Читать книгу Die neue Praxis Dr. Norden Staffel 1 – Arztserie - Carmen von Lindenau - Страница 7

Der unheimliche Patient Er sah in Danny Norden den Rivalen

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»Guten Morgen, Doc! Ich komme heute in einer dringenden Angelegenheit«, verkündete Ophelia, als sie durch die geöffnete Terrassentür in Dannys Wohnküche schaute, einen lichtdurchfluteten Raum mit zwei großen Fenstern, Küchenmöbeln aus weißem Holz und einem Esstisch mit hellen Lederstühlen.

»Wie dringend ist denn diese Angelegenheit?«, fragte Danny und stellte die Kaffeetasse wieder ab, die er gerade hochheben wollte. Er musste gegen das Sonnenlicht blinzeln, als er aufblickte, um in Ophelias Richtung zu sehen.

»Meine Oma ist krank. Sie hat Fieber, und Mama meint, ich soll Sie fragen, ob Sie vor Ihrer Sprechstunde nach ihr sehen könnten.«

»Das ist bestimmt diese Grippe, die gerade umgeht«, meldete sich Valentina zu Wort, die in ihrer rotweiß gestreiften Schürze vor dem Herd stand. Wie an jedem Vormittag in der Woche kümmerte sie sich um den Haushalt des jungen Arztes und sorgte auch dafür, dass er nicht ohne Frühstück in den Tag startete.

»Oma hält es nicht für die Grippe. Sie denkt, es sei nur eine Erkältung, aber Mama besteht darauf, dass sie sich untersuchen lässt«, entgegnete Ophelia. »Könnte es sein, dass es hier nach Apfelkuchen duftet?«, fragte sie, warf ihr langes rotes Haar in den Nacken und sah Valentina mit ihren hellen blauen Augen an.

»Möglich wär’s«, antwortete Valentina schmunzelnd und öffnete die Backofentür.

»Ich nehme an, du hast erst zur zweiten Stunde Schule?«, fragte Danny, nachdem er kurz auf das Display seines Handys geschaut hatte, das vor ihm auf dem Tisch lag. Es war bereits nach acht, die erste Schulstunde hatte längst begonnen.

»Heute habe ich sogar erst zur dritten Stunde. Unser Mathelehrer ist krank. Ab morgen übernimmt Frau Kern ein paar Stunden bei uns«, erzählte Ophelia, während sie sich zu Danny an den Tisch setzte.

»Kann sie denn schon wieder ohne Krücken laufen?«, erkundigte sich Valentina.

»Inzwischen braucht sie nur noch eine. Dank unseres Docs und Lorenz Bergwald, ihres Physiotherapeuten, wird es von Tag zu Tag besser.«

»Mei, vielleicht finden Sie den Kerl, der sie angefahren hat, doch noch irgendwann, damit ein bissel Schmerzensgeld für sie herausspringt«, sagte Valentina.

»Das hoffen wir alle«, stimmte Danny ihr zu. »Was ist eigentlich mit Ortrud? Sie war heute noch gar nicht da«, wunderte er sich, weil die Katze seiner Nachbarinnen noch nicht aufgetaucht war. Sie kam sonst jeden Morgen über die Terrasse herein, um auf der Fensterbank des Esszimmers ein Schläfchen zu halten.

»Ortrud rührt sich nicht von Omas Seite. Das macht sie immer so, wenn jemand von uns krank ist. Oma meint, dass sie spürt, wenn wir Gesellschaft und Trost brauchen«, erzählte Ophelia und schob eine Gabel mit einem Stück von dem noch warmen Apfelkuchen mit Zimt, den Valentina ihr auf einem weißen Porzellanteller servierte, behutsam in den Mund. »Echt köstlich, Frau Merzinger«, lobte sie Valentinas Backkünste.

»Lass es dir nur schmecken, Spatzl«, entgegnete Valentina mit einem liebevollen Lächeln. »Möchten Sie auch noch ein Stückl Kuchen, Herr Doktor?«, wandte sie sich an Danny, der inzwischen die Spiegeleier auf Toastbrot gegessen hatte, die sie ihm zum Frühstück zubereitet hatte.

»Nein, vielen Dank, Valentina, im Moment nicht. Ich werde den Kuchen heute Nachmittag versuchen«, versicherte Danny ihr. »Ich sehe jetzt erst mal nach Frau Mai.«

»Echt super von Ihnen, Doc, danke«, sagte Ophelia.

»Das fällt unter Nachbarschaftshilfe«, entgegnete Danny lächelnd.

»Falls Sie nach dem Hausbesuch gleich in die Praxis gehen, Herr Doktor, und wir uns nicht mehr sehen, ich gehe heute ein bissel früher. Mein Mann und ich fahren zu meiner Schwester nach Fürstenfeldbruck. Sie hat heute Geburtstag. Ich stell das Mittagessen in den Kühlschrank. Sie müssen es dann nur noch aufwärmen.«

»Das bekomme ich hin, danke, Valentina«, sagte Danny. Nachdem er ihr noch einen schönen Tag gewünscht hatte, holte er seine Arzttasche aus der Diele, die dort immer für einen Notfalleinsatz bereitstand, und nahm den Weg durch den Garten.

Sein Umzug in diesen Stadtteil mit seinen hübschen Einfamilienhäusern und gepflegten Gärten war, noch nicht ganz zwei Monate her und doch fühlte er sich hier schon zu Hause. Er empfand es als Vorteil, dass Praxis und Wohnung nun unter einem Dach waren und er morgens mehr Zeit für sich hatte.

Er schaute auf die Rosenbüsche, die noch in voller Blüte standen. Valentina, die sich schon um den Haushalt von Fanny Moosinger, der alten Dame, die ihm das Haus vererbt hatte, stets kümmerte, hatte darauf bestanden, auch weiterhin die Pflege der Rosen zu übernehmen. Für den Heckenschnitt, das Mähen des Rasens und die Pflege der Birken und Kastanien auf dem Grundstück hatte er einen Gärtner engagiert.

Kurz nach seinem Einzug hatte er daran gedacht, den Durchgang in der Hecke zu schließen, die sein Grundstück von dem des Nachbarhauses trennte. Inzwischen hatte er diesen Plan aufgegeben. Ortrud würde ein weiteres Lorbeerbäumchen in der Hecke ohnehin nicht abschrecken, zu ihm herüberzukommen, und Ophelia, die gern denselben Weg wie ihre Katze wählte, wollte er den Weg nicht unnötig erschweren. Sie kam fast jeden Morgen vorbei, um Ortrud wieder abzuholen, und hatte immer etwas zu erzählen, was Valentina und ihn zum Schmunzeln brachte.

Eigentlich war er nicht auf eine enge Nachbarschaft aus gewesen, schon gar nicht mit Olivia und Ottilie Mai, den beiden Psychologinnen, die auch erst seit Kurzem in dieser Straße wohnten und in ihrem Haus eine Praxis eröffnet hatten. Psychologen waren Danny suspekt. Die, die er privat kannte, entsprachen bedauerlicherweise diesem Klischee, dass ein Psychologe selbst sein bester Patient war.

Noch hatten sich Olivia und Ottilie nicht von dieser besserwisserischen Seite gezeigt, die anderen weismachen wollte, dass sie jeden Menschen jederzeit durchschauen konnten. Möglicherweise waren sie ein klein wenig anders als ihre Kollegen und Kolleginnen, die er kannte. Er würde es im Laufe der Zeit sicher herausfinden und sich von dem Ergebnis überraschen lassen.

Wie jedes Mal, wenn er das Nachbargrundstück betrat, fühlte er sich wie in eine Märchenwelt versetzt. Das weiß gestrichene Haus mit den türkisen Fensterläden, der türkisfarbenen Haustür und dem Balkongeländer in der gleichen Farbe lag inmitten eines Gartens mit wilden Rosen, Obstbäumen und Gemüsebeeten.

Die Mais hatten das alte ein wenig heruntergekommene Haus und den ungepflegten Garten vor ihrem Einzug renovieren lassen und ein kleines Paradies daraus gemacht. Die Nachbarn hatten die Veränderung beobachtet, und die kleineren Kinder waren der einhelligen Meinung gewesen, dass in diesem Haus nur ein Dornröschen oder Schneewittchen leben konnte. Als Ophelia dann mit Mutter und Großmutter einzog, waren die Kinder davon überzeugt, dass die drei mit ihren roten Haaren und den leuchtendblauen Augen etwas Geheimnisvolles umgab.

Wozu auch Ortrud beigetragen hatte. Als Danny zu Ottilies Schlafzimmerfenster hinaufschaute, sah er die rotgetigerte Katze dort sitzen, so als würde sie auf ihn warten. Auch Ortrud hatte blaue Augen, und sie scheute sich nicht davor, jeden, der ihr begegnete, mit einem durchdringenden Blick anzusehen.

»Guten Morgen, Doktor Norden«, begrüßte ihn Olivia Mai, die ihm gleich darauf die Haustür öffnete.

Sie trug ein hellgrünes knielanges Kleid, dunkelgrüne Ballerinas, und sie hatte ihr Haar zu einem lockeren Knoten am Hinterkopf festgesteckt. Sie lächelte, als sie zur Seite trat, um Danny ins Haus zu lassen, und er lächelte zurück. Er musste sich erneut eingestehen, dass Olivia äußerst anziehend auf ihn wirkte. Ein Gefühl, das sich aber leicht beherrschen ließ, wie er glaubte, da er im Moment nicht an einer neuen Beziehung interessiert war.

»Ophelia hat mich gebeten, nach Ihrer Mutter zu sehen«, sagte er, nachdem er das Haus betreten hatte.

»Ich hatte sie damit beauftragt. Danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Meine Mutter ist ziemlich uneinsichtig, wenn es darum geht, dass sie sich schonen muss. Bitte, hier entlang«, bat sie ihn und deutete auf die Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte.

Er war erst einmal zum Abendessen bei den Mais gewesen, hatte aber schon einige Male auf ihre Einladung hin auf der Terrasse eine Tasse Kaffee mit ihnen getrunken. In den Räumen im ersten Stock und im Dachgeschoss war er bisher noch nicht gewesen. Er nahm den zarten Jasminduft wahr, der durch das helle luftige Haus mit den Dielenböden und der honigfarbenen Holztreppe zog.

Olivias Schlafzimmer lag gleich neben dem Treppenaufgang. Die Tür stand offen, und er warf einen Blick hinein. Er sah ein weißes Polsterbett mit bunten Kissen, einen Kleiderschrank aus Kirschbaumholz und einen schönen alten Sekretär aus rotem Ahorn. Die duftigen bodenlangen Gardinen aus weich fallendem weißem Stoff waren beiseite gezogen, und er konnte die drei blauen Blumentöpfe mit dem in voller Blüte stehenden Jasmin sehen.

»Mein Rückzugsort«, sagte Olivia, die seinem Blick gefolgt war.

»Ein schöner Ort«, entgegnete er und wandte sich von dem Zimmer ab, weil er ihr nicht das Gefühl geben wollte, in ihre Privatsphäre einzudringen. Als er ihr die nächste Treppe hinauffolgte, schaute er auf die Stufen vor sich, weil er sich ihr auf einmal näher fühlte, als er es zulassen wollte.

*

»Olivia, also bitte, ich sagte doch, dass ich keinen Arzt brauche«, erklärte Ottilie Mai, als Danny und Olivia den großen Raum unter dem Dach betraten, in dem sich Ottilie eingerichtet hatte.

Das Bett stand auf einem Podest direkt neben dem großen Fenster zum Garten. Regale mit ordentlich eingeräumten Büchern zogen sich an zwei Wänden entlang. In der Sitzecke am anderen Ende des Zimmers standen ein rosa Stoffsofa mit Vergissmeinnichtmuster und zwei Sessel, die mit dem gleichen Stoff bezogen waren. Ortrud hatte sich auf dem Sofa ausgestreckt und beobachtete Danny.

»Der Anblick einer Blumenwiese ist unglaublich beruhigend. Ein Bild hat natürlich nicht die gleichen Auswirkungen wie die wahre Natur, aber es kann schon einiges bewirken«, sagte Ottilie, als Danny auf das halbfertige Gemälde schaute, das auf der Staffelei neben dem Schreibtisch aus heller Kiefer stand. Es ähnelte den Gemälden mit den Blumenwiesen, die im Treppenaufgang an den Wänden hingen.

»Ja, ich weiß«, stimmte er ihr zu. Unter freiem Himmel war es immer leichter, seine Sorgen wenigstens für eine Weile zu vergessen. Es war einfach mehr Raum da, um die bedrückenden Gedanken davonfliegen zu lassen. »Ophelia sagte, Sie haben Fieber«, erklärte er Ottilie, warum er da war.

»Nur erhöhte Temperatur«, entgegnete sie. Sie hatte sich in ihrem Bett aufgerichtet und tat, als ginge es ihr gut. Ihr rotes Haar war sorgfältig zu einem Zopf geflochten, und das weiße Spitzennachthemd, das sie trug, schien sie gerade erst angezogen zu haben. Aber sie konnte Danny nicht wirklich täuschen. Der unnatürliche Glanz ihrer hellen blauen Augen verriet ihm, dass sie tatsächlich Fieber hatte.

»Stark erhöhte Temperatur, so um die 39 Grad, richtig?«, fragte Danny lächelnd.

»39,5«, gab Ottilie zu. »Aber das ist kein Grund zur Besorgnis. Ein paar Wadenwickel und alles ist gut«, sagte sie und ließ sich wieder in ihre Kissen sinken.

»Ich würde Sie trotzdem gern kurz abhören. Nur um sicher zu gehen, dass Sie sich nicht doch eine Grippe eingefangen haben.«

»Meinetwegen, da Sie schon da sind, sollte ich Ihren fachlichen Rat nutzen«, erklärte sich Ottilie einverstanden.

»Hallo, Ortrud«, sagte Danny, als die rotgetigerte Katze vom Sofa sprang, zu ihm kam und schnurrend um seine Beine strich.

»Ich warte unten«, sagte Olivia und verließ das Zimmer, um Arzt und Patientin allein zu lassen.

»Soll ich noch einmal Fieber messen?«, fragte Ottilie, nachdem Olivia gegangen war.

»Ja, unbedingt«, sagte Danny und stellte seine Arzttasche neben ihrem Bett ab.

*

Olivia war in der Küche, als Danny eine Viertelstunde später die Treppe herunterkam. Es war ein gemütlicher Raum mit in U-Form angeordneten Möbeln aus hellem Holz. Olivia stand am Fenster, hatte den Rand der Arbeitsfläche, die unter dem Fenster angebracht war, mit den Händen umfasst und schaute auf den Kirschbaum, dessen Äste beinahe das Fenster berührten. »Wie geht es meiner Mutter?«, fragte sie und wandte sich Danny zu, als er über das Esszimmer, das nur durch ein Sideboard von der Küche getrennt war, hereinkam.

»Sie hat eine Bronchitis. Ich hoffe, sie hört auf mich und gönnt sich ein paar Tage Ruhe, damit daraus keine Lungenentzündung wird«, klärte Danny sie über seine Diagnose auf.

»Einfach wird es nicht werden. Meine Mutter ist der Meinung, dass man im Bett erst richtig krank wird.«

»Das höre ich oft, gerade von älteren Leuten. Ich rate dann zum Sofa«, entgegnete Danny lächelnd. »Das wird ihre Beschwerden lindern«, versicherte er Olivia und reichte ihr das Rezept, das er auf der Küchenanrichte ausgefüllt hatte.

»Danke, ich werde gleich in die Apotheke fahren. Das schaffe ich noch, bevor der erste Patient eintrifft«, sagte Olivia, nachdem sie einen Blick auf die Uhr an ihrem Herd geworfen hatte.

»Wie es aussieht, hatten Sie mit der Praxis einen guten Start. Ich habe gehört, dass sich Patienten bereits auf eine längere Wartezeit einrichten müssen, wenn Sie zu Ihnen wollen.«

»Im Moment sind wir bei zehn Tagen. Patienten mit akuten Beschwerden werden immer zeitnah behandelt.«

Der Bedarf an psychologischer Beratung war ganz offensichtlich auch in seiner neuen Nachbarschaft groß. Für die Menschen, die Hilfe brauchten, war es ein Segen, dass sie professionelle Unterstützung bekamen. Ob er selbst den Mut haben würde, einem anderen Menschen sein Inneres zu offenbaren, bezweifelte Danny. »Was ist?«, fragte er, als Olivia plötzlich zusammenzuckte und wie gebannt aus dem Fenster starrte.

»Wenn das so weitergeht, muss ich mich selbst behandeln oder meine Mutter darum bitten«, sagte sie und wandte sich abrupt vom Fenster ab.

»Was haben Sie gesehen?«, wollte Danny wissen und hielt ihren Blick fest. »Einen Mann in einem Kapuzenshirt?«, fragte er, als er die Angst in ihren Augen sah.

»So ist es, leider. Seitdem dieser Kerl Frau Kern angefahren hat und ich davon ausgehen muss, dass es derselbe Mann ist, der mich in Heilbronn verfolgt hat, sehe ich ständig Männer in Kapuzenshirts«, gestand ihm Olivia.

»Die Polizei hält es für unwahrscheinlich, dass er sich noch hier herumtreibt.«

»Ich weiß, meistens ist es auch so, dass diese Leute ihre vertraute Umgebung nur ungern auf Dauer verlassen. Sie sind in der Regel Kontrollfreaks. Sie wollen alles über ihr Umfeld wissen, und das setzt monatelange Beobachtung voraus. Aber letztendlich gibt es immer Ausnahmen von der Regel, auch bei diesen Menschen.«

»Dann sollten wir hoffen, dass sich dieser Mann an die Regeln hält und Ihnen nicht mehr zu nahe kommt.«

»Ich habe vor ein paar Monaten einen Kursus zur Selbstverteidigung belegt. Ich kann ihn im Notfall auf Abstand halten«, versicherte ihm Olivia.

»Da dieser Mann bisher nur ein Phantom ist, das auftaucht und wieder verschwindet, und Sie so gut wie nichts über ihn wissen, sollten Sie es besser nicht auf eine direkte Begegnung ankommen lassen.«

»Sie haben recht, es könnte schlecht für mich ausgehen.«

»Deshalb sollten Sie die Polizei informieren, falls Sie glauben, ihn gesehen zu haben. Das Argument, dass sie nichts gegen ihn unternehmen können, weil er nur Briefe an Sie schickt und Sie aus der Ferne beobachtet, hat sich überholt. Die Fahrerflucht ist strafrechtlich relevant, nach ihm wird gefahndet.«

»Ich muss Ihnen erneut recht geben«, stimmte Olivia ihm zu.

»Wie geht es Oma, Doc?«, fragte Ophelia, die von ihrem Besuch bei Valentina zurückkam und in die Küche schaute.

»Sie braucht nur ein bisschen Ruhe, dann ist sie in ein paar Tagen wieder fit«, antwortete ihr Danny. »Sollte etwas sein, rufen Sie mich an«, wandte er sich Olivia noch einmal zu.

»Oder ich komme vorbei«, erklärte Ophelia.

»Das ist natürlich auch eine Möglichkeit«, entgegnete Danny schmunzelnd.

»Da ist noch etwas«, sagte Ophelia und sah zuerst ihre Mutter und danach Danny an.

»Und das wäre?«, fragte Olivia, als das Mädchen nicht weitersprach, so als sei ihr das, was sie zu sagen hatte, unangenehm.

»Ich will ja nicht paranoid klingen, aber ich dachte gerade, als ich von Doktor Nordens Grundstück kam, ich hätte einen Mann im dunkelblauen Kapuzenshirt in unserer Einfahrt gesehen«, sagte Ophelia leise, so als befürchtete sie, jemand könnte sie von draußen belauschen.

»Du hast dich sicher geirrt, Schatz«, versuchte Olivia, ihre Tochter von diesem beunruhigenden Gedanken abzubringen.

»Nein, das glaube ich nicht«, entgegnete Ophelia selbstbewusst. »Du hast ihn auch gesehen, richtig?« Sie kannte ihre Mutter genau. Sie hatte das Flattern um Olivias Mundwinkel wahrgenommen, ein Zeichen dafür, dass sie etwas vor ihr verbarg.

»Ich bin mir nicht sicher. Viele Leute tragen Kapuzenshirts«, versuchte Olivia, sich herauszureden.

»Das ist mir klar, trotzdem, Mama, wir sollten echt vorsichtig sein. Ich sehe jetzt noch mal nach Oma«, sagte sie.

»Aber halt ein bisschen Abstand, damit du dich nicht ansteckst«, bat Olivia ihre Tochter.

»Ich bin jung, ich fange mir so schnell nichts ein«, erklärte Ophelia. »Aber was deinen Schatten betrifft, sollten wir etwas tun, was wir schon lange hätten tun sollen.«

»Das wäre?«, fragte Olivia.

»Wir sollten unbedingt alle in Verbindung bleiben, damit meine ich auch Sie, Doc. Mama, Oma und ich haben eine App auf unseren Handys installiert, über die wir Kontakt halten können. Sie sollten sich uns anschließen, dann können Sie uns sofort informieren, sollte Ihnen etwas merkwürdig vorkommen. Was natürlich auch umgekehrt gilt«, erklärte sie Danny.

»Langsam, Schätzchen, Doktor Norden muss schon beruflich ständig erreichbar sein, privat wird er das sicher nicht auch noch wollen«, mischte sich Olivia ein.

»Sie haben recht, privat telefoniere ich lieber oder schreibe eine Mail. Trotzdem muss ich Ophelia recht geben, solange Sie nicht wissen, wer Ihnen nachstellt, sollten wir alle wachsam sein. Welche App benutzt ihr?«, wandte er sich an Ophelia.

»Ich schicke Ihnen einen Link, einfach nur anklicken, dann installiert sich die App.«

Danny zog sein Smartphone aus der Hosentasche und nahm die Nachricht von Ophelia an. Danach installierte er die App und schob das Icon, das Bild, das auf die App hinwies, gut sichtbar auf das Display seines Handys.

»Jetzt gehören Sie dazu«, sagte Ophelia und stürmte die Treppe hinauf, um nach ihrer Großmutter zu sehen.

»Sie fühlen sich nicht überrumpelt?«, wollte Olivia von Danny wissen.

»Nein, überhaupt nicht. Es war ein guter Vorschlag. Ophelia denkt mit«, lobte er ihre Tochter.

»Das stimmt, sie findet sich nicht mit den Gegebenheiten ab, sie sucht nach Lösungen.«

»Deshalb bringt es auch nichts, ihr etwas vormachen zu wollen. Sie sollten ihr die Wahrheit sagen und zugeben, was sie ohnehin schon ahnt, dass auch Sie glauben, den Mann gesehen zu haben und dass Ihnen das Angst macht. Und die Polizei sollte es auch wissen.«

»Sie haben ja recht. Ich werde mit Ophelia sprechen und auch die Polizei informieren. Wissen Sie zufällig, ob sich Frau Seeger noch um den Fall kümmert?«

»Davon gehe ich aus. Ich habe Lydia erst kürzlich gefragt, ob es etwas Neues gibt. Sie hat mir versichert, dass ihre Mutter an der Sache dranbleibt, dass es aber noch keine zielführenden Hinweise gibt«, erzählte er Olivia, was er von seiner Sprechstundenhilfe erfahren hatte.

»Gut, dann werde ich Frau Seeger gleich anrufen. Ich werde Ophelia heute auch in die Schule fahren und wieder abholen, und ich werde mit ihr über meine Beobachtung sprechen«, versprach sie ihm.

»Gute Entscheidung. Falls etwas ist, Sie wissen, wo Sie mich finden. Oder Sie nutzen unsere App«, schlug er ihr mit einem verschwörerischen Lächeln vor, als Olivia ihn zur Tür begleitete.

»Danke, Doktor Norden«, entgegnete sie, und für einen Moment trafen sich ihre Blicke.

»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag«, verabschiedete sich Danny und ging schnell weiter. Wie immer, wenn Olivia ihn mit ihren hellen blauen Augen anschaute, hatte er das Verlangen, sie länger anzusehen, aber das gestattete er sich nicht, weil er keine Ahnung hatte, wohin das möglicherweise führte.

Auf dem Weg zurück zu seinem Haus sah er sich ein paar Mal um, so als befürchtete auch er, Olivias Verfolger könnte sich in der Nähe aufhalten, obwohl er das eigentlich nicht für wahrscheinlich hielt. Genau wie die Polizei glaubte er, dass der Mann längst das Weite gesucht hatte, weil er davon ausgehen musste, dass nach seiner Fahrerflucht nach ihm gefahndet wurde.

*

Die Praxis hatte einen separaten Eingang zum Hof, der durch eine Hecke aus dichtgewachsenen Koniferen vom Garten getrennt war. Da Danny es eilig hatte, ging er nicht noch einmal ins Haus, sondern nahm den direkten Weg durch den Hof. Schwungvoll öffnete er die Tür und betrat den hellen Empfangsbereich. Lydia und Sophia, seine beiden Sprechstundenhilfen, standen hinter dem modernen Tresen mit der eingebauten LED-Leiste, die den Boden beleuchtete. Sophia hielt den Telefonhörer der Haussprechanlage in der Hand, ließ ihn aber sinken, als sie auf ihn aufmerksam wurde.

»Da sind Sie ja, wir dachten schon, Sie hätten verschlafen. Sophia wollte Sie gerade anrufen. Wie ich sehe, haben Sie aber schon einen Hausbesuch gemacht«, stellte Lydia fest. Die hübsche junge Frau mit dem kinnlangen dunkelblonden Haar schaute auf die Arzttasche, die er bei sich hatte.

»Gut beobachtet«, antwortete Danny. Lydia, die bei der Freiwilligen Feuerwehr aktiv war, besaß die Gabe, sofort das Wesentliche zu erkennen, woraus sie Rückschlüsse ziehen konnte. »Das sieht nach einem turbulenten Vormittag aus«, stellte er fest, als er in den Wartebereich schaute, der nur durch eine Glaswand von der Diele getrennt war. Die gelben Sessel in dem Raum mit dem dunklen Holzboden und den Grünpflanzen in ihren weißen Kübeln waren alle besetzt.

»Gusti Meier ist auch wieder da. Dieses Mal mit ihrem Enkel«, raunte Sophia Danny zu. Die zierliche junge Frau, die ihr hellblondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden trug, hatte sich über den Tresen gebeugt, um sicher zu gehen, dass außer Lydia niemand ihre Bemerkung hörte.

»Der Junge behauptet, seine Großmutter hätte ihn gezwungen hierherzukommen, obwohl ihm nichts fehlt. So ganz nehme ich ihm das aber nicht ab, er sieht ziemlich blass aus«, schaltete sich Lydia in das Gespräch ein.

»Möglicherweise spielt er nur den Starken, so wie viele Jungs in seinem Alter«, mutmaßte Danny.

»Beruht diese Aussage auf eigener Erfahrung, Herr Doktor?«, fragte Lydia.

»Könnte schon sein«, antwortete Danny schmunzelnd.

»Ich glaube, wir erregen mit unserer Tuschelei schon Aufmerksamkeit«, stellte Sophia fest, die ins Wartezimmer schaute und die neugierigen Blicke der Patienten bemerkte, die ihrer kleinen Unterhaltung galten.

»Da wäre noch etwas, was Sie wissen sollten«, sagte Danny, als Sophia und Lydia sich schon aufrichten wollten.

»So wie Sie uns gerade ansehen, ist es nichts Gutes«, entgegnete Lydia mit einem skeptischen Blick.

»Es geht um diesen Mann, der Frau Mai verfolgt. Ophelia und ihre Mutter glauben beide, dass sie ihn heute Morgen in der Nähe ihres Hauses gesehen haben. Sollten Sie eine ähnliche Beobachtung machen, nehmen Sie sie bitte ernst«, bat Danny die beiden.

»Weiß meine Mutter Bescheid?«, wollte Lydia wissen.

»Frau Mai wollte sie anrufen.«

»Hoffentlich finden sie diesen kranken Kerl endlich, damit die Mais Ruhe haben«, sagte Sophia leise.

»Meine Mutter hat die Sache nicht vergessen, sie sucht nach wie vor nach ihm«, versicherte ihr Lydia.

»Wir sollten unsere Patienten nicht länger warten lassen«, sagte Danny, als er ins Wartezimmer sah und sich alle Blicke gleichzeitig auf ihn richteten.

»Alles klar, Herr Doktor«, sagte Lydia, und sie beendeten ihre kleine morgendliche Unterhaltung.

Während er den Gang hinunterlief, an dessen Ende das Sprechzimmer lag, rief Sophia den nächsten Patienten zur Blutentnahme auf, und Lydia kümmerte sich um die eingehenden Anrufe.

Danny schloss die Tür des Sprechzimmers hinter sich, stellte seine Arzttasche unter den Schreibtisch mit der großen weißen Schirmlampe, die an einem biegsamen Stahlarm befestigt war und bei Dunkelheit den ganzen Raum ausleuchtete. Bevor Danny mit der Sprechstunde begann, gönnte er sich noch ein paar Sekunden, um durchzuatmen.

Er setzte sich hinter den Schreibtisch, schaute auf die Landschaftsbilder, die in dunklen Holzrahmen an den Wänden hingen, und danach auf die antike Standuhr aus Ahornholz, die in einer Ecke des Raumes stand. Fanny Moosinger, der diese Uhr einmal gehörte, behauptete, sie besäße magische Kräfte, die sie dem alten Holz zuschrieb, aus dem sie gemacht war. Über welche Kräfte die Uhr auch verfügte, sie sorgte in diesem Raum für eine angenehme Atmosphäre, wie ihm schon viele Patienten bestätigt hatten.

Er zog die oberste Schublade seines Schreibtisches auf und nahm die Postkarte heraus, die vor ein paar Tagen in seinem Briefkasten lag und die er aus einer sentimentalen Stimmung heraus aufgehoben hatte. Noch einmal las er den in einer zierlichen Handschrift abgefassten Text:

Wir hatten eine wundervolle Zeit, die ich nie vergessen werde. Auch wenn ich dir wehgetan habe, hoffe ich, dass auch du dich an diese schöne Zeit erinnern wirst.

Wir werden sehen, was von alldem bleibt, dachte Danny. Im Moment war ihm die Zukunft wichtiger als die Vergangenheit. Kurz entschlossen riss er die Karte in kleine Schnipsel und entsorgte sie in dem Papierkorb, der unter dem Tisch stand. Manchmal musste man einfach einen Schlussstrich ziehen, um in Ruhe weiterleben zu können. Er drückte auf die Taste seines Haustelefons, die Sophia und Lydia signalisierte, dass er bereit für die Sprechstunde war.

Gleich darauf konnte er Gusti Meiers Patientenakte auf dem Monitor seines Computers sehen und auch die Akte ihres Enkels Marius, in die bisher neben dem Namen nur das Geburtsdatum und die Adresse des Jungen eingetragen waren. Die beiden würden gleich da sein, und er ging zur Tür, um sie zu begrüßen.

Lydia hat recht, der Junge ist wirklich auffallend blass, dachte er, als die korpulente Mittsechzigerin im dunkelblauen Trachtenkostüm und der schlaksige Junge mit dem streichholzkurzen Haar, der schon fast so groß wie seine Großmutter war, auf ihn zukamen. »Guten Morgen, Herr Doktor«, sagte Gusti und schob Marius an Danny vorbei ins Sprechzimmer.

»Guten Morgen«, entgegnete Danny freundlich und schloss die Tür hinter den beiden. So wie es inzwischen in vielen Arztpraxen üblich war, verzichtete auch er auf das Händeschütteln mit seinen Patienten, was für beide Seiten aus hygienischen Gründen ein Vorteil war. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte er, nachdem er sich hinter seinen Schreibtisch gesetzt hatte und Gusti und Marius ihm gegenüber auf den beiden Stühlen Platz nahmen.

»Es geht um den Buben. Er hat ADHS«, klärte Gusti ihn über den Grund ihres Besuches auf.

»Und wie kommen Sie darauf?«, fragte Danny, während er Marius ansah, der vollkommen entspannt auf seinem Stuhl saß, seine Hände in die Taschen seiner Jeans steckte und den Kaugummi, den er im Mund hatte, genüsslich von einer Seite auf die andere schob.

»Sie wissen doch, dass er die sechste Klasse wiederholen muss, weil diese Lehrerin, diese Frau Kern, ihm in Mathematik und Sport schlechte Noten gegeben hat«, sagte Gusti.

»In welchem Zusammenhang steht das mit Ihrer Diagnose?«, fragte Danny so höflich, wie es ihm möglich war. Gusti Meier hatte vor ein paar Wochen die junge Lehrerin in aller Öffentlichkeit beschuldigt, Marius nur deshalb schlecht zu benoten, weil sie ihn angeblich nicht leiden konnte. Gusti hatte sich dafür beinahe eine Verleumdungsklage eingehandelt. Er war davon ausgegangen, dass sie inzwischen begriffen hatte, dass ihr Enkel sich diese Noten selbst eingehandelt hatte.

»In der Schule steht es schon wieder nicht zum Besten. So wie ich das sehe, kann der Bub sich nicht richtig konzentrieren. Das bedeutet, er leidet an einer Aufmerksamkeitsstörung, also ADHS«, sagte sie, ohne dass auch nur der geringste Zweifel in ihrer Stimme zu hören war.

»Ich denke nicht, dass er ADHS hat«, widersprach ihr Danny.

»Aber es ist offensichtlich, Herr Doktor.«

»Für mich nicht. Darf ich Sie fragen, warum Marius mit Ihnen und nicht mit seinen Eltern hergekommen ist?«, fragte Danny, während Marius aus dem Fenster schaute, als ginge ihn das alles nichts an.

»Weil das mit der ADHS ihre Idee ist«, mischte sich Marius auf einmal in das Gespräch zwischen seiner Großmutter und Danny ein. »Meine Eltern sagen, dass ich einfach nur zu faul zum Lernen bin und deshalb schlechte Noten schreibe.«

»Geh, Bub, was sagst du denn da? Du bist doch nicht faul, du bist krank«, entgegnete Gusti.

»Würden Sie Marius und mich bitte ein paar Minuten allein lassen«, bat Danny Gusti Meier, als der Junge erneut aus dem Fenster schaute und Desinteresse vorgab.

»Wenn Ihnen das hilft, die Diagnose zu stellen.«

»Das würden mir sehr helfen«, sagte Danny.

»Na gut, ich warte vorn am Tresen auf dich«, wandte sich Gusti an ihren Enkel und verließ nur zögerlich das Sprechzimmer.

»Ich weiß jetzt, worauf deine Großmutter und deine Eltern deine schlechten schulischen Leistungen schieben. Was ist mit dir? Was glaubst du, woran es liegt, dass du nicht mitkommst?«, wollte Danny von Marius wissen.

»Keine Ahnung, vielleicht, weil ich immer so müde bin, und wenn mich dann ein Lehrer anspricht, reagiere ich eben gereizt, weil ich eigentlich schlafen will. Sie sagen, ich sei aufsässig und nicht in der Lage, dem Unterricht zu folgen. Im Sportunterricht ist es am schlimmsten. Ich kann mich einfach nicht aufraffen, im Kreis herumzurennen oder mich an irgendwelchen Geräten abzuarbeiten.«

»Wie lange fühlst du dich schon so müde?«, fragte Danny und sah den Jungen aufmerksam an. Er war nicht nur sehr dünn und blass, seine Haut war auch trocken und er hatte spröde Mundwinkel. Zusammen mit der Müdigkeit konnte das auf einen gravierenden Eisenmangel hindeuten.

»Das mit der Müdigkeit habe ich schon seit ein paar Monaten. Seitdem gehe ich auch nur noch selten mit meinem Vater ins Fitnessstudio.«

»Wie waren deine Noten, bevor du dich so müde gefühlt hast?«

»Ganz okay, in den Arbeiten hatte ich meistens eine zwei oder eine drei. Ein Mathegenie, wie meine Oma glaubt, war ich aber nie, das muss sie sich leider abschminken«, erklärte Marius achselzuckend. »Schule ist überhaupt total öde.«

»Du bist jetzt dreizehn«, sagte Danny.

»Dreizehn und drei Monate«, verbesserte ihn Marius und richtete sich in seinem Stuhl auf, so als wollte er noch ein bisschen größer wirken.

»Das heißt in knapp fünf Jahren bist du volljährig und kannst selbst über deine Zukunft bestimmen. Je besser du vorbereitet bist, desto mehr Möglichkeiten bieten sich dir. Du solltest die Schule unbedingt ausnutzen.«

»Was meinen Sie mit ausnutzen? Das klingt, als könnte ich der Schule etwas wegnehmen«, wunderte sich Marius.

»Wegnehmen nicht, aber du kannst das Wissen, das sie dir zur Verfügung stellen, aufnehmen und für dich nutzen. Hingehen musst du ohnehin noch eine Weile, warum solltest du dann nicht das Angebot ausschöpfen.«

»Wow, das klingt ja mal richtig abgefahren, Herr Doktor. So habe ich das mit der Schule noch nie betrachtet. Hingehen und alles abgreifen, was die an Wissen im Angebot haben. Obwohl, so leicht ist das nicht. Manche Lehrer tun sich echt schwer damit, etwas verständlich zu erklären.«

»Dann frage nach.«

»Das nervt sie.«

»Einige mag das nerven, aber die meisten werden deine Fragen als Interesse werten und in deine Noten miteinfließen lassen.«

»Ich glaube, aus Ihnen wäre ein Spitzenlehrer geworden, Herr Doktor«, sagte Marius, der auf einmal hellwach schien.

»Das weiß ich nicht, aber danke, dass du es mir zutraust. Und jetzt sollten wir die Ursache deiner Müdigkeit herausfinden. Bist du mit einer Untersuchung einverstanden?«

»Sie überlassen mir die Entscheidung?«, zeigte sich Marius verblüfft.

»Ich kann dich nicht gegen deinen Willen untersuchen.«

»Und wenn ich eine Untersuchung ablehne?«

»Dann würde ich mit deinen Eltern sprechen, weil ich mir Sorgen um dich mache und ich möchte, dass es dir wieder besser geht.«

»Das klingt nach einer ehrlichen Antwort. Okay, untersuchen Sie mich bitte, sonst glaubt meine Oma mir ohnehin nicht, dass ich kein ADHS habe. Was heißt das eigentlich?«

»Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung.«

»Das ist auch niemandem über Nacht eingefallen.«

»Nein, wohl eher nicht«, antwortete Danny lächelnd. Er hatte seine ganz eigene Meinung zu diesem Thema, und vielleicht wäre es interessant, wenn er sich mit Olivia Mai einmal darüber austauschen könnte.

In diesem Moment wurde ihm wieder bewusst, dass er auffallend oft an seine Nachbarin dachte, obwohl er sich doch ständig einredete, dass sie nicht mehr als nur eine Nachbarin war, die ein bisschen Unterstützung brauchte, um eine stressige Situation zu bewältigen.

»Soweit sieht alles gut aus«, versicherte er dem Jungen, nachdem er ihm ein paar Fragen zu seinem Befinden gestellt, nach seinem Appetit, den er als gut bezeichnete, gefragt und ihn mit dem Stethoskop abgehört und den Blutdruck gemessen hatte. »Wir brauchen dann noch eine Urinprobe von dir, und Sophia wird dir Blut abnehmen, das geht dann alles ins Labor. Sollte ein Wert auffällig sein, melde ich mich bei dir«, erklärte er dem Jungen.

»Vielen Dank, Doktor Norden. Eigentlich wollte ich gar nicht herkommen, aber meine Großmutter hat einfach keine Ruhe gegeben. Jetzt bin ich froh, dass ich hier war. Ich werde Sie weiterempfehlen. Obwohl, ich glaube, Sie brauchen gar keine Empfehlung mehr. Ihr Wartezimmer ist auch so schon voll.«

»Ich danke dir aber trotzdem für dein Vertrauen«, sagte Danny und klopfte dem Jungen freundschaftlich auf die Schulter, als er ihn zum Empfangstresen begleitete.

»Und? Bekommt er ein Medikament? Ich meine, dieses Ritalin, das alle bekommen, die an ADHS leiden?«, fragte Gusti Meier, die dort auf ihren Enkel wartete.

»Marius braucht das nicht«, versicherte ihr Danny.

»Aber er ist doch krank«, entgegnete Gusti verblüfft.

»Nein, bin ich nicht, Oma. Doktor Norden hat mich gerade gründlich untersucht. Jetzt lasse ich mir noch Blut abnehmen, dann gehen wir nach Hause«, verkündete Marius seiner Großmutter.

»Sophia, ein großes Blutbild für den jungen Mann«, bat Danny seine Sprechstundenhilfe, die hinter dem Tresen stand und so tat, als würde sie nicht zuhören.

»Wird erledigt, Herr Doktor«, sagte sie und bat Marius, ihr in den Laborraum zu folgen.

»Kann ich den nächsten Patienten reinschicken?«, fragte Lydia.

»Ja, nur zu«, sagte Danny und ging zurück in sein Sprechzimmer. Er hatte sich gerade ein wenig mehr Zeit genommen, als er sich bei einem vollen Wartezimmer eigentlich leisten sollte, aber er war sicher, dass Marius dieses Gespräch mit ihm allein etwas gebracht hatte. Das Gespräch mit den Patienten besaß einen hohen Stellenwert in seiner Praxis. Es war der beste Weg herauszufinden, was den Menschen quälte, der ihm gegenübersaß.

*

Die Vormittagssprechstunde dauerte fast eine Stunde länger als sonst. Erst kurz nach eins verließ die letzte Patientin, eine junge Frau, die über Kopfschmerzen klagte, das Sprechzimmer. Er hatte ihr geraten, einen Physiotherapeuten aufzusuchen, weil er davon ausging, dass ihre starken Verspannungen in Rücken und Nacken die Ursache für ihre Schmerzen waren.

»Eine Freundin von mir hat ihren Job bei uns in der Versicherung aufgegeben, weil sie durch das Sitzen am Computer auch ständig von Kopfschmerzen geplagt wurde. Sie hat sich zur Yogalehrerin ausbilden lassen, und jetzt geht es ihr richtig gut. Bei meiner Figur kommt das ja leider nicht infrage«, seufzte die junge Frau und strich über ihre rundlichen Hüften, die sich unter dem Rock des weich fallenden Kleides abzeichneten. »Aber ich könnte trotzdem mal einen Kursus belegen, oder?«

»Nur zu, mit der richtigen Anleitung werden Sie auch Übungen schaffen, die Sie sich jetzt noch nicht zutrauen. Yoga ist ein guter Ausgleich nach einem stressigen Tag im Büro«, versicherte ihr Danny.

»Vielen Dank, Doktor Norden, und Ihnen auch, Sie sind hier wirklich alle sehr sehr freundlich«, wandte sie sich Lydia und Sophia zu, die hinter dem Tresen standen und geduldig darauf warteten, dass sie endlich in die Mittagspause gehen konnten.

»Danke, das hören wir gern. Einen schönen Tag noch für Sie«, sagte Lydia und begleitete die letzte Patientin des Vormittags zur Haustür.

Danach verließen sie und Sophia die Praxis, um die Mittagspause zu Hause zu verbringen. Danny blieb noch ein paar Minuten, erledigte einige Anrufe und ging dann durch den Flur, der die Praxis mit dem anderen Teil des Hauses verband, hinüber in seine Wohnung. Valentina war schon gegangen, hatte aber einen Nudelauflauf für ihn vorbereitet, den er nur im Backofen aufwärmen musste.

Als er wenig später allein am Tisch saß, hatte er keinen richtigen Appetit mehr. Das Frühstück war ihm mittlerweile die liebste Mahlzeit des Tages. An den Wochentagen leistete ihm Valentina Gesellschaft, samstags frühstückte er mit seinen Eltern. Hatten sie Wochenenddienst im Krankenhaus, fuhr er in die Stadt, setzte sich in ein Café mit Blick auf den Viktualienmarkt und beobachtete die Touristen und Einheimischen, die sich dort drängten.

Sonntags schlief er meistens länger und ließ das Frühstück ausfallen. Am späten Vormittag ging er in den Tennisclub und suchte sich einen Partner für ein oder zwei Partien. Danach aß er im Club zu Mittag. Er hatte sich noch nicht wirklich an das Alleinsein gewöhnt und fragte sich, ob er sich jemals daran gewöhnen würde.

Nachdem er eine kleine Portion von dem liebevoll zubereiteten Auflauf gegessen hatte, räumte er das Geschirr in die Spülmaschine und setzte sich auf der Terrasse in einen der Liegestühle, die um diese Zeit in der Sonne standen. Als er zum Haus seiner Nachbarinnen schaute, sah er Ophelia im Zimmer ihrer Großmutter am Fenster stehen. Sie winkte ihm fröhlich zu, und er winkte zurück.

Vielleicht sollte er kurz zu den Mais hinübergehen und Olivia fragen, ob sie diesen Mann noch einmal gesehen hatte. Andererseits, falls es nicht so war, würde er sie mit seiner Frage nur in Unruhe versetzen. Am Abend war sie meistens für eine halbe Stunde im Garten, dann konnte er sie ganz beiläufig über die Hecke hinweg fragen, wie ihr Tag verlaufen war.

Als er kurz darauf ein Polizeiauto im Schritttempo durch die Straße fahren sah, wusste er, dass Olivia ihren Verdacht gemeldet hatte und ihr Anruf ernst genommen wurde. Sollte dieser Mann tatsächlich in der Nähe sein, würde er hoffentlich davon ausgehen, dass die Polizei nach ihm suchte, und nicht wagen, sich Olivia zu nähern.

Das beruhigte ihn, und er schlug die Tageszeitung auf, die er mit nach draußen genommen hatte. Nachdem er die örtlichen Nachrichten überflogen hatte, fielen ihm plötzlich die Augen zu, und er nickte ein, bis er durch das Läuten seines Handys wieder hochschreckte.

»Doktor Norden, könnten Sie bitte zu uns kommen? Meiner Mutter geht es plötzlich ganz schlecht«, hörte er Sophia, seine Sprechstundenhilfe, sagen, als er das Gespräch entgegennahm.

»Ich bin gleich bei Ihnen«, versicherte er ihr. Sophias Mutter litt seit einigen Jahren an Multipler Sklerose, hatte aber schon lange keinen neuen Schub mehr erlebt und konnte einigermaßen beschwerdefrei leben. Hoffentlich ist es auch dieses Mal kein Schub, der das Fortschreiten der Krankheit ankündigt, dachte er, als er aufsprang, um seine Tasche zu holen.

Es dauerte nicht einmal eine Minute, bis er in die luxuriöse Limousine stieg, die er sich erst kürzlich als kleines Trostpflaster für den Kummer, den er hatte erdulden müssen, gekauft hatte.

*

Sophia und ihre Mutter wohnten nur zehn Minuten von ihm entfernt in einer Neubausiedlung mit sechsstöckigen Mehrfamilienhäusern. Von dem ehemaligen Waldstück hatten die Bauherren, eine städtische Wohnungsbaugesellschaft, so viele Bäume, wie es nur irgendwie möglich war, erhalten. Auch der Lauf des Baches, der mitten durch das Waldgebiet geflossen war, wurde nicht verändert, was zum Erholungswert der Siedlung beitrug.

Eine Stadt muss nur wollen, dann können auch Menschen mit weniger Geld in einer schönen Umgebung wohnen, dachte Danny, als er seinen Wagen vor dem Haus parkte, in dem Sophia mit ihrer Mutter in einer Wohnung im ersten Stock wohnte.

»Danke, Doktor Norden, dass Sie so schnell gekommen sind«, sagte Sophia, die bereits in der geöffneten Wohnungstür stand, als er die beiden Steintreppen durch den Hausflur heraufkam. »Es geht meiner Mutter schon wieder besser. Ich dachte, es sei ein neuer Schub, vielleicht ist es aber auch nur die Grippe, die gerade umgeht«, erklärte sie ihm, nachdem sie die Wohnungstür hinter ihm geschlossen hatte.

»Kein Problem, Ihre Mutter ist meine Patientin, ich bin für sie da«, beruhigte er Sophia, die offensichtlich ein schlechtes Gewissen bekam, weil sie ihn so überstürzt gerufen hatte.

»Ich danke Ihnen, Doktor Norden, kommen Sie mit mir«, bat sie Danny, ihr zu folgen.

Sophia und ihre Mutter Katharina von Arnsberg hatten die kleine Dreizimmerwohnung hell und freundlich eingerichtet. Möbel aus Buchenholz, eine weiße Sofagarnitur im Wohnzimmer, duftige Gardinen, gepflegte Grünpflanzen und als Kontrast zu den weißen Wänden und den hellen Möbeln ein dunkelbrauner Laminatboden.

Katharina von Arnsberg saß halb aufgerichtet in ihrem Bett im Schlafzimmer. Sie trug einen Schlafanzug aus weinroter Seide und hatte ihr hellblondes Haar mit einer Spange am Hinterkopf festgesteckt. Katharina, die in ihrer Jugend als Fotomodell für ein kleines Modehaus gearbeitet hatte, bis sie den ältesten Sohn der von Arnsbergs heiratete, war noch immer eine attraktive Frau, der man ihre Krankheit und ihren Kummer kaum ansah.

Danny bedauerte, was ihr und ihrer Tochter zugestoßen war. Die von Arnsbergs hatten die beiden nicht nur aus dem Schloss verbannt, nachdem Sophias Vater bei einem Unfall ums Leben gekommen war, sie hatten Katharina und Sophia auch mit juristischen Tricks um das Erbe gebracht, das ihnen zugestanden hätte. Inzwischen hatten sich Mutter und Tochter damit abgefunden, dass sie auf sich selbst gestellt waren.

»Wie geht es Ihnen, Frau von Arnsberg?«, fragte Danny, als er sich ihrem Bett näherte.

»Ich denke, es ist nichts Schlimmes. Ich fühle mich ganz normal, kein Taubheitsgefühl, keine Bewegungsstörungen. Ich habe nur ein bisschen Fieber und fühle mich matt. Meine arme Sophia macht sich immer gleich so viele Sorgen«, antwortete ihm Katharina und bemühte sich um ein Lächeln.

»Es ist gut, dass sie so aufmerksam ist. Auch ein leichter Infekt kann zu etwas Großem werden, wenn wir nicht gegensteuern. Ich würde Sie gern kurz abhören.«

»Ja, in Ordnung, ich weiß ja, dass ich bei meiner Krankheit vorsichtig sein muss«, stimmte Katharina einer Untersuchung zu.

»Sophia hat recht. Sie haben sich einen Virus eingefangen. Bisher ist es nur eine leichte Bronchitis, die wir hoffentlich schnell wieder in den Griff bekommen.« Im Gegensatz zu Ottilie Mai, die an keiner Vorerkrankung litt, war die Gefahr für Katharina noch größer, dass auch die Lungen in Mitleidenschaft gezogen wurden. Aber auch ihr konnte erst einmal nur raten, im Bett zu bleiben und viel zu trinken, damit die Verschleimung in den Bronchien gelöst wurde.

»Das heißt, es ist wirklich nur eine Bronchitis, und es gibt keine Anzeichen für einen neuen Schub?«, hakte Katharina noch einmal nach.

»Es sieht alles gut aus, Frau von Arnsberg«, versicherte ihr Danny. »Wir machen aber zur Sicherheit ein Blutbild.«

»Ich könnte die Blutprobe noch vor der Nachmittagssprechstunde ins Labor bringen«, schlug Sophia vor.

»Machen Sie das. Sie haben alles da, was Sie für eine Blutentnahme brauchen?«, fragte Danny seine Sprechstundenhilfe.

»Wir sind in dieser Hinsicht gut ausgerüstet«, versicherte ihm Sophia. »Unseren Wocheneinkauf im Supermarkt erledige ich dann nach der Sprechstunde«, wandte sie sich an ihre Mutter.

»Ist in Ordnung, Kind«, stimmte Katharina ihrer Tochter mit einem liebevollen Lächeln zu. »Doktor Norden, es heißt doch, dass MS umso günstiger für den Patienten verläuft, je länger die Abstände zwischen den einzelnen Schüben sind. Mein letzter Schub war vor drei Jahren. Was denken Sie, wie sieht es für mich aus?«, wollte Katharina von Danny wissen.

»Mit letzter Gewissheit lässt sich das leider nicht sagen. Diese Krankheit kann bei jedem Patienten anders verlaufen, aber es stimmt, dass die Abstände zwischen den Schüben ein gutes Indiz für den weiteren Verlauf sind. So betrachtet, sieht es für Sie wirklich gut aus.« Auch wenn es keine Garantie dafür gab, dass Katharina an einer harmlosen Variante dieser Entzündung der Nerven litt, war es doch sehr wahrscheinlich, dass sie dieses Glück hatte.

»Ich habe neulich im Fernsehen einen Bericht über die Behandlung mit Propionat, das Salz der Propionsäure gesehen. Es soll nicht nur im Tierversuch gewirkt haben, sondern auch bei Menschen. Betroffene mit MS, Parkinson und sogar Alzheimer konnten ihr Befinden mit dieser Behandlung stark verbessern«, erzählte ihm Katharina und sah ihn danach voller Erwartung an.

»Ich verfolge diese Forschung und wollte ohnehin mit Ihnen darüber sprechen. Letztendlich geht es darum, die gesunden Darmbakterien zu vermehren.«

»Richtig, weil, wie man inzwischen weiß, unser Gehirn mit unserem Darm in Verbindung steht und sich beide Organe gegenseitig beeinflussen. Joghurt und Gemüse, Ballaststoffe überhaupt sollen die Darmflora ja positiv beeinflussen. Die Frage ist nur, reicht das für mich aus, um Erfolg zu haben?«

»Es gibt Propionat auch als Nahrungsergänzungsmittel.«

»Könnte ich es damit versuchen?«

»Wissen Sie was, sobald es Ihnen wieder besser geht, schicke ich Sie zu einem gründlichen Check-up in die Klinik meiner Eltern, danach überlegen wir, was wir tun können«, schlug Danny seiner Patientin vor.

»Das hört sich gut an, Doktor Norden. Ich bin bereit, wirklich alles zu tun, um diese Krankheit in Schach zu halten. Im Moment bin ich ganz zufrieden mit meinem Leben. Ich bin noch nicht auf Hilfe angewiesen, und die Arbeit im Sekretariat der Musikschule macht mir Spaß und bringt glücklicherweise auch ein paar Euro ein.«

»Jetzt werde erst einmal wieder gesund, Mama, dann sehen wir weiter«, sagte Sophia, die am Fußende des Bettes stand und bisher nur zugehört hatte.

»Ihre Tochter hat recht, Frau von Arnsberg, ruhen Sie sich ein paar Tage aus, dann sprechen wir noch einmal in Ruhe über alles«, versicherte ihr Danny.

»Ich danke Ihnen für Ihren Besuch, Doktor Norden«, sagte Katharina, als Danny ihr gute Besserung wünschte und sich von ihr verabschiedete.

»Kein Problem, Hausbesuche gehören zu den Aufgaben eines Hausarztes«, entgegnete er mit einem freundlichen Lächeln.

»Ich bringe Sie noch zur Tür«, sagte Sophia, als Danny seine Tasche aufnahm, um Katharinas Schlafzimmer zu verlassen. »Ist mit meiner Mutter wirklich alles in Ordnung, abgesehen von dieser Bronchitis?«, fragte sie leise, als sie die Klinke der Haustür schon in der Hand hielt, um Danny zu öffnen.

»Sie wissen doch, ich lüge meine Patienten nicht an, auch wenn es für sie unangenehm sein sollte. Die meisten Menschen wissen ohnehin sehr gut, wie es um sie steht.«

»Sie haben recht, aber wenn es um die Gesundheit meiner Mutter geht, bin ich immer in einer Art Alarmzustand«, gab Sophia mit einem tiefen Seufzer zu.

»Kommen Sie einfach zu mir, falls Sie etwas quält. Ihre Mutter ist eine starke Frau, sie weiß, was sie sich zumuten kann. Sie müssen sich nicht ständig um sie sorgen«, beruhigte er Sophia. Er ahnte, was ihr durch den Kopf ging, wenn sie ihre Mutter krank im Bett liegen sah. Der Tod ihres Vaters und die Verbannung aus seiner Familie waren erst ein Jahr her. Sophia fürchtete sich davor, nun auch noch ihre Mutter zu verlieren und dann ganz allein zu sein.

»Vielen Dank, Herr Doktor, ich werde sicher irgendwann darauf zurückkommen.«

»Gern, jederzeit, Sophia. Wir sehen uns nachher, bis dann«, verabschiedete sich Danny und verließ die Wohnung der beiden. Er hoffte für sie, dass sie noch eine Möglichkeit fanden, an das Erbe zu gelangen, das ihnen zustand. Sollte sich Katharinas Befinden irgendwann doch verschlechtern, würde ihnen diese Erbschaft das Leben erleichtern.

*

»Schatz, sag mir bitte, ob du deine Entscheidung, nicht mehr als Krankenschwester zu arbeiten, nicht bereust. Aber bitte sei ehrlich«, bat Katharina ihre Tochter, nachdem sie ihr Blut abgenommen hatte und das Röhrchen, das sie gefüllt hatte, in eine kleine stabile Kunststoffbox packte.

»Ich bereue es nicht, ganz im Gegenteil. Es war eine wirklich gute Entscheidung«, versicherte Sophia ihrer Mutter. »Die Arbeit macht mir Spaß, mit Lydia verstehe ich mich blendend, und mein Boss ist wundervoll. Ich kann mich absolut nicht beschweren. Und mal abgesehen davon, dass ich nicht mehr im Schichtdienst bin und wir mehr Zeit miteinander verbringen können, haben wir auch noch den perfekten Hausarzt für dich gefunden.«

»Ja, allerdings, das haben wir. Ich fühle mich von Doktor Norden wirklich gut betreut. Ganz offensichtlich ist er auch bereit, neue Wege zu gehen, wie ich gerade feststellen konnte.«

»Die Wissenschaft macht Fortschritte, und er ignoriert diese Fortschritte nicht. Was aber nicht bedeutet, dass Versuche, die in einem Labor erfolgreich verlaufen, auch bei Menschen Erfolg haben.«

»Das weiß ich, Kind, aber was das angesprochene Propionat betrifft, damit kann ich nicht wirklich Schaden anrichten. Und wer weiß, vielleicht habe ich Glück, meine Symptome stagnieren und die Krankheit schreitet nicht mehr weiter voran.«

»Es ist auch durchaus möglich, dass du wirklich nur eine leichte Variante der Multiple Sklerose erwischt hast, und es keine weiteren Schübe mehr gibt. Aber ja, du hast recht, wir könnten es mit dem Propionat versuchen. Wenn Doktor Norden uns unterstützt, bin ich dabei«, versprach Sophia, als sie das hoffnungsvolle Leuchten in den Augen ihrer Mutter bemerkte.

»Ich werde alles tun, damit ich nicht zu einer Belastung für dich werde, Sophia. Du bist jung, du musst dein eigenes Leben führen. Du sollst dich nicht ständig um mich kümmern müssen.«

»Das mache ich aber gern.«

»Ich weiß, aber ich will nicht, dass du all die Dinge versäumst, die ein junger Mensch erleben sollte. Versprich mir, dass du nicht wegen mir auf die Liebe verzichtest.«

»Wer mit mir zusammen sein will, muss akzeptieren, dass ich für dich da sein werde, wenn du mich brauchst. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Und jetzt muss ich los, wenn ich es noch vor der Nachmittagssprechstunde ins Labor schaffen will. Brauchst du noch etwas?«, wollte Sophia wissen.

»Nein, geh nur, ich bin ja nicht bettlägerig, nur ein bisschen erkältet.«

»Also gut, dann bis heute Abend. Und denk dran, ich gehe nach der Sprechstunde noch in den Supermarkt«, sagte Sophia. Sie steckte die Box mit der Blutprobe in ihre Handtasche und eilte aus der Wohnung. An ihr Handy, das in der Küche in der Ladestation steckte, dachte sie nicht.

*

Nach seinem Besuch bei Sophias Mutter war Danny nach Hause gefahren und hatte sich noch ein paar Minuten aufs Sofa im Wohnzimmer gelegt. Er hatte noch zwanzig Minuten Zeit, bis die Nachmittagssprechstunde begann. Er musste lächeln, als er daran dachte, was Marius Meier am Morgen zu ihm gesagt hatte. Dass er glaubte, er wäre ein guter Lehrer geworden. Vielleicht stimmte es, manchmal hatte er schon darüber nachgedacht, ob das ein Beruf für ihn hätte sein können.

Andererseits war es inzwischen ein nervenaufreibender Beruf. Die Kinder saßen nicht mehr still in der Klasse und hörten den Lehrern zu. Lehrer standen in Konkurrenz zum Unterhaltungsprogramm des Internets und des Fernsehens. Sie mussten sich inzwischen als Entertainer bewähren, wollten sie die Aufmerksamkeit ihrer Schüler bekommen.

Was Marius betraf, da hatten sie wohl alle vorschnell geurteilt. Vermutlich konnte der Junge gar nichts für sein Verhalten. Sollte er wirklich nur unter Eisen- und Vitaminmangel leiden, würde er ihm schnell helfen können, und für Marius würde sich einiges zum Besseren wenden.

Lydia und Sophia waren wie immer schon da, als er kurz vor drei in die Praxis kam und beiden ein Stück von dem Apfelkuchen mitbrachte, den Valentina am Morgen gebacken hatte.

»Herr Doktor, Sie sind wirklich gut zu uns«, sagte Lydia. Sie stellte die beiden Teller in die Küche und kam gleich zum Tresen zurück. Sie hatte bereits einen Stapel Rezepte für Blutdrucktabletten, Cholesterinsenker und andere Medikamente für ihre chronisch kranken Patienten ausgefüllt, die Danny unterschreiben musste. »Quartalsanfang, da kommen eben alle vorbei«, sagte sie, als sie Danny ein Rezept nach dem anderen reichte, damit er sie gleich am Tresen unterschreiben konnte.

»Offensichtlich sind wir heute ohnehin äußerst gefragt«, stellte Danny nach einem Blick ins Wartezimmer fest. Wie am Vormittag waren auch jetzt schon alle Stühle besetzt.

»Wir haben auch wieder einige Besucher, die daran denken, ihren Hausarzt zu wechseln und Sie erst einmal kennenlernen wollen«, ließ Lydia ihn wissen. »Man spricht über Sie, wissen Sie«, fügte sie augenzwinkernd hinzu.

»Ihre Kollegen in diesem Stadtteil haben Glück, dass wir in einem Land leben, in dem viele Leute es als sportliche Herausforderung ansehen, möglichst viele Arztbesuche im Jahr zu absolvieren. Wäre das nicht so, dann würden die anderen bald in leere Wartezimmer blicken, wir allerdings nicht«, sagte Sophia, die sich um die Liste kümmerte, nach der die Patienten aufgerufen wurden.

»Sie übertreiben, Sophia. Ich bin kein Wunderdoktor«, antwortete Danny lachend.

»Nein, Sie sind kein Wunderdoktor, aber ein wunderbarer Mensch und Arzt«, sagte sie und wurde ein bisschen rot, weil sie ihrem Chef ein Kompliment gemacht hatte.

»Hoffen wir, dass dieser Trend, Sie sehen zu wollen, nicht anhält, sonst können wir bald keine neuen Patienten mehr aufnehmen«, half Lydia ihrer Kollegin aus der Verlegenheit.

»So schnell wollte ich eigentlich nicht an unsere Grenzen stoßen«, sagte Danny.

»Sie könnten überlegen, einen zweiten Arzt oder eine Ärztin einzustellen, falls es so weiter geht«, schlug Lydia vor.

»Ich werde gegebenenfalls darüber nachdenken, sollten meine Kollegen sich nicht mehr Mühe geben, ihre Patienten zu halten.«

»Sich mehr Mühe zu geben, mag für die männlichen Patienten funktionieren, was die Patientinnen betrifft, bin ich da weniger zuversichtlich«, erklärte Lydia mit einem spitzbübischen Lächeln.

»Und warum sind Sie das?«, fragte Danny und schaute von dem Rezept auf, das er gerade unterschrieben hatte.

»Sie spricht von Ihrem Charme und Ihrem Lächeln«, mischte sich eine ältere Frau ein. Sie war kurz zuvor in die Praxis gekommen und hatte Sophias Erklärung für das vollbesetzte Wartezimmer mitangehört.

»Sie machen mich verlegen, Frau Emsberg«, sagte Danny und wandte sich Gertrud Emsberg zu.

»Ich glaube nicht, dass eine alte Frau wie ich Sie in Verlegenheit bringen kann«, antwortete Gertrud lächelnd. Sie kam schon zu ihm, seit er seine Praxis eröffnet hatte. Sie war bereits über siebzig, kümmerte sich aber immer noch jeden Tag um den Friseursalon, den sie vor vierzig Jahren eröffnet hatte.

»Charme ist keine Frage des Alters, Frau Emsberg«, entgegnete Danny lächelnd und unterschrieb das letzte Rezept, das Lydia bisher vorbereitet hatte. Er mochte die alte Dame, die nach wie vor auf ein perfektes Äußeres achtete. Ihr silbergraues kurzes Haar war in Stufen geschnitten, sie trug ein elegantes knielanges Kleid und Schuhe mit halbhohem Absatz. Dass sie an Rheuma litt und oft mit starken Schmerzen zu kämpfen hatte, sah man ihr nicht an. »Wollen Sie zu mir?«, fragte er sie.

»Nein, heute nicht, Herr Doktor, ich bin nur wegen eines Rezeptes hier. Meine Schmerztabletten gehen zu Ende.«

»Bitte sehr.« Lydia reagierte sofort und reichte ihm ein leeres Rezept, damit er es vorab unterschreiben konnte, was er auch sofort tat.

»Vielen Dank, Herr Doktor«, bedankte sich Gertrud.

»Gern, Frau Emsberg, einen schönen Tag noch für Sie.«

»Den wünsche ich Ihnen auch«, sagte Gertrud und sah ihm nach, wie er den Gang entlang zu seinem Sprechzimmer lief. »Er ist außergewöhnlich, sehr außergewöhnlich«, flüsterte sie und wandte sich Lydia wieder zu.

»Das ist er, in jeder Hinsicht«, stimmte Lydia ihr zu.

»Es geht los«, sagte Sophia, als die grüne Taste an dem Haustelefon aufleuchtete, das auf dem Tresen stand. Es war das Zeichen, dass sie den ersten Patienten des Nachmittages aufrufen konnte.

*

Wie immer hatte Lydia mit ihrer Einschätzung recht gehabt. An diesem Nachmittag waren wieder einige Patienten nur aus Neugierde zu Danny kommen. Um einen Grund für ihren Besuch zu haben, fragten sie ihn nach Vorsorgeuntersuchungen, die er in seiner Praxis anbot.

Er sah in die Anamnesebögen, die sie zuvor ausgefüllt hatten, und empfahl ihnen die Untersuchungen, die für sie nach Alter oder Vorerkrankungen infrage kamen. Da er diese Untersuchungen nur an bestimmten Tagen nach Terminvergabe durchführte, um die Sprechstunden für seine akut kranken Patienten freizuhalten, bat er diese Besucher seiner Praxis, die ihn kennenlernen wollten, sich mit Lydia und Sophia wegen eines Termines abzusprechen.

Um vier meldete sich das Labor, mit dem er zusammenarbeitete und die jeden Tag seine Laborproben abholten. Es ging um die Blutprobe von Marius. Sie hatten einen dramatischen Mangel an Vitaminen und Spurenelementen festgestellt und wollten ihm die Auswertung der Probe vorab schicken. Er bedankte sich und sah sich den Laborbogen an, der gleich darauf per E-Mail bei ihm eintraf.

Die Urinprobe war unauffällig, aber die Werte der Blutprobe waren bedenklich. Marius fehlte es nicht nur an Eisen, auch sein Vitamin-D-Spiegel und der der B-Vitamine waren in einem äußerst niedrigen Bereich. Kinder in der Pubertät hatten einen erhöhten Bedarf an Vitaminen und Spurenelementen. Am meisten Sorgen machte ihm allerdings der ausgeprägte Eisenmangel, den er bereits vermutet hatte. Die einfachste Erklärung für Marius‘ Zustand wäre eine einseitige Ernährung. Die anderen Ursachen, bisher unerkannte innere Blutungen oder eine Anhäufung der roten Blutkörperchen in der Milz, wollte er so schnell wie möglich ausschließen. Kurz entschlossen griff er zum Telefonhörer und wählte die Nummer, die in Marius‘ Patientenakte stand.

»Cordula Meier«, meldete sich Marius‘ Mutter.

»Daniel Norden, guten Tag Frau Meier. Ihr Sohn war heute Vormittag bei mir«, sagte er.

»Ja, das hat er mir erzählt. Was ist denn mit ihm? Irgendetwas ist doch, sonst würden Sie mich jetzt nicht anrufen«, entgegnete Cordula erschrocken.

»Es geht um die Blutwerte Ihres Sohnes. Einige sind nicht in Ordnung, insbesondere der Eisenwert. Um die Ursache abzuklären, bitte ich Sie, mit Ihrem Sohn noch einmal herzukommen.«

»Wollen Sie ihm noch einmal Blut abnehmen?«

»Nein, es geht um eine Ultraschalluntersuchung. Sie würde bei der Diagnose wirklich helfen.«

»Sollen wir gleich heute noch mal vorbeikommen?«, fragte Cordula mit zitternder Stimme.

»Je schneller wir das abklären, umso schneller kann ich Ihrem Sohn helfen.«

»Gut, dann kommen wir vorbei«, sagte Cordula und legte auf.

Danny tat es zwar leid, dass er Marius‘ Mutter in Aufregung versetzt hatte, aber er wollte so schnell wie möglich Gewissheit. Sollte die Milz vergrößert sein, was auf eine krankhafte Ansammlung der roten Blutkörperchen hindeuten würde, musste er den Jungen umgehend ins Krankenhaus überweisen. Damit Mutter und Sohn nicht warten mussten, rief er Sophia über das Haustelefon an und bat sie, ihm sofort Bescheid zu geben, sobald die Meiers eintrafen, und sie gleich in den Ultraschallraum zu bringen.

»Lydia will noch mit Ihnen sprechen«, sagte Sophia und reichte das Telefon weiter.

»Doktor Norden, es gibt Neuigkeiten. Ich habe gerade mit meiner Mutter gesprochen. In der Sache mit der Fahrerflucht geht es vorwärts. Sie muss noch ein paar Fotos auswerten, aber sie ist zuversichtlich, dass sie diesen schwarzen Sportwagen gefunden hat.«

»Das ist eine gute Nachricht, danke für das Update«, bedankte sich Danny bei Lydia. Sobald die Identität dieses Mannes feststand, würde Olivia Mai endlich Gewissheit haben, wer dieser Kerl war, der sie seit Monaten verfolgte. Danach würden sie alle wieder ruhiger schlafen können und niemand, der mit Olivia etwas zu tun hatte, musste mehr befürchten, in den Fokus dieses Mannes zu geraten. Mit diesen positiven Gedanken setzte er die Sprechstunde fort.

An diesem Nachmittag kamen neben den Patienten, die ihn sich als neuen Hausarzt ausgesucht hatten, die meisten Leute wegen Erkältungssymptomen. Einige war fest davon überzeugt, eine Grippe auszubrüten, und es kostete ihn viel Geduld, ihnen den Unterschied zwischen einem grippalen Infekt mit Husten und Schnupfen und einer Grippe, die sich mit plötzlichem hohem Fieber bemerkbar machte, zu erklären.

Aber auch ein grippaler Infekt oder eine starke Erkältung schwächten den Körper, und er stellte an diesem Nachmittag einige Krankmeldungen aus. Als er kurz nach halb sechs einen Patienten zum Empfangstresen begleitete, weil er noch ein paar Rezepte unterschreiben musste, wurde Lydia gerade zu einem Feuerwehreinsatz gerufen.

»Dachstuhlbrand in einem Forsthaus. Ich muss sofort los«, wandte sie sich an Danny, nachdem sie den Anruf, der über ihr Handy kam, beendet hatte.

»Dann ab mit Ihnen, passen Sie auf sich auf!«, rief er Lydia nach, die so, wie sie war, in ihrer weißen Hose und dem weißen T-Shirt mit ihrer Handtasche unter dem Arm davonstürmte.

»Hoffentlich endet das nicht in einem Waldbrand«, murmelte Sophia, während sie Lydia nachschaute.

»Ich vertraue unserer Feuerwehr, die werden das verhindern«, sagte der junge Mann, der wegen eines bellenden Hustens gekommen war, noch auf sein Rezept wartete und Sophias Blick gefolgt war.

»Stimmt, sie werden das verhindern«, gab Sophia ihm recht. Du brauchst ihr aber gar nicht länger nachzuschauen, sie hat ihr Herz längst verschenkt, dachte Sophia, als der junge Mann noch auf die Tür starrte, als sie schon längst hinter Lydia zugefallen war.

Im Wartezimmer saßen inzwischen nur noch drei Patienten. Zwei ältere Frauen, die schon ein paar Mal bei ihm waren, und ein Mann, etwa Mitte vierzig, den er vorher noch nie gesehen hatte. Er wollte Sophia gerade bitten, auf ihre Liste zu sehen, wer als nächstes drankam, als Marius und seine Mutter, eine kleine zierliche Frau in Jeans und Pullover, die Praxis betraten. Das kurzgeschnittene Haar und die große Brille mit dem dunklen Rahmen verliehen Cordula Meier ein ungewöhnlich strenges Aussehen.

»Sie können gleich reingehen, ich habe schon alles vorbereitet«, sagte Sophia und schaute auf die Tür des Ultraschallraumes gegenüber des Tresens.

»Gut, dann kümmere ich mich zuerst um den Jungen. Hallo, Frau Meier, Marius. Kommen Sie bitte mit mir«, bat er Mutter und Sohn, die mit ängstlichem Blick auf ihn zukamen.

»Guten Tag, Herr Doktor«, antwortete Cordula Meier leise und folgte ihm.

*

»Bin ich schwer krank, Herr Doktor?«, fragte Marius, als sie gleich darauf mit Danny allein in dem Raum mit dem Ultraschallgerät waren.

»Nein, das denke ich nicht. Du hast zwar einen Mangel an Vitaminen und Spurenelementen, aber das kann in deinem Alter schon mal vorkommen. Ich will aber ganz sicher sein, deshalb werde ich mir deine Milz ansehen. Manchmal häufen sich dort die roten Blutkörperchen und der Körper wird nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt«, erklärte er dem Jungen.

»Was muss ich ausziehen?«, fragte Marius, der die Untersuchung schnell hinter sich bringen wollte und die rote Baseballkappe, die er trug, schon auf die Fensterbank neben der Liege gelegt hatte.

»Du musst nur dein T-Shirt ausziehen«, sagte Danny. »Ich muss dich noch mal fragen, wie es bei dir mit dem Essen aussieht.« Der Junge hatte zwar behauptet, er habe einen guten Appetit, aber da er wirklich sehr dünn war und sein Blutbild auch nicht dafür sprach, dass er sich ausreichend ernährte, wollte er es nun genau wissen.

»Eigentlich isst er schon seit langem nur Nudeln mit Schinken, Kassler mit Kroketten und Brot mit Wurst oder mal einen Hamburger, aber ohne Salat«, antwortete Cordula anstelle ihres Sohnes.

»Kein Gemüse, kein Obst?«, fragte Danny, während er mit dem Untersuchungskopf des Ultraschallgerätes behutsam über Marius‘ Ober- und Unterbauch fuhr, um sich neben der Milz auch die Leber anzusehen.

»Nur selten, ganz selten«, fügte Cordula mit einem tiefen Seufzer hinzu. Sie saß auf dem Stuhl am Fußende der Liege und schaute auf die Bilder, die auf dem Monitor des Ultraschallgerätes zu sehen waren.

»Wie sieht es mit Käse aus?«, fragte Danny.

»Mag ich nicht«, erklärte Marius und rümpfte die Nase, als würde ihm schon allein bei dem Gedanken an Käse übel.

»Er lässt sich einfach nicht dazu bewegen, etwas anderes als seine Lieblingsgerichte zu essen. Abgesehen von Chips und Schokolade, das mag er schon«, sagte Cordula.

»Wie es aussieht, kommst du nicht umhin, deine Essgewohnheiten zu ändern, um deine Müdigkeit loszuwerden und um weitere Folgen deiner einseitigen Ernährung zu vermeiden«, wandte sich Danny nun direkt an Marius.

»Sie meinen, ich muss Salat und so etwas essen?«, entgegnete Marius ungläubig.

»Salat, Gemüse, Obst und wenigstens hin und wieder ein Stück Käse. Dein Körper leistet im Moment Schwerstarbeit. Er will wachsen, aber dazu braucht er viele verschiedene Nährstoffe. Falls du ihm die auf Dauer verweigerst, macht er schlapp«, erklärte ihm Danny.

»Das klingt jetzt aber echt bedrohlich, Herr Doktor.«

»Es ist bedrohlich für deine Gesundheit. Ich werde dir erst einmal eine Vitaminkur und ein Eisenpräparat verschreiben. Das ist aber nichts für den Dauergebrauch. Während dieser Kur musst du deine Ernährung umstellen.«

»Bei uns gibt es jeden Tag Gemüse. Salat und Obst haben wir auch immer da, aber er hat es bisher halt immer verweigert«, meldete sich Cordula zu Wort.

»Schon gut, ich habe es verstanden. Ich muss mehr Grünzeug essen«, murrte Marius, der sich mit den Papiertüchern, die Danny ihm reichte, das Gel abwischte, dass Danny für die Untersuchung auf seinen Bauch aufgetragen hatte.

»Ja, das musst du unbedingt tun, Marius. Deine Milz und deine Leber sind übrigens unauffällig«, sagte Danny.

»Das heißt, er ist nicht ernsthaft krank?«, hakte Cordula nach.

»Nein, ich denke nicht, da auch die Urinprobe unauffällig war, ohne Hinweis auf eine innere Blutung. Sie sollten aber in den nächsten Tagen noch eine Stuhlprobe vorbeibringen, damit wir auch im Magen-Darmbereich eine Blutung ausschließen können.«

»Stuhlprobe? Echt jetzt?«, fragte Marius erschrocken.

»Du bekommst das hin«, entgegnete Danny lächelnd. »In vier Wochen kommst du dann bitte wieder her und lässt dir von Sophia oder Lydia Blut abnehmen, damit wir sehen können, ob deine Werte sich verbessert haben.«

»Okay, dann gehe ich zu Sophia«, sagte Marius.

»Verrätst du mir auch warum?«, fragte Danny.

»In dem Computerspiel, das ich gerade angefangen habe, muss eine Prinzessin gerettet werden. Sophia sieht ihr ähnlich«, erzählte Marius, nachdem er sein T-Shirt wieder angezogen hatte.

»Verstehe«, sagte Danny und tauschte einen kurzen Blick mit Cordula, die in sich hineinlächelte. Dass ihr Sohn nicht ernsthaft erkrankt war, hatte ihre Gesichtszüge entspannt und sie sah auf einmal viel jünger aus als noch vor ein paar Minuten. Er bat die beiden, mit ihm zum Empfangstresen zu kommen, damit er Cordula aufschreiben konnte, was sie für die Vitaminkur besorgen musste.

Während Danny Cordula einen Ernährungsplan für Kinder in der Pubertät in die Hand drückte und kurz mit ihr darüber sprach, schaute Marius Sophia zu, die im Wartezimmer die alten Zeitschriften einsammelte und neue auslegte. Die beiden Frauen, die dort saßen, zeigten sich sofort interessiert, holten sich jede eine der neuen Ausgaben und schlugen sie auf.

»Mann, Alter, guck woanders hin«, murmelte Marius, als er sah, wie der Mann mit dem militärisch kurzen Haarschnitt, der noch im Wartezimmer saß, Sophia nachschaute.

»Schatz, wir gehen.« Cordula legte ihre Hand auf Marius‘ Schulter und lenkte ihn von seiner Beobachtung ab, und letztendlich war auch er froh, die Praxis wieder verlassen zu können. Zweimal am Tag zum Arzt, das war für einen Jungen in seinem Alter schon ein bisschen heftig.

»Frau Dornapfel kommt jetzt zu Ihnen«, kündigte Sophia Danny die nächste Patientin an, nachdem Marius und seine Mutter gegangen waren und Danny sich einen Kaffee in der Küche geholt hatte.

»Schicken Sie sie zu mir, danach können Sie Ihre Einkäufe erledigen und nach Hause zu Ihrer Mutter fahren«, sagte Danny.

»Danke, Doktor Norden. Aber es sind noch drei Patienten. Vielleicht brauchen wir noch eine Blutabnahme oder es will jemand geimpft werden.«

»Keine Sorge, ich kann Blut abnehmen und impfen«, entgegnete Danny lächelnd.

»Ich weiß, aber es ist doch unsere Arbeit. Sie haben genug mit anderen Dingen zu tun.«

»Machen Sie sich keine Sorgen um mich, Sophia. Ich komme ganz bestimmt zurecht«, versicherte ihr Danny.

»Also gut, ich nehme Ihr Angebot an. Danke, Doktor Norden. Herr Berheim, ihr letzter Patient, ist Selbstzahler. Sie müssten ihm die Rechnung ausstellen, falls er sie gleich haben will.«

»Kann ich machen.«

»Er hat mir übrigens gleich gesagt, dass er keine bevorzugte Behandlung wünscht und wartet, bis er an der Reihe ist. Ein echter Ausnahmefall, sonst muss ich Privatpatienten erst einmal erklären, dass es bei uns immer der Reihe nach geht. Es sei denn, es liegt ein Notfall vor.«

»Keine Regel ohne Ausnahme«, sagte Danny und erinnerte sich an die Unterhaltung, die er am Morgen mit Olivia Mai geführt hatte, dass möglicherweise auch dieser Mann, der sie verfolgte, eine Ausnahme war und sich nicht an diese Regel hielt, in seinem vertrauten Umfeld zu bleiben.

»Na gut, Herr Doktor, wenn ich Sie wirklich allein lassen kann, dann fahre ich jetzt zum Supermarkt.«

»Tun Sie das, und grüßen Sie Ihre Mutter von mir«, sagte Danny und lief mit der Kaffeetasse, die er nur zur Hälfte gefüllt hatte, zu seinem Sprechzimmer.

Sophia ging währenddessen ins Wartezimmer und rief Frau Dornapfel auf. Danach schaute sie in jeden Raum, ob ein Patient etwas vergessen hatte. Es kam fast täglich vor, dass Halstücher, Ketten oder Armbänder, die die Patienten während einer Untersuchung auszogen, liegenblieben. Sie und Lydia sammelten diese Sache ein und legten sie in einen verschlossenen Schrank in ihrem Umkleideraum, bis sie von den Eigentümern abgeholt wurden.

An diesem Abend fand sie nur eine rote Baseballkappe im Ultraschallzimmer. Sie wusste gleich, dass sie Marius gehörte. Er hatte sie getragen, als er mit seiner Mutter in die Praxis gekommen war. Sie schloss die Kappe im Schrank ein und zog sich um.

Bevor sie die Praxis verließ, warf sie noch einen Blick ins Wartezimmer. Frau Kastner, die als nächste an der Reihe war, hatte sich in eine Zeitschrift vertieft. Arnold Berheim, der letzte Patient an diesem Abend, stand am geöffneten Fenster, hatte sich ein Stück nach vorn gebeugt und seinen Kopf nach links gewandt.

Vermutlich liebt er schöne Gärten, dachte Sophia, weil er aus diesem Winkel heraus genau auf den verträumten Garten von Olivia Mai schaute. Da sie inzwischen bemerkt hatte, dass sie ihr Handy zu Hause vergessen hatte, rief sie ihre Mutter noch kurz über das Festnetz der Praxis an, um ihr zu sagen, dass sie schon jetzt zum Supermarkt fuhr. Danach beendete sie ihren Arbeitstag und ließ Danny mit seinen Patienten allein.

*

Frau Dornapfel verließ erst nach zwanzig Minuten Dannys Sprechzimmer. Sie war wegen ihrer Arthrose im Knie gekommen und hatte ihm von ihrer bevorstehenden goldenen Hochzeit erzählt, für die sie unbedingt fit werden wollte. Statt noch stärkere Medikamente zu verschreiben, wie sie es von ihrem früheren Arzt gewohnt war, riet er ihr zur Krankengymnastik.

»Geh, Herr Doktor, Gymnastik? Ich kann mein Knie doch kaum bewegen«, entgegnete Ursel Dornapfel sichtlich erstaunt über das Rezept, das er ihr gleich darauf in die Hand drückte.

»Deshalb verschreibe ich Ihnen Gymnastik. Die Schmerzen werden meistens von den Muskeln verursacht, die einfach nicht genug gefordert sind und durch die Schonhaltung, die wir Menschen unwillkürlich bei Schmerzen einnehmen, noch mehr verkümmern«, erklärte ihr Danny.

Lorenz Bergwald, ein junger Physiotherapeut, den er vor Kurzem kennenlernte, hatte bereits einigen Patienten geholfen, ihre Schmerzmittel zu reduzieren oder ganz abzusetzen. Danny hatte schon vor Längerem von erstaunlichen Erfolgen durch diese Form der Bewegung gehört. Schließlich gelang es ihm, auch Frau Dornapfel davon zu überzeugen, ihre Schmerzen mit Bewegung zu bekämpfen.

Frau Kastner, die nach Frau Dornapfel in Dannys Sprechzimmer kam, klagte über Halsschmerzen. Da sie kein Fieber hatte und er auch keine Entzündung der Mandeln feststellen konnte, verschrieb er ihr etwas zum Gurgeln, riet ihr viel zu trinken und sich zwei drei Tage zu schonen.

Nachdem auch Frau Kastner gegangen war, schaute er kurz aus dem Fenster, von dem aus er das Grundstück der Mais sehen konnte. Offensichtlich gibt es erste konkrete Hinweise auf Frau Mais Verfolger, dachte er.

Vor dem Haus der Mais hatte eine graue Limousine angehalten. Die attraktive Frau in dem dunklen Hosenanzug, die auf der Fahrerseite ausgestiegen war, war Thea Seeger, Lydias Mutter. Wenn sie Olivia Mai persönlich aufsuchte, musste etwas Entscheidendes passiert sein.

Er war sicher, dass ihm Ophelia nach der Sprechstunde einen Besuch abstatten würde, um ihn über den neuesten Stand der Ermittlungen gegen den Mann, der ihre Mutter belästigte, aufzuklären. Falls nicht, konnte er ja auf einen Sprung zu den Mais hinübergehen, um sich zu erkundigen, ob es Fortschritte in der Sache gab. Aber zunächst musste er sich um seinen letzten Patienten kümmern.

»Herr Berheim, bitte«, sagte er, nachdem er auf die Ruftaste seines Haustelefons gedrückt hatte, das mit dem Lautsprecher im Wartezimmer verbunden war. Schmerzen scheinen ihn keine zu quälen, dachte er, als der Mann mit dem kurz geschnittenen Haar auf ihn zukam.

Er war mittelgroß, und er konnte an seinem Körperbau und seinem Gang erkennen, dass er regelmäßig Kraftsport trieb. Die Anzughose, das maßgeschneiderte Hemd und die eleganten Schuhe verrieten ihm, dass der Mann sicher nicht jeden Cent zweimal umdrehen musste.

»Nehmen Sie Platz«, bat er Arnold Berheim, der mit hoch erhobenem Kopf das Sprechzimmer betrat. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte er ihn, nachdem er sich auf seinen Stuhl hinter den Schreibtisch gesetzt hatte und sein Patient auf dem Stuhl davor saß.

»Ich fühle mich in letzter Zeit ziemlich erschöpft und hier überall habe ich Schmerzen«, sagte Arnold und beschrieb mit der rechten Hand einen Kreis über seinen gesamten Oberkörper. »Vielleicht lässt sich der Ausgangspunkt des Schmerzes durch Druckpunkte lokalisieren. Wäre das ein Ansatz?«, fragte er und sah Danny direkt an. So als erwartete er, dass er ihm widersprach.

»Legen Sie sich bitte auf die Liege«, sagte Danny stattdessen. Dieser Mann war nicht der erste Patient, der ihm begegnete und der darauf aus war, einem Arzt zu beweisen, dass er mehr Ahnung von Medizin hatte als der Arzt selbst.

Er hoffte, dass er möglichst schnell herausfand, was Arnold Berheim fehlte. Obwohl er nichts über diesen Mann wusste, ihm noch nie zuvor begegnet war, fühlte er sich in seiner Gegenwart irgendwie unwohl.

*

»Frau Seeger, gibt es Neuigkeiten?«, fragte Olivia überrascht, als sie die Tür nach dem Klingeln öffnete und die Kommissarin vor ihr stand.

»Ja, die gibt es in der Tat. Darf ich reinkommen?«, fragte Thea.

»Aber ja, gern, bitte«, sagte Olivia und trat zur Seite, um Thea Platz zu machen. »Darf ich Ihnen etwas anbieten? Vielleicht einen Kaffee?«

»Ein Kaffee wäre wundervoll. Ich habe heute noch bis zehn Uhr Dienst, da kann ich ein bisschen Coffein vertragen«, entgegnete Thea.

»Nehmen Sie im Esszimmer Platz, ich bin gleich bei Ihnen. Wie trinken Sie Ihren Kaffee?«, wollte Olivia wissen.

»Schwarz, ohne alles«, sagte Thea. »Schön haben Sie es hier«, stellte sie fest, während sie sich in dem Esszimmer umschaute, das nur durch ein Sideboard von der Küche getrennt war.

Heller Parkettboden, weiße duftige Vorhänge an den großen Fenstern, ein restauriertes Büffet aus dem 19. Jahrhundert aus hellem Eichenholz, ein hellgrünes Sofa, ein langer Tisch mit weißem Tischtuch, weiße Stühle mit hellgrauen Polstern. Es war eine geschmackvolle Einrichtung, die genug freien Raum ließ, um das Zimmer größer wirken zu lassen, als es eigentlich war.

Thea setzte sich auf einen Stuhl an der Längsseite des Tisches und betrachtete das Familienfoto, das in einem mintfarbenem Rahmen über einer schmalen Kommode hing. Es war am Ufer eines tiefblauen Sees aufgenommen und zeigte ein offensichtlich glückliches Paar, beide etwa Mitte vierzig. Vor ihnen im Gras saßen zwei hellblonde junge Männer um die zwanzig und vor den beiden lag Ophelia seitlich abgestützt auf ihrem Arm und schaute mit einem spitzbübischen Lächeln auf den Lippen in die Kamera.

»Ophelias Vater mit seiner Frau und Ophelias Halbbrüdern. Die norwegische Familie meiner Tochter«, klärte Olivia Thea über die Personen auf dem Foto auf, als sie mit zwei Tassen Kaffee an den Esstisch kam und sich auf den Stuhl gegenüber von Thea setzte.

»Ich bin beeindruckt. Das sehe ich selten, dass jemand die Familie seines Ex an die Wand hängt«, staunte Thea.

»Ich habe Ophelias Vater schon lange verziehen. Wir hatten nur eine kurze Affäre, die allerdings nur deshalb so kurz war, weil ich schnell herausfand, dass er verheiratet war. Damals war ich wütend und verletzt, dass er es mir verschwiegen hatte, inzwischen bin ich ihm aber sogar dankbar dafür. Hätte ich es gewusst, wären wir nie zusammen gewesen, und das würde bedeuten, dass es Ophelia nicht gäbe. Und das will ich mir gar nicht vorstellen.«

»Das ist allerdings ein guter Grund, ihm seine Unaufrichtigkeit zu verzeihen«, stimmte Thea Olivia zu. »Aber was sagt seine Frau dazu?«

»Ihre Söhne waren damals, als das zwischen ihrem Mann und mir passierte, erst sieben und acht Jahre alt. Sie wollte ihre Familie erhalten, deshalb hat sie ihm verziehen. Inzwischen sind wir alle so etwas wie eine große Familie, und manchmal begleite ich Ophelia, wenn sie zu ihnen nach Norwegen fährt.«

»So müssten diese Begegnungen immer ausgehen, meistens ist es aber nicht so. Menschen tun furchtbare Dinge, wenn sie sich von ihren Partnern betrogen fühlen«, seufzte Thea. »Andere wiederum haben sich nicht im Griff, wenn sie nicht das bekommen, was sie haben wollen, wie unser bisher unbekannter Sportwagenfahrer«, kam sie auf den Grund ihres Besuches zu sprechen.

»Bisher unbekannt? Bedeutet das, Sie wissen inzwischen mehr über ihn?«, fragte Olivia und hoffte inständig, dass Thea ihre Vermutung bejahte.

»Ich weiß jetzt, wer er ist. Ehrlich gesagt, ich war schon fast der Überzeugung, dass wir diesen Kerl nicht mehr finden werden. Nach seiner Fahrerflucht habe ich die Aufzeichnungen aller Überwachungskameras in dieser Gegend eingesammelt, in der Hoffnung dieses Auto darauf zu finden.«

»Wobei aber nichts Brauchbares herauskam.«

»Richtig, aber ich habe mir die Aufnahmen auch weiterhin stichprobenartig angesehen. Als sie heute Morgen anriefen, habe ich sofort alle Aufzeichnungen der Kameras aus ihrer Nachbarschaft eingesammelt, und dieses Mal hatten wir Glück. Ich denke, das ist der Mann, den wir suchen.« Sie reichte Olivia das Foto, das sie aus der Aufzeichnung einer Überwachungskamera herauskopiert und vervielfältigt hatte.

Der schwarze Sportwagen, der darauf zu sehen war, hatte ein Heilbronner Kennzeichen, und das Gesicht des Mannes, der gerade in den Wagen einsteigen wollte und direkt in die Kamera schaute, war deutlich zu erkennen.

»Der Name dieses Mannes ist Arnold Berheim«, sagte Thea.

»Ich weiß, ich kenne ihn«, entgegnete Olivia, die verblüfft auf das Foto schaute.

»Woher kennen Sie ihn?«, wollte Thea wissen.

»Er war Ende letzten Jahres Patient in der Praxis meiner Mutter, in der auch ich arbeitete. Herr Berheim war mein Patient. Damals sah er allerdings noch ganz anders aus. Er war eher schmächtig. Er muss in den letzten Monaten hart trainiert haben.«

»War Ihnen klar, dass Arnold Berheim Gefühle für Sie entwickelte?«

»Nein, ich habe ihn gleich nach der dritten Sitzung in eine Klinik überwiesen. Er hatte damals ausgeprägte Verfolgungsphantasien und brauchte langfristig Hilfe. Ich wusste nicht, dass er entlassen wurde.«

»Warum wurden Sie nicht über seine Entlassung informiert? Ich meine, Sie hatten ihn eingewiesen.«

»Das Problem ist, dass er ein paar Wochen nach seiner Einweisung in die örtliche Klinik, die wirklich einen guten Ruf hat und über gute Leute verfügt, in ein Sanatorium in die Schweiz verlegt wurde. Seine Familie ist äußerst vermögend. Sie besitzen Immobilien in ganz Europa und haben Freunde in der großen Politik.«

»Ich weiß, ich habe Luis, meinen Kollegen, ein bisschen über diese Familie recherchieren lassen.«

»Egal, wie vermögend sie sind und wie viel Einfluss sie besitzen, Arnold war noch nicht bereit, entlassen zu werden. Ich will wissen, wer dafür verantwortlich ist.« Olivia holte ihr Handy, das in der Küche neben der Kaffeemaschine lag, und rief die Nummer der psychiatrischen Klinik auf, in die sie Arnold ursprünglich überwiesen hatte und deren Telefonnummer in ihrem Handy gespeichert war. »Olivia Mai, verbinden Sie mich bitte mit Professor Gering«, bat sie, als sich die Klinik meldete.

Es dauerte auch nicht lange, bis sich Norbert Gering meldete, den sie aus den Vorlesungen kannte, die er als Gastprofessor während ihrer Zeit an der Universität gehalten hatte. »Hallo, Olivia, wie geht es Ihnen?«, fragte er freundlich.

»Ich bin vor Kurzem nach München gezogen und wollte mir etwas Neues aufbauen«, sagte Olivia und erzählte ihm in wenigen Worten, warum sie mit ihrer Mutter und ihrer Tochter umgezogen war.

»Wissen Sie inzwischen, wer dieser Mann ist?«, fragte Norbert Gering.

»Ich habe es gerade erfahren. Es ist Arnold Berheim. Herr Professor, sind Sie noch da?«, fragte Olivia, als Norbert schwieg.

»Arnold Berheim, ganz sicher?«, hakte Norbert nach, nachdem er sich von seiner offensichtlichen Überraschung erholt hatte.

»Es besteht kein Zweifel. Ich sitze hier mit einer Kommissarin der Münchner Polizei. Sie konnte den Mann, der mich verfolgt, glücklicherweise identifizieren. Ich würde wirklich gern wissen, warum Berheim aus der Klinik entlassen wurde. Und warum ich nicht darüber informiert wurde.«

»Ich finde es für Sie heraus. Ich werde gleich in dieser Klinik anrufen, in die er damals gebracht wurde. Ich melde mich dann wieder«, versprach Norbert und legte auf.

»Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gern noch warten, bis der Professor zurückruft«, sagte Thea.

»Ich bin sogar froh, wenn Sie bleiben. Jetzt, da ich weiß, wer mir nachstellt, empfinde ich meine Lage erst recht als bedrohlich.«

»Wo ist Ihre Tochter?«

»In ihrem Zimmer. Sie hofft genau wie ich, dass dieser Albtraum endlich vorbei ist.«

»Meine Kollegen vom Streifendienst wissen nun, nach wem sie suchen müssen. Wir werden diesen Mann finden«, versicherte Thea Olivia. »Ich weiß, das fällt eigentlich unter die Schweigepflicht, aber da ich die Gefahr, die von diesem Mann ausgeht, richtig einschätzen muss, sollte ich wissen, mit wem wir es zu tun haben. Als er damals bei Ihnen war, ging es da nur um seinen Verfolgungswahn oder leidet er noch unter anderen Störungen seiner Persönlichkeit?«

»Sein eigentliches Krankheitsbild fällt unter den Begriff Zelophobie.«

»Das bedeutet?«

»Er leidet an der Angst vor Eifersucht.«

»Wie äußerst sich diese Phobie?«

»Sobald er Eifersucht empfindet, fällt er zuerst in eine Art Apathie, kann sich kaum noch bewegen, nicht mehr essen und ist sogar selbstmordgefährdet. In der zweiten Phase schlägt seine anfängliche Apathie in Aggressivität gegen andere um. Seine größte Wut richtete sich dann gegen den Menschen, den er für seinen Zustand verantwortlich macht. Ich habe ihn in die Klinik überwiesen, damit er dort lernt, aggressives Verhalten zu vermeiden und zu lernen, dass Eifersucht kein Ausnahmezustand ist, sondern eine Empfindung, mit der wir alle mehr oder weniger zu kämpfen haben.«

»Er hat also Angst vor der Eifersucht, weil er sie stärker als andere empfindet?«

»Dieses Gefühl erscheint ihm unerträglich. Er gehört zu den Menschen, die gern alles kontrollieren. Aber die Gefühle eines anderen Menschen kann er nicht kontrollieren, und das bedeutet Machtverlust für ihn.«

»Das klingt nach einer komplizierten Persönlichkeit.«

»So ist es.«

»Was ich bisher über seine Familie erfahren habe, halten sie sich dort alle für Gewinner. Von den Großeltern bis zu seinen Geschwistern behaupten alle, sie seien starke Persönlichkeiten, die wissen, was sie wollen, und das auch durchsetzen. Für mich klingen solche Aussagen immer nach Egoismus und Skrupellosigkeit«, sagte Thea nachdenklich.

»Als Polizistin besitzen Sie eine gute Beobachtungsgabe, und Sie können anderen Menschen zuhören. Ich werde Ihnen nicht widersprechen«, entgegnete Olivia.

»Und Arnold Berheims Wut? Gegen wen ist sie gerichtet? Gegen Sie?«

»Nein, ich bin das Objekt seiner Begierde. Er würde sich auf jemanden fokussieren, von dem er glaubt, er könnte den Platz bei mir einnehmen, den er nicht haben kann.«

»Wer wäre das für ihn?«, fragte Thea.

»Ich bin zur Zeit mit niemandem liiert. Allerdings könnte für Arnold Berheim schon der geringste Verdacht, ich würde mich für einen Mann interessieren, ausreichen, um in diesem Mann eine Bedrohung zu erkennen.«

»Doktor Norden besucht Sie manchmal auf einen Kaffee, hat mir Lydia erzählt.«

»Nicht nur mich, seine Nachbarinnen«, entgegnete Olivia. »Aber ja, Sie haben recht. Ich hatte nach diesem Unfall vor seiner Praxis auch schon mit ihm darüber gesprochen, dass derjenige, der mich verfolgt, annehmen könnte, zwischen uns wäre etwas«, gab sie zu.

»Dann sollten wir ihn über den Stand meiner Ermittlungen informieren.«

»Ich warte noch den Rückruf von Professor Gering ab, dann gehe ich zu ihm«, sagte Olivia. »Möchten Sie noch einen Kaffee?«, fragte sie, als sie sah, dass Thea ihre Tasse bereits geleert hatte.

»Sehr gern«, sagte Thea und reichte Olivia ihre Tasse.

*

»Ich kann nichts finden, Herr Berheim, Sie sind ganz offensichtlich körperlich gesund«, sagte Danny, nachdem er Arnold gründlich untersucht hatte und er keine Anzeichen für eine Krankheit feststellen konnte. Er hatte ihn abgehört, die Bauchorgane abgetastet, und danach noch eine Ultraschallaufnahme des Bauchraumes gemacht, alles ohne Befund.

»Ich muss zugeben, Sie sind sehr gründlich vorgegangen«, stellte Arnold fest, als sie nach der Ultraschalluntersuchung wieder in Dannys Sprechzimmer saßen.

»Viel mehr kann ich im Moment auch nicht für Sie tun. Ich werde Ihnen noch Blut abnehmen und es gleich morgen früh zur Analyse ins Labor schicken. Sollte dabei auch nichts herauskommen, und sollten Ihre Schmerzen anhalten, die sich leider nicht wirklich eingrenzen lassen, müsste ich Sie in eine Klinik überweisen.«

»Das mit der Blutentnahme werde ich bei meinem Hausarzt veranlassen. Ich bin nur für ein paar Tage wegen einer dringenden Angelegenheit hier in der Gegend. Möglicherweise ist meine Erschöpfung auch das Symptom eines Burnouts. Was denken Sie, könnte das sein?«, wollte Arnold von Danny wissen.

»Dazu kann ich nichts sagen, da ich Ihre Lebensumstände nicht kenne.«

»Nun, dann werde ich Ihnen etwas von mir erzählen«, sagte Arnold. Er lehnte sich im Stuhl zurück, schlug die Beine übereinander und wirkte auf einmal ganz entspannt, so als wäre dieses Gespräch von Anfang an das eigentliche Ziel seines Besuches in Dannys Praxis gewesen.

»Gut, ich höre Ihnen zu«, antwortete Danny höflich, obwohl er darauf gehofft hatte, dass Arnold Berheim sich jetzt verabschieden würde.

Um ihm zu signalisieren, dass er nicht vorhatte, noch stundenlang hier mit ihm zu sitzen, schaute er zuerst ein paar Sekunden lang auf die Messingzeiger der alten Standuhr, die sich nur im Zeitlupentempo zu bewegen schienen. Um Arnold mehr Druck zu machen, sah er danach auch noch auf seine Armbanduhr, so als wollte er die Uhrzeit abgleichen. Aber Arnold störte sich nicht daran. Im Gegenteil, er schien noch tiefer in die gepolsterte Rückenlehne seines Stuhles zu sinken und sprach unbeirrt weiter.

»Wissen Sie, Herr Doktor, ich habe im Moment einiges zu bewältigen. Ich habe eine harte Zeit hinter mir.«

»Das tut mir leid«, sagte Danny.

»Die Frau, die ich liebe, hat sich Sorgen um mich gemacht und mir zu einer Kur geraten. Ich habe nicht widersprochen, sie weiß schließlich, was gut für mich ist.«

»Verstehe«, murmelte Danny. Er fragte sich, ob dieser Patient nicht bei seiner Nachbarin besser aufgehoben wäre, da er vermutlich unter psychischen Stress stand.

»In meiner Abwesenheit ist sie bedauerlicherweise auf Scharlatane hereingefallen, die ihr eingeredet haben, dass ein Ortswechsel für ihr berufliches Fortkommen von Vorteil sei«, setzte Arnold seine Erzählung fort. »Leider hat sie mich in diese Entscheidung nicht miteinbezogen, weil sie mich mit diesen Überlegungen wohl nicht belasten wollte.«

»Und das macht Ihnen zu schaffen?«, fragte Danny vorsichtig nach.

»Ja, sehr sogar. Ich hoffe, dass sie nach gründlichem Nachdenken zu dem Schluss kommt, dass ihre Entscheidung falsch war und wieder nach Hause zurückkehrt.«

»Sie sollten ganz offen mit ihr darüber sprechen.«

»Das gestaltet sich schwierig. Sie kann nicht allein für sich entscheiden. Sie hat eine Tochter, die ihre eigenen Ziele verfolgt, und ihre Mutter, die bei ihr wohnt, kann nicht so gut mit mir. Sie hetzt ihre Tochter vermutlich sogar gegen mich auf. Es ist wirklich ungemein anstrengend für mich. Ich muss so viele Hindernisse überwinden, um mit der Frau, die ich liebe, ein glückliches Leben führen zu können.«

»Diese Frau wohnt jetzt hier in der Stadt?«, fragte Danny, als Arnold mit einem sehnsuchtsvollen Blick aus dem Fenster auf das Haus der Mais schaute.

»Ja, sie wohnt hier. Bedauerlicherweise ist sie von Menschen umgeben, die es nicht gut mit ihr meinen«, sagte Arnold und wandte sich Danny wieder zu.

»Herr Berheim, es tut mir wirklich leid, aber ich habe noch einen Hausbesuch zu machen«, entgegnete Danny und versuchte, ruhig zu bleiben. Er ahnte, wer der Mann sein könnte, der ihm gerade gegenübersaß. Falls sich diese Ahnung bewahrheitete, hieß das nichts Gutes für ihn.

Er sah, wie Arnolds Halsschlagader pochte, als er seine engstehenden dunklen Augen auf ihn richtete, so als wäre er bereit, ihn zu vernichten. Egal, ob er wirklich der Mann war, der Olivia Mai seit Monaten verfolgte, oder nicht, er fühlte sich in seiner Gegenwart einfach nicht wohl und wollte ihn so schnell wie möglich loswerden. Ein Hausbesuch erschien ihm als ein überzeugender Grund, dieses Gespräch abzubrechen, ohne den Mann zu verärgern. Sobald er die Praxis verlassen hatte, würde er Thea Seeger anrufen, die dann herausfinden konnte, ob Arnold Berheim der Mann war, nach dem sie seit Wochen suchte.

»Einen Augenblick sollten Sie mir noch zuhören, Doktor Norden«, sagte Arnold, der sich nicht um Dannys Einwand mit dem Hausbesuch scherte.

»Fünf Minuten, dann muss ich wirklich los«, gab Danny nach, weil er spürte, dass er Arnold nicht reizen sollte.

*

»Professor Gering, danke für Ihren Rückruf«, meldete sich Olivia, als Norbert Gering sie eine Viertelstunde nach ihrem ersten Gespräch wieder anrief. »Haben Sie mit der Klinik in der Schweiz gesprochen?«

»Ja, das habe ich, und es hat mir nicht gefallen, was ich gehört habe.«

»Wenn Sie einverstanden sind, stelle ich das Telefon auf mithören. Frau Seeger, die Kommissarin, die in diesem Fall ermittelt, ist noch bei mir. Sie sollte wissen, mit wem sie es zu tun hat.«

»Das sehe ich auch so«, erklärte sich Norbert Gering einverstanden.

»Was haben die Schweizer Ihnen erzählt?«, fragte Olivia.

»Arnold Berheims Familie hat ihn bereits vor gut einem halben Jahr aus der Klinik geholt. Sie haben einen bekannten Gutachter beauftragt, sich mit Arnolds geistiger Verfassung vertraut zu machen. Er kam zu dem Schluss, dass von ihm keine Gefahr ausgeht und dass ihm allein seine Familie die Stabilität geben kann, die er braucht, um vollkommen von seiner Phobie geheilt zu werden.«

»Waren seine behandelnden Ärzte in der Schweiz auch dieser Meinung?«

»Nein, ganz und gar nicht. Aber was sollten sie tun? Arnold ist kein verurteilter Straftäter, er ist nur krank, und er hatte bis dahin auch niemandem körperlichen Schaden zugefügt.«

»Wie gefährlich ist der Mann wirklich?«, fragte Thea.

»Solange er sich überlegen fühlt und glaubt, die Situation zu kontrollieren, geht keine Gefahr von ihm aus. Sollte er sich allerdings unterlegen fühlen, könnte er dazu übergehen, seine Macht zu demonstrieren«, schloss sich Norbert Gering Olivias Einschätzung an.

»Das heißt, er würde auch nicht davor zurückschrecken, jemanden zu verletzen?«, fragte Thea.

»In diesem Zustand kann er seine Handlungen nicht mehr steuern«, sagte Olivia.

»So ist es«, stimmte Norbert Gering ihr zu.

»Vielen Dank, Professor. Ich melde mich bei Ihnen, sobald die Sache hier vorbei ist«, sagte Olivia.

»Ja, bitte, Olivia, halten Sie mich auf dem Laufenden«, bat Professor Gering.

»Das mache ich«, versprach ihm Olivia und beendete das Gespräch.

»Hallo, Frau Seeger. Gibt es Neuigkeiten?«, fragte Ophelia, die aus dem ersten Stock herunterkam, um sich in der Küche etwas zu trinken zu holen.

»Wir wissen jetzt, wer der Mann ist, der mich verfolgt«, klärte Olivia ihre Tochter über Theas Besuch auf.

»Echt? Wer ist es?«

»Ein ehemaliger Patient von mir.«

»Ich zeige dir ein Foto«, sagte Thea.

»Ja, bitte.« Ophelia stellte das Glas mit dem Mineralwasser, das sie sich gerade eingegossen hatte, auf die Anrichte, ging zum Esstisch und nahm das Foto von Arnold Berheim in die Hand, das Thea mitgebracht hatte. »Den kenne ich gar nicht«, stellte sie fest.

»Er war auch nur ein paar Mal bei uns, und das waren immer Vormittagstermine. Du konntest ihm gar nicht begegnen.«

»Warum verfolgt er dich?«, wollte Ophelia wissen.

»Er leidet an einer Phobie«, sagte Olivia und fasste kurz zusammen, wer Arnold war und welche Probleme er hatte.

»Okay, er hat Angst vor der Eifersucht, und er wird dir vermutlich nichts tun, das habe ich verstanden. Aber was macht er mit demjenigen, der ihm die Frau wegnehmen könnte, die er begehrt?«, fragte Ophelia und sah ihre Mutter an.

»Das lässt sich nicht voraussagen«, gab Olivia zu.

»Doktor Norden sollte wissen, wie dieser Typ aussieht.«

»Ja, sollte er wohl«, gab Olivia ihr recht.

»Ich gehe zu ihm. Kann ich das Foto haben?«, fragte Ophelia.

»Sicher, nimm es mit«, sagte Thea.

»Danke.«

»Sie mag ihn wohl sehr«, stellte Thea fest, nachdem Ophelia mit dem Foto in der Hand das Haus verlassen hatte.

»Ich bin bisher noch niemandem begegnet, der ihn nicht mag«, entgegnete Olivia.

»Nein, ich auch nicht«, stimmte Thea ihr zu. Sie lächelte in sich hinein, weil ihr das Aufblitzen in Olivias Augen nicht entging, als sie in den Garten hinausschaute und ihr Blick hinüber zu Dannys Haus wanderte.

*

»Mist«, schimpfte Ophelia, als ihr klar wurde, dass die Praxis bereits geschlossen hatte.

Sie war davon ausgegangen, dass die Sprechstunde heute länger dauerte, weil sie Danny in der Wohnung nicht angetroffen hatte. Die Terrassentür, die er abends immer öffnete, wenn er nach Hause kam, war verschlossen, und auch sonst war nirgendwo im Haus ein Fenster geöffnet. Da sein Auto im Hof stand, würde er aber vermutlich irgendwo in der Nähe sein.

»Na gut, dann muss ich ihm die Neuigkeit eben auf anderem Weg mitteilen«, murmelte sie. Sie zog ihr Handy aus der Jeanstasche, fotografierte den Ausdruck, den Thea ihr mitgegeben hatte, und schickte Danny das Foto über die App, die er am Morgen installiert hatte. In einem Anhang wies sie darauf hin, dass dies der Mann war, der ihre Mutter seit Monaten verfolgte.

»Kannst du nicht aufpassen?!«, fuhr der Junge sie an, den sie anrempelte, als sie sich mit dem Telefon und dem Foto in der Hand wieder umdrehte, um zurück nach Hause zu gehen.

»Marius, die Nervensäge aus der sechsten, alles klar.«

»Nichts mehr mit Nervensäge. Seit heute weiß ich, dass ich anämisch bin, deshalb habe ich diese Zustände.«

»Hast du Leukämie?«, fragte Ophelia erschrocken, nachdem sie das Foto aufgehoben hatte, das ihr aus der Hand gefallen war.

»Nein, nur starken Eisenmangel. Ist das ein Fahndungsfoto?«, fragte Marius und betrachtete das Foto von Arnold Berheim.

»Könnte sein. Solltest du diesen Typ sehen, dann gib mir Bescheid«, sagte Ophelia.

»Ich habe ihn heute schon gesehen.«

»Wo?«, fragte Ophelia erschrocken.

»In der Praxis.«

»Wann?«

»So um halb sechs. Ich war zu einer Untersuchung dort, da saß er im Wartezimmer.«

»Und warum bist du jetzt hier?«

»Weil ich meine Baseballkappe vergessen habe. Ich dachte, es sei vielleicht noch jemand hier. Aber eigentlich geht dich das gar nichts an.«

»Interessiert mich auch nicht wirklich. Ich habe gerade ein anderes Problem. Ich muss wissen, ob der Doc noch in der Praxis ist und ob dieser Kerl bei ihm ist.«

»Dann sieh doch nach.«

»Genau das habe ich vor, du Schlaumeier.«

»Und wie wollen wir das machen? In die Praxis kommen wir ja gerade nicht rein.«

»Wir? Du bist dabei?«, wunderte sich Ophelia.

»Der Doc ist echt in Ordnung. Wenn er in Schwierigkeiten ist, helfe ich«, erklärte Marius.

»Okay, dann komm mit. Vielleicht ist das Fenster des Sprechzimmers wenigstens gekippt, dann können wir hören, ob er da ist und mit jemandem spricht. Bleib hinter mir«, forderte Ophelia den Jungen auf.

»Ist der Typ auf dem Fahndungsfoto gefährlich?«, fragte Marius leise.

»Möglich wäre es. Er sollte eigentlich in einer psychiatrischen Klinik sein.«

»Wow, das klingt nicht gut. Ist er abgehauen?«

»Nein, er wurde entlassen, aber viel zu früh, hat meine Mutter gesagt.«

»War er Patient bei ihr?«

»War er. Und jetzt komm«, sagte Ophelia und zeigte ihm die Richtung an, in die sie gehen wollte.

Sie schlichen an der Rückseite des Hauses entlang, am Fenster des Wartezimmers vorbei, bis zur nächsten Ecke. Ophelia zuckte zusammen, weil sie beinahe gegen die Tonne gestoßen wäre, die dort unter der Regenrinne stand und das Wasser sammelte, das Valentina für den Garten verwandte.

Da es seit Tagen nicht geregnet hatte, war die Tonne leer und sie hätte sie leicht umstoßen können. Da sie keine Ahnung hatte, was in der Praxis vor sich ging, wollte sie aber lieber erst einmal nicht auf sich aufmerksam machen.

»Es ist zu«, flüsterte Marius, als sie vorsichtig weitergingen und auf der anderen Seite des Hauses zum Fenster des Sprechzimmers hinaufblickten.

»Das ist schlecht, ganz schlecht«, entgegnete Ophelia leise. »Okay, das könnte gehen.«

»Was könnte gehen?«, fragte Marius, als das Mädchen an ihm hochschaute.

»Da hin«, sagte Ophelia und deutete auf die Birke, deren Stamm zum Teil von einem dicht gewachsenen Schmetterlingsstrauch verdeckt wurde.

»Und was jetzt?«, wollte Marius wissen, nachdem er ihr gefolgt war.

»Du bist ein paar Zentimeter größer als ich, was für einen Jungen in deinem Alter ungewöhnlich ist, da ihr doch erst später als wir Mädchen an Größe zulegt.«

»Tja, da kannst du mal sehen, es gibt immer Ausnahmen«, entgegnete Marius, der sichtlich stolz auf seine Größe war.

»Dann zeig mir, was du draufhast, du Ausnahme. Steig in die Birke und sieh nach, was im Sprechzimmer vor sich geht«, forderte Ophelia ihn auf, in die Gabelung des zweistämmigen Baumes zu klettern, die etwa einen Meter über dem Boden lag.

»Kein Problem«, sagte Marius, zog sich geschickt an einem Ast hoch und stand gleich darauf zwischen den beiden Stämmen der Birke, hoch genug, um über den Schmetterlingsstrauch hinwegzusehen.

»Kannst du etwas erkennen?«, wollte Ophelia wissen, die zu ihm hochschaute.

»Der Doc sitzt hinter seinem Schreibtisch, und der Mann, der ihm gegenübersitzt, ist eindeutig dieser Typ von dem Foto«, bestätigte Marius Ophelias Verdacht, während er auf das Fenster des Sprechzimmers schaute.

»Was tun sie?«

»Sie unterhalten sich.«

»Es sieht also nicht so aus, als wäre der Doc bedroht?«

»Nein, alles im grünen Bereich«, versicherte Marius dem Mädchen.

»Okay, dann sagen wir jetzt meiner Mutter Bescheid. Hoffentlich ist Frau Seeger noch bei uns.«

»Thea Seeger, die Kommissarin?«, fragte Marius.

»Von ihr habe ich das Foto, das ich dir gezeigt habe«, klärte Ophelia ihn auf. »Beeilen wir uns, auch wenn es im Sprechzimmer gerade friedlich aussieht, der Kerl ist schließlich irre. Wer weiß, was dem in den nächsten Minuten noch einfällt.«

»Weiß Doktor Norden eigentlich, wer der Mann ist?«, wollte Marius wissen, als er mit Ophelia durch den Garten lief.

»Ich habe ihm das Foto von Frau Seeger per App geschickt.«

»Dann ist er wenigstens gewarnt«, sagte Marius und drehte sich noch einmal zu Dannys Haus um, bevor er Ophelia durch den Durchgang in der Hecke auf das Grundstück der Mais folgte.

*

Danny hatte sich nichts anmerken lassen, nachdem die Nachricht von Ophelia auf seinem Handy eingegangen war. Das Telefon lag wie immer in der obersten Schublade seines Schreibtisches, die er ein Stück geöffnet hatte, als die Nachricht eintraf. Er hatte das Surren das Telefons genutzt, um Arnold Berheim erneut zu sagen, dass er zu einem Hausbesuch musste. Aber wieder hatte Arnold so getan, als habe er es überhört.

Das Foto hatte seine Vermutung, dass Arnold der Mann war, der Olivia verfolgte, bestätigt. Der Qualität des Fotos nach zu urteilen stammte es von einer Überwachungskamera. Er ging davon aus, dass Thea Olivia wegen dieses Fotos aufgesucht hatte und Ophelia es ihm geschickt hatte, damit auch er wusste, wie dieser Mann aussah. Leider konnte er nicht davon ausgehen, dass sie da draußen ahnten, wie nah ihm Arnold bereits gekommen war, deshalb musste er einen Weg finden, ihnen genau das mitzuteilen.

Da er nun wusste, mit wem er es zu tun hatte, war ihm klar, dass er auch weiterhin vorsichtig mit diesem Mann umgehen musste, damit er sich nicht zu einer unüberlegten Tat hinreißen ließ. Eines stand fest, Arnold Berheim war nicht zu ihm gekommen, weil er einen ärztlichen Rat brauchte.

Es bestand auch kein Zweifel mehr daran, dass die Hauptpersonen in dieser Geschichte von der großen Liebe, die Arnold ihm seit einer gefühlten Ewigkeit in aller Ausführlichkeit schilderte, Arnold und Olivia waren. Auch wenn er Olivias Namen bisher nicht ausgesprochen hatte.

Noch wusste Danny nicht, woher die beiden sich kannten, ob sie sich überhaupt schon einmal persönlich begegnet waren. Er ging aber davon aus, dass das meiste in dieser Geschichte der Fantasie seines Gegenübers entsprungen war. Bevor er einen weiteren Versuch startete, Arnold loszuwerden, musste er wissen, wie hoch seine Aggressionsschwelle war. Ob er Widerspruch duldete oder sich sofort angegriffen fühlte.

Er hoffte, dass Olivia diesen Mann zumindest so gut kannte, dass sie ihm etwas dazu sagen konnte. Er musste den passenden Moment abwarten, um unbemerkt eine Nachricht über die App senden zu können. Arnold aber war misstrauisch, er verfolgte jede seiner Handbewegungen, so als ahnte er, was er vorhatte.

»Hören Sie mir noch zu?«, fragte Arnold plötzlich sichtlich gereizt.

»Tut mir leid, Herr Berheim, ich muss jetzt wirklich los«, versuchte Danny es erst noch einmal mit dem Hausbesuch als Fluchtmöglichkeit und ließ sich von Arnolds zurechtweisenden Blick nicht einschüchtern.

»Ich bin aber noch nicht fertig. Ein paar Minuten haben Sie sicher noch.« Arnold stand auf, ging zum Fenster und zog die beiden blauen Stoffvorhänge zu, die das Zimmer in den heißen Monaten auch vor starker Sonneneinstrahlung schützten. Dass er dabei die ganze Zeit eine Hand in der Hosentasche hatte, sorgte bei Danny für ein mulmiges Gefühl.

»Bitte, sprechen Sie weiter«, sagte er, nachdem sich Arnold wieder hingesetzt hatte. Vielleicht hatte er ja zu viele Krimis gesehen, aber dieser Griff in die Hosentasche sollte ihm offensichtlich suggerieren, dass sein Gegenüber bewaffnet war.

Ob es wirklich so war, konnte er nicht mit Sicherheit sagen, aber dass er die Vorhänge zugezogen hatte, deutete nicht daraufhin, dass Arnold freundschaftliche Gefühle für ihn hegte. Es war eine Machtdemonstration. Arnold Berheim wollte ihm damit zeigen, dass er die Situation kontrollierte. Er brauchte dringend Hilfe von außen, und jetzt hatte er auch eine Idee, wie er das hinbekommen konnte.

Er musste keine Nachricht tippen, wenn er über das Handy einen Kontakt herstellen wollte. Die App, die er auf Ophelias Rat hin installiert hatte, eröffnete ihm eine weitaus einfachere Möglichkeit. Er musste nur das Icon anklicken und schon konnte er Fotos und Tonaufnahmen verschicken.

*

»Was machen wir jetzt, Mama? Wer weiß, was dieser Irre mit Doktor Norden vorhat. Mittlerweile sind auch die Vorhänge im Sprechzimmer geschlossen.« Ophelia lief aufgeregt durch das Esszimmer und sah immer wieder aus dem Küchenfenster hinüber auf das Nachbargrundstück, während Marius am Tisch saß und von den Schokokeksen aß, die Olivia in einer Glasschüssel auf den Esstisch gestellt hatte.

Nachdem Ophelia und Marius Olivia und Thea erzählt hatten, dass Arnold bei Danny im Sprechzimmer saß, hatte Thea versucht, Lydia zu erreichen. Sie hatte gehofft, der Feuerwehreinsatz sei bereits beendet und Lydia könnte ihr den Schlüssel für die Praxis bringen, damit sie ins Haus kamen. Aber Lydia war nicht zu erreichen. Sie hatte auch bei Sophia zu Hause angerufen, aber wie ihre Mutter ihr sagte, war Sophia noch unterwegs und hatte ihr Handy nicht bei sich. Obwohl Ophelia ihr versichert hatte, dass Valentina zu ihrer Schwester gefahren war, hatte sie trotzdem auch bei ihr angerufen. Aber Valentina meldete sich nicht.

»Dann müssen wir eben die Tür aufbrechen«, sagte Ophelia.

»Das machen wir erst, wenn wir alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft haben.«

»Welche Möglichkeiten haben wir?«, fragte Marius und schob den nächsten Keks in den Mund. »Ich habe Eisenmangel. Schokolade soll helfen, habe ich gelesen«, sagte er, als Thea ihn schmunzelnd anschaute.

»Nur zu, junger Mann«, entgegnete sie lachend.

»Leute, ich habe da etwas.« Ophelia schaute auf das Foto, das gerade über die App auf ihrem Handy eintraf. »Okay, was will er uns sagen?« Sie legte das Telefon auf den Tisch, damit alle das Foto sehen konnten. Es zeigte Danny, der am Schreibtisch saß und den Zeigefinger wie zufällig an seine Lippen hielt.

»Merkwürdige Perspektive«, stellte Marius fest.

»Stimmt, das Handy liegt offensichtlich in einer Schreibtischschublade«, gab Ophelia ihm recht.

»Stopp!«, rief Thea, als gleich darauf eine Sprachnachricht von Danny eintraf und Ophelia sie annehmen wollte.

»Warum soll ich nicht drangehen?«, fragte das Mädchen verblüfft.

»Weil ich denke, dass Doktor Norden uns mit dem Foto, das er gerade geschickt hat, mitteilen wollte, dass wir einfach nur zuhören sollen.«

»Genau, deshalb der Zeigefinger vor den Lippen. Er will nicht, dass Arnold Berheim mitbekommt, dass er Kontakt mit uns aufnimmt«, sagte Ophelia. »Also dann, Ruhe«, flüsterte sie und nahm das Gespräch an. Sie stellte das Telefon auf Mithören und schaltete ihre eigene Spracheingabe auf stumm, sodass sie Danny hören konnten, er sie aber nicht.

»Wissen Sie, Herr Doktor Norden, es gibt immer wieder Menschen, die glauben, eine perfekte Beziehung zerstören zu müssen«, hörten sie Arnold Berheim sagen.

»Und das ist Ihnen passiert, Herr Berheim?«, fragte Danny und teilte ihnen so mit, wer bei ihm war.

»Mir passiert es gerade, und das tut sehr weh.«

»Das glaube ich Ihnen, aber ich denke nicht, dass ich Ihnen helfen kann, dieses Problem zu lösen.«

»Was hast du vor, Mama?«, fragte Ophelia, als ihre Mutter ihr Handy aus der Küche holte.

»Er braucht unsere Hilfe, und die bekommt er«, sagte Olivia, während sie eine Nachricht tippte.

»Was schreiben Sie ihm?«, wollte Thea wissen.

»Geben Sie Berheim das Gefühl, dass er Ihnen überlegen ist«, las Olivia ihre Nachricht vor und drückte auf senden.

»Sie sind sogar der einzige, der mein Problem lösen kann«, hörten sie Arnold mit erhobener Stimme sagen.

»Gut, Herr Berheim, dann sagen Sie mir, wie.«

»Sie müssen sich klar machen, dass Sie sich in die falsche Frau verliebt haben«, antwortete Arnold.

»Wen meinen Sie denn damit?«, gab sich Danny ahnungslos.

»Lassen Sie das oder halten Sie mich für dumm?«, entgegnete Arnold ungehalten.

»Mama, tu etwas«, forderte Ophelia ihre Mutter auf.

»Sagen Sie ihm, was er hören will«, tippte Olivia in ihr Handy und drückte auf senden.

»Ich werde Verstärkung anfordern. Falls die Situation eskaliert, gehen wir rein. Vielleicht gelingt es Doktor Norden, Berheim dann für einen Moment abzulenken, damit er uns nicht gleich bemerkt«, sagte Thea und ging mit ihrem Handy zum Küchenfenster, um einen Blick auf Dannys Grundstück zu werfen, das jetzt, da die Dämmerung eingesetzt hatte, nur noch schlecht einsehbar war.

»Was ist hier los?«, wollte Ottilie wissen, die plötzlich in einem leuchtendgelben Morgenmantel und einem weißen Wollschal um den Hals in der Tür zum Esszimmer stand.

»Mutter, du gehörst ins Bett«, sagte Olivia.

»Mir geht es gut«, versicherte ihr Ottilie. »Was man von Doktor Norden aber offensichtlich nicht behaupten kann. Ich habe deine Nachrichten mitgelesen, Olivia. Geht es um Arnold Berheim, deinen ehemaligen Patienten?«

»Er ist der Mann, der mich verfolgt. Wie ich erst heute erfahren habe, wurde er bereits vor Monaten entlassen«, klärte Olivia ihre Mutter über Arnold auf.

»Verstehe, den Rest kann ich mir zusammenreimen«, entgegnete Ottilie und setzte sich auf das Sofa am anderen Ende des Zimmers. Ortrud, die ihr auf Schritt und Tritt folgte, machte es sich auf ihrem Schoß gemütlich.

»Also gut, ich gebe es zu«, hörten sie Danny sagen, nachdem ihn Arnold noch ein paar Mal aufgefordert hatte, endlich die Wahrheit zu sagen.

»Danke, das war doch gar nicht so schwer. Aber was auch immer sie sich bisher eingebildet haben, Sie haben sich geirrt. Olivia Mai liebt nur mich. Sie weiß das, und ich weiß das, und nun wissen auch Sie es«, sagte Arnold. Gleich darauf hörten sie, wie jemand von einem Stuhl aufstand.

»Die Verstärkung ist in einer Viertelstunde hier«, teilte ihnen Thea mit, die inzwischen mit ihren Kollegen gesprochen hatte. »Mir wäre es allerdings lieber, wir könnten Doktor Norden auf eine andere Weise vor Berheim in Sicherheit bringen«, sagte sie nachdenklich.

»Das wäre auf jeden Fall besser. Ich habe keine Ahnung, wie Berheim reagiert, wenn er sich plötzlich in die Enge getrieben fühlt«, stimmte Olivia Theas Bedenken zu. »Er darf auf keinen Fall zu früh mitbekommen, was sich um ihn herum zusammenbraut.«

»Das habe ich schon geklärt. Meine Kollegen werden ohne Blaulicht und Sirene anrücken.«

»Was ist das?! Mit wem sprechen Sie?!«, hörten sie Arnold plötzlich aufgebracht rufen. Im selben Moment brach die Verbindung zu Danny ab.

»O Gott, was passiert jetzt?«, flüsterte Ophelia.

*

»Das Gespräch zwischen Arzt und Patient ist vertraulich. Jemanden mithören zu lassen, ist ein grober Verstoß. Die Verletzung der Schweigepflicht kann sogar mit Gefängnis bestraft werden. Das wissen Sie doch«, erklärte Arnold Danny in einem herablassenden Ton, nachdem er das Handy an sich genommen hatte. Er hatte es entdeckt, als er von seinem Stuhl aufgestanden war, um ein paar Schritte im Zimmer auf- und abzugehen, weil er so besser denken konnte, wie er glaubte.

»Ich habe die ärztliche Schweigepflicht nicht verletzt, Herr Berheim«, entgegnete Danny.

»Doch, haben Sie. Wer hat mitgehört? War sie es? Hatten Sie vor, mich vor ihr schlecht zu machen?«

»Herr Berheim, denken Sie nach, habe ich etwas gesagt, was Sie in Olivias Augen in Misskredit bringen könnte? Das einzige, was sie hören konnte, war, wie sehr Sie sie lieben. Richtig?«

»Stimmt«, musste Arnold Danny recht geben. »Aber wir führen hier ein Gespräch unter Männern, da sollte eine Frau nicht zuhören«, sagte er. Er ging zum Fenster, zog es auf und warf Dannys Telefon in den Garten.

Danny dachte nicht lange nach, er wollte diesen Moment nutzen, um Arnold zu entkommen. Er machte einen Satz in Richtung Tür, aber Arnold reagierte sofort und versperrte ihm den Weg, drehte den Schlüssel in der Tür um, zog ihn ab und steckte ihn in die Brusttasche seines Hemdes. »Wollen Sie es darauf ankommen lassen, Doktor Norden?«, fragte er, während er erneut in seine Hosentasche griff.

Ja, ich würde es gern darauf ankommen lassen, dachte Danny und ballte die Fäuste hinter dem Rücken. Aber dieser Mann war krank. Ihm war inzwischen klar, dass Arnold Berheim massive psychische Probleme hatte, und das machte es ihm unmöglich, seine Reaktionen einzuschätzen. »Okay, regeln wir die Angelegenheit. Was wollen Sie?«, fragte Danny. Er musste dafür sorgen, dass Arnold sich erst einmal beruhigte.

»Setzen wir uns wieder«, forderte Arnold ihn auf, nachdem er auch das Festnetztelefon an sich genommen hatte. Er wartete, bis Danny hinter seinem Schreibtisch saß, bevor auch er wieder Platz nahm und das Festnetztelefon vor sich auf den Tisch legte. »Sie müssen dafür sorgen, dass Olivia wieder nach Heilbronn zurückkommt. Nur so können Sie mir beweisen, dass Sie diese Liebe zwischen ihr und mir nicht zerstören wollen«, erklärte ihm Arnold.

»Und wie stellen Sie sich das vor?« Danny fragte sich, wie abstrus diese Unterhaltung noch werden würde, und welchen wirren Gedankengängen er noch folgen musste. Als er sah, dass das Fenster, das Arnold geöffnet hatte, nur angelehnt war, weil er ihm den Weg zur Tür versperren musste und vergessen hatte, es zu schließen, schöpfte er für einen kurzen Moment erneut Hoffnung, dieser unangenehmen Lage zu entkommen.

Gleich darauf verwarf er den Gedanken an diesen Fluchtweg wieder. Um durch das Fenster zu entkommen, hätte er sich mit einem Hechtsprung in den Garten stürzen müssen, und das würde vermutlich nicht gut ausgehen.

»Ich sage Ihnen, was Sie tun werden. Sie machen Olivia klar, dass sie hier nicht willkommen ist«, sagte Arnold.

»Dazu habe ich nicht die Macht. Sie ist nicht wegen mir hier«, entgegnete Danny.

»Das ist allerdings wahr, warum sollte sie auch wegen Ihnen hier sein. Sie will ja nichts von Ihnen. Hm, schwierig«, murmelte Arnold. »Obwohl, nein, eigentlich ist es ganz einfach. Sie müssen ihr das Leben schwermachen, so schwer, dass es für sie unerträglich wird, in Ihrer Nähe zu bleiben«, sagte er, nachdem er eine Weile nachdenklich vor sich her gestarrt hatte.

»Wie genau soll ich das machen?« Sie unternehmen etwas, dachte Danny, als er den Einsatzwagen der Polizei vor dem Grundstück der Mais anhalten sah. Zwischen den beiden zugezogenen Vorhängen war ein Spalt freigeblieben, der es ihm von seinem Platz aus ermöglichte, die Straße vor dem Haus der Mais einzusehen. Obwohl es inzwischen dunkel war, konnte er die Polizisten, die gleich darauf ausstiegen, im Schein der Straßenlaterne gut erkennen. Ihm war klar, dass Arnold von dem, was sich da draußen abspielte, nichts mitbekommen sollte.

»Wie wäre es, wenn ich uns ein bisschen Licht mache«, schlug Danny vor.

»Gute Idee«, erklärte sich Arnold gleich einverstanden. »Merkwürdig, wie schnell wir uns an die Dunkelheit gewöhnen und sie gar nicht richtig wahrnehmen, solange unser Geist beschäftigt ist. So ist es viel besser«, sagte er, nachdem Danny die Lampe mit dem großen weißen Schirm eingeschaltet hatte, die das ganze Zimmer in helles Licht tauchte.

Danny atmete innerlich auf. Selbst wenn Arnold jetzt auf seine Seite des Schreibtisches wechselte, wäre das Licht im Zimmer zu hell, um draußen noch etwas erkennen zu können. Wenn es ihm noch gelang, Arnold mit irgendetwas zu ­beschäftigen, dann würde es der Polizei ihren geplanten Zugriff erleichtern. Arnold hatte von einem Gespräch unter Männern gesprochen, dazu fiel ihm der Cognac ein, den er in der untersten Schublade seines Schreibtisches aufbewahrte. Wenn er Arnold dazu brachte, einen Cognac mit ihm zu trinken, würde es ihm möglicherweise gelingen, ihm ein Schlafmittel einzuflößen.

In dem Medikamentenschrank am Fußende der Untersuchungsliege standen einige Fläschchen eines neuen Schlafmittels, die ihm ein Pharmavertreter dagelassen hatte. Er lagerte sie in der verschlossenen Schublade. Falls Arnold ihn nicht aus dem Zimmer ließ, um Gläser zu holen, wovon er ausging, würde er Pappbecher aus dem Becherspender neben dem Medikamentenschrank holen. Wenn er Arnold irgendwie ablenkte, sollte es ihm gelingen, an das Schlafmittel zu kommen. Er beschloss, ihn noch eine Weile reden zu lassen, sich in allem kooperativ zu zeigen, dann würde er ihm einen Drink anbieten.

*

»Können wir auch irgendetwas tun?«, wolle Olivia von Thea wissen, als die Kommissarin nach einem erneuten Gespräch mit ihrer Dienststelle in den Hof der Mais gehen wollte. Dort warteten ihre Kollegen, die gerade eingetroffen waren, auf weitere Anweisungen.

»Im Moment leider nicht. Wir können gerade keinen Kontakt mit Doktor Norden aufnehmen. Berheim kontrolliert sicher auch das Festnetztelefon, und wir wissen nicht, wie er auf einen Anruf von außen reagieren würde.«

»Anruf von außen, das ist es«, mischte sich Ottilie ein, die mit Ortrud auf dem Arm aufgestanden war, um wieder in ihr Zimmer zu gehen.

»Was genau meinen Sie?«, wollte Thea wissen.

»In einer Arztpraxis rufen ständig Leute an. Wir tun einfach so, als würde ein Patient anrufen und versuchen herauszufinden, wie es Doktor Norden gerade geht«, schlug Ottilie vor. »Im schlimmsten Fall verhindert Berheim, dass Doktor Norden den Anruf annimmt oder er unterbricht das Gespräch. Mehr kann nicht passieren, richtig?«, fragte sie und sah zuerst ihre Tochter und danach Thea an.

»Gut, versuchen wir es«, erklärte Thea sich sofort einverstanden. »Aber es muss jemand anrufen, dessen Stimme Berheim nicht kennt.«

»Ich kann anrufen«, meldete sich Marius, der auf keinen Fall nach Hause gehen wollte, bevor dieser Mann, der Doktor Norden in der Praxis festhielt, von der Polizei abgeführt wurde. »Ich könnte Doktor Norden fragen, ob es meiner Baseballkappe gut geht und sie sicher aufbewahrt wird.«

»Cleverer Junge«, lobte Thea Marius. »Also dann, ruf an.«

»Wird gemacht.« Marius zog sein Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer der Arztpraxis, die er schon am Nachmittag in sein Telefon einprogrammiert hatte. »Weggedrückt«, stellte er enttäuscht fest, als der Anruf abgelehnt wurde.

»Warte einen Moment, dann versuchst du es noch mal«, bat ihn Thea. »Sollte sich Doktor Norden erneut nicht melden, werden meine Kollegen und ich uns seinem Haus nähern und uns Zutritt durch den Keller verschaffen. Die Kellertür ist weit genug vom Sprechzimmer entfernt, um Berheim nicht gleich aufmerksam zu machen.«

»Hoffentlich geht das alles gut aus. Es darf einfach nicht sein, dass Daniel Norden etwas zustößt. Das würde ich mir nie verzeihen«, sagte Olivia leise.

»Sie sind nicht für Arnold Berheims Taten verantwortlich. Im Gegenteil, Sie haben alles getan, um so etwas zu verhindern«, versicherte ihr Thea.

»Mag sein, trotzdem ist er nur wegen mir in dieser Lage.«

»Es wird ihm nichts passieren«, sagte Thea und streichelte mitfühlend über Olivias Arm.

»Richtig, es wird ihm nichts passieren, weil er die Situation in den Griff bekommt. Berheim mag sich ihm überlegen fühlen, aber in Wirklichkeit ist er es nicht. Berheim ist in seinem Wahn gefangen, dass Doktor Norden ihm Olivia wegnehmen könnte. Er kann an nichts anderes denken. Doktor Norden weiß das inzwischen, ihm wird etwas einfallen, um ihn auszutricksen«, erklärte Ottilie mit überzeugter Stimme.

»Ich hoffe es, aber ich werde mich nicht darauf verlassen. Ich werde meine Kollegen auf ein mögliches Eingreifen vorbereiten«, sagte Thea.

»Ihr bleibt hier«, forderte Olivia ihre Tochter und Marius auf, die Thea folgen wollten.

»Ortrud, das gilt auch für dich!«, rief Ottilie, als die Katze von ihrem Arm sprang, auf die Haustür zuschoss, die Thea geöffnet hatte, und in der Dunkelheit verschwand.

»Falls Sie in Doktor Nordens Haus eindringen, könnte es sein, dass sie mitkommt«, klärte Ophelia Thea darüber auf, was von der Katze zu erwarten war.

»Es wird ihr nichts passieren«, versicherte ihr Thea und zog die Haustür hinter sich zu.

»Du solltest deinen Eltern Bescheid geben, dass du später kommst. Aber sage ihnen besser nicht, was hier gerade los ist, sonst machen sie sich Sorgen«, wandte sich Olivia an den Jungen, der zusammen mit Ophelia zum Küchenfenster stürmte, um wenigstens etwas von dem mitzubekommen, was draußen vor sich ging.

»Und meine Oma könnte auf die Idee kommen, mit der halben Nachbarschaft hier aufzukreuzen, was Frau Seeger bestimmt nicht gefallen würde«, erwiderte er schmunzelnd.

»Warum musst du eigentlich eine Ehrenrunde in der sechsten drehen? Du bist doch ein schlaues Kerlchen«, stellte Ophelia verwundert fest.

»Doktor Norden sagt, dass der Eisenmangel schuld an meiner Müdigkeit und meiner miesen Laune ist. Seitdem ich das weiß, geht es mir irgendwie besser, weil ich jetzt jedem sagen kann, dass ich kein Freak bin, sondern unter Mangelerscheinungen leide.«

»Okay, verstehe, und jetzt ruf deine Eltern an.

»Mache ich. Mama, ich bin noch bei einer Freundin, Ophelia Mai, sie wohnt in dem Haus neben Doktor Norden«, sagte Marius, als seine Mutter sich am Telefon meldete. »Ja, bis zum Abendessen bin ich da, bis dann.«

»Bei einer Freundin?«, fragte Ophelia verblüfft, nachdem Marius das Gespräch beendet hatte.

»Könnten wir denn nicht Freunde sein?«

»Möglicherweise«, entgegnete Ophelia. Sie musste sich eingestehen, dass Marius sich in dieser Ausnahmesituation ziemlich gut geschlagen hatte.

»Ich würde es super finden«, sagte er mit einem schüchternen Lächeln. »Soll ich jetzt noch mal in der Praxis anrufen?«, wandte er sich an Olivia.

»Warte noch eine Minute«, sagte sie und schaute über die beiden Kinder hinweg auf Dannys Grundstück.

*

»Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass Sie noch immer nicht ganz begriffen haben, dass Sie Olivia nicht haben können?« Arnold hatte seine Hände zu Fäusten geballt und trommelte schon eine ganze Weile mit den Knöcheln auf die Seitenlehnen des Stuhles.

»Glauben Sie mir, ich habe genau verstanden, worum es Ihnen geht«, versicherte ihm Danny. Nachdem er sich erneut minutenlang hatte anhören müssen, wie groß Olivia Mais Liebe für Arnold Berheim war und dass niemand sich zwischen die beiden drängen durfte, war er fest entschlossen, diese Unterhaltung jetzt zu beenden.

Er verdrängte diese diffuse Angst, die sich in ihm ausbreiten wollte, um ihn von seinem Plan abzuhalten. Er vertraute auf seine Entschlusskraft und die Hilfe der Polizei. Obwohl er sich vorstellen konnte, dass es schwierig für Thea Seeger und ihre Leute war, einen Plan zu entwickeln.

Da Arnold Berheim das Handy aus dem Fenster geworfen hatte und das Festnetztelefon bewachte, wussten sie nicht, was bei ihm im Sprechzimmer vor sich ging. Er war sicher, dass der Anruf, der vor ein paar Minuten einging und von Arnold abgelehnt wurde, von Thea Seeger oder vielleicht auch von Olivia kam. Sie geben nicht auf, dachte er, als das Telefon erneut läutete. »Es könnte ein Patient sein«, sagte er und hoffte, dass Arnold das Gespräch dieses Mal annahm.

»Die Sprechstunde ist aber vorbei. Das ist nervig«, schimpfte Arnold und starrte auf das blinkende Display des Telefons. Kurz entschlossen drückte er auf die Annahmetaste und stellte das Gespräch auf mithören. »Die Sprechstunde ist vorbei«, sagte er.

»Hier ist Marius, ich möchte nur wissen, ob meine Baseballkappe gefunden wurde, und ob sie sicher aufbewahrt wird«, tönte es aus dem Lautsprecher.

»Antworten Sie ihm«, forderte Arnold Danny auf.

»Hör zu, Marius, die Kappe wurde gefunden. Sie ist eingeschlossen und wird nicht davonlaufen.« Danny war klar, dass Marius um diese Uhrzeit nicht wegen seiner Baseballkappe anrief, sondern herausfinden sollte, wie es ihm ging. Er hoffte, dass seine Nachricht, dass Arnold ihn nicht gehen ließ, bei der Polizei ankam.

»Kinder, immer verlieren sie etwas«, murmelte Arnold, beendete das Gespräch und zog den Akku aus dem Telefon. »Wir wollen doch nicht ständig gestört werden«, sagte er. »Also noch mal, haben Sie verstanden, worum es mir geht, Herr Doktor?«, wandte er sich wieder Danny zu.

»Glauben Sie mir, ich weiß genau, was Sie wollen. Was halten Sie davon, wenn wir das Ergebnis unseres Gespräches mit einem Glas Cognac besiegeln? Ich denke, ein guter Cognac gehört zu einem Gespräch unter erwachsenen Männern.« Geh bitte darauf ein, dachte Danny, als Arnold erst einmal nachdenklich ins Leere schaute.

»Gute Idee, Herr Doktor, offensichtlich habe ich mich geirrt, Sie haben besser zugehört, als ich annahm«, antwortete er mit einem zufriedenen Lächeln. »Was machen Sie da?!«, schrie er und sprang wütend auf, als Danny die unterste Schublade seines Schreibtisches öffnete.

»Der Cognac ist in der Schublade«, antwortete Danny ganz ruhig und präsentierte ihm die bauchige Flasche eines teuren Cognacs.

»Tut mir leid, meine Nerven sind wohl ein wenig angekratzt«, entschuldigte sich Arnold und setzte sich wieder hin.

»Schon gut, wir sind alle hin und wieder überreizt«, entgegnete Danny lächelnd. »Gläser habe ich hier allerdings keine. Ich müsste sie aus der Küche holen, oder wir nehmen Pappbecher.«

»So schmerzlich das auch für einen Cognackenner wie mich ist, wir nehmen die Pappbecher. Wir sollten diesen Raum nicht verlassen, bevor wir unseren Pakt besiegelt haben. Ich meine, dass Sie Olivia erklären, dass sie in dieser Stadt nicht glücklich werden kann.«

»Ja, ich weiß, um was es geht«, sagte Danny und fragte sich zum wiederholten Mal, wie viele Psychologen oder Psychiater dieser Mann schon besucht hatte und wer von ihnen es zu verantworten hatte, dass er nicht in Behandlung war. »Sie könnten die Flasche öffnen«, schlug er Arnold vor, nahm den Korkenzieher, der in dem Geschenkkarton mit dem Cognac gelegen hatte, aus der Schublade und legte ihn neben die Flasche auf den Tisch.

»Ich fühle mich geehrt. Wir kommen allmählich miteinander klar«, sagte Arnold und betrachtete Danny, der aufgestanden war, mit einem überlegenen Lächeln. Er ging ganz offensichtlich noch immer davon aus, dass er diese Situation kontrollierte.

Danny wartete, bis Arnold die Flasche in die Hand nahm und den Korkenzieher ansetzte. Im selben Moment zog er einen Becher aus dem Spender und schloss gleichzeitig die Schublade des Medizinschrankes auf. Sie befand sich auf Hüfthöhe, und er konnte sie geschickt verdecken, während er den Becher aus dem Spender zog. Den Schlüssel für die Schublade hatte er immer in seiner Hosentasche und hatte ihn schon in der Hand gehalten, als er aufgestanden war. Als er den zweiten Becher aus dem Spender holte, nahm er eines der Fläschchen mit dem Schlafmittel in die Hand, schob die Schublade leise wieder zu und drehte den Schlüssel um. Er wollte schon aufatmen, weil der erste Teil seines Plans geschafft war, als Arnold aufschaute.

»Was haben Sie da gerade in die Hosentasche gesteckt?«, wollte er wissen.

»Ich habe gar nichts eingesteckt. Ich habe nur überprüft, ob ich den Schlüssel des Medizinschrankes bei mir habe. Er darf aus versicherungstechnischen Gründen nicht in der Praxis bleiben.«

»Zeigen«, forderte Arnold ihn auf.

»Sie sind extrem misstrauisch«, sagte Danny und sah Arnold direkt an, damit er nicht mitbekam, dass er auch das Schlafmittel aus der Tasche nahm, während er den Schlüssel herauszog. Vielleicht kam Arnold auf die Idee, seine Taschen zu durchsuchen.

»Sie haben recht, ich bin misstrauisch, aber das wären Sie auch, wenn Sie in meiner Lage wären«, sagte er und gab sich glücklicherweise mit seiner Erklärung zufrieden, nachdem er ihm den Schlüssel für den Medizinschrank gezeigt hatte. »Das ist ein wirklich edler Tropfen«, lobte Arnold den Cognac, als Danny sich wieder gesetzt hatte.

Während Arnold noch genießerisch an dem Korken roch und von einem würzigen erdigen Duft nach Kiefer, Orange und Kakao faselte, öffnete er den Verschluss des Fläschchens mit dem Schlafmittel, das er noch immer mit der Hand umschlossen hielt. Allerdings wusste er noch nicht, wie er die Flüssigkeit in Arnolds Becher bringen sollte. Ich könnte jetzt echt ein bisschen Hilfe gebrauchen, dachte Danny, als Arnold in aller Ruhe die beiden Pappbecher zu einem Drittel mit Cognac füllte.

»Auf unser Abkommen«, sagte Arnold und reichte ihm einen der Becher. »Moment, ich habe wohl vorhin vergessen, das Fenster wieder zu schließen«, stellte er fest, als das angelehnte Fenster klapperte.

Danny überlegte nicht lange. Gleich nachdem Arnold aufgestanden war und zum Fenster ging, beugte er sich nach vorn und schüttete den halben Inhalt des Fläschchens in Arnolds Becher. Die Tropfen würden ihn nicht umbringen, aber für einige Stunden tief schlafen lassen.

»Ortrud«, flüsterte Danny, als plötzlich die rotgetigerte Katze seiner Nachbarinnen hinter dem Vorhang hervorschaute.

»Raus mit dir, du Fellding, du Allergiemonster!«, rief Arnold, den der Anblick der Katze ganz offensichtlich in Panik versetzte.

Als Ortrud auf der Fensterbank sitzen blieb, machte er einen Schritt auf sie zu und fuchtelte mit den Händen herum. Das gefiel Ortrud gar nicht. Sie fuhr ihre Krallen aus, schlug mit einer Pfote auf Arnolds Hand und sprang knurrend in den Garten zurück.

»Sehen Sie sich das an, das Raubtier hat mich verletzt«, schimpfte Arnold, nachdem er das Fenster geschlossen hatte und wieder an den Schreibtisch zurückkam.

»Ich hole etwas zum Desinfizieren«, sagte Danny. Danke, Ortrud, du bist eine echte Freundin, dachte er.

»Moment, dieses Zeug brennt doch sicher wie die Hölle«, wehrte sich Arnold erst einmal gegen Dannys Behandlung. »Wir sollten zuerst auf unser Abkommen anstoßen.«

»Ja, stoßen wir darauf an«, antwortete Danny.

»Er duftet nicht nur vorzüglich, er schmeckt auch ausgezeichnet«, sagte Arnold, nachdem er einen großen Schluck von dem Cognac getrunken hatte.

»Dann kann ich jetzt Ihre Wunde versorgen?«, fragte Danny.

»Nur zu«, forderte Arnold ihn auf.

Obwohl er die Kratzer, die Ortrud auf Arnolds Hand hinterlassen hatte, auch schmerzlos hätte desinfizieren können, entschied er sich für ein alkoholhaltiges Mittel.

»Ich wusste es, dieses Zeug brennt einem die Haut weg«, machte sich Arnold Luft, als Danny seine Wunde besprühte. »Das schreit nach Betäubung«, stöhnte er und leerte den Pappbecher mit dem Cognac in einem Zug.

Gut so, dachte Danny. »Das war es dann, unsere Unterhaltung ist beendet«, sagte er, setzte sich auf die Kante des Schreibtisches und sah Arnold an, dessen Augenlider bereits schwer wurden.

»Sie irren sich, ich sage, wann wir fertig sind«, widersprach Arnold.

»Das ist mein Haus, hier gelten meine Regeln.« Bevor Arnold etwas entgegnen konnte, zog Danny den Schlüssel für die Tür des Sprechzimmers aus der Brusttasche seines Hemdes. »Sie werden dann abgeholt«, sagte er und schloss die Tür auf.

»Doktor Norden, geht es Ihnen gut?«, fragte Thea sichtlich erleichtert, als Danny plötzlich vor ihr stand. Sie und ihre Kollegen hatten sich vor der Außentreppe zum Keller versammelt, die neben dem Eingang zur Praxis lag.

»Mir geht es gut. Ich wäre Ihnen allerdings dankbar, wenn Sie meinen letzten Patienten des Tages im Sprechzimmer abholen würden. Ich gehe davon aus, dass er eine Weile schlafen wird«, erzählte Danny der Kommissarin.

»Sie haben ihm ein Schlafmittel verpasst?«, fragte Thea schmunzelnd.

»Ortrud hat mir dabei geholfen.«

»Ortrud, die Katze der Mais?«, wunderte sich Thea.

»Ich nehme an, Sie wollen die ganze Geschichte hören.«

»Unbedingt. Aber vielleicht sollten Sie erst einmal ihre Nachbarinnen informieren, dass es Ihnen gut geht. Ich komme dann dazu, sobald wir unser Paket verstaut haben«, sagte sie, als zwei ihrer Kollegen mit Arnold, der mehr geschleift wurde, als er lief, aus dem Haus kamen.

»Dann bis gleich«, sagte Danny und schloss die Praxistür ab. Er brauchte jetzt dringend einen Ortswechsel. Er würde Theas Bitte nachkommen und zu den Mais gehen.

*

»Daniel«, flüsterte Olivia, die ihm die Tür öffnete. »Es tut mir so leid«, entschuldigte sie sich.

»Sie haben Arnold Berheim nicht zu mir geschickt«, sagte er.

»Nein, aber Sie mussten wegen mir leiden.«

»Doc, da sind Sie ja!«, rief Ophelia. Sie drängte sich an ihrer Mutter vorbei, umarmte Danny und zog ihn ins Haus.

»Danke für deinen Anruf«, sagte Danny und strich Marius liebevoll über den Kopf, als der Junge aufsprang, als er das Esszimmer betrat.

»Habe ich gern gemacht«, entgegnete Marius sichtlich stolz, dass Danny ihn gelobt hatte.

»Wo ist Ortrud?«, fragte Danny und sah sich nach der Katze um.

»In der Küche, sie hat gerade Futter bekommen«, sagte Ophelia. »Warum, was ist mit ihr?«, wollte sie wissen.

»Sie hat mir geholfen, Arnold Berheim außer Gefecht zu setzen. Ich danke dir, meine Schöne«, sagte er, als Ortrud gleich darauf mit erhobenem Schwanz aus der Küche kam und sich an Dannys Beine schmiegte.

»Was hat sie gemacht?«, wollte Ophelia wissen.

»Warten wir, bis Frau Seeger kommt, dann muss ich die Geschichte nur einmal erzählen.«

»Wir werden uns gedulden«, sagte Olivia. »Wie wäre es, wenn ich uns Pizza vom Italiener liefern lasse?«, fragte sie in die Runde.

»Super Idee«, stimmte Ophelia dem Vorschlag ihrer Mutter zu.

»Sind Sie auch einverstanden?«, wollte Olivia von Danny wissen.

»Ja, ich bin dabei«, sagte er.

»Schade, dass ich nach Hause muss«, murmelte Marius enttäuscht.

»Meine Mutter könnte deine Mutter anrufen, dass du zum Essen bei uns bleibst«, schlug Ophelia vor.

»Echt?«

»Rufe deine Mutter an, und gib sie mir«, unterstützte Olivia den Vorschlag ihrer Tochter. »Frau Meier, Olivia Mai«, meldete sie sich, als Marius ihr den Hörer gleich darauf reichte. Als Cordula Meier sich mit der Einladung ihres Sohnes zum Essen einverstanden erklärte, versprach Olivia ihr, dass sie dafür sorgen würde, dass Marius danach sicher nach Hause kam.

»Das wird Thea Seeger sein«, sagte Ophelia, als es an der Tür läutete und sie hinging, um zu öffnen. »Ihr? Habt ihr gehört, was los ist?«, fragte sie aufgeregt, als Lydia und Sophia vor der Tür standen.

»Wir wissen nur, dass es Ärger in der Praxis gab«, antwortete Lydia. Sie hatte vor ein paar Minuten ihre Mutter angerufen, um ihr zu sagen, dass sie von ihrem Feuerwehreinsatz zurück war, und musste hören, dass ihre Mutter wegen eines Polizeieinsatzes in der Praxis war. Sie hatte sofort Sophia abgeholt, um nach Danny zu sehen. »Geht es Ihnen gut?«, fragte sie besorgt, als sie und Sophia Ophelia ins Esszimmer folgten und Danny am Tisch sitzen sahen.

»Mir geht es gut, aber danke, dass ihr nach mir sehen wollt«, sagte er. Wenn die beiden von ihnen als Team sprachen, war das nicht nur ein Spruch, sie waren wirklich ein Team, das sich umeinander kümmerte. Das wurde ihm erneut bewusst.

»Auch Pizza?«, fragte Olivia die beiden.

»Gern«, sagte Lydia, die noch nicht zu Abend gegessen hatte, und auch Sophia nickte zustimmend. Sie hatte gerade ihrer Mutter einen Teller mit der Nudelpfanne, die sie zubereitet hatte, ans Bett gebracht, als Lydias Anruf kam. Danach war sie sofort aufgebrochen.

Nachdem Olivia die Pizza bestellt hatte, kam Thea, die inzwischen auch Dannys Handy gefunden hatte und es ihm zurückgab. Sie setzten sich alle an den Esstisch, um sich Dannys Schilderung der Ereignisse in seiner Praxis anzuhören. Auch Ottilie wollte sich die Geschichte nicht entgehen lassen. Sie kam aus ihrem Zimmer herunter und legte sich in eine Decke eingekuschelt auf das Sofa im Esszimmer.

Während Danny erzählte, was in der Praxis passiert war, und Olivia ihn darüber aufklärte, woher sie Arnold Berheim kannte und dass sie ihn in einer Klinik vermutet hatte, machte sich Thea Notizen, um ihren Bericht über diesen Einsatz zu schreiben.

»Ich verspreche Ihnen, dass Arnold Berheim weder Ihnen noch Ihrer Familie noch Ihnen Doktor Norden je wieder zu nahekommen wird. Ich werde dafür sorgen, dass Sie über den Aufenthalt dieses Mannes stets auf dem neuesten Stand bleiben«, versicherte Thea allen Betroffenen.

»Danke, Frau Seeger.« Olivia zweifelte nicht daran, dass Thea ihr Versprechen halten würde. Sie vertraute ihr.

Als die Pizza eintraf, konnte Olivia auch Thea noch dazu überreden, mit ihnen zu essen. Sie wusste, dass das, was Arnold zu Danny gesagt hatte, dass die Menschen in ihrer neuen Umgebung ihr nicht guttaten, ganz und gar nicht zutraf. Das Gegenteil war der Fall.

Nach dem Essen übernahm es Thea, Marius nach Hause zu fahren, was den Jungen mit Stolz erfüllte. Schließlich war Thea eine echte Kommissarin, und er hatte ihr bei einem Einsatz geholfen. Bald darauf verabschiedeten sich auch Sophia und Lydia, und wenig später wünschte Ottilie Olivia und Danny eine gute Nacht und zog sich in ihr Zimmer zurück.

»Ich gehe dann auch schlafen. Es war ein echt aufregender Tag«, sagte Ophelia und gähnte hinter vorgehaltener Hand. »Das heißt aber nicht, dass Sie schon gehen müssen, Doc. Ortrud hat es sich gerade so gemütlich gemacht und wäre sicher traurig, wenn Sie nicht noch ein paar Minuten blieben«, erklärte sie lächelnd und kraulte Ortruds Kopf, die es sich auf Dannys Schoß bequem gemacht hatte.

»Vielleicht will deine Mutter aber auch schlafen gehen«, entgegnete Danny und sah Olivia an.

»Nein, will sie nicht«, antwortete Olivia lächelnd.

»Alles klar, gute Nacht«, sagte Ophelia. Sie küsste ihre Mutter auf die Wange und zwinkerte Danny zu, bevor sie das Zimmer verließ und die Treppe hinauflief.

»Wie wäre es mit einem Glas Wein, Doktor Norden?«, fragte Olivia.

»Vorhin, als ich kam, nannten Sie mich beim Vornamen.«

»Ich erinnere mich. Ich war so erleichtert, dass Ihnen dieser Mann nichts angetan hatte, dass es mir einfach so herausgerutscht war.«

»Ich fand, es hörte sich gut an. Für meine Familie und meine Freunde bin ich bisher immer Danny gewesen, sozusagen der kleine Daniel der Nordens.«

»Als Abgrenzung zu Ihrem Vater, der auch Daniel heißt.«

»Richtig. Ich bin meinen Eltern dankbar, dass sie mir diesen schönen Namen gegeben haben, und es würde mir gefallen, wenn mich jemand auch bei diesem Namen nennen würde.«

»Gut. Ich heiße Olivia.«

»Schön, Sie kennenzulernen, Olivia«, entgegnete Danny lächelnd. »Und, ja, ich trinke gern ein Glas Wein mit Ihnen.«

»Roten oder weißen?«

»Ein roter wäre mir lieber.«

»Sehr gern.« Olivia holte eine Flasche des französischen Weines, den sie in der Speisekammer neben der Küche aufbewahrte, und stellte die Flasche mit zwei Rotweingläsern auf den Tisch. Sie überließ Danny das Öffnen der Flasche und das Einschenken, während sie die Kerzen anzündete, die auf dem Tisch standen. »Diesen Tag heute wollen Sie sicher so schnell wie möglich abhaken«, sagte sie, als sie dann miteinander anstießen.

»Nicht alles an diesem Tag möchte ich vergessen«, entgegnete er. Das Kerzenlicht spiegelte sich in ihren hellen blauen Augen, und es war ihm, als blickte er in eine magische Welt, deren Geheimnisse ihn vielleicht doch mehr interessierten, als er sich im Moment eingestehen wollte.

*

Der Polizeieinsatz bei Danny war nicht unbemerkt geblieben. Seine Nachbarschaft und seine Patienten waren sich alle einig darüber, dass er die Angelegenheit heldenhaft gelöst hatte. Auch von Marius‘ Einsatz, der glücklicherweise nicht an einer ernsthaften Krankheit litt und bald wieder fit sein würde, wurde gesprochen, dafür sorgte Gusti Meier. Für Danny aber war Ortrud die wahre Heldin der Geschichte.

Die neue Praxis Dr. Norden Staffel 1 – Arztserie

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