Читать книгу Die neue Praxis Dr. Norden Staffel 1 – Arztserie - Carmen von Lindenau - Страница 5
Noch einmal von vorn Dr. Danny Norden startet durch
ОглавлениеNoch hatte der Wecker nicht geläutet. Danny musste erst in ein paar Minuten aufstehen. Er träumte gerade von der Floßfahrt auf der Isar, die er am Tag zuvor mit Freunden unternommen hatte, als er plötzlich ein lautes Brummen wahrnahm, das er zunächst in seinen Traum einbaute, bis ihn etwas Haariges an seinem Gesicht berührte und er erschrocken hochfuhr.
»Guten Morgen, Doc, nichts passiert.«
»Wer bist du, und wie bist du hier hereingekommen?« Danny setzte sich sofort auf, als er das Mädchen am Fußende seines Bettes stehen sah, das soeben mit ihm gesprochen hatte. Es hatte langes rotes Haar, trug ein moosgrünes Kleid zu schwarzen Leggins und war höchstens dreizehn oder vierzehn Jahre alt.
»Ich bin Ophelia, Ophelia Mai, ich wohne seit einer Woche im Haus nebenan, schön, dass wir uns endlich kennenlernen.« Sie kam um das Bett herum, setzte sich auf die Bettkante und reichte ihm die Hand. »Hereingekommen bin ich über den Balkon. Die Tür stand offen, und das Rankgitter an der Hauswand ist eine perfekte Aufstiegshilfe. Die allerdings auch von einem Einbrecher genutzt werden könnte. Nur mal so als kleiner Hinweis.«
»Danke, ich werde darüber nachdenken, es zu entfernen.«
»Warum gleich so radikal? Sie könnten auch dornige Rosen daran hochziehen. Das verhindert das Klettern und verschönert die Hauswand. Das Zimmer ist noch ein bisschen kahl, finden Sie nicht?« Ophelia ließ ihren Blick durch den großen Raum mit den schneeweiß gestrichenen Wänden gleiten.
Die Einrichtung beschränkte sich auf das blaue Boxspringbett, einen weißen Kleiderschrank und eine Fächerpalme im blauen Porzellankübel.
»Mag sein, dass noch etwas fehlt, aber findest du es nicht ein wenig unpassend, einen fremden Mann am frühen Morgen in seinem Schlafzimmer aufzusuchen?«, fragte Danny, der seine Beine angezogen hatte und darauf achtete, dass die Bettdecke nicht verrutschte.
»Darin sehe ich in diesem Fall kein Problem. Ich habe bisher nur Gutes über Sie gehört, Doc«, antwortete sie mit einem aufrichtigen Lächeln.
»Du weißt aber schon, dass man nicht alles glauben darf, was man so hört.«
»Die Informationen über Sie erschienen mir zuverlässig. Aber gut, überprüfen wir sie. Ich sage Ihnen, was ich über Sie gehört habe, und Sie sagen mir, ob es stimmt«, schlug Ophelia vor.
»Meinetwegen, was hast du gehört?«, fragte Danny.
»Es heißt, dass Sie dieses Haus von Fanny Moosinger geerbt haben, einer alten Dame, die vor Kurzem gestorben ist. Sie hatte keine Kinder und auch sonst keine Verwandten. Sie hat Sie als Erben bestimmt, weil Sie ihr vor fünf Jahren das Leben gerettet haben. Richtig oder falsch?«
»Ich habe ihr geholfen, als sie in Not war.«
»Also, richtig. Sie waren damals in demselben Restaurant wie Fanny zum Abendessen, als die arme Frau einen allergischen Schock erlitt. Sie drohte zu ersticken, was Sie mit einem Luftröhrenschnitt verhindert haben. Richtig oder falsch?«
»Richtig.«
»Fanny war derart von Ihnen beeindruckt, dass sie Sie in den letzten Jahren jedes Mal an diesem Tag ihrer Rettung, ihrem zweiten Geburtstag, wie sie sagte, in dieses Restaurant zum Essen einlud. Richtig oder falsch?«
»Richtig.«
»Ich habe auch gehört, dass dies schon ihre zweite Praxis ist. Die erste haben Sie aufgegeben, weil sie nach einer großen Enttäuschung einen Neuanfang brauchten. Richtig oder falsch?«
»Richtig, aber jetzt habe ich genug gehört.« Danny hatte keine Lust, an eine Zeit erinnert zu werden, die er vergessen wollte.
»Meine Mutter sagt, dass es sogar oft vorkommt, dass jemand seine Jugendliebe wiedersieht und sich aus seinem aktuellen Leben verabschiedet. Der einzig richtige Weg für den, der zurückbleibt, ist der komplette Neuanfang. Sie haben also erst einmal alles richtig gemacht. Meine Mutter würde Ihnen raten, das Neue größer als das Alte zu gestalten, dann werden Sie den Schmerz besiegen. Meine Mutter ist Psychologin. Sie kennt sich mit diesen Dingen aus.«
»Sicher tut sie das. Danke für die nützlichen Gartentipps und die Lebensberatung. Mich interessiert aber trotzdem der Grund, warum du in mein Schlafzimmer eingestiegen bist. Was ist das?!« Er sprang entsetzt aus dem Bett, als er in diesem Moment etwas Großes, Pelziges an seinen Beinen spürte.
»Da haben Sie Ihre Antwort. Das ist der Grund, warum ich hier bin«, entgegnete Ophelia kichernd, als eine rotgetigerte Katze unter der Bettdecke hervorkroch. »Das ist Ortrud. Sie fühlt sich von offenen Fenstern und Balkontüren magisch angezogen. Ich habe gesehen, wie sie über Ihren Balkon geklettert ist, und bin ihr gefolgt, damit sie bei Ihnen keinen Schaden anrichtet.«
Das war also das haarige Etwas, das ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Dieses Brummen, das er wahrgenommen hatte, war vermutlich das Schnurren der Katze gewesen. »Du hättest einfach an der Haustür klingeln können«, sagte er.
»Stimmt, aber so bleibt unsere erste Begegnung unvergesslich. Richtig oder falsch?«, fragte Ophelia und nahm Ortrud auf ihre Arme.
»An Selbstbewusstsein mangelt es dir offensichtlich nicht«, stellte Danny schmunzelnd fest.
»Richtig«, antwortete Ophelia. »Sie sehen übrigens wirklich gut aus, Doc«, sagte sie und richtete ihren Blick auf Danny, der mit verwuscheltem Haar und nacktem Oberkörper, nur mit einer weinroten langen Schlafhose bekleidet, vor ihr stand.
»Willst du mich in Verlegenheit bringen?«
»Aber nein, Doc, ich habe nur eine objektive Beobachtung in Worte gefasst. Bleiben Sie locker.«
»Ich gebe mir Mühe«, sagte Danny, und auf einmal mussten sie beide laut auflachen.
»Sehen Sie, jetzt haben wir uns beide locker gemacht. Wir werden gute Nachbarn werden, Doc, da bin ich absolut sicher. Wir sehen uns«, verabschiedete sich Ophelia, als Dannys Wecker läutete. »Einen schönen Tag noch.«
»Danke, dir auch, und nimm dieses Mal die Haustür«, bat er sie.
»Geht klar, Doc«, sagte das Mädchen und verließ mit Ortrud auf den Armen das Schlafzimmer.
Sie sehen sich ähnlich, dachte Danny. Ortrud hatte nicht nur rötliches Fell, sie hatte auch blaue Augen genau wie Ophelia, was ihm auf einmal derart merkwürdig vorkam, dass er die Möglichkeit in Betracht zog, dass er noch gar nicht wach war, sondern noch immer träumte.
Aber dann hörte er die Haustür klappern, und ein Blick hinunter in den Garten zeigte ihm, dass er nicht träumte. Ophelia und Ortrud, die durch eine Lücke in der Hecke auf das Nachbargrundstück huschten, waren Wirklichkeit. Ich werde mir die Hecke mal genauer ansehen müssen, dachte er, bevor er sich vom Fenster abwandte und ins Badezimmer ging.
*
Als er eine Viertelstunde später in weißer Jeans und weißem Poloshirt durch das helle Treppenhaus mit der knarrenden Holztreppe und dem Parkettboden in die Küche hinunterging, zog der Duft nach frischem Kaffee durch das Haus. Valentina war inzwischen eingetroffen. Sie stand in einer rotweiß gestreiften Schürze in der Küche und nahm die Pfanne mit den Rühreiern, die sie für Danny zubereitet hatte, vom Herd.
Danny fand noch immer, dass es eine gute Idee gewesen war, die Trennwand zwischen der ursprünglich recht kleinen Küche und dem größeren Esszimmer herauszunehmen. Er hatte nun einen lichtdurchfluteten Raum mit zwei großen Fenstern. Der restaurierte blaue Kachelofen war der Blickfang in diesem Zimmer mit den Küchenmöbeln aus weißem Holz und dem Esstisch mit den hellen Lederstühlen.
»Mei, Herr Doktor, Sie haben mich erschreckt!«, rief Valentina und fuhr überrascht herum.
»Das tut mir leid. Ist etwas mit Ihnen?«, fragte er, weil sie auf einmal ganz blass wurde. Bisher hatte er nicht den Eindruck gehabt, dass Valentina besonders schreckhaft war.
»Ich bin noch ein bissel durcheinander, wegen dieses Sportwagens, der mich beinahe überfahren hat.«
»Was genau ist passiert?«, hakte Danny nach und schaute ihr zu, wie sie das Bastkörbchen mit den knusprigen Brötchen, die sie auf dem Weg zu ihm beim Bäcker geholt hatte, auf den Tisch stellte.
»Mei, ich dacht wirklich, das war’s für mich. Ich komm aus dem Bäckerladen, will wie jeden Morgen die Straße überqueren, weit und breit ist auch kein Auto zu sehen, aber dann auf einmal, ich bin schon in der Mitte der Straße, da schießt so ein schwarzer Sportwagen mit heulendem Motor um die Ecke und rast direkt auf mich zu. Ich konnt gerad noch auf den Bürgersteig zurückspringen«, erzählte Valentina mit zitternder Stimme.
»Haben Sie sich etwas getan?«, fragte Danny besorgt.
»Glücklicherweise nicht, ich konnt sogar die Brötchentüte festhalten, die ich im Arm hielt. Eigentlich müssten Sie diesen Sportwagen gehört haben, er kam ja hier aus der Straße herausgeschossen.«
»Bewusst wahrgenommen habe ich ihn nicht, ich hatte allerdings auch Besuch«, antwortete er schmunzelnd und setzte sich an den Tisch.
»Geh, wer war denn da?«, hakte Valentina nach. Sie schob die Brille mit den dünnumrahmten Gläsern in ihr kurzes weißblondes Haar, bevor sie Danny den Teller mit den Rühreiern servierte.
»Zwei junge Damen aus der Nachbarschaft. Obwohl, wie alt diejenige ist, die es sich unter meiner Bettdecke gemütlich gemacht hatte, weiß ich ehrlich gesagt gar nicht.«
»Unter Ihrer Bettdecke?«, wiederholte Valentina und sah Danny verblüfft an.
»Ja, schon«, entgegnete er und versuchte, ernst zu bleiben.
»Das heißt, Sie hatten gestern Abend Damenbesuch und die beiden sind geblieben. Aber gleich zwei, Herr Doktor? Und auch noch aus der Nachbarschaft, das wird Gerede geben«, seufzte sie, während sie ihm Kaffee einschenkte.
»Die beiden haben mich erst heute Morgen besucht. Sie sind über den Balkon eingestiegen«, sagte Danny und trank einen Schluck Kaffee.
»Also, Herr Doktor, jetzt möcht ich es aber schon genauer wissen«, bat Valentina und blieb vor ihm stehen.
»Nehmen Sie sich einen Kaffee und setzen Sie sich zum mir, dann erzähle ich Ihnen von diesem Besuch.« Es war schön, wenn Valentina morgens ein paar Minuten mit ihm am Tisch saß und sie sich über das aktuelle Weltgeschehen oder die kleinen Geschehnisse in der Nachbarschaft unterhielten.
Er mochte ihr mütterliches Wesen und war ihr dankbar, dass sie sein Angebot angenommen hatte, auch für ihn den Haushalt zu führen, so wie sie es jahrelang für Fanny getan hatte. Sie kam fünf Tage in der Woche am Vormittag, kümmerte sich um alle Arbeiten im Haushalt und kochte ihm ein Mittagessen, bevor sie wieder ging. Es war ein Arrangement, das Dannys Tagesablauf erleichterte.
»Die kleine Ophelia von nebenan war bei Ihnen fensterln? Ich glaub es nicht«, sagte Valentina und schüttelte fassungslos den Kopf, nachdem Danny sie über sein Erlebnis am Morgen aufgeklärt hatte. »Ich muss ihr allerdings recht geben, diese erste Begegnung werden Sie beide nicht vergessen«, fügte sie lachend hinzu.
»Ich hoffe, ihre Eltern sehen das ebenso entspannt, wenn sie erfahren, dass ihre Tochter heute Morgen in meinem Schlafzimmer war.«
»Sie wohnt mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter in dem Haus. Ihr Vater lebt in Norwegen mit seiner eigenen Familie. Ophelias Mutter hatte nur eine kurze Affäre mit ihm, sie wusste nicht, dass er verheiratet ist. Ophelias Großmutter ist übrigens auch Psychologin.«
»Gleich zwei Psychologinnen, o Gott«, seufzte Danny und fasste sich an den Kopf. Die Psychologen, die er kannte, wollte er alle nicht zum Freund haben. Dieses ständige Analysieren ging ihm auf die Nerven, und neulich hatte er das auch gegenüber Valentina erwähnt, als sie von einer Bekannten erzählte, die wegen ihres Alkoholkonsums einen Psychologen aufsuchte.
»Geh, Herr Doktor, die beiden Damen sind wirklich sehr nett. Ich habe ihnen einen Kuchen zum Einzug gebracht, und wir haben uns ein bissel unterhalten. Wir heißen unsere neuen Nachbarn immer mit einer Aufmerksamkeit willkommen. Das wissen Sie doch, Herr Doktor.«
»Ja, das weiß ich.« Danny erinnerte sich an die unzähligen Kuchen, die am Tag nach seinem Einzug in seiner Küche standen. Der Kuchen in seiner Tiefkühltruhe würde noch bis zum Ende des Jahres zum Kaffee am Sonntag reichen. »Von dem Einzug nebenan habe ich aber gar nichts mitbekommen«, wunderte er sich.
»Weil sie am letzten Wochenende, als die Umzugswagen kamen, in den Bergen waren, aber erwähnt hatte ich es schon, dass jemand da drüben eingezogen ist.«
»Das habe ich dann wohl überhört.«
»Mei, Herr Doktor, Sie haben doch auch ständig über so vieles nachzudenken. Jetzt wissen Sie ja, dass Sie neue Nachbarn haben«, entgegnete Valentina mit einem gütigen Lächeln.
»Sie sind zu nachsichtig mit mir, Valentina. Ich sollte schon besser zuhören.« Er nahm sich nicht viel Zeit für das, was um ihn herum vor sich ging, was vielleicht auch daran lag, dass die Praxis gleich von Anfang an besser lief, als er es erwartet hatte.
Das Haus, das er von Fanny geerbt hatte, lag in einer ruhigen Wohngegend mit Ein- und Zweifamilienhäusern inmitten von gepflegten Gärten. Ein paar Straßenzüge entfernt waren in den vergangenen Jahren zwei Neubaugebiete mit Mehrfamilienhäusern entstanden. Das hatte dazu geführt, dass die niedergelassenen Allgemeinmediziner überlastet waren und kaum noch neue Patienten aufnahmen, wie ihm Fanny bei ihrem letzten Treffen erzählte.
Bevor er sich entschlossen hatte, eine Praxis in Fannys Haus zu eröffnen, hatte er mit der Stadtverwaltung über die ärztliche Versorgung in dieser Gegend gesprochen. Da sie Fannys Einschätzung zustimmten, ließ er das Haus renovieren und richtete die Praxis ein. Das war jetzt vier Wochen her.
Zuerst kamen die Leute aus Neugierde, um sich den neuen Arzt anzusehen. Da die meisten, die wirklich einen ärztlichen Rat brauchten, wiederkamen, ging er davon aus, dass sie ihm vertrauten. Das war ein vielversprechender Anfang.
*
Nachdem er noch ein paar Minuten mit Valentina geplaudert hatte, ging er durch den schmalen Flur hinüber in den Anbau, in dem die Praxis untergebracht war. Fanny Moosinger und ihr Mann hatten dort vor vielen Jahren ihre Anwaltskanzlei eingerichtet. Die Anordnung der Räume eignete sich auch hervorragend für eine Arztpraxis. Er hatte einen Architekten mit der Renovierung und der Einrichtung beauftragt und war mit dem Ergebnis mehr als zufrieden.
Danny gefiel der Anblick des weiten Empfangsbereiches mit den weißen Wänden, den hellen Fliesen und dem modernen Tresen mit der eingebauten LED-Leiste, die den Boden beleuchtete, und der antiken Kommode aus Kirschbaumholz als Kontrast. Auch die Landschaftsbilder an den Wänden hatten einen Rahmen aus Kirschbaumholz und trugen dazu bei, dass der Raum nicht kalt wirkte. Der Wartebereich mit seinem Holzboden, den gelben Sesseln aus Kunstleder und den Grünpflanzen erinnerte an eine Hotellounge, was denjenigen, die sich gern vor einem Arztbesuch drückten, ein angenehmeres Gefühl vermittelte.
»Guten Morgen, Boss«, wurde er von Lydia begrüßt, die hinter dem Tresen stand und auf den Monitor ihres Computers schaute.
Lydia, Ende zwanzig, kinnlanges dunkelblondes Haar, sportliche Figur und stets mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen, war die erste, die sich auf sein Stellenangebot in der Zeitung gemeldet hatte. Der Arzt, bei dem sie bis vor Kurzem noch angestellt war, hatte sich zur Ruhe gesetzt, und mit seinem Nachfolger kam sie nicht zurecht.
»Es gibt halt solche und solche, und er gehört zu den Letzteren«, hatte sie ihm gesagt, ohne ihm genau zu verraten, warum sie mit dem Mann nicht auskam.
Für ihn war Lydia ein Glücksgriff. Sie war nicht nur eine gute Arzthelferin, die auch das Abrechnungssystem perfekt beherrschte, sie war auch ein aktives Mitglied der Feuerwehr und ausgebildete Rettungssanitäterin. Sie war ein Geschenk für jede Arztpraxis, da sie Notfälle einschätzen und darauf reagieren konnte.
»Verzeihung, Herr Doktor«, entschuldigte sich Sophia, seine zweite Arzthelferin, eine zierliche junge Frau mit langem blondem Haar und grünbraunen Augen. Sie kam mit einem Stapel Becher für den Wasserspender aus dem Vorratsraum und hatte ihn beinahe umgerannt.
»Alles gut«, sagte er und strich ihr beruhigend über die Schulter.
Sophia war ein paar Jahre jünger als Lydia und hatte vor einiger Zeit ihre Ausbildung zur Krankenschwester abgeschlossen, danach aber nach einer Stelle ohne Schichtdienst gesucht, weil sie sich um ihre an Multiple Sklerose erkrankte Mutter kümmern wollte. Ihn hatte ihre Entschlossenheit beeindruckt, ihr Leben auf das ihrer Mutter einzustellen.
»Heute ist besonders viel los«, raunte Sophia ihm mit Blick auf das Wartezimmer zu, das nur durch eine Glaswand vom Empfangsbereich getrennt war.
»Hoffentlich keine Epidemie«, entgegnete er lächelnd, als er sah, dass es kaum noch einen freien Platz dort gab.
»Die bekommen wir auch in den Griff, wir sind doch das perfekte Team«, versicherte Lydia ihm. Sie hatte ihre Arme auf den Tresen gestützt, ihren Kopf in die Hände sinken lassen und beobachtete ihn und Sophia.
»Und ob wir das sind«, stimmte Sophia ihr zu, während sie die Becher in den Wasserspender stellte, der seinen Platz neben dem Eingang zum Wartebereich hatte.
»Dann weiterhin auf gute Teamarbeit«, sagte Danny lächelnd und ging zu seinem Sprechzimmer am Ende des Gangs.
Er hatte sich mit Absicht für zwei junge Mitarbeiterinnen entschieden, da er davon ausging, dass für sie das Angebot, nach Mallorca zu gehen, um in einer Arztpraxis, die sich nur für ein paar Stunden am Tag um die kleinen Unfälle der Touristen kümmerte, nicht so verlockend erschien wie für gewisse ältere Kolleginnen. Egal, die Dinge verändern sich, und das Neue muss eben wachsen, bis es groß genug ist, den Schmerz zu vertreiben. So ähnlich hatte es doch vor etwa einer Stunde ein selbstbewusstes kluges Mädchen formuliert.
Die erste Patientin an diesem Tag war Lieselotte Schmidtbauer, eine ältere Dame aus der Nachbarschaft, die über Kopfschmerzen klagte.
»Es stimmt wirklich, was sich die Leute über Ihre Praxis erzählen«, sagte sie, als sie auf dem Stuhl vor Dannys Schreibtisch Platz nahm.
»Und das wäre?« Da er heute schon von Ophelia gehört hatte, was man sich über ihn erzählte, war er gespannt, was Frau Schmidtbauer noch hinzufügen würde.
»Es heißt, Ihre Praxis sei modern und trotzdem gemütlich, sozusagen eine Wohlfühlpraxis«, erklärte sie ihm, was sie meinte, während sie ihren Blick durch den Raum schweifen ließ. Zuerst betrachtete sie die Lampe mit dem weißen Schirm, die mit einem biegsamen Stahlarm seitlich an dem weißen Schreibtisch befestigt war und sich in einem Halbbogen über die Tischplatte spannte. Danach nahm sie den Holzboden und die in dunkles Holz gerahmten Landschaftsbilder an den Wänden in Augenschein, und schließlich haftete ihr Blick auf der alten Standuhr aus Lindenholz, die er in einer Ecke des Raumes aufgestellt hatte. »Solange ich denken kann, stand dieses Prachtstück bei unserer Fanny, Gott hab sie selig, in der Diele«, stellte sie mit einem tiefen Seufzer fest. »Fanny glaubte, dass diese Uhr mystische Kräfte besitzt. Sie hat es dem Holz zugeschrieben, das von einer sechshundert Jahre alten Linde stammte, die in einer stürmischen Nacht aus dem Boden gerissen wurde.«
»Ich kenne diese Geschichte, und ich denke, falls sie diese Kräfte besitzt, dann ist das Sprechzimmer genau der richtige Ort, um sie zu entfalten.« Danny wusste, dass diese Uhr Fanny viel bedeutet hatte. Mit diesem Platz, an dem sie jeder sehen konnte, wäre Fanny sicher einverstanden gewesen.
»Fanny hat dem Richtigen ihr Haus vererbt«, sagte Frau Schmidtbauer und nickte zur Bekräftigung ihrer Feststellung mit dem Kopf.
»Vielen Dank, dass Sie das so sehen.«
»Wenn es nicht so wäre, dann wäre Ihr Wartezimmer leer«, erklärte sie ihm ganz offen.
»Dann sollte ich wohl gut aufpassen, dass ich das Vertrauen der Nachbarschaft nicht verliere.«
»Wer es einmal gewonnen hat, der verliert es nicht mehr so schnell«, versicherte sie ihm mit einem freundlichen Lächeln.
»Sie haben nicht nur Kopfschmerzen, ihr Nacken bereitet Ihnen auch Probleme, nehme ich an«, sagte Danny, als Frau Schmidtbauer ihren Kopf zur Seite neigte und sich den Nacken massierte.
»Ja, ganz schlimm tut es oft weh, und schwindlig wird mir dann auch.«
»Wie fühlt sich das an?« Er war aufgestanden, hatte sich hinter sie gestellt, ihren Kopf vorsichtig aufgerichtet und strich in Höhe des Haaransatzes sanft von beiden Seiten des Halses in Richtung der Wirbelsäule, ohne sie dabei zu berühren.
»Herr Doktor, Sie besitzen magische Hände. Mein Kopf fühlt sich plötzlich so viel leichter an«, flüsterte Lieselotte überrascht.
»Das hat nichts mit Magie zu tun. Ihre Nackenmuskeln sind unglaublich angespannt, werden sie gelockert, verschwindet der Schmerz. Ich denke, dass ein Physiotherapeut einiges für Sie tun kann. Um andere Ursachen für Ihre Beschwerden auszuschließen, werden wir aber vorab einige Tests machen«, sagte Danny und legte ihr die Manschette des Blutdruckgerätes um den Oberarm.
»Ich fühle mich bereits bestens bei Ihnen aufgehoben, Herr Doktor«, versicherte ihm Frau Schmidtbauer und betrachtete ihn mit einem bewundernden Lächeln. »Und vielleicht tut die Uhr doch ein bissel was dazu«, flüsterte sie und schaute auf die Standuhr, deren Pendel sich leise hin- und herbewegte.
*
Franziska fragte sich, wie lange sie sich noch mit diesen Krücken abplagen musste, die seit ihrer Knieoperation vor zwei Monaten ihre ständigen Begleiter waren. Dass ihre Wohnung im Dachgeschoss des Sechsfamilienhauses lag und sie jedes Mal fünf Treppen überwinden musste, machte ihr das Leben schwer. Die Arthroskopie, die ihr ein Orthopäde zur Abklärung ihrer Knieschmerzen nach einem Sturz beim Volleyballspielen mit Freundinnen am Isarufer vorschlug, blieb ohne Befund. Der Eingriff allerdings hatte Folgen, ihr Knie entzündete sich, und sie musste vier Wochen lang mit Antibiotika behandelt werden.
Sie war inzwischen seit einer Woche zu Hause, die Entzündung war ausgeheilt, aber bewegen konnte sie ihr Knie noch immer nicht richtig. Im Krankenhaus hatten ihr die Ärzte gesagt, sie müsse Geduld haben, da das Knie ein äußerst empfindliches Gelenk sei.
Da sie jemanden zur Nachbetreuung brauchte und ihr bisheriger Hausarzt in einem anderen Stadtteil war, hatte sie nach einem neuen gesucht. In der Nachbarschaft schwärmten sie alle von dem jungen Arzt, der vor vier Wochen seine Praxis nur fünfzehn Minuten von ihr entfernt eröffnet hatte. Sie hatte vorgestern dort angerufen und sofort einen Termin bekommen.
Wehmütig schaute sie auf das Schulgebäude, an dem sie an diesem Morgen auf dem Weg zur Praxis Norden vorbeikam. In dem prächtigen Altbau aus dem 19. Jahrhundert war seit 100 Jahren ein Gymnasium untergebracht. Zuerst konnten es nur Jungen besuchen, seit 50 Jahren war es auch für Mädchen geöffnet. Der Förderverein der Schule, der von ehemaligen inzwischen gut situierten Schülern gegründet wurde, hatte dafür gesorgt, dass das Gebäude renoviert wurde, was auch die Sanitärräume zur großen Freude aller miteinschloss.
»Guten Morgen, Frau Kern!«, riefen ihr zwei Mädchen zu, die die Steinstufen zum Eingang der Schule hinaufliefen.
»Guten Morgen!«, antwortete sie und winkte ihnen. Die beiden gingen in die sechste Klasse, in der sie Mathematik und Sport unterrichtete. Sie vermisste den Unterricht und die Kinder. Sie wollte endlich wieder etwas tun. Aber noch hatte sie kein Arzt gesundgeschrieben. Mit den Krücken wäre es ohnehin eine große Herausforderung, jeden Tag die vielen Stufen hinauf in die oberen Klassenräume zu überwinden. Einen Aufzug gab es in der Schule noch nicht.
In Gedanken versunken bog sie in die von Ahornbäumen gesäumte Straße ein, in der die Praxis des neuen Arztes lag, blieb aber zunächst auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Morgensonne strich durch die Äste der Bäume, die verwunschene Schatten auf das helle Pflaster der Bürgersteige warfen. Franziska schaute auf das Haus mit dem hellbeigen Anstrich und den Fenstern mit den grauen Holzläden am Ende der Straße. Vor ein paar Monaten hatte Fanny Moosinger noch dort gewohnt, die zu den Gründungsmitgliedern des Schulfördervereins gehörte.
Der Garten mit den duftenden Rosenbüschen und den Birken mit ihrem zartgrünen Laub sah noch immer so aus, als würde sich Fanny weiterhin liebevoll um ihn kümmern. Wie es hieß, hatte der junge Arzt, der allein in dem Haus wohnte, einen Gärtner für das Grundstück engagiert.
Der Lack gefällt mir, dachte sie. Sie sah dem grünen Auto nach, in das ein Mädchen mit langem hellrotem Haar auf der Beifahrerseite eingestiegen war und das die Hofeinfahrt neben dem Haus des neuen Arztes verließ. Bevor sie die Straße überquerte, vergewisserte sie sich, dass sich kein Auto näherte und ihr genügend Zeit blieb, auch mit den Krücken die andere Straßenseite zu erreichen. Die Straße war frei.
Sie setzte zuerst die Krücken auf die Fahrbahn und ging dann vorsichtig los. Sie hatte gerade zwei Schritte gemacht, als ein schwarzer Sportwagen aus einer Parklücke herausschoss und auf sie zuraste. Mit den Krücken gelang es ihr nicht mehr, zur Seite zu springen. Das Auto streifte sie, und sie stürzte zu Boden.
»Würden Sie bitte aussteigen!«, rief sie, als der Wagen anhielt. Das gibt es doch nicht, dachte sie, als der Fahrer, statt auszusteigen, wieder Gas gab und weiterfuhr.
»Können Sie sich bewegen?«, fragte der junge Mann besorgt, der aus dem Haus gegenüber der Praxis kam und sich neben sie hinhockte.
»Ja, ich denke, mir ist nicht viel passiert«, mutmaßte sie, während sie sich vorsichtig aufrichtete und ihre Arme und Beine bewegte, was ihr auch mühelos gelang.
»Machen Sie langsam. Durch den Schock und das Adrenalin, das er freigesetzt hat, spüren Sie im Moment möglicherweise noch keine Schmerzen.«
»Ich bin sicher, dass ich mich nicht ernsthaft verletzt habe. Das Auto war ja noch nicht sehr schnell. Helfen Sie mir bitte auf«, bat sie den jungen Mann.
»Aber sagen Sie es mir sofort, falls Sie Schmerzen spüren.
»Ja, mache ich«, versicherte sie ihm.
Er legte seine Arme unter ihre Achseln, verschränkte sie auf ihrem Rücken und hob sie vorsichtig hoch. »Ist Ihnen wirklich nichts passiert?«, wollte er wissen, als sie wieder stand und er ihr die Krücken reichte.
»Nein, es ist alles gut«, versicherte sie ihm, während sie sich auf eine Krücke gestützt den Staub von ihrer Jeans klopfte und das gelbe T-Shirt glattzog.
»Das war eindeutig Fahrerflucht. Konnten Sie sich das Nummernschild des Wagens merken?«, wollte er von ihr wissen.
»Nein, darauf habe ich gar nicht geachtet. Ich habe doch auch nicht damit gerechnet, dass er oder sie einfach weiterfährt.«
»Es war ein Mann. Ich habe ihn allerdings nur aus den Augenwinkeln heraus gesehen, weil er bereits wieder losfuhr, als ich aus dem Haus kam. Leider konnte ich das Nummernschild auch nicht erkennen«, gestand er ihr. »Sie sollten diesen Vorfall aber trotzdem der Polizei melden. Sie können mich gern als Zeugen nennen. Rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen, am besten auf meinem Handy«, bot er ihr an und reichte ihr eine Visitenkarte.
»Vielen Dank, Herr Bergwald«, entgegnete sie, nachdem sie einen Blick auf die Karte geworfen hatte, um seinen Namen zu erfahren, die Karte aber dann gleich einsteckte.
»Wollen Sie in die Praxis Norden?«, fragte er sie.
»Ja, das hatte ich vor.«
»Ich bringe Sie hin, Frau?«
»Kern, Franziska Kern«, stellte sie sich ihm vor. »Aber Sie müssen mich nicht begleiten. Ich schaffe das allein«, versicherte sie ihm.
»Wenigstens bis zur Tür«, schlug er vor.
»Also gut, bis zur Tür«, erklärte sie sich einverstanden.
Als Franziska vor der Tür kurz aufstöhnte, stehenblieb und sich an die rechte Hüfte fasste, beschloss Lorenz Bergwald, bei ihr zu bleiben, bis er sicher sein konnte, dass sich jemand um sie kümmerte.
»Meinen ersten Besuch in dieser Praxis habe ich mir weniger dramatisch vorgestellt«, seufzte Franziska.
»Wie auch immer, ich zweifle nicht daran, dass Sie in dieser Praxis gut aufgehoben sind. Ich habe Doktor Norden neulich in der Cafeteria in der Klinik seiner Eltern getroffen, und wir haben uns länger unterhalten. Im Gegensatz zu vielen älteren Kollegen ist er auch offen für außergewöhnliche Behandlungsmethoden. Er gehört nicht zu diesen Ärzten, die einfach nur Pillen verschreiben und sich keine Zeit nehmen, mit ihren Patienten ein Gespräch zu führen.«
»Genau das habe ich auch von meinen Nachbarn gehört.«
»Über seinen Ruf kann sich Doktor Norden sicher nicht beklagen«, entgegnete Lorenz lächelnd. Er begleitete Franziska in die Praxis und ging mit ihr zum Empfangstresen. »Frau Kern wurde gerade vor der Praxis von einem Auto angefahren«, schilderte er Lydia, die am Tresen stand, was gerade passiert war.
»Der Fahrer ist einfach weitergefahren«, wunderte sie sich und sah Franziska mitfühlend an. »Kommen Sie bitte gleich mit mir, Frau Kern«, forderte Lydia sie auf, ihr zu folgen.
»Gute Besserung, ich warte dann auf Ihren Anruf«, verabschiedete sich Lorenz und nickte Franziska noch einmal aufmunternd zu, bevor er die Praxis verließ.
»Bin ich denn schon dran? Ich hatte erst in einer Viertelstunde einen Termin.« Franziska schaute in das noch halbvolle Wartezimmer.
»Sie wurden gerade angefahren, das ist ein Notfall. Es wäre verantwortungslos, wenn ich Sie warten ließe. Geht es?«, fragte Lydia nach, als Franziska nur langsam vorwärtskam, weil sie erneut ihre Hüfte spürte. »Der Herr Doktor ist gleich bei Ihnen, setzen Sie sich ruhig schon auf die Liege«, sagte sie, nachdem sie Franziska in den Raum mit dem Ultraschallgerät geführt hatte.
Franziska bedankte sich bei ihr für ihre Fürsorge, lehnte ihre Krücken an den Stuhl neben der Liege und setzte sich vorsichtig hin. Inzwischen hatte sie das Gefühl, dass die rechte Hälfte ihrer Hüfte komplett angeschwollen war. Lorenz hatte recht, kurz nach dem Unfall hatte das Adrenalin verhindert, dass sie die Schmerzen in ihrer ganzen Stärke wahrnehmen konnte.
»Da schau her, die Frau Lehrerin. Kaum da und schon hockt sie im Behandlungszimmer.« Die Mittsechzigerin im hellen Trachtenkostüm hatte sich einen Becher Wasser am Wasserspender im Empfangsbereich geholt und Franziska im Ultraschallzimmer entdeckt, dessen Tür offenstand.
»Ich habe mich nicht vorgedrängt, Frau Meier, ich hatte gerade einen Unfall«, verteidigte sich Franziska, als Gusti Meier sich mit dem Wasserbecher in der Hand im Türrahmen aufbaute.
»Freilich, schon wieder ein Unfall. So kommt man auch durchs Leben. Ein Unfall und eine Krankschreibung nach der anderen. Aber was soll es, Sie sind ja Beamtin und werden bezahlt, egal, ob Sie arbeiten oder nicht. Andererseits ist es auch ganz gut, wenn Sie nicht so bald an die Schule zurückkommen, dann können Sie nicht gleich wieder den nächsten Kindern die Zukunft zerstören.«
»Wieso denn die Zukunft zerstören? Falls Sie damit die sechs in Mathe und die fünf in Sport meinen, die ich Ihrem Enkel geben musste, habe ich ihm damit nicht die Zukunft zerstört. Er geht erst in die sechste Klasse.«
»Dank Ihnen, zum zweiten Mal. Wissen Sie eigentlich, wie demütigend das für ein Kind ist, die Klasse zu wiederholen, während die Freunde versetzt werden?«
»Ich hatte keine Wahl, seine Leistungen waren einfach nicht gut genug«, versuchte Franziska, Gusti Meier erneut klar zu machen, was sie ihr in den letzten Wochen bereits einige Male gesagt hatte.
»In unserer Familie sind alle Männer Buchhalter, auch Marius` Vater. Wieso sollte der Bub nicht rechnen können? Und dass der Marius kein Sporttalent ist, dafür kann er nichts, deshalb hätte es auch eine vier getan. Sie können den Bub einfach nicht leiden, das ist der Grund für die schlechten Noten.«
»Das stimmt nicht, Frau Meier.«
»Freilich stimmt’s, mein Sohn und meine Schwiegertochter sind davon überzeugt, dass Sie andere Kinder, die in beiden Fächern nicht mehr glänzen als unser Marius, besser bewertet haben, weil sie Ihnen lieber sind als unser Junge.«
»Meine Noten sind keine Sympathienoten.«
»Wer’s glaubt«, entgegnete Gusti Meier schnippisch.
»Darf ich mal vorbei?«, bat Danny, der nach Franziska sehen wollte und nicht an Gusti vorbeikam.
»Bitte sehr, Herr Doktor«, sagte sie und wich zur Seite.
»Wären Sie so freundlich und würden wieder ins Wartezimmer gehen?«, wandte sich Lydia an Gusti, die Danny neugierig nachschaute, bis er die Tür hinter sich schloss.
»Bin schon auf dem Weg«, entgegnete Gusti und ging zurück ins Wartezimmer. »Manche scheuen aber auch vor gar nichts zurück, um sich ein gemütliches Leben zu machen«, sagte sie und erzählte den anderen Patienten, von denen sie offensichtlich die meisten kannte, dass die Mathematiklehrerin aus dem Gymnasium einen Unfall nach dem anderen provoziere, um sich freie Zeit zu verschaffen.
Währenddessen erzählte Franziska Danny von dem Unfall, und nachdem er sie gründlich untersucht hatte, stellte er fest, dass sie sich eine Hüftprellung zugezogen hatte. An ihrem frisch operierten Knie konnte er keine neue Verletzung erkennen.
»Er hat mich wohl mit der Motorhaube an der Hüfte gestreift, und ich bin instinktiv auf die Seite gefallen, um meine Knie nicht zu belasten«, rekonstruierte Franziska den Unfallhergang.
»In Gefahrensituationen fehlt uns für eine vernünftige Überlegung die Zeit. Glücklicherweise können wir uns in diesen Momenten recht gut auf unsere Instinkte verlassen«, sagte Danny, der ihre Reaktion gut nachvollziehen konnte.
»Zum Nachdenken war wirklich keine Zeit mehr. Wäre dieses Auto allerdings nur ein oder zwei Sekunden später aus der Parklücke herausgeschossen, dann hätte es mich frontal erwischt, und ich hätte nicht die Spur einer Chance gehabt, mich zu retten.«
»So war es aber nicht, und Sie sollten sich diese Möglichkeit auch nicht ausmalen. Sie hatten Glück gehabt und wurden nicht schwer verletzt, das ist alles, was für Sie zählen sollte.«
»Sie haben recht, ich werde Ihren Rat befolgen«, stimmte Franziska Danny zu.
»Gute Idee«, antwortete er lächelnd. »Ich verschreibe Ihnen eine Salbe, die tragen Sie mehrmals täglich auf die schmerzenden Stellen auf. Mehr können Sie erst einmal nicht tun. Die Prellung heilt von allein«, versicherte er ihr.
»Wenn das alles ist, hatte ich wirklich unglaublich viel Glück«, stellte sie erleichtert fest.
»Das hatten Sie, ohne Zweifel«, stimmte Danny ihr zu. »Ursprünglich wollten Sie aber wegen Ihres Knies zu mir, wie mir Frau Seeger sagte.«
»Ja, das ist richtig. Mein Knie wurde vor sechs Wochen arthroskopisch untersucht. Während der Operation wurde ich mit Keimen infiziert und musste vier Wochen lang Antibiotika nehmen. Zu Orthopäden habe ich im Moment leider kein Vertrauen mehr, zumal sich herausgestellt hat, dass die Untersuchung ohne Befund war.«
»Weshalb wurde die Arthroskopie gemacht?«
»Ich bin während eines Volleyballspiels auf die Knie gefallen und hatte eine Zeit lang Schmerzen. Mein Hausarzt schickte mich zu einem Orthopäden, und der schlug diese Untersuchung vor.«
»Hat er sie selbst durchgeführt?«
»Ja, in der Klinik, in der er einige Belegbetten hat. Ich würde gern wissen, ob dieser Eingriff wirklich nötig war. Als mein neuer Hausarzt könnten Sie sich doch die Krankenakte ansehen.«
»Wenn Sie mir eine Vollmacht unterschreiben, besorge ich mir die Akte. Haben Sie vor, gegen das Krankenhaus oder den Orthopäden, wegen der Sache mit den Keimen, eine Klage einzureichen?«, fragte Danny, damit er gleich wusste, worauf das Ganze hinauslaufen sollte.
»Bisher noch nicht. Ich weiß auch nicht, ob ich das tun werde. Ein Krankenhaus oder einen Arzt zu verklagen, stelle ich mir anstrengend vor.«
»Das heißt aber nicht, dass Patienten einfach alles hinnehmen müssen.«
»Zuerst will ich gesund werden, dann sehe ich weiter. Kann ich Ihnen die Vollmacht gleich ausstellen?«
»Ich sage Frau Seeger Bescheid, Sie wird sich darum kümmern. Sollten die Schmerzen stärker werden oder weitere Beschwerden auftreten, melden Sie sich, ansonsten hören Sie von mir, sobald mir Ihre Krankenakte vorliegt. Waren Sie schon bei einem Physiotherapeuten wegen Ihres Knies?«
»Nein, ich wollte mir aber in den nächsten Tagen einen Termin besorgen.«
»Ja, bitte, tun Sie das. Da die Entzündung inzwischen bekämpft wurde, spricht nichts dagegen.«
»Vielen Dank, Herr Doktor«, bedankte sich Franziska, als Danny ihr die Tür aufhielt.
Bevor Danny zurück in sein Sprechzimmer ging, bat er Lydia, Franziska ein Formular zur Erteilung der Vollmacht zu geben, und stellte ein Rezept für die Salbe aus, die sie gegen ihre Prellung nehmen sollte.
»Die nächste wäre Frau Meier«, sagte Sophia, die neben Lydia hinter dem Tresen stand und sich um die Reihenfolge der Patienten kümmerte, die zu Danny in die Sprechstunde wollten.
»Geben Sie mir eine Minute«, bat Danny seine zweite Sprechstundenhilfe. Gusti Meier kam jede Woche zweimal in die Praxis, obwohl sie kerngesund war. Sie gehörte zu den Patienten, die das Wartezimmer zum Nachrichtenaustausch missbrauchten.
»Und? Hat es geklappt mit der Verlängerung der Krankschreibung?«, fragte Gusti, als Sophia sie wenig später aufrief und sie Franziska am Tresen stehen sah.
»Einfach nicht hinhören«, raunte Lydia Franziska zu.
»Mache ich nicht.« Franziska wusste, dass sie Gusti nur noch mehr reizen würde, wenn sie auf sie reagierte.
»Also bitte, Frau Meier, wir achten hier auf Privatsphäre«, erklärte Lydia mit strenger Stimme, als Gusti im Vorbeigehen auf das Blatt schaute, das Franziska ausfüllte.
»Die Privatsphäre ist mir doch heilig«, sagte Gusti und streifte die junge Lehrerin mit einem herablassenden Blick. Sie wollte gerade weiter zum Sprechzimmer gehen, als die Tür zur Praxis aufgestoßen wurde und eine junge Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm hereinstürmte.
»Ich brauche Hilfe, meine Tochter bekommt keine Luft mehr!«, rief sie.
»Doktor Norden, kommen Sie, schnell!«, rief Lydia über den Gang, als sie sah, wie das kleine Mädchen in dem roten Kleidchen nach Luft rang.
Danny, dessen Tür zum Sprechzimmer offenstand, zögerte keinen Moment, als er Lydia rufen hörte, und eilte zum Empfang. »Hat sie etwas verschluckt?«, wollte er von der Mutter wissen.
»Ich weiß es nicht. Ich war in der Küche, und Anni hat in ihrem Kinderzimmer einen kleinen Bauernhof aus Holz aufgebaut, den sie gestern zu ihrem Geburtstag bekommen hat.«
»Du solltest dein Kind eben nicht ohne Aufsicht lassen, Ursel«, mischte sich Gusti ein, und die anderen Patienten, die aus dem Wartezimmer gekommen waren, als sie sahen, welche Aufregung draußen im Gang herrschte, nickten zustimmend.
»Nicht einmischen, Frau Meier«, forderte Lydia Gusti auf.
»Geben Sie mir Ihre Tochter«, forderte Danny Ursel Doldinger auf, die nur ein paar Häuser von der Praxis entfernt wohnte, nachdem er sich auf den Boden gekniet hatte.
»Anni, es wird alles wieder gut«, sprach Ursel tröstend auf die Kleine ein, die mittlerweile schon ganz rot anlief.
Danny nahm das Kind, stellte es vor sich hin und beugte es sanft nach vorn. Schließlich umfasste er den kleinen Körper zwischen Bauch und Brustbein und drückte ein paar Mal kräftig zu, bis die Kleine eine Spielfigur ausspuckte. »Sieh mal, ein Hahn«, sagte er, als das Kind wieder normal atmete, nachdem es ein paar Mal gehustet hatte.
»Der Hahn ist in meinen Mund geflogen«, erzählte Anni, nachdem Danny aufgestanden war und sie auf den Tresen gesetzt hatte.
»Da gehört er aber nicht hin.«
»Hm«, machte das Kind und nickte.
»Ich verstehe das gar nicht, sie weiß schon lange, dass sie Spielzeug nicht in den Mund nehmen soll, und jetzt ist sie drei geworden und fängt wieder damit an?«, zeigte sich Annis Mutter ratlos.
»Der Hahn sollte doch fliegen, Mami. Ich habe ihn dahin gesetzt und dann Wind gemacht.« Anni öffnete ihren Mund, deutete auf die Unterlippe, pustete zuerst und holte dann tief Luft.
»Ich denke, es ist Zeit für ihre erste Physikstunde, welche Folgen das Ein- und das Ausatmen haben können«, wandte sich Danny Ursel zu, die noch immer vor Aufregung zitterte.
»Ich werde ihr das noch heute erklären«, versicherte ihm Ursel.
»Bravo, Doktor!«, rief Gusti, und gemeinsam mit den anderen Patienten applaudierte sie Danny. »Das war doch dieser Griff, dieser Heimig-Griff, richtig?«
»Heimlich-Griff«, wurde sie von Franziska verbessert.
»Dass Sie es wieder besser wissen, war doch klar«, entgegnete Gusti beleidigt.
»Heimlich-Griff, benannt nach dem amerikanischen Arzt Henry J. Heimlich, der diesen Notfallgriff erfunden hat. Den Körper zwischen Bauchnabel und Brustbein umfassen, einige Male ruckartig zudrücken, bis das, was auch immer in der Luftröhre steckt, wieder herauskatapultiert wird«, klärte Lydia Gusti und die anderen auf. Seitdem sie Rettungssanitäterin bei der Feuerwehr war, hatte sie diesen Griff schon einige Male anwenden müssen.
»Kommen Sie bitte mit ins Sprechzimmer. Ich will mich davon überzeugen, dass Anni sich nicht verletzt hat«, bat Danny die junge Mutter, die ihre Tochter wieder auf den Arm nahm, nachdem sie den Spielzeughahn eingesteckt hatte.
»Willst du mir mit einer Taschenlampe in den Hals gucken?«, fragte Anni und sah Danny mit ihren großen braunen Augen an.
»Genau, das will ich machen, und dann erzähle ich dir, was ich sehe. In Ordnung?«
»Ja, können wir machen«, antwortete das Mädchen.
»Die Show ist zu Ende, nehmen Sie bitte wieder im Wartezimmer Platz«, bat Sophia die Patienten.
»Ich warte hier, eigentlich war ich ja schon dran«, weigerte sich Gusti, den Empfangsbereich zu verlassen.
»Meinetwegen, dann müssen Sie halt so lange stehen«, sagte Sophia und zuckte die Achseln, während sie einen kurzen Blick mit Lydia tauschte.
»Ich habe alles ausgefüllt, ich warte dann auf Ihren Anruf«, verabschiedete sich Franziska von Lydia, nachdem die kleine Anni mit ihrer Mutter ins Sprechzimmer gegangen war.
»Sie sollten diesen Kerl anzeigen«, riet ihr Lydia, die sie noch zur Tür begleitete, um sie für sie aufzuhalten.
»Aber ich habe doch nichts, womit die Polizei etwas anfangen könnte.«
»Manchmal hilft schon ein winziger Hinweis. Sollten Sie sich zu einer Anzeige entschließen, fragen Sie auf dem Revier nach meiner Mutter Thea Seeger. Für sie ist Fahrerflucht, auch wenn es nur um Sachschaden geht, alles andere als ein Kavaliersdelikt.«
»Falls ich zur Polizei gehe, werde ich mich an Ihre Mutter wenden. Vielen Dank für den Tipp und für die freundliche Aufnahme in Ihrer Praxis. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.« Franziska hatte jetzt nur noch einen Wunsch, nach Hause zu gehen und die Beine hochzulegen. Sie war von der Wahl ihres neuen Arztes restlos überzeugt. Nicht nur wegen der Art, wie er auf ihre Probleme eingegangen war, sie bewunderte auch die Ruhe, die er ausstrahlte, als die kleine Anni seine Hilfe brauchte.
Glücklicherweise hatte sich Anni nicht ernsthaft verletzt. Nachdem Ursel Doldinger sich herzlich bei Danny bedankt hatte, verließen sie und ihre Tochter die Praxis, und Gusti Meier war die nächste Patientin, die sein Sprechzimmer betrat.
»Was kann ich für Sie tun, Frau Meier?«, fragte Danny, als sie auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz genommen hatte.
»Ich muss mich erst einmal von dieser Aufregung um die kleine Anni erholen«, seufzte sie und atmete tief durch. »Und dann die Begegnung mit dieser Lehrerin. Diese Frau tut meiner Gesundheit nicht gut. Es ist halt so, dass manche Leute recht schnell neidisch werden, Herr Doktor, auf alles und jeden, wenn sie selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammen, so wie die gute Frau Kern. Einen kleinen Bauernhof im Allgäu haben die Eltern, der reicht gerade so zum Leben, wissen Sie. Wenn es so jemand dann mit Leuten wie uns, die es zu einem gewissen Wohlstand gebracht haben, zu tun bekommt, dann setzt es halt manchmal aus«, lenkte sie das Gespräch auf Franziska.
»Warum sind Sie denn hier, Frau Meier?«, fragte Danny höflich nach und tat, als hätte er Gustis Vortrag über Franziska nicht gehört. Er hatte absolut keine Lust, sich während der Sprechstunde auf eine Auseinandersetzung mit dieser Frau einzulassen.
»Es ist wieder der Magen, er drückt halt recht oft. Vielleicht ist es ja doch etwas Schlimmes«, seufzte Gusti.
»Wir haben vor zwei Wochen eine Spiegelung gemacht, Frau Meier. Mit Ihrem Magen ist alles in Ordnung«, versicherte er ihr.
»Und warum drückt es dann immer so?«, fragte Gusti und sah ihn herausfordernd an. So als würde sie nur darauf warten, dass er keine Antwort darauf wusste.
»Vielleicht schlucken Sie beim Essen zu viel Luft.« So wie er sie einschätzte, war ihr aufgeregter Redefluss niemals zu bremsen, sicher auch nicht während des Essens.
»Und das heißt?«
»Holen Sie sich diesen Tee aus der Apotheke. Er wird Ihnen helfen«, sagte er und reichte ihr ein Rezept.
»Das ist ein Privatrezept«, wunderte sich Gusti.
»Diesen Tee kann ich leider nur Privatpatienten verschreiben.«
»Kein Problem, ich kann es mir leisten«, antwortete Gusti mit einem zufriedenen Lächeln. »Danke, Herr Doktor.«
»Gern, gute Besserung, Frau Meier«, sagte Danny und atmete erleichtert auf, als sie gegangen war. Dass dieser Tee von keiner Krankenkasse bezahlt wurde, musste sie nicht wissen.
»Sie ist mit Vorsicht zu genießen. Sie nimmt sich jeden vor, der ihr nicht passt«, sagte Lydia, die kurz zu ihm hereinschaute, nachdem Gusti außer Hörweite war.
»Wovon wir uns aber nicht provozieren lassen«, entgegnete Danny.
»Auf keinen Fall, Herr Doktor«, stimmte sie ihm lächelnd zu. »Allerdings finde ich, dass das, was Sie mit Frau Kern macht, bereits an Verleumdung grenzt. Vielleicht bitte ich meine Mutter, der guten Frau Meier mal die Rechtslage klar zu machen.«
»Das könnte eine gute Idee sein«, entgegnete Danny schmunzelnd.
*
Der Unfall vor der Praxis und die Rettung der kleinen Anni waren seit zwei Tagen beliebte Gesprächsthemen im Viertel. Valentina versicherte Danny, dass seine ohnehin schon große Beliebtheit durch dieses Ereignis noch enorm gestiegen war.
»Die Leute reden wirklich nur in den höchsten Tönen von Ihnen«, hatte sie ihm schon mehrfach versichert.
»Sie wissen aber schon, dass ich kein Wunder vollbracht habe. Jeder mit einer medizinischen Ausbildung hätte das tun können«, erinnerte er sie daran, was er ihr bereits erklärt hatte.
»Aber Sie waren es, der das Mädchen gerettet hat, und davon reden die Leute halt im Moment gern, auch im Supermarkt und beim Bäcker. Mir gefällt’s, wenn die Leute Sie mögen«, hatte sie ihm mit einem zufriedenen Lächeln gestanden.
Dass sie recht hatte, was seine Beliebtheit betraf, konnte er daran festmachen, dass schon am Tag nach dem Ereignis noch mehr Patienten als sonst seine Sprechstunde aufsuchten. Er hoffte allerdings, dass sich der Andrang wieder legte, und die Neugierigen, die ihn einfach nur einmal sehen wollten, zu ihren bisherigen Ärzten zurückkehrten. Er wollte es gern vermeiden, irgendwann verkünden zu müssen, dass er keine neuen Patienten mehr aufnehmen konnte, so wie es einige seiner Kollegen schon getan hatten.
Auch Ophelia hatte natürlich von dem Ereignis gehört und Danny verkündet, dass auch sie ihn als ihren neuen Hausarzt ausgewählt hatte. Sie kam jeden Morgen vor der Schule auf einen Sprung vorbei, blieb ein paar Minuten und nahm dann Ortrud mit, die es sich auf der Fensterbank in Dannys Esszimmer gemütlich machte, sobald Valentina morgens die Terrassentür öffnete. Danny war Ophelia dankbar, dass sie inzwischen den Weg durch die Haustür nahm und nicht mehr über seinen Balkon einstieg.
Ophelias Mutter und ihre Großmutter hatte er bisher noch nicht kennengelernt, was ihn aber nicht weiter störte.
Er legte keinen Wert auf eine enge Nachbarschaft. Hin und wieder ein freundlicher Gruß, ein paar unverbindliche Worte über die Hecke hinweg gewechselt erschienen ihm ausreichend. Erst recht bei diesen Nachbarinnen, die vermutlich schon die Bewohner der halben Straße im Vorbeigehen analysiert hatten.
*
Franziska hatte zwei Tage gewartet, bis sie sich dazu durchringen konnte, die Fahrerflucht anzuzeigen. Die Prellung, die sie sich zugezogen hatte, bereitete ihr zwar immer noch Schmerzen, aber die Salbe, die Doktor Norden ihr verschrieben hatte, linderte sie recht gut.
Sie hoffte, dass Lorenz Bergwald sie zum Polizeirevier begleiten würde, um sie als Augenzeuge des Unfalls zu unterstützen. Inzwischen hatte sie seine Visitenkarte schon einige Male in der Hand gehabt und wusste, dass ihm eine Praxis für Physiotherapie ganz in der Nähe gehörte. Als er ihr die Karte nach dem Unfall in die Hand drückte, hatte sie nur seinen Namen wahrgenommen, der fettgedruckt in der Mitte stand.
Es kostete sie allerdings ein bisschen Mut, ihren mitfühlenden Helfer anzurufen. Vermutlich rechnete er gar nicht mehr damit, dass sie sich melden würde. Sie kochte sich erst einmal einen Kaffee und setzte sich auf den Schaukelstuhl, der unter ihrem überdachten Balkon stand.
Um diese Uhrzeit lag der Spielplatz hinter dem Haus noch im Schatten einer mächtigen Kastanie, deren Laub an einigen Ästen bereits gelbe Verfärbungen zeigte, die Vorboten des Herbstes. Bis auf das Gezwitscher der Vögel war es noch ganz still. Erst am Nachmittag, wenn die Kinder aus dem Kindergarten oder der Schule kamen, ging es dort unten lebhaft zu.
Franziska schaute auf die beiden Apfelbäumchen, die in Kübeln auf ihrem Balkon wuchsen. Behutsam pflückte sie einen der duftenden roten Äpfel, roch eine Weile an ihm und aß ihn dann mit Genuss auf. Da sie zur Zeit fast den ganzen Tag zu Hause war, war sie dankbar für dieses kleine Paradies, wie sie ihren Balkon nannte. Um kurz nach zehn war sie endlich mutig genug und rief Lorenz auf seinem Handy an.
»Franziska Kern, guten Morgen, Herr Bergwald«, meldete sie sich, als er das Gespräch entgegennahm. »Sie hatten mir doch Ihre Hilfe angeboten.«
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er freundlich und hörte sich ihr Anliegen an. »Ich bin um die Mittagszeit bei einem Patienten in der Nähe des Polizeireviers. Wir könnten uns um halb eins vor dem Revier treffen«, schlug er schließlich vor.
»Sehr gern, Herr Bergwald, bis nachher«, sagte sie, bedankte sich bei ihm und beendete das Gespräch. Er hat nicht eine Sekunde gezögert, mich zu begleiten, dachte sie. Das bedeutete, sein Angebot, ihr zu helfen, war ernst gemeint.
*
In der Praxis Norden gab es an diesem Morgen keine besonderen Vorfälle. Es war ein ganz normaler Vormittag. Sophia hatte gegen zehn kurz gelüftet, so wie sie es an jedem Morgen tat, eine klare frische Luft zog durch die Räume. Die Sonne fiel durch die beiden Fenster des Wartezimmers, und das Licht fand seinen Weg durch die gläserne Wand in den Empfangsbereich.
Die Patienten im Wartezimmer blätterten in Zeitschriften, lasen in einem Buch oder unterhielten sich miteinander, wobei sie sich leicht zueinander hinbeugten, um die anderen nicht zu stören. Irgendwo weiter hinten am Ende des Ganges fiel eine Tür leise ins Schloss. Lydia Seeger, die hinter dem weißen Tresen saß und auf den Bildschirm ihres Computers schaute, hatte an diesem Morgen jede Patientin und jeden Patienten gefragt, ob sie oder er den Unfall, in den Franziska Kern verwickelt war, beobachtet hatte, aber niemand konnte ihr etwas dazu sagen.
Da einige Patienten nur ein paar Häuser entfernt wohnten und sonst über alles Bescheid wussten, was in der Nachbarschaft passierte, ging sie inzwischen davon aus, dass Franziska wohl leider auf den Zufall hoffen musste. Sollte der Fahrer dieses Wagens in der Nähe wohnen, würde aber früher oder später jemand auf ihn aufmerksam werden.
»Frau Weinfeld, bitte!«, rief Sophia die nächste Patientin auf, nachdem sie aus dem Raum mit dem Ultraschallgerät kam, das sie für die Untersuchung vorbereitet hatte.
»Bin schon da.« Frau Weinfeld, Ende fünfzig, ein wenig übergewichtig, kam lächelnd aus dem Wartezimmer und folgte Sophia. Nachdem sie sich auf die Liege gelegt hatte, schaute sie ein bisschen verängstigt auf den Monitor des Ultraschallgerätes, so als fürchtete sie sich vor dem, was gleich darauf zu sehen sein würde.
»Nicht schon vorher aufregen, wir sehen erst einmal nach, was Ihre Schmerzen verursacht. Vermutlich ist alles nur halb so schlimm«, beruhigte Danny Frau Weinfeld, der kurz darauf den Raum betrat und sich auf den Stuhl neben die Liege setzte.
»Aber die Schmerzen waren gestern Abend schon recht heftig«, entgegnete seine Patientin.
»Gleich werden wir mehr wissen«, versicherte ihr Danny und schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln.
Wie sich herausstellte, waren Gallensteine die Ursache für Frau Weinfelds Schmerzen. Noch waren sie aber klein genug, um sie mit einem minimalen Eingriff loszuwerden.
»Ich überweise Sie in die Klinik. Die Ärzte dort werden die Steine mit Hilfe eines Endoskops entfernen«, erklärte Danny ihr, was als nächstes passieren würde.
»Wie lange muss ich im Krankenhaus bleiben?«
»Zwei bis drei Tage.«
»Dann werde ich es so schnell wie möglich hinter mich bringen. Vielen Dank, Dr. Norden«, sagte Frau Weinfeld, während sie sich das Gel, das Danny für die Untersuchung mit dem Ultraschallkopf auf ihren Bauch aufgetragen hatte, mit Papiertüchern abwischte. »Übrigens, mir ist da noch etwas eingefallen, was diesen Unfall von Frau Kern betrifft«, sagte sie, als sie kurz darauf wieder angezogen von der Liege aufstand.
»Das wäre?«, fragte Danny.
»Es soll doch ein schwarzer Sportwagen gewesen sein. So ein Auto ist am Tag vor dem Unfall im Schritttempo durch diese Straße gefahren, so als würde der Fahrer nach einem bestimmten Haus suchen. Ich hatte gerade auf meinem Balkon die Blumen gegossen, als er hier vorbeikam«, gab Frau Weinfeld wieder, was sie beobachtet hatte.
»Konnten Sie das Nummernschild erkennen?«, fragte Danny.
»Nein, tut mir leid, vielleicht war es aber auch gar nicht der Wagen, der Frau Kern angefahren hat. Ich kenne mich mit diesen Automarken nicht gut aus«, gab sie zu.
»Trotzdem vielen Dank.«
»Sehr gern«, sagte Frau Weinfeld.
Danny begleitete sie noch zum Tresen und bat Lydia, ihr eine Überweisung in die Klinik auszustellen. Er erzählte ihr auch von Frau Weinfelds Beobachtung, und Lydia forderte sie freundlich auf, ihre Nachbarn zu fragen, ob noch jemand den Wagen gesehen hatte.
»Ich werde mich umhören«, versprach Frau Weinfeld, verabschiedete sich von Danny und Lydia und verließ die Praxis.
»Ich befürchte, je häufiger wir nach einem schwarzen Sportwagen fragen, umso mehr Leute werden sich irgendwann erinnern, so ein Auto gesehen zu haben, auch wenn es gar nicht wahr ist«, stellte Lydia mit einem tiefen Seufzer fest.
»Das ist das Problem mit Zeugenaussagen, sie sind selten objektiv. Aber der Tochter einer Polizistin muss ich das nicht erklären«, entgegnete er lächelnd.
»So ist es, Herr Doktor«, sagte Lydia und erwiderte sein Lächeln.
*
Franziska war in der Drogerie gewesen und hatte sich Ingwertee mit Kurkuma geholt, weil es hieß, dass diese Mischung die Bekämpfung von Entzündungen unterstützte, und das konnte, nach dem, was sie hinter sich hatte, nur von Vorteil für sie sein. Sie setzte sich auf den Rand des Brunnens in der Fußgängerzone und beobachtete das quirlige Treiben der Passanten, wie sie mit Tüten bepackt von einem Geschäft zum nächsten eilten und denen auswichen, die gemütlich von Schaufenster zu Schaufenster bummelten. Ein paar Kinder, die nach der vierten Stunde frei hatten und sich ein Eis in der Fußgängerzone kauften, wollten von ihr wissen, wann sie wieder in die Schule kommen würde.
»Ich hoffe, bald«, sagte sie. Es tat ihr gut, als die Kinder ihr versicherten, dass sie sich darauf freuten, weil der Unterrichtung des älteren Lehrers, der sie vertrat, schrecklich langweilig sei.
Nachdem die Kinder gegangen waren, lief sie auf ihre Krücken gestützt zur Bushaltestelle am Ende der Fußgängerzone. Dort konnte sie in den Bus steigen, der direkt vor dem Polizeirevier anhielt. Als sie ein paar Minuten später im Bus saß und auf die Straßen mit ihren gepflegten Häusern und Gärten schaute, wurde ihr bewusst, wie wohl sie sich hier fühlte. Sie mochte ihre Wohnung, und sie mochte ihre Kollegen und Kolleginnen in der Schule, und sie hoffte, dass sie bald wieder unterrichten konnte.
Dass ihr Knie vielleicht auf Dauer in seiner Bewegung eingeschränkt sein würde, darüber wollte sie nicht nachdenken. Es hätte bedeutet, dass sie nie wieder als Sportlehrerin arbeiten konnte, und das würde ihr wehtun. Sie liebte den Sportunterricht, weil sie den Kindern in diesen Stunden den Spaß an der Bewegung vermitteln konnte. Marius, Gusti Meiers Enkel, allerdings hatte an gar nichts Spaß, verweigerte sich trotzig jedem Vorschlag und erklärte, dass er schließlich ins Fitnessstudio ging und diesen ›Babykram‹ in der Schule nicht nötig hätte.
Lorenz wartete schon vor dem Polizeirevier, einem zweistöckigen Neubau, vor dem mehrere Streifenwagen parkten, als sie eine Viertelstunde später dort ausstieg. Der junge Mann in der hellen Jeans und dem dunkelgrauen Pullover wirkte auf sie wieder genauso sympathisch wie bei ihrer ersten Begegnung. Unwillkürlich schaute sie an sich herunter, sah auf die hellblauen Stiefeletten, die sie zu ihrer schwarzen Leinenhose und dem hellblauen langärmeligen T-Shirt trug.
Was soll das denn werden? Denke ich etwa daran, ihm zu gefallen?, wunderte sie sich über sich selbst. Von ihrem letzten festen Freund hatte sie sich vor zwei Jahren getrennt, als sie ihn mit ihrer besten Freundin im Bett erwischte. Und jetzt war ganz sicher nicht der richtige Zeitpunkt für eine neue Beziehung. Eine Frau, die auf Krücken herumhumpelte, konnte doch nur Mitleid erwarten. »Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte sie, als Lorenz auf sie zukam.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte er und fing ihren Blick auf.
»Besser. Ich habe mir durch den Unfall eine Hüftprellung zugezogen, aber die Salbe, die Doktor Norden mir verschrieben hat, hilft mir, die Schmerzen auszuhalten«, erzählte sie ihm, wie sie sich im Moment fühlte.
»Ihr Knie hat nichts abbekommen?«
»Ich hoffe nicht, bisher hat es mir keine extra Schmerzen beschert.«
»Ich hoffe wirklich, dass sie diesen Kerl erwischen. Ich will mir gar nicht vorstellen, was passiert, wenn solche Leute nachts auf der Landstraße einen Menschen überfahren.«
»Deshalb sind wir hier, damit die Polizei ihn für eine Weile aus dem Verkehr zieht. Falls sie ihn findet«, sagte Franziska.
»Was nicht leicht werden wird, ich weiß«, antwortete Lorenz und hielt ihr die Tür zum Polizeirevier auf.
Hinter einem langen Tresen standen zwei Polizistinnen und ein Polizist in Uniform. Sie bemühten sich, eine Gruppe Jugendlicher zu beruhigen, die ihnen etwas mitteilen wollten, dabei wild gestikulierten und sich mit lauten Zwischenrufen ständig gegenseitig unterbrachen.
Zwei andere Polizisten in Uniform brachten einen Mann in Handschellen durch den Hintereingang herein. Er war an beiden Armen tätowiert und grölte etwas von »Verwechslung und Amtsmissbrauch« während er begleitet von den beiden Beamten den Raum durchquerte.
»Mir wird gerade klar, dass ich bisher noch nie auf einem Polizeirevier war«, sagte Franziska.
»Nein, sicher nicht«, entgegnete Lorenz lächelnd. »Warten Sie, ich werde mich informieren, an wen wir uns in Ihrem Fall wenden müssen.«
»Fragen Sie nach Thea Seeger. Ihre Tochter ist eine der Sprechstundenhilfen in der Praxis Norden. Sie hat mir Ihre Mutter empfohlen.«
»Alles klar, ich bin gleich wieder bei Ihnen«, sagte er und ging zum Tresen. Nachdem er mit der Polizistin gesprochen hatte, kam er zurück. »Frau Seeger ist im Haus. Wir sollen hier auf sie warten«, teilte er ihr mit.
Es dauerte auch nicht lange, bis Thea Seeger, eine gutaussehende Frau Anfang fünfzig im dunklen Hosenanzug und mit hochgestecktem Haar, die breite Steintreppe herunterkam. Sie ging, ohne zu zögern, auf Franziska zu und stellte sich ihr und Lorenz vor. »Meine Kollegin sagte mir, dass Sie an Krücken gehen, deshalb habe ich uns ein Zimmer hier unten reserviert. Unser Aufzug streikt mal wieder«, entschuldigte sie sich und bat die beiden, ihr zu folgen.
Das Büro, in das Thea sie führte, lag neben dem Treppenaufgang. Es war klein und stickig, die Regale waren mit Aktenordnern vollgestopft, und auf dem Schreibtisch lag ein Stapel Akten neben dem Computermonitor. Nachdem Thea das Fenster geöffnet hatte und frische Luft hereinströmte, bat sie Franziska und Lorenz auf den beiden Stühlen vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen.
»Obwohl auch wir bereits das digitale Zeitalter erreicht haben, sind bisher immer noch die ausgedruckten Akten rechtsverbindlich, was sich allerdings in den nächsten Jahren ändern wird. Bis dahin müssen wir mit diesem Papierwust leben«, seufzte Thea.
Sie setzte sich hinter den Schreibtisch, schob die Akten zur Seite und schaltete den Computer ein. »Es geht also um eine Fahrerflucht. Schildern Sie mir doch bitte den Hergang. Zuerst Sie als Betroffene«, wandte sie sich zuerst Franziska zu. Nachdem Franziska ihre Aussage gemacht hatte, wollte Thea von Lorenz wissen, wie sich der Unfall aus seiner Sicht abgespielt hatte. »Das heißt, Sie gehen beide davon aus, dass am Steuer dieses Sportwagens ein Mann saß, können diesen Mann aber nicht beschreiben und haben auch das Nummernschild nicht gesehen«, fasste sie am Ende zusammen, was sie gehört hatte.
»Damit lässt sich nicht viel anfangen, ich weiß«, sagte Franziska.
»Bedauerlicherweise nicht. Ich könnte zwar eine Halterabfrage auf der Grundlage des Sportwagenmodells machen, aber da ich weiß, dass gerade von diesem Modell im Raum München einige hundert Fahrzeuge in Schwarz herumfahren, wird das eine langwierige Angelegenheit. Außerdem ist nicht gesagt, dass dieser Wagen überhaupt in der Stadt angemeldet wurde.«
»Dann sollte ich diesen Vorfall wohl einfach vergessen«, stellte Franziska entmutigt fest.
»Nein, das sollten Sie nicht. Ich werde die Anzeige nicht gleich zu den Akten legen, sondern meine Kollegen vom Streifendienst bitten, auf diese Sportwagenmodelle zu achten. Sollte ihnen jemand mit einem verdächtigen Fahrstil auffallen, könnten sie ihn sich näher ansehen.«
»Was könnten Sie tun, wenn ich ernsthaft verletzt wäre oder den Unfall nicht überlebt hätte?«, wollte Franziska wissen.
»Nicht viel mehr. Die Befragung der Anwohner, die uns noch zur Verfügung stünde, hat ja bereits meine Tochter übernommen.«
»Das wusste ich gar nicht«, entgegnete Franziska verwundert.
»Bisher ist auch noch nichts Brauchbares dabei herausgekommen. Tut mir wirklich leid. Aber wie gesagt, ich werde Ihre Anzeige nicht einfach so unter den Tisch fallen lassen«, versicherte ihr Thea.
»Ich danke Ihnen«, sagte Franziska, und sie und Lorenz verabschiedeten sich von Thea.
»Ich habe noch ein bisschen Zeit und könnte einen Kaffee vertragen. Würden Sie mich begleiten?«, fragte Lorenz, nachdem sie das Polizeirevier verlassen hatten.
»Sie wollen sich mit einer Heulsuse wie mir in der Öffentlichkeit zeigen?«, entgegnete Franziska, weil sie nicht sicher war, ob er es wirklich ernst meinte oder nur höflich sein wollte.
»Mein Auto steht dort drüben, gehen wir«, sagte er lächelnd, ohne auf ihren Einwand einzugehen.
*
Bald darauf saßen sie in einem kleinen Café mit Blick auf die Isar. Die runden Tische, die Korbstühle mit ihren blauen Samtkissen und der hausgemachte duftende Apfelkuchen sorgten für eine gemütliche Atmosphäre.
»Sobald ich die Krücken los bin, werde ich an einer dieser Floßfahrten teilnehmen.« Franziska schaute dem breiten Floß nach, das mit gut gelaunten Touristen besetzt auf dem Wasser vorbeizog.
»Verraten Sie mir, wie Sie zu diesen Krücken gekommen sind?«, fragte Lorenz und trank einen Schluck von dem Cappuccino, den sie sich beide bestellt hatten.
»Das ist eine längere Geschichte.«
»Ich möchte sie gern hören.«
»Also gut, alles begann mit leichten Knieschmerzen, die ich eine Weile ignoriert habe«, sagte sie und erzählte ihm von ihren Arztbesuchen, der Operation und den Komplikationen danach.
»Oft sind Muskelverspannungen die Ursache der Knieschmerzen. Wurde das bei Ihnen im Vorfeld abgeklärt?«, wollte Lorenz wissen, nachdem er Franziskas Leidensgeschichte gehört hatte.
»Die Ärzte, die ich aufgesucht habe, sprachen immer nur von Abnutzung oder Verschleiß.«
»So ist es meistens, leider. Gehen Sie schon zur Krankengymnastik?«
»Nein, aber ich habe es vor. Könnte ich denn zu Ihnen kommen? Nehmen Sie noch neue Patienten?«, fragte sie ihn, weil sie diese Gelegenheit einfach nutzen wollte. Sie hatte von Bekannten gehört, dass es inzwischen in dieser Gegend auch schon schwierig war, einen Termin bei einem Physiotherapeuten zu bekommen.
»Ja, sicher, gern«, sagte Lorenz.
»Bieten Sie auch Akupunktur an? Ich habe gelesen, dass die Nadeln die Heilung des Knies unterstützen.«
»Nach meinem Abschluss als Physiotherapeut habe ich ein halbes Jahr in Chengdu gelebt, um mich in Akupunktur ausbilden zu lassen. Seitdem besuche ich regelmäßig Fortbildungen.«
»Dann glauben Sie an die heilende Wirkung der Nadeln?«
»Die Punkte, die mit den Nadeln stimuliert werden, das körpereigene Immunsystem und das Vertrauen in die Therapie, dieses Zusammenspiel mehrerer Faktoren zeigt eine erstaunliche Wirkung.«
»Ich würde das mit den Nadeln gern versuchen.«
»Wie wäre es mit morgen Vormittag um zehn?«
»Morgen ist Samstag.«
»Ich weiß«, entgegnete er lächelnd.
»Wenn das Ihr Ernst ist, dann werde ich kommen.«
»Es ist mein Ernst«, sagte er und hielt ihren Blick fest.
»Chengdu ist doch die Stadt ungefähr in der Mitte von China, die auch für ihre Panda-Aufzuchtstation bekannt ist, richtig?«, sprach sie schnell weiter, weil sein Lächeln ihren Herzschlag beschleunigte und sie es ihn nicht merken lassen wollte.
»Mögen Sie Pandas?«
»Ich finde sie total süß«, gestand sie ihm, und dann hörte sie ihm gespannt zu, als er von seinen Besuchen der Panda-Station erzählte. Je länger sie ihm zuhörte, umso entspannter fühlte sie sich. Sie zuckte auch nicht mehr zusammen, sobald er sie ansah, alles war auf einmal ganz leicht, so leicht, dass sie sogar die Schmerzen in ihrem Knie kaum noch spürte.
Als er sie zwei Stunden später nach Hause fuhr und sie noch zur Tür begleitete, kam es ihr vor, als würden sie sich schon lange kennen. Sie freute sich schon sehr darauf, ihn am nächsten Tag wiederzusehen.
*
Lorenz’ Praxis war in einem Haus am Waldrand untergebracht. Als Franziska aus dem Taxi stieg, das sie sich an diesem Morgen geleistet hatte, fuhr gerade eine Gruppe Radfahrer mit bunten Helmen auf den Köpfen durch die Straße und bog in den Wald ein, einem beliebten Freizeitgebiet der Gegend.
Lorenz erwartete sie in der geöffneten Haustür. Das Tor zum Vorgarten stand offen, und sie musste nur ein paar Meter auf ihren Krücken überwinden, dann war sie bei ihm. Er begrüßte sie mit einem herzlichen Lächeln und bat sie ins Haus.
Wie sie gleich sah, war das Erdgeschoss des Einfamilienhauses für die Praxis reserviert. Die große Diele war in einen Empfangsbereich mit Tresen und einen Wartebereich mit vier grünen Sesseln und einem runden Tisch eingeteilt. Mehrere Türen mit Ziffern und eine Tür mit der Aufschrift ›Privat‹ gingen von der Diele ab.
»Dahinter verbirgt sich die Treppe zu meiner Wohnung«, sagte Lorenz, als sie ein wenig länger auf diese Tür schaute als zuvor auf die anderen.
»Dann hoffe ich, dass Ihre Familie sich nicht gestört fühlt, wenn Sie auch noch samstags arbeiten.« Das war jetzt echt plump, dachte Franziska. Sie konnte ihm ansehen, dass er den Zweck dieser Feststellung sofort durchschaute. Sie hätte ihn auch gleich direkt fragen können, ob er verheiratet wäre. Egal, passiert war passiert, wenigstens würde sie nun gleich eine Antwort auf diese Frage bekommen, die sie quälte, seitdem sie mitten in der Nacht aufgewacht war, weil sie von Lorenz geträumt hatte und ihr klar wurde, wie sehr ihr dieser Mann bereits gefiel.
»In einer Praxis wie dieser geht es meistens ruhig zu, da fühlt sich niemand gestört. Dort hinein, bitte«, sagte er und hielt die Tür mit der Nummer 2 auf.
Er reagiert nicht auf meine Frage, das bedeutet, sie ist ihm unangenehm, dachte Franziska, als sie den Raum mit dem hellgrauen Linoleumboden betraten.
»Machen Sie bitte Ihr Knie frei und legen Sie sich auf die Liege«, bat er sie.
Sie war froh, dass sie für diesen Besuch ihr knöchellanges rotes Kleid mit dem zartgelben Margaritenmuster ausgewählt hatte. So musste sie nur den Rock des Kleides hochziehen, nachdem sie sich auf die Liege gelegt hatte, die in der Mitte des Raumes stand.
»Haben Sie Angst vor Nadeln?«, fragte er sie, als er das Kästchen mit den Akupunktur Nadeln auf einem Brett abstellte, das an der Liege befestigt war.
»Nein, ich habe keine Angst«, versicherte sie ihm.
»Und auf mich wartet keine Familie, die sich gestört fühlen könnte«, antwortete er und streifte sie mit seinem Blick.
Da hatte sie ihre Antwort, und diese Antwort gefiel ihr.
Lorenz beherrschte den Umgang mit den Nadeln perfekt, wie Franziska schnell klar wurde. Sie spürte so gut wie nichts von der Behandlung. Fasziniert schaute sie auf ihr mit Nadeln gespicktes Knie, während er ihr von speziellen Dehnübungen und möglichen Kälte- und Wärmetherapien erzählte, die ihr helfen könnten.
»Und welche Therapie würden Sie mir empfehlen?«, wollte sie von ihm wissen.
»Bevor ich eine Empfehlung ausspreche, muss ich mehr über Ihre Operation wissen.«
»Dann werde ich Doktor Norden bitten, Sie darüber zu informieren.«
»Das würde mir sehr helfen. Ich finde es übrigens schön, dass Sie sich entschieden haben, zu mir zu kommen.«
»Ich denke, ich bin bei Ihnen gut aufgehoben.«
»Das sind Sie, Frau Kern«, sagte er, während er die Nadeln behutsam wieder aus ihrem Knie zog.
»Passiert da gerade etwas zwischen uns?«, sagte sie leise, als sich ihre Blicke trafen und sie sich einen Moment lang einfach nur ansahen.
»Wir könnten es herausfinden. Wie wäre es mit einem Picknick am Waldsee?«
»Wann?«
»Gleich jetzt. Bis zum See sind es etwa zehn Minuten zu Fuß.«
»Für mich sind es wohl eher zwanzig Minuten.«
»Wir können unterwegs eine Pause einlegen.«
»Wenn das so ist, dann könnte ich es wagen. Was nehmen wir mit? Können wir in der Nähe noch etwas einkaufen?«
»Die Tasche ist schon gepackt.«
»Das heißt, Sie waren sicher, dass ich einverstanden sein würde.«
»Nein, das nicht, aber ich habe es gehofft. Das war es«, sagte er, als er die letzte Nadel aus ihrem Knie herauszog. »Wie fühlt es sich an?«
»Irgendwie leichter. Der Druck ist nicht mehr so stark.« Noch wusste sie nicht, ob dieser Effekt anhalten würde oder ob er allein diesem Gespräch mit Lorenz geschuldet war, diesen Glückshormonen, die der Körper verstärkt produziert, sobald sich Menschen verlieben.
Bin ich denn schon in ihn verliebt?, wunderte sie sich. Ja, ganz offensichtlich ist es so, dachte sie, als Lorenz sie an den Händen fasste, um ihr von der Liege herunterzuhelfen. Eine wohlige Wärme durchströmte ihren Körper, und sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie es erst sein musste, in seinen Armen zu liegen.
Ein paar Minuten später verließen sie mit der Kühltasche, die Lorenz für sie gepackt hatte, das Haus. Franziska war inzwischen geübt darin, was das Laufen an Krücken betraf, und sie schaffte den Weg zum Waldsee ohne Pause.
*
Das silberblaue Wasser mit seinen begrünten Ufern war von alten Laubbäumen und dichten Sträuchern umrahmt. Ein paar Felsen ragten aus dem See heraus und wurden an heißen Tagen als Sonneninseln genutzt. Franziska und Lorenz waren nicht die einzigen, die an diesem Spätsommertag zu einem Picknick an den See gekommen waren.
Der Abenteuerspielplatz an der breitesten Stelle des Ufers hatte auch Familien mit Kindern angelockt. Sie teilten sich den Platz auf dem Rasen mit Liebespaaren, Spaziergängern und Wanderern.
»Was hältst du davon, wenn wir uns dort hinsetzen? Verzeihung, ich meine, was halten Sie davon?«, verbesserte sich Lorenz, nachdem ihm das ›du‹ einfach herausgerutscht war.
»Nein, das ist in Ordnung. Du hast mich nach diesem Zusammenprall mit dem Auto des Unbekannten gerettet, wir waren gemeinsam in einem Verhörzimmer, ich habe mir Nadeln von dir ins Knie stechen lassen, und ich bin neben dir durch den Wald gehumpelt. Ich denke, das sind ausreichende Gründe, sich zu duzen.«
»Unbedingt«, entgegnete Lorenz mit einem charmanten Lächeln. Er führte sie zu dem Stamm einer gefällten Lerche, der um diese Zeit noch im Schatten lag und von den Sonnenhungrigen gemieden wurde. Er breitete die Decke, die er in seinen Rucksack gepackt hatte, auf dem Stamm aus und stellte die Kühltasche neben den Stumpf einer Eiche, der wie ein runder Tisch vor ihnen aus dem Boden ragte.
»Gute Wahl«, lobte Franziska seine Entscheidung, nachdem sie sich gesetzt hatten und sie feststellte, dass sie zwar ein bisschen abseits von den anderen saßen, aber dafür den ganzen See im Blick hatten.
»Das ist mein Lieblingsplatz. Ich komme oft frühmorgens oder spät am Abend hierher, wenn noch niemand hier ist oder alle schon wieder gegangen sind. Auch im Winter, wenn die Luft vor Kälte flirrt, dann ist es hier so leise, dass es sich anfühlt, als könnte ich die Stille einatmen. Es ist ein wunderbarer Ort, um den Kopf freizubekommen, um Platz für frische Gedanken zu schaffen.«
»Ich wünschte, ich könnte auch für eine Weile loslassen, aber es gelingt mir im Moment nur schwer. Die missglückte Operation, die Angst, dass ich eine Behinderung zurückbehalte und nie wieder als Sportlehrerin arbeiten kann, die Anfeindungen von Gusti Meier, das macht mir große Sorgen«, gestand sie ihm ein, was sie quälte.
»Schau an den Himmel«, forderte Lorenz sie mit sanfter Stimme auf.
Franziska stützte sich mit den Händen auf dem Baumstamm ab, lehnte sich ein Stück zurück und sah den zarten Schäfchenwolken nach, die über den blauen Himmel zogen.
»Lass deine Gedanken mit den Wolken fortziehen, die angenehmen und die unangenehmen, lass sie einfach los. Genieße nur das Jetzt, fühl dich als ein Teil der Natur, du gehörst zu ihr, sie beschützt dich.«
Danke, dachte Franziska, weil er es mit diesen wenigen Worten fertiggebracht hatte, ihre innere Anspannung zu lösen. Sie tat genau das, was er gesagt hatte, ließ jeden Gedanken, der in ihr aufkam, gleich wieder ziehen. Sie genoss die Wärme der Sonne, die allmählich hinter einer Baumreihe hervorkam und sie mit ihrem Licht einhüllte. Manchmal war es ganz leicht, Glück zu empfinden.
Lorenz dagegen schaute nicht an den Himmel, er betrachtete Franziska, fragte sich, wie er ihr helfen konnte. Sie hatte ihm gleich gefallen, als er ihr nach dem Unfall vor der Praxis Norden aufgeholfen hatte. Sie hatte ihn gefragt, ob gerade etwas zwischen ihnen passierte, und für ihn gab es darauf nur eine Antwort – ein klares Ja. »Hunger?«, fragte er sie, als sie sich ihm nach einer Weile mit einem zufriedenen Lächeln zuwandte.
»Ja, schon«, sagte sie.
Ein paar Minuten später lag ein weißes Tischtuch auf dem Baumstamm vor ihnen, darauf standen ein Teller mit in Dreiecke geschnittenen Sandwiches und eine Schale mit Tomatensalat. Auch an ein Dessert hatte Lorenz gedacht. Er hatte Himbeeren mit Vanillesoße in zwei Gläser gefüllt.
»Dieser Ausflug war eine wunderbare Idee von dir«, sagte Franziska und nahm sich eine Sandwichecke, die mit Camembert und Salat belegt war.
Sie blieben bis zum frühen Nachmittag am See, sprachen über das Leben und die Träume, die sie beide hatten. Überrascht stellten sie fest, dass ihre Vorstellungen von der Zukunft in vielem übereinstimmten. Beide empfanden ihren Beruf nicht nur als Arbeit, sondern als Berufung, und sie träumten beide davon, irgendwann eine Familie mit Kindern zu haben. Sie verstanden sich so gut und hatten sich so viel zu erzählen, dass sie es nicht fertigbrachten, sich voneinander zu trennen, als sie nach ihrem Picknick wieder zu Lorenz’ Haus zurückgingen.
»Wir könnten ins Kino gehen. In die Nachmittagsvorstellung«, schlug Lorenz vor.
»Aber ich müsste in der ersten Reihe sitzen«, erinnerte Franziska ihn an ihre momentane Behinderung.
»Das bekommen wir hin«, sagte er und betrachtete sie mit einem liebevollen Blick. Er holte sein Auto, einen dunkelblauen Kombi, dessen Kofferraum genügend Platz für die klappbare Massageliege bot, aus der Garage und schob den Beifahrersitz ganz nach hinten, um es Franziska möglichst bequem zu machen.
Ich muss aufpassen, dass ihm das mit mir nicht zu viel wird, dachte sie, als Lorenz sich neben sie setzte, nachdem er ihr beim Einsteigen geholfen hatte. Wenn er sich schon aus beruflichen Gründen um Menschen kümmern musste, die in ihrer Bewegung eingeschränkt waren, dann sollte er sich in seiner Freizeit nicht auch noch auf diese Weise belasten.
*
Lorenz überließ Franziska die Wahl des Filmes, als sie das Kinocenter in der Nähe des Stachus betraten. Sie entschied sich für den ersten Teil der Star-Wars-Reihe, der in einem der kleineren Kinos gezeigt wurde.
»Ich mag die alten Filme auch lieber als die neuen, abgesehen von wenigen Ausnahmen«, sagte Lorenz, als sie den Kinosaal mit den blauen Sitzen und den blauen Wänden betraten.
»Ich besitze eine große Sammlung DVDs mit alten Filmen«, verriet ihm Franziska. »Ich könnte dich irgendwann zu einem Filmabend einladen.«
»Mit Pizza und Limonade?«
»Auf jeden Fall«, sagte sie und nahm eine Handvoll von dem Popcorn aus dem großen Becher, den Lorenz für sie beide gekauft hatte.
Nach dem Kino aßen sie in einem französischen Restaurant mit weiß eingedeckten Tischen und Kerzenlicht mit Blick auf den Stachus zu Abend und schauten auf den von Scheinwerfern beleuchteten Brunnen mit seinen mächtigen Fontänen.
»Nur die wenigsten Touristen wissen, dass der Stachus eigentlich Karlsplatz heißt«, sagte sie, als sie eine Reisegruppe beobachtete, die vor dem Brunnen stehenblieb und mit ihren Fotoapparaten und Handys den Platz und die umliegenden Häuser fotografierte.
»Interessant, und warum nennt der Münchner diesen Platz dann Stachus?«, wollte ein Mann im Businessanzug wissen, der am Tisch neben ihnen mit einer jungen Frau saß und Franziska offensichtlich zugehört hatte.
»Er nennt ihn Stachus, weil die Münchner den Pfälzer Kurfürsten Karl Theodor, nach dem dieser Platz 1797 benannt wurde, nicht mochten. Sie zogen es vor, ihn umzutaufen auf den Namen einer Gastwirtschaft, die es hier im 18. Jahrhundert gab«, klärte Lorenz den Mann auf.
»Das wusste ich nicht, danke«, sagte der Mann und wandte sich wieder seiner Begleitung zu.
»Ich habe in der Schule gut aufgepasst«, raunte Lorenz Franziska zu, als sie ihn erstaunt ansah.
»Daran zweifle ich nicht«, entgegnete sie und genoss den heißen Schauer, der ihr über den Rücken lief, als Lorenz ihr in die Augen schaute.
»Wollen wir morgen wieder etwas unternehmen?«, fragte Lorenz, als sie sich spät am Abend vor ihrer Haustür verabschiedeten und Franziska es lange nicht fertigbrachte, endlich die Tür aufzuschließen, weil das bedeutete, sich von Lorenz trennen zu müssen.
»Aber du solltest keinen Sonntagsspaziergang einplanen. Das wäre mir ein bisschen zu anstrengend.«
»Wir könnten in ein Café gehen und Spaziergänger beobachten.«
»Einverstanden, das machen wir.«
»Morgen Vormittag muss ich noch einige Büroarbeiten erledigen. Wenn es dir recht ist, hole ich dich um zwei Uhr ab.«
»Ich freue mich darauf.«
»Dann bis morgen«, sagte er und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor er ihr die Tür aufhielt.
»Bis morgen, Lorenz«, entgegnete sie und ging ins Haus. Ich vermisse ihn jetzt schon, dachte sie, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.
*
Wie jeden Sonntagvormittag telefonierte Franziska per Videokonferenz mit ihren Eltern. Um sie nicht aufzuregen, verschwieg sie ihnen, was ihr passiert war. Stattdessen verkündete sie positive Nachrichten. Sie erzählte ihnen von dem neuen Arzt, auf den sie große Hoffnungen setzte, und dass sie endlich einen Physiotherapeuten gefunden hatte, der sich auch mit Akupunktur auskannte. Dabei musste sie sich nicht einmal verstellen, um gute Laune zu verbreiten.
Der wundervolle Tag mit Lorenz hatte ihr gutgetan. Sie fühlte sich voller Tatendrang und sie war zuversichtlich, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Am Ende des Telefonats versprach sie ihren Eltern, dass sie sie bald wieder besuchen würde, und das Lächeln der beiden zeigte ihr, dass sie sie mit einem guten Gefühl zurückließ.
Nach dem Gespräch mit den Eltern setzte sie sich auf den Balkon und fragte sich, wie weit das mit ihr und Lorenz wohl gehen würde. Sie war immer noch nicht sicher, ob es nicht doch der Mitleidseffekt war, der sie für ihn interessant machte, und dass er sein Interesse an ihr verlor, sobald sie nicht mehr so hilflos und schutzbedürftig erschien, wie es zur Zeit der Fall war.
»Ich denke zu viel nach«, murmelte sie und schaute an den Himmel.
Lass deine Gedanken mit den Wolken fortziehen, die angenehmen und die unangenehmen, hörte sie Lorenz wieder sagen, und obwohl er nicht bei ihr war, beruhigte sie allein die Erinnerung an seine Worte.
Um zwölf aß sie noch eine Kleinigkeit zu Mittag, danach zog sie sich für ihr Treffen mit Lorenz um. Sie entschied sich für eine gelbe Jeans, eine weiße Bluse und bequeme weiße Turnschuhe. Als sie um kurz vor zwei das Haus verließ, um Lorenz nicht warten zu lassen, stieg er gerade aus seinem Auto. Er begrüßte sie mit einer Umarmung, und als er sie wieder losließ, versank sie für einen Moment in seinen Augen, so als wäre da nur dieses tiefe Blau, das sie magisch anzog.
»Wir könnten in das Café in der Fußgängerzone gehen«, schlug er vor.
»Gute Wahl, um Spaziergänger zu beobachten«, stimmte sie seinem Vorschlag gleich zu. »Außerdem ist es nicht so weit, den Weg schaffe ich auch zu Fuß mit den Krücken, dann habe ich wenigstens einen kleinen Spaziergang gemacht.«
»Und kannst dich mit einem Stück Kuchen belohnen«, sagte er lächelnd.
»Genauso ist es«, antwortete sie und erwiderte sein Lächeln.
So wie jeden Sonntag war in der Fußgängerzone einiges los. Familien mit kleinen Kindern, Großeltern und kläffenden Hunden, junge Paare, Senioren und sogar einige Touristen, die sonst in der Innenstadt unterwegs waren, flanierten durch die Straßen.
Franziska und Lorenz hatten Glück. Als sie das Café erreichten, wurde gerade einer der runden Tische frei, die unter dem Laubdach einer Linde standen. Von dort konnten sie fast die gesamte Fußgängerzone überblicken. Sie bestellten ein Kännchen Kaffee und Zwetschgenkuchen mit Sahne, sahen den Spaziergängern nach und grüßten die Leute, die ihnen zuwinkten. Durch die Schule kannte Franziska inzwischen viele Einwohner dieses Stadtteils, zumindest vom Sehen, und Lorenz, der in diesem Stadtteil aufgewachsen war, kam nicht nur durch seine Praxis und die Hausbesuche, die er regelmäßig unternahm, mit vielen Menschen in Kontakt.
»Da schau her, die Frau Lehrerin macht es sich recht gemütlich.« Gusti Meier, die mit einem Mann in Trachtenjacke, unter der sich ein dicker Bauch wölbte, durch die Fußgängerzone spazierte, blieb vor Franziska stehen und sah sie von oben herab an.
»Was wollen Sie von mir, Frau Meier?«, fragte Franziska genervt.
»Ich will nur, dass Sie unsere Schule verlassen. Sie besitzen kein Gespür für Gerechtigkeit. Wie Sie wissen, ist meine Tochter im Elternbeirat und hat bereits ihre Bedenken in Bezug auf Ihre Notenvergabe geäußert.«
»Sie kann Ihre Bedenken ruhig äußern. Ich kann jede Note begründen, die ich vergebe.«
»Wir werden sehen.«
»Lass es gut sein, Schatzel«, versuchte Toni Meier, seine Frau zum Weitergehen zu bewegen.
»Es ist erst gut, wenn ich diese Dame nicht mehr sehen muss«, erklärte Gusti.
»Glücklicherweise haben Sie nicht zu bestimmen, wer an unserer Schule unterrichtet.« Franziska hatte keine Lust mehr, Gustis Angriffe einfach nur hinzunehmen.
»Wie wäre es, wenn Sie uns wieder allein ließen?«, mischte sich Lorenz ein.
»Sie haben mir gar nichts zu sagen. Seien Sie vorsichtig, Herr Bergwald, ich kann dafür sorgen, dass niemand mehr Ihre Dienste in Anspruch nimmt«, drohte Gusti Lorenz.
»Genug, Gusti, wir gehen.« Toni Meier hakte sich bei seiner Frau unter, die auf einmal ganz rot angelaufen war, und zog sie von dem Café fort.
»Sind Sie Lehrerin an einer unserer Schulen?«, fragte ein junger Mann, der mit einer Frau und einem Kind im Grundschulalter nur zwei Tische entfernt von Franziska und Lorenz saß. So wie er hatten sich inzwischen alle, die gerade noch in Ruhe Kaffee getrunken und Kuchen gegessen hatten, Franziska zugewandt.
»Sie ist Mathematiklehrerin am Gymnasium, und wie ich von Gusti Meier weiß, verteilt sie ihre Noten nach Sympathie und nicht nach Leistung. Außerdem lässt sie sich gern krankschreiben«, behauptete eine ältere Frau, die mit einer Tortenschachtel auf den Händen aus dem Café kam und den Blicken der anderen gefolgt war.
»Ich will hier sofort weg, Lorenz«, flüsterte Franziska. Sie hatte den Kopf gesenkt und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Am liebsten hätte sie sich in Luft aufgelöst, um nicht länger diese fragenden Blicke der anderen Cafébesucher aushalten zu müssen.
»Ich bin gleich wieder bei dir, dann gehen wir.« Lorenz streichelte ihr sanft über das Haar, bevor er in das Café hineinging, um die Rechnung zu begleichen.
»Diese Gusti ist eine echte Plage«, raunte Katja Bernau, die Besitzerin des Cafés, eine brünette zierliche Frau Mitte dreißig, Lorenz zu. Sie stand hinter der Theke, schnitt einen frisch gebackenen Kirschkuchen in zwölf Teile und beobachtete das aufgeregte Getuschel ihrer Gäste.
»Es ist wirklich erstaunlich, wie schnell einige Leute herausposauntes unüberlegtes Gerede als Wahrheit annehmen.«
»Es sind die einfachen Worte, die andere überzeugen. Frau Meier weiß genau, was sie sagen muss, um andere auf ihre Seite zu ziehen. Darin hatte sie schon zu ihrer eigenen Schulzeit Übung, wie ich gehört habe«, vertraute ihm Katja im Flüsterton an.
»Das habe ich auch gehört«, stimmte Lorenz ihr zu. Er beglich seine Rechnung, ließ seinen Blick noch einmal durch den Raum mit den dunklen Holztischen und den rotgepolsterten Stühlen gleiten und stellte fest, dass einige Gäste noch immer nach draußen schauten, Franziska anstarrten und leise miteinander sprachen.
»Am besten werde ich meine Wohnung eine Zeit lang nicht mehr verlassen, damit ich nicht ständig auf diese Frau treffe«, sagte Franziska, nachdem sie und Lorenz die Fußgängerzone verlassen hatten und in die Straße mit den Kastanienbäumen einbogen, in der sie wohnte.
»Das wäre falsch, Franziska, das würde Gusti Meier nur in ihrem Tun bestärken«, widersprach Lorenz ihrer Entscheidung.
»Aber sie beeinflusst die Leute und bringt vielleicht sogar die Kinder gegen mich auf.«
»Nicht alle fallen auf dieses Gerede herein.«
»Gerade eben hat es aber recht gut geklappt.«
»Das war kein schönes Erlebnis, das ist mir klar. Was meinst du, wollen wir noch irgendwo hinfahren? Ich möchte dich jetzt ungern allein lassen«, sagte Lorenz.
»Ich will auch gar nicht allein sein«, gab sie zu. Sie wollte nicht den Rest des Tages damit verbringen, sich selbst zu bedauern. »Wie wäre es, wenn wir bei mir blieben und uns ein paar Filme ansehen? Ich habe auch noch Pizza im Tiefkühlfach.«
»Das klingt nach einer guten Ablenkung für dich und würde auch mir gefallen«, sagte Lorenz.
»Also dann, gehen wir zu mir«, entgegnete Franziska.
Der Abend verlief genau so, wie sie sich ihn gewünscht hatte. Sie saßen auf dem kuscheligen roten Sofa in ihrem Wohnzimmer, sahen sich zuerst die Originalversion von Casablanca an, danach zwei Filme von Alfred Hitchcock. Sie schoben Pizza in den Backofen, aßen sie im Wohnzimmer vor dem Fernseher und gönnten sich später noch ein Eis aus dem Tiefkühlfach.
Später gingen sie auf den Balkon hinaus, tranken ein Glas Wein und beobachteten die Sternschnuppen, die ungewöhnlich zahlreich über den nächtlichen Himmel jagten.
Als Lorenz sich schließlich verabschiedete, dachte Franziska schon, er würde einfach so gehen, aber sie hatte sich geirrt. Bevor sie die Wohnungstür für ihn öffnete, betrachtete er sie mit einem langen zärtlichen Blick, nahm sie in seine Arme und küsste sie. In diesem Moment wusste sie, dass er sich nicht aus Mitleid um sie kümmerte, sondern weil er sich in sie verliebt hatte.
*
Danny war am Freitagnachmittag nach der Sprechstunde selbst in die Klinik in der Stadt gefahren, um sich eine Kopie der Akte von Franziska Kern geben zu lassen. Er wollte vermeiden, dass sie die Herausgabe verzögerten, weil sie eine Klage der Patientin befürchteten.
Nachdem er es geschafft hatte, in das Büro der Verwaltung vorgelassen zu werden, das Zugriff auf die Patientenakten hatte, wurde er von einer älteren Frau mit strenger Kurzhaarfrisur und Hornbrille, die hinter ihrem Schreibtisch thronte, auch gleich gefragt, ob es um ein Gutachten ging.
»Nein, um eine Weiterbehandlung«, hatte er wahrheitsgemäß geantwortet. Franziska Kern hatte ihn nicht um ein Gutachten gebeten, und sie hatte bisher auch noch keine Klage gegen die Klinik eingereicht, mit der sie aber offensichtlich rechneten.
Die Dame in der Verwaltung wollte ihn auch gern unverrichteter Dinge wieder fortschicken, nachdem er ihr die unterschriebene Vollmacht gegeben hatte. Sie erzählte ihm etwas von Überlastung und administrativen Problemen. Aber er ließ nichts davon gelten und bestand darauf, dass sie ihm eine Kopie dieser Akte aushändigte.
»Ich kann die Patientin nicht weiterbehandeln, wenn ich weder die Ausgangsdiagnose kenne noch das Ergebnis der Operation«, machte er ihr klar, dass er hartnäckig bleiben würde.
Schließlich hatte sie ihm erklärt, dass sie die Herausgabe nicht allein entscheiden könnte, und er hatte sie aufgefordert, jemanden zu suchen, der das konnte. Irgendwann gab sie auf, telefonierte mit der Geschäftsleitung und druckte ihm dann Franziskas Akte aus. Ein Vorgang, der nicht mehr als zwei Minuten in Anspruch nahm. Er bedankte sich und verließ das Krankenhaus, das in Fachkreisen für seine große Anzahl orthopädischer Operationen, besonders an Knien und Hüften, bekannt war. Ob sie immer notwendig waren, konnte er ohne Hintergrundwissen natürlich nicht beurteilen.
Am Sonntagvormittag hatte er sich die Zeit genommen, Franziskas Akte zu lesen, und festgestellt, dass sie sich während des Eingriffs nicht nur einen Keim eingefangen hatte, auch das Innenband des Knies wurde versehentlich bei der Operation verletzt. Auch wenn es von selbst wieder heilen würde, bedeutete dieses Versehen erst einmal Schmerzen für die Patientin.
Nachdem er die Akte gelesen hatte, beschloss er, auf einen Kaffee zu seinen Eltern zu fahren, um mit ihnen über diesen Befund zu sprechen. Sie stimmten ihm zu, dass seiner Patientin viel erspart geblieben wäre, hätte ihr Orthopäde sich auf eine nicht operative Untersuchungsmethode beschränkt. Inzwischen sollte sich auch unter Orthopäden herumgesprochen haben, dass eine Arthroskopie zur Diagnoseabklärung das letzte Mittel der Wahl ist.
In Franziskas Fall hätte eine Ultraschalluntersuchung oder auch eine Röntgenaufnahme ausgereicht. Genau wie er vermuteten auch seine Eltern, dass Franziskas Knie nach dem Sturz beim Volleyballspiel nur geprellt war und die Operation viel zu schnell angesetzt wurde. Er würde seine Patientin nicht im Unklaren darüber lassen, wie er Ihren Fall einschätzte. Was sie mit dieser Wahrheit anfing, das blieb ihr überlassen.
Als er am Montag in die Praxis kam, bat er Lydia, die noch ein wenig verschlafen hinter dem Empfangstresen stand, Franziska für den Nachmittag in die Praxis zu bestellen.
»Ich kümmere mich darum«, sagte sie und unterdrückte mühsam ein Gähnen.
»Aufregendes Wochenende gehabt?«, fragte er lächelnd.
»Ein Kellerbrand am Samstag und zwei Wohnungsbrände gestern Abend. Der letzte war das Ergebnis eines romantischen Abendessens bei Kerzenschein. Glücklicherweise gab es überall nur leicht Verletzte.«
»Die meisten Leute können mit offenem Feuer einfach nicht mehr umgehen«, mischte sich Sophia ein, die aus dem schon wieder gut besetzten Wartezimmer kam, nachdem sie dort die Fenster geschlossen hatte, die noch zum Lüften geöffnet waren.
»Nicht jeder ist auf einem Schloss aufgewachsen, in dem Kerzen zum Abendessen Standard sind. So wie bei dir zu Hause, meine allerliebste Baroness«, entgegnete Lydia und deutete einen Handkuss in Richtung Sophia an.
»Lass das, bitte.« Sophia drehte sich um, überprüfte im Laufen den Sitz des Pferdeschwanzes, zu dem sie ihr blondes Haar gebunden hatte, und verschwand in der Praxisküche.
»Wenn die Leute wüssten, wie es in adligen Familien manchmal wirklich zugeht, zum Beispiel bei den von Arnberg, dann würden sie den Adel wohl weniger verehren«, stellte Lydia nachdenklich fest.
»Hat sie denn gar keinen Kontakt mehr mit ihrer Familie?«, fragte Danny leise nach.
»Würden Sie denn noch Wert auf eine Familie legen, die Sie nach dem Tod Ihres Vaters mitsamt Ihrer Mutter aus dem Haus wirft und Ihnen sämtliche Erbansprüche streitig macht?«
»Diese Familie wäre für mich gestorben«, gab Danny offen zu.
»Genau, für mich auch. Glücklicherweise sind wir nicht von Adel. Wann können wir mit der Sprechstunde anfangen?«
»In fünf Minuten. Und denken Sie an Frau Kern«, erinnerte er Lydia an seine Bitte, bevor er in sein Sprechzimmer ging. So wie Lydia, die in einer intakten Familie lebte, war auch er glücklich mit seiner Familie. Natürlich gab es hin und wieder Meinungsverschiedenheiten, aber letztendlich verstand er sich mit seinen Eltern und seinen Geschwistern bestens, und es würde ihm wehtun, wenn er den Kontakt auch nur zu einem von ihnen verlieren würde.
Nachdem Lydia ein paar Mal bei Franziska angerufen hatte, sie sich aber nicht meldete, hinterließ sie ihr die Nachricht auf dem Anrufbeantworter, dass sie noch heute in die Praxis kommen konnte, um mit Doktor Norden über ihre Krankenakte zu sprechen.
*
Franziska hatte die ganze Nacht kaum geschlafen. Nachdem Lorenz am Abend zuvor gegangen war, hatte sie sich hingelegt, und plötzlich flammten die Schmerzen in ihrem Knie wieder auf. Gegen Morgen war sie dann irgendwann eingeschlafen und wachte erst wieder auf, als die Glocken des Kirchturmes in der Nähe zwei Uhr schlugen. Die Schmerzen waren immer noch da, und ihr Knie schien ihr noch dicker angeschwollen als sonst. Sie beschloss, noch eine Weile liegen zu bleiben, in der Hoffnung, dass die Schmerzen nachließen.
Als sie sich endlich überwinden konnte aufzustehen, und in die Küche ging, sah sie ihr Telefon blinken, das in der Ladestation auf der Fensterbank stand. Jemand hatte ihr eine Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen. Sie hatte gerade Lydias Mitteilung abgehört, als Lorenz anrief.
Er wollte wissen, ob sie nach ihrem gemeinsamen Abend gut geschlafen hatte. Sie überging seine Frage, erwähnte auch ihre Schmerzen nicht und erzählte ihm stattdessen, dass Danny Norden bereits ihre Krankenakte hatte und dass sie noch heute zu ihm kommen könne. Als Lorenz vorschlug, sie zu begleiten, aber erst gegen fünf bei ihr sein konnte, war sie sofort einverstanden. Bis dahin waren es nur noch zweieinhalb Stunden, so lange würde sie es schon noch mit diesen Schmerzen aushalten.
Nachdem sie sich angezogen hatte, wollte sie noch etwas essen, aber sie hatte überhaupt keinen Appetit. Sie trank nur ein Glas Wasser, setzte sich auf den Balkon und legte ein Kühlpad auf das angeschwollene Knie. Während sie auf Lorenz wartete, beobachtete sie den Sperling, der auf ihrem Apfelbäumchen gelandet war und versuchte, mit seinem Schnabel ein Stück von einem Apfel zu ergattern. Sie ließ ihn gewähren. Der kleine Kerl bewies Mut, so etwas zu versuchen, obwohl sie nur ein paar Zentimeter von ihm entfernt war.
Ich war mutig und habe mir Nadeln ins Knie stechen lassen, aber vielleicht sind diese Nadeln daran schuld, dass es mir jetzt so schlecht geht, dachte sie. Ein paar Minuten später war sie fest davon überzeugt, dass es genauso war, dass die Akkupunktur diese Schmerzen ausgelöst hatte.
Als Lorenz um kurz vor fünf an ihrer Haustür klingelte, bat sie ihn, nach oben zu kommen, weil sie sich ein bisschen unsicher auf den Beinen fühlte. »Könnte das die Akkupunktur ausgelöst haben?«, fragte sie ihn, als sie ihm die Wohnungstür öffnete und sie den langen Rock, den sie trug, hochzog, damit er ihr Knie sehen konnte.
»Nein, eigentlich nicht«, entgegnete er und ging in die Hocke, um sich das Knie näher anzusehen. »Es fühlt sich heiß an, die Haut ist gerötet, und druckempfindlich ist es auch«, stellte er fest, nachdem er einen leichten Druck auf das Knie ausgeübt hatte und Franziska zusammenzuckte.
»Das heißt?«, fragte sie und sah ihn an, als er sich wieder aufrichtete.
»Es könnte eine Schleimbeutelentzündung sein. Vielleicht hat dein Knie doch etwas abbekommen, als du angefahren wurdest. Aber überlassen wir die Diagnose Doktor Norden«, sagte er und half Franziska, die Treppen hinunterzugehen.
Franziska hatte sich gerade auf dem Beifahrersitz in Lorenz` Auto angeschnallt, und Lorenz wollte den Motor starten, als ihr Blick auf einen bulligen Mann fiel, der ein dunkelblaues Kapuzenshirt und eine dunkle Sonnenbrille trug und gerade in einen schwarzen Sportwagen stieg, der ein paar Meter von ihnen entfernt in einer Parklücke stand.
»Ob er der Mann ist, den wir suchen?«, flüsterte sie, obwohl sie im Auto doch niemand außer Lorenz hören konnte.
»Fragen wir ihn«, sagte Lorenz und wollte aus seinem Auto steigen, als gerade in diesem Moment ein Lastwagen in die Straße einbog und ihn daran hinderte, die Tür zu öffnen. Als der Lastwagen endlich vorbei gefahren war, war von dem schwarzen Sportwagen nichts mehr zu sehen. »Falls es dieser Mann war, wohnt er ganz offensichtlich in der Gegend. Wir müssen nur die Augen aufhalten, dann finden wir ihn«, versuchte Lorenz, Franziska zu trösten.
»Ehrlich gesagt mache ich mir gerade mehr Sorgen um mein Knie als um diesen Mann«, sagte sie, weil ihr Knie auf einmal von schrecklichen Stichen gequält wurde.
»Auch wenn es sehr wehtut, ich glaube nicht, dass es etwas Schlimmes ist«, versicherte ihr Lorenz und startete den Motor seines Wagens.
*
Als sie in der Praxis Norden eintrafen, war das Wartezimmer bereits leer und der letzte Patient vor ihnen verabschiedete sich von Danny.
»Hallo, wie geht’s dir?«, wollte der junge Mann, der aus dem Sprechzimmer kam, von Lorenz wissen.
»Alles gut, und bei dir?«
»Mit dem Brotmesser abgerutscht.« Der junge Mann, der mindestens zwei Meter groß war, deutete auf den Verband an seiner rechten Hand. »Bis Samstag zum Spiel ist alles wieder okay, meint der Doc. Wir sehen uns«, sagte er und verließ die Praxis.
»Spiel?«, fragte Franziska.
»Handball, der Verein hat mich als Physiotherapeut für ihre Handballer engagiert.«
»Das heißt, du musst zu jedem Spiel.«
»Ja, schon, würde dich das stören? Ich hatte schon einige Beziehungen, die an diesem Einsatz für den Verein gescheitert sind.«
»Ich finde Handball spannend. Dürfte ich denn hin und wieder mitkommen?«
»Aber ja, jederzeit«, sagte Lorenz und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Das ging schnell«, flüsterte Lydia Sophia zu.
Die beiden standen nebeneinander hinter dem Tresen, hatten ihre Arme aufgestützt, ihr Kinn auf die zur Faust verschränkten Hände sinken lassen und ihre Blicke auf Lorenz und Franziska gerichtet.
»Er war ihr Retter nach dem Unfall«, raunte Sophia Lydia zu.
»Ihr beide dürft nach Hause gehen«, sagte Danny lächelnd, der sich vor ihnen aufbaute und ihnen die Sicht auf das junge Paar versperrte.
»Das machen wir doch gern, Herr Doktor«, antwortete Lydia schmunzelnd.
»Kommen Sie bitte mit mir«, bat Danny Franziska und Lorenz, ihm in sein Sprechzimmer zu folgen.
»Über unseren Chef können wir uns wirklich nicht beschweren«, stellte Sophia fest, nachdem Danny die Tür zum Sprechzimmer hinter sich geschlossen hatte.
»Nein, absolut nicht, besonders angenehm ist es, dass es keine Arztgattin gibt, die uns das Leben schwer macht. Das habe ich schon erlebt«, seufzte Lydia.
»Das heißt aber nicht, dass du ihm lebenslange Einsamkeit wünschst, oder?«
»Sophia, mal ehrlich, glaubst du, dass es für einen Mann wie ihn möglich ist, lange allein zu bleiben? Ich meine, er kann sich nicht vor allen Frauen in Sicherheit bringen, die es auf ihn abgesehen haben. Irgendwann kann er nicht mehr entkommen.«
»Nein, vermutlich nicht«, gab Sophia ihrer Kollegin recht.
»Was ist eigentlich mit dir? Du solltest dir auch mal ein bisschen Zeit für dich nehmen. Oder willst du für immer allein bleiben, Baronesschen?«, fragte Lydia mit einem spitzbübischen Grinsen.
»Lydia, reiz mich nicht«, spielte Sophia die Beleidigte und huschte in den Raum neben der Küche, in dem sie sich vor und nach der Arbeit umziehen konnten.
*
Nachdem Danny Franziskas Knie untersucht hatte, bestätigte er Lorenz` Verdacht, es könnte eine Schleimbeutelentzündung sein.
»Möglicherweise eine Folge des Unfalls. Vielleicht sind Sie während Ihres Sturzes doch auf Ihr Knie gefallen«, sagte Danny.
»Aber es war doch gar nichts an meinem Knie zu sehen, nicht einmal ein kleiner Kratzer, und es tat auch nicht mehr weh als vorher. Andererseits, da es ohnehin wehtat, habe ich eventuell gar nicht gespürt, dass das Auto mich am Knie berührt hat oder dass ich draufgefallen bin«, stellte Franziska nachdenklich fest.
»Eine Prellung macht sich nicht immer gleich bemerkbar.«
»Muss ich mir jetzt Sorgen machen? Muss ich wieder Antibiotika schlucken?«, wollte Franziska von Danny wissen.
»Nein, nicht unbedingt. Ich werde Sie ins Krankenhaus zur genaueren Abklärung der Beschwerden überweisen.«
»Bitte nicht ins Krankenhaus. Da war ich lange genug«, entgegnete Franziska und verschränkte die Arme vor der Brust, um ihre Abwehr gegen seinen Vorschlag zu demonstrieren.
»Keine Angst, Sie müssen nicht dortbleiben. Das Schlimmste, was Ihnen passieren kann, ist die Punktion des Knies. Das heißt, falls sich zu viel Flüssigkeit angesammelt hat, wird sie herausgesaugt. Aber vielleicht ist das gar nicht nötig«, beruhigte Danny sie.
»Und wenn jemand auf die Idee kommt, erneut eine Arthroskopie durchzuführen?«
»Das wird nicht passieren, weil ich Sie in die Klinik überweisen werde, die meine Eltern leiten. Dort werden keine unnötigen Eingriffe durchgeführt«, versicherte er ihr.
»Das heißt, Sie sind auch der Meinung, dass diese Arthroskopie, die mir das dicke Knie beschert hat, nicht nötig war?«
»Nachdem ich Ihre Akte gründlich gelesen habe, bin ich davon überzeugt, dass eine Ultraschalluntersuchung ausreichend gewesen wäre.«
»Vermutlich wurde eine mögliche Meniskusverletzung diagnostiziert, war es nicht so?«, wollte Lorenz von Danny wissen.
»Absolut richtig.«
»Mein Meniskus war aber nicht das Problem«, sagte Franziska und sah erst Danny an und danach Lorenz, der neben ihr auf einem der beiden Stühle vor Dannys Schreibtisch saß.
»Dieser Verdacht war aber die Garantie dafür, dass deine Krankenkasse die Arthroskopie bezahlt. Nur auf einen vagen Verdacht hin genehmigen sie diese Untersuchung nicht mehr«, erklärte ihr Lorenz.
»Verstehe, da bei mir laut Diagnose die Untersuchung berechtigt war, muss ich mich mit einer Klage gegen die Verantwortlichen wohl nicht mehr befassen. Sie werden einfach behaupten, die Arthroskopie sei unumgänglich gewesen, und die Entzündung danach war eben Pech, weil so etwas einfach passieren kann.«
»Fakt ist aber auch, dass der Kollege Ihnen nach der ersten Diagnose zu einer konventionellen Heilungsmethode hätte raten müssen«, klärte Danny sie auf, wie er darüber dachte.
»Bei Ihnen trifft dieser Spruch ›Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus‹ aber ganz und gar nicht zu, Doktor Norden«, wandte Lorenz sich Danny mit einem anerkennenden Blick zu.
»Ich halte eben nichts von Lügen und Täuschungen.«
Damit meint er nicht nur das Treiben seiner Kollegen und Kolleginnen, dachte Franziska, als sie plötzlich eine tiefe Traurigkeit in den Augen des jungen Arztes wahrnahm.
»Trotzdem, der Kampf würde hart werden, und ich weiß nicht, ob ich für so etwas bereit bin«, antwortete sie nachdenklich.
»Falls dieser Mann gefunden wird, der Sie angefahren hat, und Sie ihn auf Schmerzensgeld verklagen, müssen Sie sich um die Klage gegen das Krankenhaus nicht mehr kümmern. Die Versicherung des Fahrers würde auf jeden Fall versuchen, die Prellung an Ihrem Knie als Spätfolge der Operation darzustellen.«
»Das bedeutet, Frau Kern könnte einfach abwarten, wie die Schlacht der Gutachter ausgeht. Eine wirklich gute Überlegung«, stimmte Lorenz Danny zu.
»Das Problem ist nur, dass dieser Mann bisher nicht gefunden wurde«, gab Franziska zu bedenken.
»Was ist mit diesem großen bulligen Kerl, den wir vorhin gesehen haben? Ich meine den mit der Sonnenbrille, der ein Kapuzenshirt trug und in einen schwarzen Sportwagen stieg«, erinnerte Lorenz Franziska an den Mann, der ihnen aufgefallen war, als sie sich auf den Weg zur Praxis Norden machen wollten.
»Er war aber leider fort, bevor wir mit ihm reden konnten. Und das Nummernschild des Autos haben wir auch nicht sehen können. Und warum sollte ausgerechnet dieser Mann derjenige sein, den wir suchen?«, fragte Franziska.
»Waren Sie denn inzwischen bei der Polizei, um die Fahrerflucht anzuzeigen?«, fragte Danny.
»Das habe ich bereits am Freitag erledigt. Herr Bergwald hatte mich begleitet und gleich seine Zeugenaussage gemacht. Aber da wir beide so gut wie nichts über diesen Mann wissen, ist es auch für die Polizei schwer, ihn zu finden.«
»Dann bleibt wohl nur die Chance des Zufalls«, stellte Danny mitfühlend fest. Da auch die Befragung der Nachbarn, um die Lydia sich gekümmert hatte, keine neuen Erkenntnisse gebracht hatte, kam auch die Polizei erst einmal nicht weiter.
»Ich werde mich wohl irgendwann damit abfinden müssen, dass dieser Mann straffrei bleibt«, entgegnete Franziska mit einem resignierenden Achselzucken. »Bevor wir gehen, bitte ich Sie, dass Sie Herrn Bergwald eine Kopie meiner Krankenakte geben. Ich möchte, dass er meine physiotherapeutische Behandlung übernimmt.«
»Gute Entscheidung«, sagte Danny, der sich noch an das Gespräch mit Lorenz erinnerte, das er mit ihm geführt hatte, als er ihn neulich in der Klinik seiner Eltern traf. Der junge Physiotherapeut hatte einen wirklich kompetenten Eindruck auf ihm gemacht. Er rief Franziskas Akte in seinem Computer auf und wischte eine Haarsträhne, die ihm in die Stirn gefallen war, mit der Hand beiseite, bevor er den Drucker anschaltete, um die Akte auszudrucken.
Er nahm sich vor, Valentina noch einmal zu fragen, ob sie sich vielleicht doch an den Fahrer des Sportwagens erinnerte, dem sie gerade noch rechtzeitig ausweichen konnte. Vielleicht gab es ja doch etwas, was der Polizei in diesem Fall weiterhelfen konnte. »Das Beste ist, Sie fahren gleich in die Klinik, um Ihr Knie untersuchen zu lassen«, riet Danny Franziska.
»Das werde ich tun«, versprach sie ihm, zumal Lorenz sich sofort anbot, sie auch auf diesem Weg zu begleiten.
Nachdem Franziska und Lorenz gegangen waren, verließ auch Danny die Praxis. In einer halben Stunde würden die Leute vom Reinigungsdienst kommen, um die Räume für den nächsten Tag wieder auf Hochglanz zu bringen. In der ersten Woche nach der Praxiseröffnung war er immer länger geblieben, um sich zu vergewissern, dass die, die zu ihm kamen, auch wussten, worauf es bei der täglichen Reinigung in einer Arztpraxis ankam. Inzwischen hatten sie sein Vertrauen gewonnen, und er ließ sie unbeobachtet arbeiten.
Wie an jedem Montag nach der Sprechstunde ging er zum Squash. Noch vor ein paar Monaten hatte er dieser Sportart nicht viel abgewinnen können, das hatte sich aber gleich nach dem ersten Versuch geändert. Meistens spielte er allein, es sei denn, es forderte ihn jemand zu einem Match.
An diesem Abend spielte er wieder allein und konnte sich bis zur totalen Erschöpfung austoben. Das war es, was er an diesem Sport inzwischen so sehr schätzte, dass er bis an seine Grenzen gehen konnte. Danach fühlte er sich jedes Mal vollkommen leer, es gab dann nichts mehr, worüber er nachdenken musste.
Und so wie jedes Mal nach dem Sport ging er auch an diesem Abend früh zu Bett. Er las noch ein Kapitel in dem Buch, das Ophelia ihm am Samstagmorgen vorbeibrachte, nachdem sie Ortrud abgeholt hatte, die auf der Fensterbank in seinem Esszimmer in der Sonne schlief.
Ophelia war der Meinung, dass er dieses Buch eines inzwischen verstorbenen Neuropsychologen unbedingt lesen sollte. Sie wollte ihm auch noch seine anderen Werke ausleihen, die ihre Mutter alle besaß, da sie diesen Mann für eine Kapazität hielt. Danny hatte bereits ein Buch dieses Autors gelesen. Er besaß die Gabe, psychologische Ausnahmezustände unterhaltsam zu schildern.
Eine dieser Geschichten nahm Danny mit in seine Träume, baute sie aber in seine eigene Erfahrungswelt ein, was schließlich in einem Albtraum endete. Er befand sich plötzlich irgendwo in den Bergen und versuchte, die Stadt zu erreichen, die auf dem Gipfel des höchsten Berges im strahlenden Sonnenschein lag. Doch so oft er auch den Anstieg wagte, jedes Mal rutschte er kurz vor dem Gipfel in eine Gletscherspalte und fiel in ein dunkles Nichts.
*
Ich sollte abends keine Bücher über Psychologie lesen, dachte er, als er am nächsten Morgen aufwachte und dieser Albtraum noch immer in seinem Kopf herumgeisterte. Um diese Gedanken loszuwerden, wäre er am liebsten gleich wieder zum Squash gefahren. Aber dafür hatte er jetzt keine Zeit. Für ein paar Minuten auf dem Hometrainer, der unter dem überdachten Balkon stand, allerdings schon.
Fünf Minuten später saß er in T-Shirt und Sporthose auf dem Ergometer und trat kräftig in die Pedale. Der hochgewachsene rote Oleander und die beiden Olivenbäumchen verdeckten einen großen Teil der Gitterstäbe des Balkons und boten ihm genügend Sichtschutz, um nicht von den Nachbarn beobachtet zu werden. Eine Nachbarin ließ sich davon allerdings nicht abschrecken, sie kam, um nachzusehen, was er auf dem Balkon trieb.
»Guten Morgen, Ortrud«, begrüßte Danny die rotgetigerte Katze, die es wieder geschafft hatte, über das aus festem Holz gezimmerte Rankgitter seinen Balkon zu erreichen.
Ortrud blieb einen Moment lang auf dem Boden hocken, putzte ihre Pfoten und kam dann langsam auf ihn zu. Ehe er wusste, wie ihm geschah, sprang sie auf seinen Schoß.
»Du bist eine echte Schönheit, aber das weißt du sicher«, sagte er, als Ortrud ihn mit ihren großen blauen Augen anschaute. Er kraulte ihren Kopf, bis sie sich schnurrend auf seinem Schoss ausstreckte.
»Schon wieder Damenbesuch, Herr Doktor?!«, rief Valentina, die mit der Brötchentüte im Arm das Gartentor aufschob und Danny reden hörte.
»Die Katze von nebenan hat Gefallen an meinem Haus gefunden«, antwortete er und beugte sich ein Stück nach vorn, um über die Balkonbrüstung auf den Weg zu schauen, der durch den Vorgarten zur Haustür führte.
»Geh, doch nicht an Ihrem Haus, an Ihnen, Herr Doktor«, antwortete Valentina lachend. »In einer Viertelstunde gibt es Frühstück!«, rief sie, dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.
»Du hast es gehört, das war die Aufforderung, mich anzuziehen«, sagte er und setzte Ortrud behutsam auf den Boden, bevor er von dem Ergometer abstieg. »Ist das dein Ernst?«, fragte er überrascht, als Ortrud ihm ins Badezimmer folgte.
Sie stolzierte zuerst auf dem Badewannenrand entlang und schaute zu, wie er sich über dem Waschbecken vor dem Spiegel rasierte. Als er danach in die Dusche ging, hockte sie sich auf den Wäschekorb und sah zu, wie er das Wasser aufdrehte. Der Dampf des warmen Wassers schien ihr aber zu missfallen, und sie blickte sehnsuchtsvoll auf die geschlossene Badezimmertür.
»Tut mir leid, du musst warten, bis ich fertig bin«, sagte Danny. Oder auch nicht, dachte er, als die Katze wie ein Pfeil nach vorn schoss und die Türklinke mit den Vorderpfoten herunterdrückte.
Diese Katze passte zu Ophelia, sie war ebenso selbstbewusst und eigenständig wie das Mädchen. Vielleicht wäre es doch ganz interessant, auch ihre Mutter und ihre Großmutter kennenzulernen, dachte er. Nein, das hat keine Eile, verwarf er den Gedanken gleich wieder und wickelte das Badehandtuch um seine Hüften, das er von dem Handtuchwärmer neben der Dusche genommen hatte.
Wie an jedem Werktag, wenn Valentina zu ihm kam, zog der Duft nach frischgebrühtem Kaffee durch das Haus, als er die Treppe zum Esszimmer hinunterging. Auch Ortrud war noch da. Sie hatte es sich wieder auf der Fensterbank gemütlich gemacht und ließ sich die Morgensonne auf den Rücken scheinen.
»Frau Kern und Herr Bergwald glauben, dass sie den Fahrer des Sportwagens gesehen haben, der Frau Kern angefahren hat. Sie haben ihn als großen bulligen Mann mit Kapuzenshirt und Sonnenbrille beschrieben. Könnte das auch der Mann gewesen sein, der Sie beinahe umgefahren hat?«, fragte Danny, als sich Valentina mit einer Tasse Kaffee zu ihm an den Tisch setzte, weil das zu ihrem Morgenritual gehörte.
»Ich habe den Fahrer nicht richtig sehen können, aber es könnt schon ein großer bulliger Kerl gewesen sein. Ob er ein Kapuzenshirt und eine Sonnenbrille getragen hat, das weiß ich nicht. Er muss dieses Shirt ja auch nicht jeden Tag anhaben.«
»Was ist mit dem großen bulligen Kerl im Kapuzenshirt?«, wollte Ophelia wissen, die in der geöffneten Tür zum Garten stand und Danny erschrocken ansah.
»Der Mann könnte derjenige sein, der Frau Kern angefahren hat«, antwortete ihr Valentina. »Und vielleicht ist es auch derselbe Mann, den Frau Weinfeld einen Tag vor dem Unfall im Schritttempo durch die Straße hat fahren sehen. So als würde er nach einem bestimmten Haus suchen«, erzählte sie, was sie von der Nachbarin gehört hatte.
»Nein, bitte nicht«, flüsterte Ophelia.
»Was ist mit dir, Madl?«, fragte Valentina, als sie auf die roten Turnschuhe sah, die das Mädchen zu seinen schwarzen Jeans und dem roten T-Shirt trug. Ophelia wippte auf einmal ganz nervös mit dem rechten Fuß und schien es nicht einmal zu bemerken. »Komm zu uns, Schatzl«, forderte Valentina sie mit sanfter Stimme auf. »Setz dich her«, sagte sie und streichelte ihr über das seidige rote Haar, als sie auf dem Stuhl neben ihr Platz nahm.
»Kennst du diesen Mann?«, fragte Danny besorgt, als das Mädchen, das sonst nichts in Verlegenheit brachte, ihn plötzlich wie ein verängstigtes Kind ansah.
»Ich denke, es ist Zeit, dass Sie meine Mutter kennenlernen, Doc«, sagte sie.
»Ophelia, was ist denn los?«, versuchte Danny, sie zum Reden zu bringen.
»Ich weiß nicht, es ist so …«
»Ja?« Danny sah sie abwartend an.
»Meine Mutter wird sich bei Ihnen melden. Ich muss in die Schule.« Ophelia sprang wieder auf, nahm Ortrud auf ihre Arme und stürmte in den Garten hinaus.
»Was war jetzt das?«, fragte Valentina und sah Danny ratlos an.
»Keine Ahnung. Wir werden wohl darauf warten müssen, dass ihre Mutter die Sache aufklärt.«
»Was zur Folge hat, dass Sie sie endlich kennenlernen«, entgegnete Valentina lächelnd.
»Vermutlich ist es so«, murmelte er missmutig.
»Nicht alle Psychologen gehen gleich dazu über, ihre Mitmenschen zu analysieren.«
»Meine bisherigen Erfahrungen sprechen aber dafür, dass sie genau das tun«, entgegnete Danny und nahm ein Brötchen mit Sonnenblumenkernen aus dem Brotkorb.
*
Als er eine halbe Stunde später in die Praxis ging, hatte er keine Zeit mehr, über dieses bevorstehende Treffen mit Ophelias Mutter nachzudenken. Die ersten Patienten saßen wie jeden Morgen bereits im Wartezimmer und hofften, dass die Sprechstunde bald anfing.
Einen Moment mussten sich seine Patienten aber noch gedulden, da er erst in der Klinik seiner Eltern anrufen wollte, um sich nach dem Ergebnis der Untersuchung von Franziska Kern zu erkundigen. Er war froh zu hören, dass es nicht notwendig war, das Knie zu punktieren, da die Schwellung allmählich zurückging. Auch eine Punktierung, so harmlos dieser Vorgang sich anhörte, war mit einem gewissen Risiko verbunden. So sorgfältig ein Arzt auch vorging, es bestand immer die Gefahr, dass Keime ins Knie eindrangen und weitere Komplikationen verursachten. Die konservative Methode, schonen, kühlen und ab und zu das betroffene Bein hochlagern, war auf jeden Fall die bessere Lösung. Nachdem Danny sich bei dem Orthopäden, der Franziska untersucht hatte, für die Auskunft bedankt hatte, bat er Sophia, Frau Kohlmichel, seine erste Patientin an diesem Morgen, hereinzuschicken.
»Was kann ich für Sie tun, Frau Kohlmichel?«, fragte Danny die zierliche grauhaarige Frau in dem schwarzweiß gepunkteten Kleid, die wenig später auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch saß.
»Es ist mein Magen, vielleicht wieder eine Gastritis«, sagte Erna Kohlmichel und fasste mit der Hand an ihren Oberbauch.
»Haben Sie denn in letzter Zeit viel Stress?«, wollte Danny wissen.
»In der Schule herrscht gerade ein wenig Durcheinander. Sie wissen ja, ich unterrichte Biologie am Gymnasium, und zurzeit sind einige Lehrer krank und der Unterricht muss irgendwie aufgefangen werden. Neulich habe ich sogar Mathematik gegeben, weil die Vertretung unserer Frau Kern krank war. Und weil ich gerade von ihr spreche, dieses dumme Gerede von der Großmutter eines unserer Kinder, dass Frau Kern ungerechte Noten verteilt, das sorgt mittlerweile für große Unruhe.«
»Mit dieser Großmutter meinen Sie wohl Frau Meier.«
»Ich sehe, Sie wissen Bescheid«, antwortete Frau Kohlmichel schmunzelnd. »Diese Vorwürfe, die sie gegen Frau Kern erhebt, sind absolut lächerlich, und sie sollte wirklich mit dieser üblen Nachrede aufhören.«
»Nicht aufregen«, redete Danny Erna Kohlmichel gut zu, als sie sich wieder an den Magen fasste. »Ich sehe mal nach, wie es Ihrem Magen geht, legen Sie sich auf die Liege«, bat er seine Patientin. »Nichts Schlimmes«, sagte er, nachdem er sie untersucht hatte. Bis auf eine leichte Gastritis, die mit Haferschleim und Tee zu heilen war, konnte er nichts feststellen.
Auch die anderen Patienten, die an diesem Vormittag seine Sprechstunde besuchten, litten nur an mehr oder weniger harmlosen Beschwerden. Jeder Tag ohne dramatische Diagnosen war ein guter Tag für ihn, und er war dankbar, dass er auch während der Nachmittagssprechstunde keine Hiobsbotschaften verkünden musste. Er hatte gerade den letzten Patienten verabschiedet, da rief Olivia Mai an.
»Wäre es Ihnen möglich, sich mit mir um sieben Uhr im Park von Schloss Nymphenburg zu treffen?«, fragte sie ihn.
»Warum denn dort?«, wunderte sich Danny.
»Ich weiß, das erscheint Ihnen jetzt ein bisschen merkwürdig.«
»Allerdings, wir könnten uns doch auch einfach an der Hecke im Garten treffen.«
»Das möchte ich Ihnen aber nicht zumuten, bevor Sie nicht gehört haben, was ich Ihnen zu sagen habe.«
»Gut, dann um sieben im Park. Wo genau?«
»Am Kanal, dort, wo die Gondeln starten.«
»Wie erkenne ich Sie? Wir sind uns bisher noch nicht begegnet.«
»Sie kennen meine Tochter und unsere Katze. Ich passe ins Bild«, antwortete sie mit einem Lachen in der Stimme. »Bis nachher«, sagte sie und legte auf.
Was soll das werden? Wieso bestellt sie mich in den Park?, fragte sich Danny. Aber gut, Olivia Mai war Psychologin, da waren seltsame Dinge programmiert. Eine Psychologin mit einer ungewöhnlich schönen Stimme, dachte er und fragte sich, wie diese Frau wohl aussehen mochte, der diese Stimme gehörte.
*
Schloss Nymphenburg im Westen des Münchner Stadtgebietes gelegen wurde im 17. Jahrhundert erbaut. Die weitläufige Schlossanlage übertraf in ihren Ausmaßen sogar Versailles und war ein Touristenmagnet. Der Schlosspark mit seinen imposanten Brunnen und den Kanälen war für Danny immer wieder aufs Neue beeindruckend. Mit den Gondeln, die auf den Kanälen fuhren, war er bisher allerdings noch nie gefahren.
Sie legten in einer Bucht am Ende des großen Kanals ab, der von alten Laubbäumen gesäumt direkt auf das Schloss zulief. Die letzten Gondeln fuhren um 18 Uhr, wie er auf einem Schild lesen konnte, das an dem Stamm einer Weide lehnte. Deshalb wunderte es ihn nicht, dass außer ihm niemand mehr in dieser Bucht war. Bis auf eine schwarz lackierte Gondel mit einem vergoldeten Pferdekopf am Bug, die vor ihm auf dem Wasser schaukelte, waren wohl alle schon in ihrem Hafen am anderen Ende des Kanals. Er setzte sich auf eine Bank am Ufer und schaute den Graugänsen zu, die über das Wasser glitten. Es war bereits zehn nach sieben, aber das störte ihn nicht. Falls Olivia Mai nicht kam, würde er einfach noch eine Weile die Ruhe genießen, die allmählich im Park einkehrte.
Als er irgendwann aufschaute und sich umsah, ob er irgendwo doch noch eine Frau entdeckte, die ins Bild passte, wie sie am Telefon gesagt hatte, zuckte er verblüfft zusammen, weil er glaubte, eine Erscheinung zu haben. Aber es war keine Erscheinung, es war eine Frau mit langem rotem Haar.
Durch das Sonnenlicht, das durch das Laub der Bäume fiel und sie einhüllte, wirkte sie fast durchsichtig zart. Das hellrote Haar, das leuchtendblaue Kleid, das bei jedem ihrer Schritte in Schwingung geriet, es war, als schwebte sie geradewegs auf ihn zu. Wie gebannt sah er sie an und vergaß für einen Augenblick sogar zu atmen. Ja, sie passte ins Bild, und dieses Bild war faszinierend.
»Olivia Mai«, stellte sie sich ihm vor und reichte ihm die Hand. »Danke, dass Sie gekommen sind, Doktor Norden.«
»Sie hatten keinen Zweifel, dass ich es bin«, sagte er und hatte das Gefühl, seine Stimme wie aus der Ferne zu hören, als er in ihre hellen blauen Augen schaute.
»Meine Tochter schwärmt mir seit Tagen von Ihnen vor. Ich habe mir Ihre Internetseite angesehen, obwohl …«
»Obwohl?«, hakte er nach, als sie innehielt.
»Ein Foto ist eben immer nur ein Foto. Es kann niemals das Original wiederspiegeln.«
»Diese Antwort lässt offen, ob das Original Sie positiv überrascht oder enttäuscht hat.«
»Sie sind selbstbewusst genug. Ich bin sicher, Sie kennen die Antwort«, antwortete Olivia lächelnd.
»Ich suche mir einfach eine aus.«
»Tun Sie das«, sagte sie und hielt seinen Blick fest.
»Warum wollten Sie mich hier treffen?«, fragte er sie und wich ihrem Blick aus. Sie machte ihn nervös, und das wollte er sie nicht merken lassen. Sie war seine Nachbarin und sie war Psychologin, das waren zwei gute Gründe, Abstand zu halten, damit es nicht zu unangenehmen Verwicklungen kam.
»Ich erzähle es Ihnen gleich, steigen wir doch zuerst ein.« Sie deutete auf die einsame Gondel im Wasser vor ihnen und nickte dem Gondoliere in dem schwarzweiß gestreiften Pulli zu, dessen Ankunft Danny gar nicht mitbekommen hatte und der bereits in der Gondel stand und das Ruder in der Hand hielt.
»Sie haben eine Gondelfahrt für uns gebucht?«, wunderte sich Danny.
»Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen einzuwenden.«
»Nein, habe ich nicht.« Dann würde er eben jetzt zum ersten Mal erleben, wie es sich anfühlte, durch den Schlosspark gefahren zu werden. Das, was sie ihm erzählen wollte, musste wirklich wichtig sein. Warum sonst sollte sie sich für dieses außergewöhnliche Ambiente entschieden haben, um ihn zum ersten Mal zu treffen? Er stieg vor ihr in die Gondel und reichte ihr erst die Hand, um ihr beim Einsteigen zu helfen, nachdem er sein Gleichgewicht gefunden hatte.
»Es könnte so aussehen, als hätten wir beide uns zu einem romantischen Date getroffen«, stellte sie lächelnd fest, als sie gleich darauf nebeneinander auf der mit rotem Samt gepolsterten Bank in der Mitte der Gondel saßen.
»Es sieht sogar sehr danach aus«, sagte er, während sie über die hohe Lehne der Bank nach hinten schaute und dem Gondoliere zunickte.
Gleich darauf setzte sich die Gondel in Bewegung. Ganz leicht sah es aus, wie der Gondoliere das Ruder leise in das Wasser eintauchte und die Gondel fast lautlos durch den Kanal glitt.
»Wäre es Ihnen unangenehm, wenn jemand das von uns denken würde?«, fragte Olivia und sah ihn direkt an.
»Es ist mir nicht so wichtig, was andere über mich denken.«
»Mir auch nicht. Aber da wir beide wissen, dass unser Treffen kein romantisches Date ist, sollte ich Sie endlich über den Grund dieser Verabredung aufklären.«
»Ich bin schon sehr gespannt.«
»Diesen Ort habe ich gewählt, weil ich vermeiden wollte, dass wir in unserer Straße zusammen gesehen werden, und ich wollte sicher gehen, dass mir niemand zu dem Treffen mit Ihnen folgt. Ich bin deshalb auch mit dem Bus hergekommen, da habe ich mein Umfeld besser im Blick als im Auto.«
»Werde ich gerade in einen Spionagefall verwickelt?«, fragte Danny und schaute sich unwillkürlich in alle Richtungen um.
»Nein, keine Sorge, so kompliziert ist es nicht«, beruhigte sie ihn.
»Wie kompliziert ist es denn?«
»Ich werde seit sechs Monaten von einem Mann beobachtet.«
»Der Fahrer des schwarzen Sportwagens?«, fragte Danny, weil ihm nun klar war, warum Ophelia wollte, dass er ihre Mutter kennenlernte. Sie hatte gehört, wie er mit Valentina über diesen Mann sprach, den sie offensichtlich sofort erkannt hatte.
»Richtig, um ihn geht es.«
»Dann wissen Sie, wer der Mann ist?«
»Nein, das weiß ich leider nicht. Jedes Mal, wenn ich ihm begegnet bin, trug er ein Kapuzenshirt und eine dunkle Sonnenbrille und hielt genügend Abstand, damit ich mir kein wirkliches Bild von ihm machen konnte.«
»Das Nummernschild seines Wagens?«
»Keine Ahnung, ich habe ihn nur zweimal in dieses Auto steigen sehen, konnte aber das Nummernschild nie erkennen.«
»Was hat er getan, um auf sich aufmerksam zu machen?«
»Er hat mir Blumen vor die Haustür gelegt, mich mit Anrufen in der Praxis und zu Hause belästigt. Ich meine, er hat nie etwas gesagt, aber ich habe ihn atmen gehört.«
»Anrufe lassen sich doch heutzutage zurückverfolgen.«
»Er benutzt ein altes nicht registriertes Prepaid Handy und wechselt ständig seinen Standort.«
»Sie sind doch erst vor Kurzem nach München gezogen. Wie kommen Sie darauf, dass der Fahrer des Sportwagens, den Valentina und Lorenz Bergwald beobachtet haben, dieser Mann ist?«
»Wir haben Heilbronn verlassen, als er mir plötzlich beim Joggen gefolgt ist und jeden Morgen ein Brief von ihm vor meiner Tür lag. Das war unheimlich«, erzählte Olivia, und er konnte in ihren Augen sehen, dass ihr das Verhalten dieses Mannes wirklich Angst machte.
»Hat die Polizei die Briefe untersucht?«
»Ja, schon, aber er ist vorsichtig. Er hat weder Fingerabdrücke noch andere verwertbare Spuren hinterlassen. Mein Fall steht natürlich auch nicht ganz oben auf der Liste der Polizei. Sie haben Wichtigeres zu tun, als sich um einen Irren zu kümmern, der mir nachspioniert. Mit unserem Umzug wollte ich die Sache beenden. Wie es aussieht, ist mir das nicht gelungen. Gerade für Ophelia war diese Entscheidung schwer. Sie musste ihre Freunde zurücklassen, die Schule wechseln, und jetzt diese Erkenntnis, dass all das vergeblich war«, seufzte Olivia. Sie legte die Hände in den Schoß und schaute auf das prächtige Schloss mit seinen weitläufigen Nebengebäuden, das sich vor ihnen erhob.
Danny ließ ihr einen Augenblick Zeit, betrachtete den mächtigen Springbrunnen mit seinen Wasserspielen und Steinfiguren, der zu den Anziehungspunkten dieses Parkes mit seinen verspielten Brücken und Wasserwegen gehörte. »Hatten Sie eine Praxis in Heilbronn?«, fragte Danny, um das Gespräch mit ihr fortzuführen.
»Sie gehörte meiner Mutter, ich habe erst in den letzten zwei Jahren dort mitgearbeitet. Die Ausbildung zur Psychotherapeutin ist lang, erst das Psychologiestudium, dann die Weiterbildung, um Patienten betreuen zu können. Mit dem Umzug hat meine Mutter beschlossen kürzerzutreten, und ich habe die Praxis in unserem neuen Haus unter meinem Namen angemeldet.«
»Das könnte der Grund sein, warum dieser Mann Sie so schnell finden konnte.«
»Davon gehe ich auch aus.«
»Deshalb sind wir also hier, weil sie befürchten, dass er unsere Straße beobachtet.«
»Unsere Straße und Sie.«
»Warum mich?«
»Dieser Unfall mit Frau Kern war an dem Tag, als meine Tochter über Ihren Balkon in Ihr Haus eingestiegen ist. Sollte er das beobachtet haben, könnte er davon ausgehen, dass wir uns bereits gut kennen, da meine Tochter Sie sonst nicht einfach so besuchen würde.«
»Mit gut kennen meinen Sie, er könnte denken, wir seien ein Paar.«
»Oder kurz davor, eines zu werden. Das will er vermutlich verhindern.«
»Haben Sie schon mit der Polizei gesprochen?«
»Nein, ich wollte zuerst mit Ihnen reden. Aber ich werde es noch heute nachholen. Welches Revier ist denn zuständig für diesen Fall?«
»Wenn Sie möchten, bringe ich Sie hin.«
»Danke, das nehme ich gern an«, erklärte Olivia sich sofort einverstanden.
»Warum die Gondelfahrt? Wir hätten uns auch vor dem Schloss oder an einem Brunnen treffen können?«, fragte Danny, als der Gondoliere ans Ufer steuerte, nachdem sie in einen Seitenarm des Kanals eingebogen waren.
»Dafür gibt es eine einfache Erklärung. Ich war schon oft in München, aber mit einer Gondel bin ich hier noch nie gefahren. Ich dachte, ich nutze diese Gelegenheit, um das nachzuholen.«
»Es war auch meine erste Gondelfahrt hier im Schlossgarten«, gestand ihr Danny.
»Dann werden Sie sich wohl nicht gern an sie erinnern. Der Anlass war ja nicht gerade erfreulich«, stellte Olivia fest, als er ihr aus der Gondel heraushalf.
»Es kommt darauf an.«
»Auf was kommt es an, Doktor Norden?«
»Wie das alles ausgeht«, antwortete er und versuchte, das Kribbeln in seiner Magengrube zu ignorieren, als ein leiser Wind über sie hinwegblies und eine Strähne von ihrem Haar sein Gesicht berührte.
*
Danny war froh, dass Thea Seeger noch Dienst hatte, als sie auf dem Polizeirevier eintrafen. Olivia hatte ihn gebeten, ihn zu ihrem Gespräch mit der Kommissarin zu begleiten, und sie waren Thea in ihr Büro im ersten Stock gefolgt.
»Lässt du uns allein, Luis?«, bat Thea den jungen Mann mit dem streichholzkurzen Haar und dem sorgfältig geschnittenen Dreitagebart, der sich das Büro mit ihr teilte.
»Sicher, Boss«, sagte Luis und verließ das Zimmer.
»Jetzt sind wir unter uns. Was kann ich für Sie tun?«, wandte sich Thea an Olivia.
»Ich fühle mich verunsichert«, sagte Olivia und erzählte ihr, was sie zuvor schon Danny erzählt hatte.
»Dieser Kerl war bereit, seine Komfortzone zu verlassen und ist Ihnen an Ihren neuen Wohnort gefolgt. Er wird nicht einfach so wieder verschwinden«, stellte Thea mit besorgter Miene fest, nachdem sie alles gehört hatte.
»Nein, wird er nicht, das ist mir bewusst. Können Sie mir irgendwie helfen, ihn zu stoppen?«, fragte Olivia.
»Ich will es versuchen. Falls dieser Mann und der, der Frau Kern angefahren hat, derselbe ist, gibt es vielleicht eine Chance, ihn zu finden. Ich sichte gerade die Aufzeichnungen sämtlicher Überwachungskameras in der Nähe der Praxis, in der Hoffnung, dass dieser Sportwagen aufgenommen wurde. Da wir uns aber in einem reinen Wohngebiet befinden und die Kameras nicht auf die Straßen gerichtet sind, müssen wir hoffen, dass er irgendwo so dicht an einem Grundstück geparkt hat, dass er zu sehen ist.«
»Falls Sie ihn auf diesem Weg nicht finden?«
»Dann müssen wir darauf warten, dass er sich zeigt.«
»Das klingt nicht gut.«
»Ich weiß, aber da dieser Mann sich Ihnen noch nie wirklich genähert hat, kann ich keinen Personenschutz organisieren.«
»Das ist mir klar, das wurde mir auch schon in Heilbronn so erklärt.«
»Eines kann ich aber tun. Ich werde dafür sorgen, dass mehrmals am Tag ein Streifenwagen durch Ihre Straße fährt, um Präsenz zu zeigen. Sollte Ihnen allerdings irgendetwas merkwürdig vorkommen, egal was, rufen Sie mich an«, bat Thea.
»Das werde ich schon in meinem eigenen Interesse tun«, versicherte ihr Olivia.
»Ja, Luis, was ist?«, wollte Thea wissen, als ihr Kollege zur Tür hereinschaute.
»Frau Meier wäre dann da.«
»Schick sie rein«, bat sie ihn. »Meine Tochter meinte, ich sollte mal mit der Dame reden, wegen dieser Anschuldigungen gegen Frau Kern. Ich denke auch, Frau Meier hat eine Lektion verdient.«
»Dann werden wir uns verabschieden«, sagte Danny.
»Bleiben Sie nur da. Frau Meier hat doch gern Publikum«, entgegnete Thea schmunzelnd.
»Guten Abend, da bin ich. Was möchten Sie denn von mir wissen?«, fragte Gusti Meier, die zur Tür hereinrauschte. Aufgeregt nestelte sie am Kragen der weißen Bluse, die sie zu einer grauen Stoffhose trug. »Der Herr Doktor Norden und die Frau Doktor Mai sind auch da? Sie sagten zwar am Telefon, dass Sie mich in einer wichtigen Angelegenheit sprechen wollen, aber dass diese Angelegenheit so wichtig ist, dass wir gleich zu dritt erscheinen müssen, war mir nicht klar. Um was genau geht es denn?«, wollte sie von Thea wissen.
»Zunächst, Herr Doktor Norden und Frau Doktor Mai sind aus einem anderen Grund hier als Sie.«
»Ach ja? Und warum bin ich hier?«
»Es geht um den Straftatbestand der Verleumdung«, klärte Thea sie auf, warum sie auf dem Revier erscheinen sollte. »Ihnen muss klar sein, dass einer Person, die die Unwahrheit über eine andere Person verbreitet und sie in der Öffentlichkeit diffamiert, eine Gefängnisstrafe bis zu zwei Jahren droht. Sollten diese Anschuldigungen schriftlich oder im Rahmen einer Versammlung, zum Beispiel in einem Café, erfolgen, drohen sogar bis zu fünf Jahre Gefängnis. Ich wollte nur, dass Sie das wissen.«
»Die Wahrheit darf ich aber schon noch sagen«, entgegnete Gusti beleidigt.
»Sicher, aber können Sie das, was Sie über Frau Kern verbreiten, beweisen?«
»Dass sie meinem Enkel schlechte Noten gibt, ist ja wohl Beweis genug, dass sie nach Sympathie handelt.«
»Möglicherweise ist es aber doch so, dass Ihr Enkel diese Noten verdient hat.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Woher wollen Sie es denn wissen?«
»Andere Leute sagen das auch, und dann wird es schon stimmen«, behauptete Gusti.
»Dann sollten auch diese anderen Leute gut darüber nachdenken, was sie so verbreiten. Oder soll ich den Paragraphen 187 noch einmal zusammenfassen, Frau Meier?«
»Schon gut, ich habe verstanden.«
»Das hoffe ich doch sehr. Einen schönen Abend noch, Frau Meier. Danke, dass Sie hier waren.« Thea kam hinter ihrem Schreibtisch hervor und hielt Gusti die Tür auf.
»Bitte sehr«, entgegnete Gusti schnippisch, ohne sich noch einmal umzudrehen.
»Ich glaube, das hat ihr nicht gefallen«, sagte Danny, nachdem die Tür hinter Gusti zugefallen war.
»Nein, ganz bestimmt nicht. Ich hoffe aber, dass sie meine Ansprache zum Nachdenken bringt. Was Ihren Fall betrifft, tut es mir wirklich leid, dass ich nicht mehr für Sie tun kann«, entschuldigte sich Thea mit einem bedauernden Achselzucken, als Danny und Olivia sich gleich darauf von ihr verabschiedeten. »Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich etwas Neues weiß«, versprach sie den beiden und brachte sie zur Tür. Sie würden ein schönes Paar abgeben, dachte Thea, als sie danach aus dem Fenster auf die Straße schaute und Danny und Olivia aus dem Polizeirevier kommen sah.
Auch Gusti Meier, die an der Bushaltestelle stand, beobachtete die beiden. Sie hielt ihr Telefon in der Hand und telefonierte mit Antonia, ihrer besten Freundin. »Ich sage dir, es ist genauso, wie ich vermute, der neue Herr Doktor und die zugezogene Psychologin sind ein Paar«, verkündete sie die Neuigkeit, für deren Verbreitung sie sorgen wollte.
*
»Vielleicht sollte ich besser schon aussteigen«, schlug Olivia vor, als sie nur noch ein paar Straßen von ihrem Haus entfernt waren.
»Nein, das sollten Sie nicht tun.« Danny hielt auf dem Seitenstreifen der befahrenen Hauptstraße an und stellte den Motor der luxuriösen Limousine ab, die er sich vor Kurzem geleistet hatte. Als Geschenk für seine verletzte Seele.
»Hören Sie, Frau Doktor Mai, wir haben keine Ahnung, wo und wann und ob dieser Mann uns beobachtet.«
»Vermutlich haben Sie recht«, stimmte sie ihm zu.
»Dann wäre das geklärt«, sagte Danny und startete den Motor. Auch wenn er es nicht zugeben wollte, er hatte das Gefühl, dass er dieser Frau, die er erst ein paar Stunden kannte, beistehen musste.
»Also gut, wenn Sie keine Angst haben, dass er uns zusammen sieht, dann schlage ich vor, dass sich alle Beteiligten morgen um sieben zum Abendessen bei mir treffen. Ich werde dann alles erklären, auch, dass dieser Mann derjenige sein könnte, der Frau Kern angefahren und Fahrerflucht begangen hat. Würden Sie Sophia, Lydia und Valentina Bescheid geben? Und auch Frau Kern und Herrn Bergwald.«
»Ich kümmere mich darum, dass alle von Ihrer Einladung erfahren«, versprach Danny ihr, weil er es für eine gute Idee hielt, die unangenehme Lage, in der sie sich befanden, gemeinsam zu besprechen.
*
Das Haus der Mais war weiß gestrichen, hatte türkise Fensterläden, und auch das gedrechselte Balkongeländer besaß einen türkisfarbenen Anstrich. Der Obst- und Gemüsegarten war durch einen weißen Holzzaun von den Blumenbeeten und dem Rasen getrennt und passte sich mit seinen Apfel- und Kirschbäumchen dem romantisch verspielten Erscheinungsbild des gesamten Grundstückes an. Rosafarbene Rosen in weißen bauchigen Blumenschalen standen auf der gemauerten Umrandung der überdachten Terrasse, und auch die Tür aus massivem Holz, die direkt in die Küche führte, war türkis gestrichen.
Olivia hatte am Vormittag von Danny erfahren, dass alle kommen würden, die sie über den Sportwagenfahrer ins Bild setzen wollte, und sie hatte eine Gemüselasagne mit Salat vorbereitet. Sie empfing ihre Gäste an einem Tisch aus heller Kiefer. An den beiden Längsseiten standen jeweils vier weiße Stühle, an den beiden Stirnseiten jeweils einer.
Franziska, Lorenz und Valentina waren schon da, als Danny in Begleitung von Sophia und Lydia kam. Die beiden waren nach der Sprechstunde nicht mehr nach Hause gegangen und kamen ganz leger gekleidet in Jeans und T-Shirt. Danny aber hatte seine Praxiskleidung gegen eine dunkle Stoffhose und ein tailliertes weißes Hemd getauscht.
Olivia trug an diesem Abend ein violettes schmal geschnittenes Kleid mit langen Ärmeln. Sie hatte ihr Haar hochgesteckt, und die zarten Locken, die sich über ihren Nacken kräuselten, erregten Dannys Aufmerksamkeit. Er musste immer wieder hinsehen, betrachtete das hellrote Haar, wie es die weiße Haut ihres Nackens streichelte.
Ortrud, die zuerst auf Franziskas Schoß gesessen hatte, danach zu Lorenz wechselte und schließlich bei Valentina gelandet war, suchte sofort Dannys Nähe, der gegenüber von Valentina Platz nahm.
»Ortrud liebt Sie, Doc, ehrlich«, versicherte ihm Ophelia, die in ihrem knöchellangen schwarzen Kleid schon richtig erwachsen aussah. Sie stellte die Schüssel mit dem Tomatensalat, den sie aus der Küche geholt hatte, auf den Tisch und setzte sich auf den Stuhl neben Danny.
»Ortrud kann sich das Recht herausnehmen, jeden zu lieben«, entgegnete Olivia und hauchte ihrer Tochter einen Kuss auf das Haar.
»Dieses Recht können wir uns alle herausnehmen. Wir müssen nur darauf gefasst sein, dass unsere Liebe nicht erwidert wird.«
»Kluges Madl«, sagte Valentina und schnipste ein Katzenhaar von dem Rock ihres geblümten Kleides.
»Dass die Liebe nicht erwidert wird, trifft bei Ihnen auf keinen Fall zu«, erklärte Ophelia und sah zuerst Franziska und dann Lorenz an.
»Schatz, bitte, sei nicht immer so direkt«, bat Olivia.
»Die Wahrheit ist, dass die beiden glücklich sind, warum sollte ich das nicht laut sagen dürfen?«, entgegnete Ophelia selbstbewusst, als Franziska sich Lorenz mit einem Lächeln zuwandte.
Ophelia hatte recht, Franziska war glücklich, so glücklich, dass sie zum ersten Mal, seitdem sie an Krücken laufen musste, ihr Lieblingskleid, das rote mit dem weiten U-Boot-Ausschnitt, das kurz unterhalb der Knie endete, angezogen hatte.
»Für meine Mutter ist die Wahrheit der Grundpfeiler des Lebens, deshalb gibt sie auch nie auf, bis sie sie herausgefunden hat«, erzählte Lydia, und ihr Blick verriet, dass sie stolz auf ihre Mutter war.
»Vielleicht sollte ich Polizistin werden«, stellte Ophelia mit nachdenklichem Blick fest.
»Für Wahrheitsliebende eine weitaus bessere Wahl als ein medizinischer Beruf. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich während eines Rettungseinsatzes die Floskel ›Es wird alles wieder gut‹ von mir gegeben habe, obwohl ich genau wusste, es wird gar nichts mehr gut«, erzählte Lydia mit einem tiefen Seufzer.
»Manchmal wird es aber gerade deshalb wieder gut, weil dieser Satz den Menschen Hoffnung gibt. Ist es nicht so, Doktor Norden?«, bat Sophia um die Unterstützung ihres Chefs.
»Menschen Hoffnung zu geben, gehört zu der stärksten Waffe, wenn es ums Überleben geht«, gab Danny ihr recht.
»So sehe ich das auch«, stimmte Olivia Danny zu und hielt seinen Blick einen Moment lang fest. »Jetzt würde ich aber gern auf den Grund dieses Treffens zu sprechen kommen. Was die Getränke betrifft, bedienen Sie sich bitte selbst«, bat sie und deutete auf die Karaffen mit Wasser, Saft und Wein, die auf dem Tisch standen.
»Mama, du hast das Wort«, sagte Ophelia.
»Vielen Dank, mein Schatz.« Olivia setzte sich an die Stirnseite des Tisches und klärte ihre Gäste über den Mann auf, der vermutlich Franziska angefahren hatte.
»Was passiert, wenn dieser Mann nicht gefunden wird?«, wollte Sophia wissen.
»Wir hoffen, dass er bald seine Deckung verlässt und die Polizei ihn festnehmen kann«, antwortete Olivia.
»Vielleicht verschwindet er auch, weil es ihm durch die Präsenz der Polizei zu ungemütlich wird«, sagte Lydia.
»Er ist mir in eine andere Stadt gefolgt. Ich befürchte, er wird bleiben und auf seine Chance warten. Er hat es auf mich abgesehen, glaubt, mich zu lieben.«
»Und das geht zu weit«, erklärte die rothaarige Frau mit den strahlend blauen Augen, die mit einer großen Auflaufform aus dem Haus kam.
»Darf ich vorstellen, meine Mutter Ottilie Mai«, machte Olivia ihre Gäste mit der Frau in dem eleganten hellen Kleid bekannt, die die nach Oregano und Basilikum duftende Gemüselasagne auf den Tisch stellte.
Wirklich interessant, dachte Danny, als sein Blick von Olivia zu Ophelia und danach zu Ottilie wanderte. Alle drei hatten das gleiche hellrote Haar und die gleichen hellblauen Augen. Selbst Ortrud, die Katze, machte da keine Ausnahme.
»So sehen uns alle Leute an, wenn sie uns das erste Mal zusammen sehen«, meldete sich Ophelia zu Wort, als auch Franziska, Lorenz, Sophia und Lydia sie verblüfft anschauten. »Um die nächste Frage, die irgendwann jeder stellt, zu beantworten. Ja, unsere Namen beginnen alle mit einem O, ein O wie ein Kreis, weil ein Kreis Unendlichkeit bedeutet und das O perfekt zum M passt«, sagt meine Oma. »Unsere Initialen O und M gleich OM, auch als bedeutendes Mantra bekannt.«
»Danke, Kleines, besser hätte ich das Geheimnis der Os nicht zusammenfassen können«, sagte Ottilie und nahm ihre Enkelin liebevoll in den Arm. »Da das nun geklärt ist, gehen wir doch zum gemütlichen Teil des Abends über.«
»Falls das heißt, wir können essen, bin ich dabei.« Ophelia hob ihren Teller an, stellte ihn aber sofort mit einem verschmitzten Lächeln wieder ab, schließlich wusste sie, was sich gehörte, dass zuerst die Teller der Gäste gefüllt wurden.
Nach einer Weile vergaßen alle, warum sie an diesem Abend eigentlich zusammengekommen waren. Ottilie erzählte ihnen die Geschichte ihrer Geburt, die sich ein paar Wochen zu früh ankündigte. Ihre Eltern unternahmen gerade einen Sonntagsspaziergang auf dem Ottilienberg bei Heilbronn, als bei Ottilies Mutter die Wehen einsetzten und Ottilie auf dem Berg zur Welt kam.
»Der Ottilienberg ist ein mystischer Ort, der schon in der Jungsteinzeit besiedelt wurde. Es gab dort auch einmal eine Kapelle, die der heiligen Ottilie geweiht war, und genau an dieser Stelle kam ich zwar zur früh, aber gesund zur Welt. Dass meine Eltern mich Ottilie tauften, war wohl unumgänglich«, fügte sie nachdenklich hinzu.
»Wie hieß Ihre Mutter?«, wollte Sophia wissen.
»Sie hieß Niamh, das mit den Os war meine Idee.«
»Niamh ist ein irischer Name«, stellte Danny fest.
»Unsere Vorfahren mütterlicherseits waren Iren.«
»Das erklärt einiges, nicht wahr?«, raunte Olivia Danny zu. Sie verteilte die Teller mit dem Heidelbeerkuchen, den es zum Dessert gab, und hatte sich leicht über ihn gebeugt, um den Teller für ihn auf den Tisch zu stellen.
»Ja, allerdings, das tut es«, antwortete er und wandte sich ihr mit einem Lächeln zu.
Wow, da geht doch was, dachte Ophelia, und als sie ihre Großmutter ansah, wusste sie, dass auch sie es bemerkte. – Was ist das?, dachte sie, als sie auf die schöne alte Eiche schaute, die auf der Straße hinter ihrem Garten stand und deren Äste über die halbhohe Mauer hinwegragten.
Für einen kurzen Moment glaubte sie, einen Mann im Kapuzenshirt zu sehen, der hinter dem Baumstamm verschwand. Unsinn, ich sehe schon Gespenster, dachte sie, als ein Rabe plötzlich aus dem Baum herausschoss und davonflog. Vermutlich hatte das Tier nur ein paar Zweige bewegt und ihre Fantasie hatte daraus eine menschliche Gestalt geformt.
»Du wirst sie niemals bekommen«, murmelte der Mann in dem Kapuzenshirt und der dunklen Sonnenbrille, der auf der Straße, die hinter dem Garten der Mais vorbeiführte, durch einen Baum geschützt das Haus beobachtete. Er hatte das Fernglas, das er an einem Lederband befestigt um seinen Hals trug, genau auf Danny und Olivia gerichtet.
Auf der Terrasse der Mais ahnten sie nicht, dass sie in diesem Moment beobachtet wurden und dass ihre Fröhlichkeit und ihr liebevoller Umgang miteinander die Wut des fremden Mannes noch weiter anstachelte.