Читать книгу Rauchundfeuerland - Carmen Sternetseder-Ghazzali - Страница 5
Wahre Schätze miefen
Оглавление„Arasch, es ist zehn nach acht! Warum kommst du zu spät?“, fragt Frau Stahl am nächsten Morgen. Wir gucken Arasch an. Er ist wieder barfuß. Seine Zehen sind blau. Mich fröstelt. Seit gestern weiß ich, wie sich kalte Zehen anfühlen. Bestimmt bietet Frau Stahl ihm heute etwas aus der Schlamperkiste an!
„Ich habe einen Füller gesucht“, sagt Arasch und wackelt mit seinen Zehen.
„Ach was! Dann geht man eben ohne Füller in die Schule. Wegen eines Füllers darf man nicht zu spät kommen“, sagt Frau Stahl.
„Bei uns im Rauchundfeuerland durfte man nie ohne Füller kommen.“
„Rauchundfeuerland“, sagt Frau Stahl und seufzt. Dann rauscht sie mit einem Bündel Papier in der Hand durch das Klassenzimmer. Mathe! Die Probe! Mir ist, als schlage mir jemand die Faust in den Magen.
„Nina“, flötet Frau Stahl und legt ein Blatt vor ihr ab. „Toll gemacht!“ Nina strahlt. Eine Eins, was sonst? Nina ist die Beste in der Schule. Egal, was Frau Stahl fragt, Nina weiß es. Nina weiß alles. Vielleicht hat das mit ihrem Füller zu tun. So wie andere Fußballkärtchen sammeln, sammelt Nina Füller. Fünf Füller pro Monat kriegt sie zusammen! Ihr neuestes Modell ist ein Sternchenfüller. Davor war es ein Füller mit Pferdchen darauf. Und davor einer mit Delfinen. Verrückt. Na ja, ihre Eltern besitzen ja auch einen Schreibwarenladen.
Frau Stahl wirbelt mit ihrem gelb-lila gestreiften Wollrock wie ein Kreisel. „Denise!“
Denise schreckt zusammen und hält beide Hände vor den Mund. Heute sind ihre Nägel hellblau mit schwarzen Herzen.
„Seit wann ist vier mal vier zwanzig? Mann, Denise! Als der liebe Gott die Menschen erschaffen hat, war wohl ein Hirn zu wenig da“, sagt Frau Stahl und legt ein Blatt vor ihr ab.
Hat Frau Stahl das wirklich gesagt? Ganz schön gemein. Nina, Felix und ein paar andere prusten los. Ich auch, obwohl ich Frau Stahls Sprüche nicht nur gemein, sondern immer gemeiner finde. Denises Augen füllen sich mit Tränen. Sie zerknüllt die Probe und wirft sie wütend in die Schultasche.
„Nee, Denise, so nicht! Morgen will ich die Probe unterschrieben und gebügelt zurück“, schimpft Frau Stahl. Ob sie das mit dem Bügeln ernst meint? Mhh, es ist ihr zuzutrauen.
„Schätzchen, spitze!“, trällert sie gleich darauf wie ausgewechselt und grinst Felix an. „Um einen halben Punkt an der Eins vorbei.“ Felix Lippen zittern. Er fängt an zu schluchzen und guckt finster zu Nina. Die schnaubt nur einmal kurz durch die Nase wie ein Pferd, das eben zuerst durch die Ziellinie ist.
Frau Stahl wirbelt weiter. An meinen Tisch. Ihre blauen Augen schauen mich scharf an. „Bianca, was ist los mit dir? Du hast eine Vier. Da wird mir deine Mutter wieder die Bude einrennen.“ Die Bude einrennen? Als ob nur meine Mutter Frau Stahl die Bude einrennen würde. Alle kommen, um über die Noten zu feilschen. Frau Stahl hat einmal zu einer Mutter gesagt, dass sich in der vierten Klasse die Spreu vom Weizen trennt. Die Mutter meinte daraufhin, ja, der Weizen kommt aufs Gymnasium und die Spreu wird vom Wind verweht. Wenn das stimmt, dann werde ich wohl Spreu sein.
Felix’ Finger schnellt in die Höhe.
„Was ist, Felix?“, fragt Frau Stahl und lächelt zuckersüß.
„Das ist gar kein Fehler!“, ruft er.
Frau Stahl geht zu ihm und beugt sich über sein Blatt.
„O ja! Du hast recht. Die Neun ist eine Null. Dann stimmt die Rechnung ja doch. Ach, du Honigkuchenpferdchen, du hast eine eins.“
Felix errötet. Er mag die eins, aber er mag kein Honigkuchenpferd sein, logo.
Nach der Schule schlüpft Nina eilig in ihren rosa Plüschmantel. „Mein Dad holt mich heute ab“, sagt sie zu mir. „Wenn wir noch zusammen raus wollen, musst du dich beeilen!“
„Nee, geh schon mal! Ich muss noch aufs Klo und so Sachen“, sage ich und schiele zu Arasch. Das mit seinen blauen Zehen lässt mir keine Ruhe. Seit gestern Abend weiß ich, wie Kälte schmerzt.
Arasch sitzt noch auf seinem Stuhl. Ich packe meine Hefte extra langsam ein. Als Nina weg ist, gehe ich zu ihm.„Du“, sage ich und gucke auf seine Zehen, „es gibt hier in der Schule eine Kiste, die heißt Schlamperkiste und da liegen manchmal Socken drin. Da kannst du dir welche holen, damit deine Füße wärmer werden. Magst du mit mir dorthin gehen?“
„Ja“, flüstert er.
Als er gleich darauf die Kiste samt Inhalt sieht, ist er sprachlos. Da liegen Berge von Socken, Mützen, Fäustlingen, Hausschuhen und Jacken drin. „Winterstiefel!“, ruft er nach einer Weile und strahlt wie einer, der gerade einen Schatz entdeckt hat.
Ich grinse, als er die Stiefel anprobiert. Sie sind türkisfarben. Gore-Tex steht darauf. Sie passen! Er wird ganz rot vor Freude. Dann nimmt er sich noch Fäustlinge und drei Mützen. Eine davon ist echt schön. Grau mit einem Bild von einem Skifahrer darauf.
„Warum drei?“, frage ich. Mir ist das irgendwie nicht geheuer. Das Zeug stinkt und außerdem gehört es jemandem.
„Für meine kleinen Geschwister“, antwortet Arasch.
„Oh! Klar“, sage ich und schlucke.
In dem Augenblick kommen Frau Rötelstein und Tupai, ein Junge aus der 4c, aus dem Lehrerzimmer. Tupai guckt kurz her und verschwindet dann in die andere Richtung. Frau Rötelstein kommt auf uns zu. Ich bekomme heiße Ohren. O je! Das wird Ärger geben. Man darf nichts aus der Schlamperkiste nehmen, was einem nicht gehört. Wer genau das gesagt hat, weiß ich nicht, aber es klingt richtig.
Frau Rötelstein lächelt freundlich, als sie vor uns stehen bleibt. Sie duftet nach Blumenparfüm. „Wunderbar“, sagt sie und klopft Arasch auf die Schulter. „Nimm dir, was du brauchst. Nimm auch was für deine Geschwister mit. Ach, warte! Ich habe was für dich!“ Sie flitzt zurück und holt aus dem Lehrerzimmer zwei große, leere Tüten. „Da, nimm dir aus der Kiste, was dein Herz begehrt. Die Sachen liegen hier schon wochenlang. Musst sie halt erst waschen.“
Arasch guckt erst verlegen, stopft dann aber ganz viel aus der Schlamperkiste in die Tüten.
„Du kannst ihm ja helfen, die Tüten nach Hause zu tragen“, sagt Frau Rötelstein zu mir.
Nach Hause? Zum Container? Mama will mich heute von der Schule abholen. Wenn sie sehen würde, wie ich mit Arasch und zwei Riesentüten im Container verschwinde ... Unmöglich! „Äh“, druckse ich herum. „Heute gehe ich einen anderen Weg.“
„Schade! Soll ich dir helfen, Arasch?“, fragt Frau Rötelstein freundlich.
„Nein, ich bin stark“, sagt Arasch und trommelt sich breit grinsend mit den Fäusten auf die Brust.
„Das sehe ich!“, sagt Frau Rötelstein und lächelt.
„Ich muss dann mal los“, murmele ich.
„Danke, Bianca, dass du ihm die Kiste gezeigt hast. Das war eine tolle Idee von Frau Stahl“, sagt Frau Rötelstein.
„Ja, finde ich auch“, erwidere ich. Halt! Frau Stahl? Was hat die damit zu tun? Ich hatte doch die Idee. Jetzt fällt mir auch ein, dass sie es ist, die immer sagt, wir dürfen nichts aus der Kiste holen, was uns nicht gehört. Egal. Raus zu Mama. Die soll mich bloß nicht gemeinsam mit Arasch sehen. Und schon gar nicht, wie er diese Riesentüten zum Container schleppt.
Mama steht schon vor der Schule und wartet auf mich. Sie trägt eine weiße Fellkappe und ihren weißen Mantel. Sie sieht nicht aus wie eine Zahnärztin, sondern wie eine Schauspielerin. Sie gibt mir einen Kuss, dann nimmt sie mir die Schultasche ab und hängt sie sich selbst über die Schultern. So gehen wir los. Um in die Glasharfenstraße zu gelangen, müssen wir erst durch den Park. Als wir am Container vorbeigehen, sagt sie: „Dieses rote, hässliche Ding passt wirklich nicht hierher.“
„Ja“, pflichte ich ihr bei. „Sie hätten den Menschen richtige Häuser geben sollen.“
„Was?“ Mama bläht ihre Wangen auf und pustet die Luft dann aus. Es knallt richtig! Ich gucke zu ihr und sie guckt kritisch zu mir. Ob ich was Falsches gesagt habe?
Habe ich eigentlich schon erzählt, dass unser Haus uralt ist? Man riecht das, wenn man in den Keller geht. Es riecht nach Mäusen, Schimmelkäse und Moder. Aber im Erdgeschoss, wo die Praxis ist, riecht es nach Pfefferminze und Zitrone.