Читать книгу Schwarzer September - der zweite Moselkrimi - Carlos Caldera - Страница 6
3. Die Entwurzelung
ОглавлениеRodolfo Lopez Rodriguez wunderte sich über die Abwechslung. Seit über sechs Wochen saß er nun schon in der acht Quadratmeter großen Einzelzelle des städtischen Gefängnisses und wartete auf eine Veränderung. Noch immer hoffte er auf die Freiheit in dem Land, in das ihn das Schicksal als junger Mann verschlagen hatte, und das jetzt seine Wahlheimat war. Heute war es der 44. Tag in Isolationshaft, 23 Stunden täglich saß er in der Zelle, ohne Kontakte, ohne Verbrechen, ohne Schuld. Die Haft verdankte er allein der Tatsache seiner nackten Existenz als Mensch auf dieser Welt. Ein Tag verlief wie der andere, um sechs Uhr wecken, gegen 6 Uhr 30 das immer gleiche Frühstück, von einem Wärter unter der Tür hindurchgeschoben - zwei Brote mit Marmelade und Dreieckskäse bestrichen, dazu eine Tasse gelblichen, fadenscheinigen Tees. Um 10 Uhr eine Stunde Hofgang, in Begleitung eines Wächters, um zwölf Uhr Mittagessen, 17 Uhr 30 Abendbrot. Einzige Abwechslung in 43 Tagen: ein Besuch seines Anwalts, 30 Minuten Dauer, zwei Besuche von je zwei Mitgliedern der Bürgerinitiative “Freiheit für Rodolfo Rodriguez”, jeweils 60 Minuten.
Doch heute war irgendetwas anders. Zum erstenmal lag ein gekochtes Ei auf dem Frühstücksteller, einfach so zwischen die üblichen Brote geklemmt, kein Eierbecher, kein Löffelchen, kein extra Besteck. Rodolfo freute sich über die lauwarme Zugabe, er wiegte das Ei in seinen Händen, behandelte es wie ein Schmuckstück. Sollte es ihm Glück bringen? Dann aß er es mit den Broten zusammen auf. Gegen sieben Uhr klopfte es: “Herr Rodriguez, packen Sie bitte Ihre Sachen, in 15 Minuten fahren Sie los.”
Panik. Was ist los? Wohin fahre ich?
Rodolfo wagte es nicht, die Fragen laut auszusprechen. Dabei hätte er am liebsten schreien wollen, den Frust von 42 Tagen einfach rausbrüllen. Doch er blieb still, unterdrückte alles, fraß alles in sich hinein. Sein mit dem ungewohnten, gekochten Ei gefüllter Magen tat ihm weh. Er glaubte zu wissen, was dieser Befehl des unsichtbaren Wärters zu bedeuten hatte. Wollten Sie ihn tatsächlich abschieben? In das Land, wo niemand auf ihn wartete, außer dem Tod? Er stemmte sich mit aller ihm verbliebenen Energie dagegen, dies zu glauben. Vielleicht käme er ja in Freiheit, einfach wieder heraus aus der Zelle, alles nur ein Irrtum, ‘ Sie sind frei, Herr Rodriguez’, würde der Gefängnisdirektor, den er nicht einmal kannte, feierlich zu ihm sagen. Er würde wieder in seine Zwei-Zimmer-Wohnung zurückkehren können, die er Anfang August im Morgengrauen verlassen hatte, um zur Arbeit zu fahren.
Er hatte damals Frühschicht. Mit dem ersten Bus war er rausgefahren zur Fabrik, zur BePiFa, Bettinos Pizza Fabrik. Er erinnerte sich noch daran, wie er von der Bushaltestelle am Industriegebiet losgerannt war, um pünktlich um sechs Uhr in der Halle zu sein, denn eine Minute Verspätung hätte ihm eine halbe Stunde Lohnabzug gekostet. Ob die Wohnung noch immer ihm gehörte, auf ihn wartete? Ob jemand in der Zwischenzeit den Abwasch erledigt hätte, den er zurückgelassen hatte? Ob wohl die Pflanzen gegossen worden waren?
“Noch fünf Minuten, Herr Rodriguez”, rief der Wärter.
Gegen elf Uhr vormittags war es passiert. Zwei Polizisten hatten ihn vom Band weg verhaftet, als er gerade eine Charge Salami-Funghi präparierte. Betriebsleitung und Betriebsrat hatten keinerlei Widerstand gegen das Vorgehen der Beamten geleistet. Zwölf Minuten später saß Rodolfo schon in der Zelle, eingefangen und eingesperrt wie ein Stück Vieh. Dabei hatte sein Anwalt immer von Hoffnungen gesprochen, er hatte ihm versichert, es drohe keine akute Gefahr.
“Die werden sich das nicht leisten können, bei der derzeitigen Lage in Angola.”
Tatsächlich waren die spärlichen Informationen, die aus Angola zu bekommen waren, alles andere als beruhigend. Noch immer gab es Überfälle und Massaker, ganze Volksgruppen litten unter der Repression von beiden Seiten, dem Regierungsmilitär wie der UNITA-Guerilla. Der Friede stand seit Jahren nur auf dem Papier. Jemand, der sieben Jahre außer Landes war, würde als Verräter angesehen, egal wem er in die Hände fallen würde. Rodolfo wollte nicht zurück in dieses Land, nicht jetzt, nicht unter diesen Bedingungen. Er hatte keinerlei Verbindungen mehr dorthin, es war nicht mehr sein Land, nicht mehr seine Heimat. Seine Eltern waren schon seit über zehn Jahren tot. Es war die DDR-Regierung damals, die ihn als kaum 16jährigen aus dem Waisenhaus von Saurino herausgenommen hatte, aus einer Stadt, die ständig umkämpft war zwischen den Kriegsparteien. Damals waren die UNITA-Banden gerade mal wieder zurückgeschlagen worden. Im Konvoi wurde Rodolfo nach Luanda gebracht. Zum erstenmal im Flugzeug, von Luanda nach Berlin. Für Rodolfo war es ein Wunder. Wenige Tage nach der Landung in Schönefeld kam die Busfahrt nach Bernburg an der Saale, noch immer zusammen in einer bunt gemischten Gruppe von zwölf jungen Angolanern aus dem ganzen Land, die sich erst in Berlin kennengelernt hatten. Ihr gemeinsames Ziel in Bernburg war das Textilkombinat WeberNet. Fünf Jahre sollten sie hier bleiben, lernen und arbeiten. Das war im Jahre 1986.
Jetzt knackte es im Türschloß, und schon standen zwei Wärter auf der Schwelle.
“Herr Rodriguez, kommen Sie bitte jetzt mit.”
Rodolfo hatte nichts als zwei Plastiktüten in den Händen, in denen sich seine gesamte bewegliche Habe befand, die ihm geblieben war vom Wunderland Deutschland. Der Rest befand sich noch in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung in der Stadt, so nahm er es wenigstens an. Noch immer wagte er es nicht, Fragen zu stellen. Sie liefen durch Flure, ein Beamter vor, einer hinter ihm, alle schweigend. Hinter einer Drehtür wurden sie von zwei Polizisten in Empfang genommen. Ohne viel Federlesens zu machen nahmen sie ihm die Plastiktüten aus der Hand und fesselten ihn an den Handgelenken mit Kunststoffschellen. “Wenn Sie Widerstand leisten, kommen sie auf den Rücken”, sagte der Polizist, der das Handschellenschloß vorne in Bauchhöhe einklinken ließ. Rodolfo leistete keinen Widerstand, obwohl er jetzt genau wußte, was sie mit ihm vorhatten. Während sie draußen schweigend das Hofgelände überquerten und die Polizisten ihn in den an der Seite geparkten Polizeitransporter, Marke Volkswagen, brachten, ging Rodolfo der Traum von letzter Nacht durch den Kopf, ein Alptraum, den er zum wiederholten Male geträumt hatte. Er war irgendwo in Afrika, wahrscheinlich in Angola. Mit nackten Füßen rannte er über die staubige Piste auf den riesigen Ceibobaum zu, dessen mächtige, dunkle Krone einen breiten Fluß oder See überschirmte. Mit zunehmender Nähe zu dem Baum färbte sich die karge, graue Steppenlandschaft in ein drohendes Orangerot. Der Himmel verdunkelte sich rasch, und bald leuchtete ein tropischer Abendzauber über Rodolfo. Er rannte und rannte weiter wie ein Besessener. Kurz bevor er den Schatten der Baumkrone erreichte, sah Rodolfo grellweiße Lichtblitze aus der Dunkelheit hinter den verstreut in der Landschaft stehenden Dornbüschen aufleuchten - weiße, geräuschlose Zuckungen in einem Meer von Feuerrot. Jetzt, da er nur noch wenige Schritte zu laufen hatte, fing der gewaltige Ceibo an zu schwanken. Rodolfo hielt seinen Feuerlauf an und sah, wie der Baumriese vor ihm, ohne das geringste Geräusch zu verursachen, in die Erde versank, in der er ein großes schwarzes Loch hinterließ, ein Schlund, der ihn, Rodolfo, mit der unbändigen Kraft eines starken Magneten in sich hineinzog.
Schweißgebadet erwachte er jedesmal aus diesem Traum. Und jetzt, da er wieder in die Realität zurückkehrte, saß er in Handschellen neben einem deutschen Polizisten in dem Kleinbus, der gerade über das Vorkriegs-Kopfsteinpflaster der Luxemburger Straße bretterte. Sie hatten noch nichts gesprochen, seit sie den Wagen bestiegen hatten. Der Fahrer schaltete in den zweiten Gang zurück, als der Anstieg vom Brückenkopf zur Bitburger hoch begann. Er brachte den Motor kräftig auf Touren.
“Wo fahren wir hin?” wagte Rodolfo zu fragen.
“Immer gerade aus, Junge. Keine Angst, heute abend bist du schon zuhause, im Busch. Dort, wo du hingehörst.”
Kein Zweifel, Rodolfo befand sich auf Abschiebekurs. Im Grunde war es ihm längst völlig klar gewesen. Er fragte auch nicht mehr, auf welchen Flughafen sie ihn bringen wollten, es war ihm gleichgültig. In den 43 Tagen der Haft war in ihm ein Entschluß gereift, für den Fall der Fälle. Er wußte nur eines, er würde nicht zurückgehen nach Angola, nicht zurück in Hölle und Krieg, nicht zurück, um von zwei Vertretern der Geheimpolizei auf dem Flughafen empfangen zu werden. Er würde sich in keine Folterkammer schließen lassen. Das war sein felsenfester Entschluß. Ein Schwur.
Der Untergang der DDR hatte den Entwurzelten ein zweites Mal entwurzelt. Der ostdeutsche Straßenaufstand spülte ihn in den Westen, in die Hände des ehemaligen “Klassenfeindes”, wie seine deutschen Kollegen in Bernburg das Land jenseits der Mauer bezeichneten. Über Berlin und Köln war Rodolfo schließlich an die Mosel gekommen. Ohne Arbeit, ohne Ersparnisse. Von der Sozialhilfe lebend hatte er einmal Butterkekse und ein anderes Mal Duschgel im Supermarkt mitgehen lassen, was ihm zwei Strafanzeigen wegen zusammen 7,47 Mark Schaden einbrachte. Vom Amtsgericht wurde er deshalb verurteilt, doch der gerichtliche Bescheid war ihm nie zugestellt worden. Die Strafbefehle gingen an seinen neuen Arbeitgeber, wo sie sich verloren. Niemand legte Widerspruch ein. Dann kam die Ausreiseverfügung der Stadt, für kriminell gewordene Vertragsarbeiter der ehemaligen DDR gab es keinen Platz mehr in diesem Land. Rodolfo wurde aufgefordert, “freiwillig auszureisen in ein Land ihrer Wahl”. Sein Anwalt legte Beschwerde dagegen ein. Die Gerichte kümmerten sich darum. Ein Gutachten des Auswärtigen Amtes, angefordert bei der deutschen Botschaft in Luanda, bestätigte “die technische Möglichkeit der Durchführung einer Abschiebung”. Die Regierungsarmee habe die volle Kontrolle über die Straße vom internationalen Flughafen in die Innenstadt, faxte der Botschafter, der selbst über eine gepanzerte Limousine verfügte, doch es vorzog, seine Tage und Nächte in erster Linie in der Residenz zu verbringen. Die deutschen Richter schenkten ihm dennoch Glauben. Aufgrund seiner Vorstrafen wegen Ladendiebstahls hatte Rodolfo sein Bleiberecht verwirkt, denn, so der Amtsrichter Wagner, “die Schwere der einzelnen Straftaten ist insoweit nicht von Bedeutung”. Mildernde Umstände ausgeschlossen.