Sie scheinen ein bisschen verwirrt, wenn ich das so sagen darf."
"Welcher Brief?", ereiferte sich Cajo, der sich ignoriert fühlte, hatte er der Praktikantin doch gerade einige wichtige Zusammenhänge im letzten Mordfall erklärt.
"Ihr Psychologen meint wohl, hinter jedem Busch steht einer und pinkelt oder wie! Sie sollten lieber Cajo besser zuhören. Unser letzter Fall war interessant, da können Sie einiges lernen."
Pytliks kleine Maßregelung war übertrieben, aber er spürte, dass mit dem Brief doch etwas nicht zu stimmen schien. Welcher Kollege würde sich denn die Mühe machen, einen solch lapidaren Scherz mit derartigem Aufwand zu inszenieren? Die Frage wurde also konkret: Was geht los? Wo und wann geht es vor allem los? Jetzt? Wann jetzt? War es sinnvoll, seinem Assistenten - möglichst unter vier Augen - von der Sache zu erzählen? Pytlik überlegte. Die Spurensicherung in Coburg einzuschalten, um eventuell vorhandene Fingerabdrücke zu nehmen, schien ihm jetzt, da er beschlossen hatte, die Sache erst einmal als privat anzusehen, nicht klug. Noch dazu, da er zum Abteilungsleiter in Coburg kein besonders gutes Verhältnis pflegte. Gerhard Fuchs und er konnten sich nicht riechen.
Überhaupt kam er, als er dabei war, das Stück Papier wieder zusammenzufalten, ins Grübeln. Mit wem hatte er eigentlich ein gutes Verhältnis? Wer waren seine Freunde? Cajo kam ihm spontan in den Sinn. Ein wirklich guter Polizist, der seine Arbeit mehr als ordentlich erledigte und Pytlik als seinen Chef respektierte, ohne ein Schleimer zu sein. Wer noch? Heiner? Sein alter Schulfreund Heiner Baumann. Die wöchentlichen Treffen im Appel’s Max auf ein Schnitzel und das eine oder andere Bier - konnte das die Definition von Freundschaft sein? Da fiel ihm ein, dass weder er bei Heiner, noch dieser bei ihm jemals zuhause gewesen war, zumindest nicht, nachdem sich der Hauptkommissar von seiner Frau Marlies hatte scheiden lassen und sich die Doppelhaushälfte gekauft hatte. Komisch, dachte Pytlik.
Die innigste Verbindung hatte er wohl zu seinem Bruder Georg, vier Jahre jünger als Pytlik und seit langer Zeit in München am Rechtsmedizinischen Institut der Uni tätig. Ja, Georg war einfach geerdet, das typische Münchner "Mia san mia" spürte Pytlik bei jedem Besuch, wenn es wieder für ein langes Wochenende in die Berge zum Wandern ging, auf beruhigende Weise. Georgs Kinder waren groß und aus dem Haus, seine Frau Anna eine treue Seele und angenehme Schwägerin. Zu seinem jüngsten Bruder Johannes, Mathe- und Physiklehrer am Kronacher Kaspar-Zeuß-Gymnasium, hatte der Ermittler trotz der räumlichen Nähe kaum Kontakt. Zu sehr überwogen die Probleme des jüngsten der drei Pytlik-Brüder, als dass es eine Chance auf eine gute zwischenmenschliche Beziehung geben konnte. Johannes’ Frau Klara litt seit Jahren unter schweren Depressionen, die beiden verließen ihr Haus nur zu den notwendigsten Anlässen.
Als im nächsten Moment die Tür aufging und Gundi Reif sich in Pytliks Rücken am Aktenschrank bediente, dachte er auch an sie. Auch Gundi war eine Person, mit der er gut konnte und die ihrerseits seine Art mochte. Also, Pytlik, resümierte er nach einigen Minuten, so ein schlechter Kerl bist du doch eigentlich gar nicht. Er öffnete seine unterste Schublade, legte das Kuvert hinein und erhob sich von seinem Stuhl.
"Ich bin mal kurz beim Alten", raunzte er eher beiläufig in die Runde und sah in die Augen der Praktikantin, die ihn, wohl wegen seiner missbilligenden Äußerung einige Minuten vorher, argwöhnisch anschaute. Lachen war nicht gerade ihre Stärke, überlegte sich Pytlik, als sich ihre Blicke trafen und er das Büro verließ.
***
Nach einem kurzen Klopfen betrat der Hauptkommissar ohne weiteres Zögern das Zimmer von Alfons Geuther. Als Pytlik schon zwei Schritte im Büro des Kronacher Dienststellenleiters stand und zu dem wuchtigen Holzschreibtisch schaute, konnte er sich das Lachen gerade noch verkneifen. Geuther, der wohl nicht mit dem unerlaubten Hereinkommen gerechnet hatte, hatte gerade herzhaft von seiner Leberkässemmel abgebissen und wirkte mit der sorgfältig in den Hemdkragen gestopften Papierserviette und den vor Entsetzen weit aufgeschlagenen Augen wie ein unter Hochdruck stehendes Fass, das jeden Moment zu explodieren drohte.
"Oh, Entschuldigung!", blieb Pytlik unvermittelt stehen und machte Anstalten, noch einmal nach draußen zu gehen, was er allerdings nicht im Geringsten vorhatte.
"Soll ich gleich noch mal...?", fragte er mit Unschuldsmiene und machte eine entsprechende Handbewegung zur Tür hin.
"Was fällt Ihnen ein?", polterte Geuther wenig verständlich los, ohne Rücksicht auf seinen vollen Mund zu nehmen. Die groben, kaum zerkleinerten Fleischstücke purzelten reihenweise auf den jungfräulich unbeschriebenen Kalender, der als Schreibtischunterlage diente.
"Hat man Ihnen keinen Anstand beigebracht? Haben Sie vielleicht gehört, dass ich 'Ja, bitte!' gesagt hätte? Unmöglich! Wirklich! So ein Mist, schauen Sie sich das an!"
Pytlik tat, wie ihm befohlen und trat näher. Er beobachtete Geuther dabei, wie er seine Semmel in die Alufolie zurücklegte und die Leberkässtückchen mit einer hastig-zornigen Handbewegung in den Papiermüll fegte.
"Ich dachte, ein 'Ja, bitte!' gehört zu haben", rechtfertigte Pytlik mit versteinertem Gesicht sein Tun.
"So ein Mist! Was wollen Sie eigentlich?"
Geuther hatte sich noch immer nicht beruhigt. Als sein Schreibtisch sauber war, schob er sein Frühstück und die Kaffeetasse beiseite, stützte die Ellenbogen auf die Unterlage, verhakte seine Finger wie zum Gebet und blickte unfreundlich zu Pytlik hoch, der sich - wiederum ungebeten - in den Sessel vor Geuthers Schreibtisch setzte.
"Das Kuvert..."
"Welches Kuvert?", motzte Geuther, der anscheinend nicht gewillt war, sich nun noch mit dem Hauptkommissar zu unterhalten. Der wiederum ließ sich nicht beirren.
"Na, das Kuvert, das Sie mir heute morgen, als Sie selbstverständlich als Erster hier waren, freundlicherweise in mein Büro gebracht haben. Sie erinnern sich?"
Pytliks betonte Freundlichkeit ließ Geuther die Zornesröte ins Gesicht steigen. Der äußerst übergewichtige Mann kontrollierte jedoch seine Emotionen. Möglicherweise war die Aussicht auf eine schnelle Beendigung des Gesprächs und somit eine Fortsetzung seines Frühstücks ein gutes Argument, die Sache rasch zu beenden.
"Ach das. Was ist damit?"
"Lag das einfach so da?"
"Ja, das lag einfach so da! Wieso? Ist was damit?"
"Nein! Haben Sie jemanden gesehen, der es vielleicht dahin gelegt hat?"
"Nein, verdammt noch mal! Hören Sie mir doch zu!" Geuther wurde es nun zu bunt.
"Dieses Kuvert lag mitten vor der Eingangstür, nicht zu übersehen und mit diesem schrecklichen Grammatikfehler. Wenn es damit kein Problem gibt, was wollen Sie dann eigentlich von mir?"
Gute Frage, dachte sich Pytlik und stellte erst jetzt fest, dass der Gang zu Geuther einerseits planlos war, andererseits ihm aber bestätigte, dass er hinter all dem doch mehr vermutete, als er sich immer noch eingestehen wollte.
"Und nun wäre ich Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie wieder an Ihre Arbeit gehen würden."
Pytlik verschwand aus Geuthers Büro. Auf dem Weg nach unten kam ihm Schneider entgegen, ein Kollege, der an diesem Tag am Empfang Dienst tat.
"Ach, servus Franz! Da, dess iss grad für dich abgehm worrn."
Egon Schneider drückte Pytlik ein Kuvert in die Hand, das dem, das er bereits in der Schublade seines Schreibtisches liegen hatte, nicht nur ähnlich sah, sondern in fast jeder Hinsicht glich. "An den Hauptkommissar" war da zu lesen und Pytlik wunderte sich nur kurz, warum der Akkusativ diesmal richtig war.
"Von wem hast du das?", fuhr er Schneider an, der im ersten Moment erschrocken zusammenzuckte, hatte er doch nicht mit einer derart heftigen Reaktion Pytliks gerechnet.
"Von wem? Los, sag schon!"
Pytlik wartete die Antwort Schneiders erst gar nicht ab und hörte beim Hinabrennen der letzten Stufen des Gebäudes nur, dass es ein kleiner Junge mit einem roten T-Shirt gewesen sei, der den Brief mit dem Hinweis "Dess is fürn Herrn Büddlich, soll ich bloß abgehm" an Schneider übergeben hatte.
Pytlik riss die Eingangstür des Präsidiums auf, stürzte hinaus auf den Gehweg und blickte schnell nach rechts und links. Nichts! Verdammt, schoss es ihm durch den Kopf. Obwohl gut trainiert, stand er leicht außer Atem und enttäuscht vor einem Fenster, aus dem mittlerweile zwei andere Kollegen mit fragenden Blicken auf den Ermittler schauten. Er winkte ab und signalisierte ihnen somit, dass alles in Ordnung war. Auch Schneider war inzwischen nach unten gekommen, schaute alibimäßig in alle Richtungen, so, als wäre ihm bewusst, dass er den Jungen hätte nach dem Umschlag fragen müssen.
"Also, hätt’ ich gewusst, dass...", fing er an, doch Pytlik hob nur die Hand und versuchte, die Situation herunterzuspielen, jetzt, als ihm klar wurde, dass er langsam begann, alle aufzuscheuchen.
"Nicht so schlimm. War nur so eine Idee von mir. Ich weiß, von wem das Kuvert ist. Ich wollte dem Jungen gleich wieder was mitgeben - für seinen Vater. Aber da fahre ich dann heute Nachmittag mal vorbei. Schon gut."
Pytliks Lüge schien Schneider, der nicht alles tief hinterfragte und froh war, wenn er sich irgendwo heraushalten konnte, nicht unbedingt plausibel, doch mit einem gleichgültigen Schulterzucken drehte er sich um und verschwand.
Pytlik hatte das Kuvert noch nicht wieder angesehen, er stand noch auf dem Bürgersteig. Er drückte den Umschlag leicht mit seinen Fingerspitzen und versuchte zu erfühlen, was darin sein könnte. Seine Vermutung wurde bestätigt, als er das zweimal gefaltete DIN-A4-Blatt aufklappte. Die Anweisung, die er dann las - wiederum in ausgeschnittenen und mit Kleber befestigten Buchstaben formuliert - machte ihm eine Gänsehaut.
S I E S O L L T E N I H R E
M U T T E R B E S U C H E N
Pytlik war äußerst verwirrt, er spürte sogar eine deutliche Verunsicherung, die daraus resultierte, dass ihm jetzt ganz klar war, dass es sich hierbei nicht um einen Scherz handeln würde, sondern er es allem Anschein nach mit einem unbekannten Gegner zu tun hatte, der sich ihn zur Zielscheibe machte. Aber warum? Pytlik hatte sich auf die Treppe vor der Eingangstür gesetzt und starrte auf das Blatt Papier, als er - leicht in Gedanken versunken - eine tiefe und ruhige Stimme vernahm.
"Morng, Franz! Franz?"
Pytlik hatte die Begrüßung des Polizeihauptmeisters Justus Büttner erst gar nicht richtig wahrgenommen.
"Franz, woss issn? Liest du dei Bost neuerdings dossn. Hossd Streit middm Cajo oder woss?"
"Wie?"
"No dess...!"
Büttner deutete auf das Papier in Pytliks Hand und wollte die Frage natürlich als Scherz verstanden haben. Eigentlich war es dem bärenruhigen Leiter der Schutzpolizei nicht wichtig, warum der Hauptkommissar hier saß. Mag schon seinen Grund haben.
"Ich mussd mei Enggerla nuch nei die Schul brenga, deswecher...", wollte Büttner seine Verspätung rechtfertigen, aber Pytlik war das im Moment egal.
"Ja, ist schon gut."
Nachdem Pytlik auf eine Tasse Kaffee und ein Gespräch über Sinn und Unsinn, Vor- und Nachteile einer Wohngemeinschaft von jungem Ehepaar und Schwiegereltern unter einem Dach bei Gundi Reif hängengeblieben war und dies als gelungene Ablenkung empfunden hatte, kam er gegen zehn Uhr in sein Büro zurück und versuchte, sich zu sammeln, herunterzufahren und nachzudenken.
Zumindest war er schon wieder hellwach, denn die trotz der schwülen Luft unübersehbare Warmherzigkeit zwischen Cajo und Vanessa Zenk notierte er immer mehr. Er war froh, dass aktuell nichts wirklich Wichtiges auf dem Plan stand und Hermann in seiner Arbeit vielleicht negativ beeinflusst werden könnte. Er ließ die Beiden und vermutete sowieso, dass Dienstschluss für sie erst nach Dienstschluss war. Er gönnte seinem Assistenten diese Abwechslung, würde ihn aber die nächsten Tage darauf ansprechen. Frauen waren in seinem Leben dem Beruf untergeordnet, zu strebsam war der Enddreißiger. Pytliks Nachfolge war bereits geregelt.
Der Hauptkommissar prüfte den Posteingang seiner E-Mails. Vielleicht hatte sich der Unbekannte ja auch hier schon gemeldet. Nichts. Dann nahm er seine Schlüssel, das Handy und das Kuvert, stand aus seinem Stuhl auf und schob ihn an die Schreibtischkante.
"Ich bin dann mal eine Stunde weg. Ich hatte ganz den Arzttermin heute vergessen. Ich lass’ mich mal wieder durchchecken, kann ja nicht verkehrt sein bei dem Wetter. Ich mache danach gleich Mittagspause. Also, bis dann."
Cajo Hermann und die Praktikantin schauten etwas überrascht, auch wenn des Assistenten zustimmendes "Ja, klar, ist okay" keineswegs so klang. Pytlik wusste, dass er den Beiden mit seiner Abwesenheit den Start ins Wochenende noch angenehmer machte.
***
Er ging zu Fuß. Der Weg zum Friedhof - keine zweihundert Meter entfernt - wurde lang. Er dachte nach. Warum sollte er an das Grab seiner Mutter gehen? Was wusste dieser Unbekannte? Pytlik hatte schon länger beabsichtigt, die letzte Ruhestätte seiner Eltern wieder einmal zu besuchen. Jetzt, wo er dem versteckten Plätzchen im nordöstlichen Teil des Friedhofs näher kam, fragte er sich allerdings, wie das Grab mittlerweile wohl aussehen würde. Eine ehemalige Nachbarin seiner Eltern hatte sich nach dem Tod der Mutter 2001 angeboten, die Pflege zu übernehmen. Als Pytlik vor dem schlichten Marmorgrabstein stand und auf die Bepflanzung blickte, wunderte er sich allerdings, ob diese Nachbarin überhaupt noch lebte. Alles war vertrocknet, die letzten Blumen lagen wie Heu auf der Erde, die zementartig und mit Rissen durchzogen nach Feuchtigkeit schrie. Die Situation überforderte den Hauptkommissar, noch dazu, da an Nachbargräbern drei Frauen zugange waren, denen die ungepflegte Parzelle ein Dorn im Auge zu sein schien. Mit abschätzigen Blicken taten sie ihr Werk. Pytlik orientierte sich, sah in einiger Entfernung die Wasserstelle mit den Gießkannen und entschloss sich - auch wenn das jetzt nach übertriebenem Aktionismus aussehen mochte - den unschönen Anblick etwas zu mildern.
Er hatte sich noch keine fünf Meter vom Grab entfernt, als er stutzte. Hatte er das gerade wirklich gesehen? Das konnte nicht wahr sein! Er hielt inne, drehte sich langsam um und blickte - Schritt für Schritt näherkommend und schließlich direkt vor dem Grabstein kniend - auf die Inschriften, die dort zu sehen waren.
Neben dem unversehrten Namen seiner Mutter Trude war der seines Vaters Erich mit tiefen Kratzern, ähnlich einem Kreuz auf einem Lottoschein, durchgestrichen. Und als ob das noch nicht genug gewesen wäre - Pytlik musste schlucken, er spürte, wie sein Hals ganz trocken wurde -, waren rechts daneben Pytliks Vor- und Zuname, sein Geburtsdatum sowie mit einem Kreuz davor versehen "11.08.2003" eingraviert worden.
Pytlik hatte nun unmissverständlich kapiert, dass ihm jemand nach dem Leben trachtete. Aber wer? Und warum? Er fuhr mit seinem Zeigefinger über den beschädigten Grabstein und fragte sich, was seine Mutter damit zu tun hatte, warum ihr Name unversehrt war und der seines Vaters durch seinen eigenen ersetzt werden sollte. Er grübelte, machte sich gleichzeitig aber daran, Wasser zu holen. Die anwesenden Frauen hatten auch gemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte. Oder hatten sie etwa schon von der Schändung gewusst, womöglich sogar jemanden gesehen? Nein! Dann wären sie bestimmt schon auf ihn zugekommen, um ihm Beobachtungen mitzuteilen. Er dachte an seine Mutter, die 2001 nach einer Lungenentzündung im Anschluss an einen Sturz gestorben war. Pytliks Vater war ein Patriarch, der gegenüber seiner Frau und den Kindern den autoritären Vater gab, ohne sich wirklich intensiv mit der Erziehung auseinanderzusetzen. Erfolgreich im Beruf, sagte man ihm immer wieder Affären und Seitensprünge nach, die auch an seiner Frau und dem Verhältnis zu den Kindern nicht spurlos vorübergegangen waren. In den letzten Jahren vor seinem Tod 1996, hatten die drei Söhne kaum noch Kontakt zu ihm gehabt.
Was haben meine Eltern damit zu tun, dachte Pytlik nach, und in ihm erwachte nun der Ermittler. Er hatte die Herausforderung akzeptiert und überlegte, was er tun würde. Er konnte nur auf eine neue Nachricht des Unbekannten warten, den er ab sofort den "Feind" nennen wollte. An seinem Entschluss, das Ganze als Privatangelegenheit zu betrachten, hielt er fest.
Er drückte eine zweite Gießkanne kräftig gegen die Oberfläche des Wasserbehälters und ließ sie volllaufen, nachdem er die erste bereits vor sich auf den Boden gestellt hatte. Wie warm mochte es mittlerweile schon wieder sein? Den linken Arm steckte er bis zur Ellenbeuge ebenfalls ins kühle Nass, um sich etwas Erfrischung zu verschaffen. Von dort, wo er auf dem Rand des Beckens saß, konnte er über eine Hecke hinweg zu einer kleinen Kapelle schauen. Irgendwas stimmte nicht, passte nicht ins Bild. Moment, dachte Pytlik, schärfte erst jetzt seinen Blick und fokussierte nun ganz deutlich eine mit schwarzem Kapuzen-Shirt und Sonnenbrille gekleidete Person, von der er nur Oberkörper und Kopf sehen konnte. Die für die Verhältnisse viel zu warm angezogene Gestalt stand einige Meter hinter der Kapelle frontal vor einem Grab, allem Anschein nach in andächtigem Gebet. Allerdings so, dass Pytlik nicht ausschließen konnte, dass dieser Mann oder diese Frau gleichzeitig durch die dunklen Gläser auch ihn beobachten würde. Er wollte es herausfinden und hatte bei dem Gedanken seinen Blick schon wieder entfernt, konnte jedoch im Augenwinkel sehen, dass der Friedhofsbesucher noch verharrte.
Pytlik ließ eine Gießkanne stehen und machte sich auf den Rückweg zum Grab. Allerdings ging er nicht die gleiche Route, sondern wählte den längeren Weg an der Kapelle vorbei, weil er somit der Person möglichst nahe kommen wollte. Als er sich dem hageren Wesen bis auf wenige Meter genähert hatte, kam es im Handumdrehen zu einer Kettenreaktion, von der sich Pytlik später gewünscht hätte, dass sie nicht passiert wäre.
Plötzlich hatten sich die Blicke der Beiden getroffen. Pytlik in der Überzeugung, es handele sich um den unbekannten Briefeschreiber, der schwarz vermummte junge Mann - das konnte Pytlik nun feststellen - in augenscheinlicher Angst vor dem Polizisten. Der Junge nahm die Hände aus den Seitentaschen des Pullovers und begann zu rennen, Pytlik hinterher, fast über die Gießkanne stolpernd. Der Hauptkommissar konnte gut mithalten, verlor keinen Boden auf dem staubigen Kies. Nur wenige Meter hinter dem Unbekannten sah er, dass dieser an einer Wegkreuzung ansetzte, links abzubiegen. Pytlik antizipierte und nahm eine Abkürzung, wobei er rücksichtslos über einige Gräber trampelte und schließlich mit einem mutigen Hechtsprung den Davoneilenden mit beiden Händen an der Hüfte zu packen bekam. Nach kurzem, beiderseitigem Schreien wegen des Aufpralls auf dem Boden, gelang es dem Polizisten, den Kontrahenten mit einem geübten Griff handlungsunfähig zu machen. Pytliks Adrenalinspiegel war stark angestiegen, er drehte den Körper des Unterlegenen mit einem kraftvollen Schwung auf den Rücken und bemerkte erst jetzt, als er ihm die Sonnenbrille aus dem Gesicht und die Kapuze vom Kopf riss, dass der junge Mann schrie wie am Spieß.
"Aaaaaaaah! Aaaaaaaaaaah! Was wollen Sie, lassen Sie mich los! Aaaaaaah!"
Pytlik hatte bereits losgelassen und sich mit einem Ausdruck kaum zu verhehlenden Ekels abgewandt. Er fühlte sich schäbig. Was hatte er da getan? Der Junge, der sich vor ihm im Staub wälzte und krümmte, war David Spath. Sein Vater und er hatten vor einigen Monaten einen folgenschweren Autounfall. Der Sohn hatte am Steuer gesessen und die Kontrolle über das Fahrzeug verloren. Als der Wagen gegen einen Betonpfeiler prallte, fing er Feuer. David konnte mit schweren Verbrennungen gerettet werden, für den Vater kam jede Hilfe zu spät. Justus Büttner hatte Pytlik damals ausführlich von dem Drama erzählt.
Der Junge war mit Narben übersät, im Gesicht hatte er viele nässende Wunden, die jetzt mit Staub verschmutzt waren und vereinzelt zu bluten begannen. Pytlik saß auf dem groben Steinuntergrund, unfähig etwas zu sagen. Die Schmerzen David Spaths schienen nachzulassen. Pytlik wusste nun, warum der Junge so vermummt war - es war nur zu seinem Schutz. Jeder Sonnenstrahl musste eine enorme Belastung für ihn sein. Dennoch konnte er sich nicht erklären, warum er davongelaufen war, wenn er doch nichts angestellt hatte.
"Na schön, wer hat mich verpfiffen?"
Pytlik war überrascht, ließ es sich aber nicht anmerken. Er forschte nach, ohne zu wissen, worum es ging.
"Ist das wichtig?", gab er nur zurück und bekundete somit, dass er Bescheid wusste, was auch immer nun kommen mochte.
"Ich brauche Wasser", stöhnte Davis Spath leise, als er sich wieder aufgestellt hatte und seine Klamotten vorsichtig vom gröbsten Staub und Dreck befreite. Auf dem Weg zur Wasserstelle schilderte er Pytlik, dass es am Vorabend eine Schlägerei gegeben hatte, nachdem ihm zwei andere Typen im Zusammenhang mit dem Unfall beleidigt und angemacht hatten. Einen davon hätte er mit Hilfe eines Freundes "ganz schön zugerichtet", erzählte der Junge, der sich inzwischen mit Wasser langsam das Gesicht behandelte.
Pytlik erzählte David Spath, dass es so eine Ahnung gewesen wäre, warum er ihn verfolgt hätte, aber er sparte sich Details und bat ihn, die Geschichte auch nach Möglichkeit für sich zu behalten. Die neugierigen Blicke der wenigen anwesenden Friedhofsbesucher, insbesondere der drei Frauen in der Nähe des Grabes von Pytliks Mutter, führten diesen Wunsch allerdings ad absurdum. Er versicherte dem leicht verdutzten jungen Mann, dass er bezüglich des Vorfalls der letzten Nacht nicht aktiv werden würde, sofern keine Anzeige vorlag. Der Junge tat Pytlik leid, dennoch wollte er jetzt nur noch weg hier. Er packte die eine Gießkanne, die er vorhin hatte stehen lassen und ging zunächst zum Grab seiner Eltern zurück, wo er immer noch ungläubig auf den Grabstein schaute. Er goss das Wasser auf den teerharten Boden und sah, dass kaum Feuchtigkeit in die Erde eindrang, sondern größtenteils in alle Richtungen davonfloss. Er ging noch einmal zurück an die Wasserstelle und wollte bei dieser Gelegenheit die Gießkanne mitnehmen, die er vorhin bei der Verfolgung David Spaths verloren hatte. Als er sich bückte und das blecherne Gefäs hochnahm, wunderte er sich. Das Grab, vor dem David Spath gestanden hatte, war nicht das seines Vaters. Überhaupt fiel dem Hauptkommissar nun ein, dass die Familie in Gehülz wohnte. Pytlik erhob sich und stellte fest, dass er und somit auch der Junge von hier aus - durch zwei Hecken hindurch - einen nahezu geschützten und dennoch deutlichen Blick auf das Grab seiner Eltern hatte.
***
Das Wasser strömte lauwarm aus dem Duschkopf. Pytlik stand schon eine halbe Stunde in der Kabine und fasste immer wieder an seine linke Schulter, die er sich beim Sturz im Friedhof leicht lädiert hatte. Seine Gedanken kreisten um die immer gleiche Frage: Wer wollte etwas von ihm? Und warum? Er beschloss, sich den Rest des Tages frei zu nehmen. Es war ihm alles zu viel. Die Hitze, der Verrückte, von dem er immer noch nicht wusste, wie ernst er ihn wirklich nehmen sollte, und die Geschichte im Friedhof mit diesem Spath. War das alles nur Zufall? Nein, für heute hatte er genug. Nachdem er in der Dienststelle angerufen und Hermann Bescheid gesagt hatte, überlegte er kurz. Warum sollte er seiner neuen Nachbarin nicht schon heute Nachmittag behilflich sein? Das gemeinsame Frühstück könnte man deswegen ja sicherlich auch noch machen.
***
Angelika Küppers war nicht zu Hause. Pytlik hatte sich deswegen kurz entschlossen ein paar Sachen zusammengepackt und mit dem Fahrrad auf den Weg gemacht. Raus aus der Stadt, dachte er. Er wollte versuchen, den Kopf frei zu bekommen. Außerdem würde er dem "Feind" dann in gewisser Weise auch erst mal entkommen.
So fuhr er nach Steinwiesen, um im Freibad den restlichen Nachmittag zu verbringen und auf andere Gedanken zu kommen. Dort könnte er auch gemütlich ein Bierchen trinken und sich auf das Wochenende einstimmen. Während er auf den freien Feldern zwischen Höfles und Marktrodach gemächlich in die Pedale trat - der Rucksack hatte sein Hemd bereits zu einem feuchten Lappen werden lassen -, ging er noch einmal durch, was seit heute morgen passiert war. Er redete leise vor sich hin, so als wollte er sich mit seiner Analyse auch eine Bestätigung geben, dass alles wahrscheinlich nur ein Missverständnis war. Zwei Kuverts, identisch, Inhalt: typische Erpresserbriefe, wie man sie aus schlechten Krimis kennt. Soweit klar. Der Unbekannte scheint mir mitteilen zu wollen, dass jetzt irgendwas losgeht. Gleich danach die Sache mit dem Friedhof. Ein Hinweis? Eine Warnung? Ein Todesurteil? Pytlik schaffte es nicht, dem Ganzen eine Belanglosigkeit abzugewinnen, so sehr er es auch versuchte. Nein, die Beschädigung des Grabsteines hatte einen tieferen Sinn, das war kein Dummejungenstreich. Die Sonne stach unerbittlich herunter, Pytlik nahm einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche und gleichzeitig spürte er, wie im Gegenzug der Schweiß aus allen Poren drang. Er freute sich auf das kühle Nass. Seine Analyse war vorerst beendet.
Er hatte sich etwas abseits unter einem Baum ausgebreitet und wunderte sich, wie viele Menschen trotz der Urlaubszeit doch anscheinend das heimische Freizeitangebot einem Flug in den Süden vorgezogen hatten. Es war rappelvoll. Pytlik mochte es zu beobachten. Ob Berufskrankheit oder nicht, aber an so einem Ort zu liegen, den Kindern bei ihren waghalsigen Sprüngen aus luftiger Höhe zuzuschauen, die in locker geschnürten Bikinihöschen verpackten Kurven der jungen und älteren Frauen durch seine verspiegelte Pilotenbrille zu beobachten, das hatte nach seiner Meinung ja auch ein bisschen was von Ermittlung. Er musste lächeln, als er das dachte.
Neben ihm unterhielten sich zwei junge Mütter, anscheinend unzufrieden damit, wie ihre besseren Hälften die Aufteilung der Hausarbeit interpretierten. Pytlik, geborener Berliner, aber seit seinem achten Lebensjahr in Kronach, verstand mittlerweile alle Landkreis-Dialekte, wenn er selbst auch keinen sprach. Er lauschte.
"Und wassd, dann sochder a immer nuch, des wäh halt jetzamoll su, dass die Weiber auf die Weld kumma senn, ümmern Haushald zu machen und sich üm die Kinner zu kümmern. Also, manchmoll könnd ich na ana badschn, ählich!"
Die gut beleibte Frau schien nicht das Bedürfnis zu haben, ihre Bedenken hinsichtlich der Einstellung ihres Mannes nur für sich und ihre Freundin zu behalten. Pytlik konnte sehen, dass auch andere Umherliegende scheinbar amüsiert dem Dialog zuhörten.
"No wassd, und meiner öschd!", hakte die Andere ein, die man mit hiesigen Worten als "Spreisel" bezeichnet hätte.
"Wassd, woss däh immä macht? Däh kummt vo die Ärrbädd haam, gedd zum Kühlschroog, hueld sich a Bier und dann auf die Couch, Playstation! Dess mussd da dich amoll vorstell!"
"Die senn duch alla gleich!", ereiferte sich die Dicke wieder, gefolgt von einem schrillen "Baddrick, eingremen, komm mal her bidde, mein Schatz! Baaadrick - sofort, Fregger!"
Pytlik hatte genug und resümierte irgendwie zufrieden, dass er nicht der bemitleidenswerte Playstation-Freak war. Er stopfte sich die kleinen Kopfhörer in seine Ohren und lauschte den Klängen von Barclay James Harvest.
Er musste eingeschlafen sein. Ja, sonst wäre er nicht aufgewacht, als er aus den Lautsprechern des Freibades zunächst noch etwas benommen, dann jedoch klar und deutlich einen Aufruf vernahm.
"Achtung, noch einmal die dringende Durchsage: Herr Franz Pytlik, bitte zur Rezeption kommen. Herr Franz Pytlik bitte!"
Pytlik fragte sich zunächst, ob er das richtig vernommen hatte. Er hatte die Ohrenstöpsel zwar noch nicht herausgenommen, da die Musik aber schon längst nicht mehr spielte, konnte er die Ansage sehr gut hören. Verdammt, schoss es ihm durch den Kopf. Was soll das denn jetzt? Es war bereits fast 17 Uhr, Pytlik packte hastig seine wenigen Sachen zusammen. Die Liegewiese hatte sich etwas geleert, auch die beiden Frauen waren schon gegangen.
Nachdem er sich die Sonnenbrille aufgesetzt und die Baseball-Mütze tief ins Gesicht gezogen hatte, begab er sich ins angeschlossene Wellness-Hotel, wo er einen Angestellten hinter dem Tresen der Rezeption telefonieren sah. Pytlik näherte sich und legte die Hände auf das edle Holz, mit seinen Fingern begann er langsam zu trommeln, so, als wollte er signalisieren, dass er es eilig hätte. Der junge Mann wandte sich dem Hauptkommissar zu und verwies mit einem freundlichen Nicken darauf, dass das Telefonat gleich beendet wäre.
"Ja, bitte!"
"Pytlik ist mein Name, ich wurde ausgerufen."
"Ah, ja." Der Rezeptionist bückte sich und holte aus einem Fach unterhalb etwas hervor. Pytlik wurde kreidebleich.
***
Er hatte eine gute halbe Stunde in der Hotellobby gesessen und auf das Papier gestarrt, das in dem braunen Kuvert gesteckt hatte. Was da stand, war für ihn dermaßen absurd, dass er beschloss, es darauf ankommen zu lassen.
STELLEN SIE SICH AUF DAS SPRUNGBRETT DES SCHWIMMBADES ZIEHEN SIE SICH NACKT AUS SCHREIEN SIE DASS SIE HAUPTKOMMISSAR FRANZ PYTLIK SIND UND SPRINGEN SIE DANN INS WASSER
Er war nach Hause gefahren und er musste zugeben, dass er selten so aufmerksam gewesen war, wie während dieser Fahrt. Hinter jedem Auto, das irgendwo stand, jedem Hindernis auf dem Radweg, jedem Holzhaufen vermutete er jemanden, der plötzlich hervorsprang. Natürlich hatte er sich nicht lächerlich gemacht. Was sollte das? Wieso in Herrgotts Namen hätte er sich so bloßstellen sollen.
In der Rhodter Straße angekommen, brachte er seine Sachen und den Umschlag ins Haus. In der Dienststelle wäre nun schon niemand mehr, überlegte er. Er zog sich ein frisches Hemd an und machte sich noch einmal auf den Weg. Er nahm das Auto und eine große Klappbox hatte er auch dabei.
***
Pytlik stellte eine nicht willkürliche Auswahl an Akten abgeschlossener Fälle zusammen, als er alleine in seinem Büro vor dem großen Schrank stand. Die wichtigsten Ermittlungen, die er erfolgreich geleitet hatte, waren ihm bekannt. Dazu nahm er alle verurteilten Verbrecher, die ihm einen Aufenthalt im Gefängnis zu verdanken hatten und sich mittlerweile wieder auf freiem Fuß befanden. Es war für ihn ein erster Ansatzpunkt, davon auszugehen, dass sich womöglich jemand an ihm dafür rächen wollte, dass er ihn dingfest gemacht hatte. Er wusste im Augenblick keine weitere Möglichkeit, in welche Richtung er sonst hätte aktiv werden können. Er kramte und sortierte, blätterte und legte Akten wieder zurück, die ihm nicht wichtig oder passend erschienen. Immerhin hatte sich die Plastikkiste schon ganz gut gefüllt, der Hauptkommissar aber noch nicht alles durchforstet. In seinem Büro sah es gerade so aus, als würde er umziehen und die wichtigsten Dinge zusammenstellen.
"Pytlik!"
Dem Hauptkommissar fuhr der Schrecken in die Glieder. Er drehte sich blitzartig um und eine Akte fiel ihm aus den Händen, genau vor die Füße von Alfons Geuther. Sein Gesicht erhitzte sich, sein Herz raste, am liebsten hätte er dem Alten eine Faust ins Gesicht geschlagen.
"Sagen Sie mal, was machen Sie da?"
Geuther deutete mit einem misstrauischen Blick und ausgestrecktem Zeigefinger auf die gelbe Kiste mit den Ordnern und die offene Schranktür. Pytlik überlegte und antwortete prompt.
"Mann, haben Sie mich erschreckt! Was machen Sie denn noch hier?"
Er ging sofort in die Offensive, um sich nicht als Ertappten zu zeigen.
"Wieso 'noch'? Und außerdem frage ich Sie das", raunzte Geuther und wies den Hauptkommissar darauf hin, dass dieser ja heute anscheinend schon ein bisschen früher Schluss gemacht hätte. Pytlik musste sich zähmen. Warum Alfons Geuther ausgerechnet heute und überhaupt so spät noch hier war, konnte er sich nicht erklären, es war auch nicht wichtig.
"Also, was machen Sie mit den ganzen Akten?"
"In den Keller packen, ins Archiv. Hier muss mal Platz gemacht werden", beteuerte Pytlik.
"Platz machen, was? Ausgerechnet jetzt, Freitagabend um sieben!"
Geuther nahm sich wahllos eine Akte heraus und blätterte uninteressiert darin.
"Wie läuft es denn eigentlich mit der Praktikantin? Funktioniert das?", wollte er plötzlich wissen.
Pytlik war von dem Themenwechsel überrascht, wenn es ihm auch ganz gut passte. Er sprang über seinen Schatten, weil er ja wusste, dass das Praktikum mehr oder weniger durch Geuther erst genehmigt worden war.
"Supersache, wirklich. Ich glaube, die kann da viel mitnehmen und außerdem ist sie auch eine große Hilfe für uns. Nein, also wirklich..."
Geuthers Blick nach Pytliks Antwort war mehr als prüfend, eher misstrauisch. Er verabschiedete sich mit leicht zusammengekniffenen Augen, die wohl nichts Anderes sagen wollten als: Passen Sie bloß auf, Pytlik!
"Na gut, dann räumen Sie eben Ihre Akten in den Keller, wenn es Sie glücklich macht."
Danach verschwand der Alte, Pytlik schnaufte durch.