Читать книгу Rauchundfeuerland - Carmen Sternetseder-Ghazzali - Страница 4
Ausgesperrt
ОглавлениеNach der Schule wartet Papa schon in der Eingangshalle auf mich. Er mampft eine Butterbreze und gibt mir auch eine. Aber draußen pikst die Kälte, da schmeckt die Breze nicht. Ich stecke sie wieder zurück in die Tüte. „Papa“, sage ich, als wir an dem Container im Park vorbeigehen, „heute ist ein Neuer in unsere Klasse gekommen. Der wohnt da.“ Ich zeige auf das knallrote Blechding. „Und er war barfuß in Sandalen. Seine Zehen waren ganz blau.“
„JJJJkkkxxxx!“, krächzt Papa. Er hat sich wohl vor Schreck an einem Brösel verschluckt, weil er das mit dem Barfußlaufen unglaublich findet oder so. Er hustet, dann sagt er: „Eure Schlamperkiste in der Schule ist doch voll. Kann er sich da nicht Sachen rausnehmen? Zeige ihm die doch morgen.“
„Tolle Idee, aber … Ich mag nicht mit ihm reden“, murmele ich.
„Wie bitte?“ Papa guckt mich erstaunt an. „Wieso denn nicht?“
„Er sieht so komisch aus. Und ist so anders.“
„Komisch? Anders? Er muss ja nicht dein Freund werden.“
„Aber die Sachen aus der Kiste stinken. Außerdem gehören sie jemandem“, sage ich.
„Ach was! Wer was vermisst, der hätte da schon längst nachgesehen“, meint Papa.
Dann gehen wir schweigend durch die Kornblumensiedlung in Richtung U-Bahn. Die Kornblumensiedlung besteht aus sieben riesigen Hochhäusern, die bis zu den Wolken reichen. Na ja, manchmal, wenn die Regenwolken tief hängen. Und nachts, wenn die Lichter in den Wohnungen leuchten, sehen die Häuser aus wie Ozeandampfer. Glitzernde Dampfer auf dem nächtlichen Meer. Manchmal wünsche ich mir hier zu wohnen. Ganz oben. Wo ich immer runter auf die vielen Lichter blicken kann. Da, wo ich wohne, blicke ich nur in einen dunklen Garten mit einem Teich. Ich wohne in der Glasharfenstraße. Die ist auf der anderen Seite des Parks, dort, wo die Stadt zu Ende ist. Papa ist vor ein paar Wochen von zu Hause ausgezogen. Er wohnt jetzt woanders. Am anderen Ende der Stadt im sechzehnten Stock. Zwischen uns liegen fünfzehn U-Bahnstationen. Deshalb gehen wir durch die Kornblumensiedlung zur U-Bahn, dann fahren wir durch die ganze Stadt, von Endstation zu Endstation.
Papa hat seine neue Wohnung gerade frisch gestrichen. Sogar draußen auf dem Balkon. Da steht ein mit weißer Farbe vollgekleckerter Tisch. Er sagt, ich darf heute auf die Küchenwand malen, was mir einfällt, und zeigt auf die bunten Eimer auf dem Balkonboden. „Da sind die Farben!“, sagt er. „Komm! Wir tragen sie rein!“
Fünf Eimer. Die Grundfarben rot, gelb, blau und weiß und schwarz. Damit lassen sich alle anderen Farben mischen. Ich male einen Teich mit vielen Kindern, die darauf Schlittschuh fahren. Hunde und Katzen spazieren zwischen den Schlittschuhfahrern. Vögel fliegen über den Teich. Ich male und male, und vergesse darüber die Zeit. Irgendwann knipst Papa die Lichter an, klatscht in die Hände und ruft ganz laut: „Abendessen!“
Es gibt Nudeln mit Tomatensoße. Früher, als Papa noch bei uns gelebt hat, hat Mama immer das Abendessen gekocht, während Papa im Keller, in seinem Labor, noch Zähne und Gebisse gegipst hat. Er hat für Mamas Patienten die Gebisse gemacht. Aber jetzt, wo er nicht mehr bei uns lebt, sucht er ein neues Labor, wo er als Zahntechniker arbeiten kann, und Mama sucht einen neuen Zahntechniker, der bei ihr arbeitet. Ganz schön unlogisch. Wieso haben die sich eigentlich getrennt? Ich habe keine Ahnung.
„Dein Bild ist echt wunderschön. Ich glaube, wenn du groß bist, wirst du mal Malerin werden“, sagt Papa und streut Kresse über die Nudeln. Ich sage nichts dazu. Ich mag es nicht, wenn jemand davon spricht, was man mal machen wird, wenn man groß wird. Woher soll ich denn das jetzt schon wissen? Ich weiß doch noch nicht einmal, was ich morgen alles machen werde. Oder heute Abend. Vielleicht, weil ich schweige und grimmig gucke, vielleicht, weil er gerne spricht und möchte, dass ich bei ihm immer lache, sagt er: „Nach dem Essen kannst du dir zum Nachtisch Blaubeereis aus der Truhe holen und dann Simpsons gucken. Ich muss noch geschäftlich telefonieren.“
„Simpsons? Echt? Klasse!“, rufe ich. Das darf ich bei Mama nicht gucken. Aber was will Papa machen? Geschäftlich telefonieren? Papa ist einfach bei uns ausgezogen und ich sehe ihn jetzt so selten. Da kann er doch ein anderes Mal geschäftlich telefonieren, nicht genau dann, wenn ich mal bei ihm bin. "Guck doch bitte, bitte auch mit mir die Simpson, so oft bin ich doch nicht bei dir. Bitte!", bettle ich.
„Na gut“, sagt er und grinst.
Später, wir haben gemeinsam den Esstisch abgeräumt und das Geschirr in die Spülmaschine eingeräumt, da öffnet er eine Büchse Erdnüsse und setzt sich damit auf die Couch. Ich habe gerade mein Nachthemd angezogen und mich in eine warme Decke gekuschelt. Er schaltet den Fernseher an. Es ist wunderschön, gemeinsam Simpsons zu gucken und Erdnüsse zu knabbern. Aber irgendwann sind die lustigen Simpsons zu Ende, die Erdnussbüchse war schon vorher leer, und Papa schaltet den Fernseher wieder aus. „Ab ins Bett, Schatz! Jetzt muss ich wirklich telefonieren“, sagt er.
„Nein!“, sage ich trotzig und greife nach der Fernbedienung. Mal sehen, wie er reagiert.
„Doch!“, erwidert Papa streng, nimmt mir die Fernbedienung aus der Hand und schlurft damit über den Flur. An der Küchenschwelle dreht er sich noch einmal um. „Ab ins Bad und dann ins Bett!“
Das werden wir ja sehen! Ich nickte artig und tue so, als würde ich ins Bad marschieren. Aber als Papa in der Küche verschwindet, husche ich zurück ins Wohnzimmer. So genau weiß ich auch nicht, was ich jetzt hier soll. Es ist dunkel. Eigentlich bin ich müde. Ich könnte ja genauso gut ins Bad und danach ins Bett gehen. Aber ich bleibe mitten im dunklen Wohnzimmer stehen und lausche. Aus der Küche höre ich Papa telefonieren. Das kann jetzt stundenlang so gehen. Wenn er telefoniert, vergisst er alles um sich herum. Mich auch. Ich will noch nicht alleine ins Bett und beschließe, mich zu verstecken. Mal sehen, wie lange es dauert, bis er mich findet. Es muss das perfekte Versteck sein. Etwa in der Waschmaschine im Bad. Aber dazu bin ich schon zu groß. Mir fällt der vollgekleckerte Tisch draußen auf dem Balkon ein. Ganz leise öffne ich die Balkontür und schleiche hinaus. Wie schön es hier ist. Um mich herum blinken Millionen Lichter und ein eiskalter Wind bläst mir ins Gesicht. Ich japse nach Luft und krabble rasch unter den Tisch. Da ist eine Plastikplane. Sie riecht nach der Farbe. Ich decke mich damit zu und gucke zum Sternenhimmel. Ein runder, fetter Mond leuchtet da oben. Ein komischer Gedanke kommt mir da. Ich frage mich plötzlich, ob alle Menschen auf der Welt, also überall, wo es jetzt auch Nacht ist, denselben runden, fetten Mond sehen. Aber wie ich das Ganze im Kopf drehe und wende, mir kommt keine gescheite Antwort. Außerdem bibbere ich immer mehr vor Kälte. Und von Papa sieht und hört man nichts. Ich bin ja barfuß und im Nachthemd. Jedes Härchen an meinem Körper zittert. Meine Zehen fangen an zu schmerzen. Papa, komm schon! Bitte, suche mich! Nein! Finde mich!
Irgendwann krieche ich unter der Plane hervor und haste zur Tür. Doch die lässt sich nicht öffnen. Wer hat die zugemacht? Ich nicht! Ich habe sie bloß angelehnt. Außerdem ist das Licht in der Küche aus. Papa telefoniert also nicht mehr. Aber wieso ist die Balkontür jetzt zu? Ein furchtbarer Gedanke fährt mir durch den Kopf. Während ich mich unter dem Tisch verkrochen und den Mond angeglotzt habe, ist Papa ins Wohnzimmer gekommen und hat die Balkontür geschlossen. Oh Gott! Dann bin ich ja ausgesperrt. Papa denkt, dass ich schon im Bett liege und ist bestimmt selbst schon ins Bett gegangen. Woher soll er auch wissen, dass ich auf dem Balkon bin? Ganz fest trommele ich mit den Fäusten gegen die Scheibe. Das Glas vibriert, Eis knackst, aber drinnen rührt sich nichts. Kein Licht flammt auf. Keiner kommt. Wie auch? Das Schlafzimmer ist auf der anderen Seite. Von dort hört man nicht, was auf dem Balkon geschieht. Was soll ich bloß machen? Meine Finger sind schon blaugefroren. Ich kann sie kaum noch bewegen.
„Hilfe!“, rufe ich und beuge mich verzweifelt über die Balkonbrüstung. Vielleicht hört mich ein Nachbar. Vielleicht ist noch einer raus aus der Wohnung, eine Zigarette rauchen oder den schönen Vollmond bewundern. Pustekuchen! Zwischen den Balkonen befindet sich eine dicke Betonschicht. Die schluckt jedes Geräusch. Trotzdem schreie und heule ich, aber der Wind heult lauter und treibt mir Schneeflocken in den Mund. Gut, das nützt auch nichts. Was tun? Es sieht so aus, als würde ich heute Nacht hier draußen erfrieren. Mitten in der Stadt, tausend Lichter, tausend Menschen. Ich fange an zu heulen. Wölfe heulen den Mond an, ich mache es wie sie. Ich heule und heule, aber zwecklos, niemand hört mich. Müde und traurig verkrieche ich mich wieder unter den Tisch und lege mir die Plastikplane über die Schulter. Immer wenn ich ausatme, steigt eine Eiswolke aus meinem Mund. Ich habe das Gefühl, selbst langsam zu vereisen. Außerdem fallen mir die Augen zu. Ich möchte schlafen, einfach einschlafen, vergessen, dass ich gerade erfriere.
Dann höre ich von weit her eine Kirchenuhr zehn Mal läuten. Das weckt mich auf. Das lässt mich den Schmerz in den Zehen und Fingern wieder richtig spüren. Ob es mir warm wird, wenn ich mir vorstelle, die Eiswolken aus meinem Mund seien Feuerrauch? Ich probiere es. Es klappt nicht, weil sich auf meinen Wimpern schon Schneekristalle bilden. Ich schmelze sie zwischen meinen Fingern, dann fällt mein Blick auf die Brüstung. Da hängen Blumentöpfe. Sieben Stück! Aus Ton! Weshalb sehe ich die jetzt erst? Egal! Bei ihrem Anblick schießt mir die rettende Idee durch den Kopf. Ich könnte die Blumentöpfe vom Balkon werfen. Das würde unten auf der Straße mächtig krachen. Darf nur niemanden auf den Kopf fallen. Aber hören soll man es schon. Damit jemand die Feuerwehr ruft. Während ich noch darüber nachsinne, höre ich ein Knacksen. Die Balkontür! Ein Kopf schiebt sich raus. Papa! Ich will aufspringen und in seine Arme laufen, aber alle meine Knochen sind steif. Ich bin festgefroren. Nicht mal sagen kann ich was. Mein Mund ist zugefroren. Papa eilt zu mir und legt seine Arme liebevoll um mich. Ich spüre seine Wärme. Sie ist wie ein Guss warmer Sonnenstrahlen, so wunderschön. Er trägt mich rein auf das Sofa. Dort weine ich mich erst einmal aus, während Papa alle Decken um mich legt, die er findet. Als ich so an mir heruntergucke, zu meinen Fingern und Zehen, sehe ich, dass sie blau und grün sind. Erschrocken denke ich: Wie die Zehen von Arasch.
„Ich Trottel! Ich Depp! Ich Idiot“, sagt Papa immer wieder und schlägt sich mit der Hand vor die Stirn. Dann geht er ins Bad und lässt heißes Wasser in die Wanne. Als sie randvoll ist, tropft er noch Zimtöl dazu. Süßer Dampf steigt auf. Dann tauche ich hinein und fühle mich wie ein Knödel in warmer Suppe.