Читать книгу Die neue Praxis Dr. Norden 2 – Arztserie - Carmen von Lindenau - Страница 6

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»Stimmt etwas nicht, Valentina?«, fragte Daniel, als er aus dem Schlafzimmer in die große helle Wohnküche kam. Valentina Merzinger, die sich um seinen Haushalt kümmerte, stand mit den Händen in den Taschen ihrer rotweiß gestreiften Küchenschürze am Fenster und schaute mit nachdenklicher Miene in den Garten.

»Guten Morgen, Herr Doktor.«Mit einem liebevollen Lächeln drehte sie sich zu ihm um. »Es geht um das Vogelhäuschen«, sagte sie und deutete auf eine der Birken.

»Was ist mit dem Vogelhäuschen?«, fragte Daniel und folgte ihrem Blick. Es war Herbst geworden. Die Birken im Garten trugen goldgelbes Laub, Dahlien, Astern und Chrysanthemen blühten in leuchtend bunten Farben.

»Wir müssen es höher hinaufhängen«, sagte Valentina.

»Warum das? Soweit ich mich erinnere, hängt es doch seit Jahren an demselben Ast.« Daniel sah auf das aus Holz gefertigte Vogelhäuschen, das in einem der oberen Äste der Birke hing, die direkt vor seinem Schlafzimmerfenster stand.

Fanny Moosinger, seine mütterliche Freundin und ehemalige Patientin, die ihm dieses Haus vererbt hatte, liebte es, von dem fröhlichen Gezwitscher der Vögel geweckt zu werden und sie im Winter bei der Futtersuche zu beobachten.

»Es ist wegen Ortrud«, erklärte ihm Valentina und riss ihn aus seinen Gedanken. »Diese Höhe ist für sie ganz leicht zu erreichen. Habe ich recht, Herzl?«, wandte sie sich der rot getigerten Katze zu, die auf dem Fensterbrett lag und in der Morgensonne döste.

»Wir werden den Gärtner darum bitten, das Vogelhäuschen umzuhängen, wenn er nächste Woche zum Schneiden der Hecke kommt.«

»Ja, so machen wir es, Herr Doktor. Wir wollen unsere Ortrud doch nicht in Versuchung führen«, entgegnete Valentina schmunzelnd.

»Nein, auf keinen Fall«, stimmte Daniel ihr zu und kraulte den Kopf der Katze, die diese Geste mit einem lauten Schnurren begleitete.

»Kommt außer Ortrud heute niemand zum Frühstück?«, fragte Valentina und sah hinüber zum Haus der Mais. Das Nachbargrundstück und das des jungen Arztes waren nur durch eine halbhohe Lorbeerhecke voneinander getrennt.

Die beiden Bäumchen, die im letzten Jahr einem Unwetter zum Opfer fielen, waren nie ersetzt worden. Die Lücke, die sie hinterlassen hatten, diente Daniel und den Mais als Tor zum Grundstück des anderen.

»Nein, heute sind wir allein. Ophelia hat gestern bei einer Freundin übernachtet und geht von dort aus in die Schule. Olivia und ihre Mutter nehmen heute an einem Kongress in der Stadt teil und sind sicher schon unterwegs.« Daniel wusste, wie sehr Valentina den morgendlichen Trubel liebte, wenn Olivia und Ophelia, hin und wieder auch Ottilie, zum Frühstück zu ihnen kamen. Seitdem er und Olivia ein Paar waren, trafen sie sich, falls es ihre Zeitpläne erlaubten, zum Frühstück.

»Mei, wenigstens leistet sie mir dann nachher noch ein bissel Gesellschaft«, sagte Valentina, streichelte sanft über Ortruds Rücken und ging dann zur Spüle, um sich die Hände zu waschen, bevor sie sich weiter um Daniels Frühstück kümmerte.

»In den nächsten Tagen werden Sie sich über zu wenig Gesellschaft sicher nicht beklagen müssen«, sagte Daniel, als Valentina ihm kurz darauf die Spiegeleier auf Toast servierte, die sie mit Schnittlauch und Petersilie liebevoll dekoriert hatte.

»Mei, Herr Doktor, ich freu mich auch schon recht darauf, die Cousins und Cousinen mit ihren Kindern und Enkeln mal wieder um mich zu haben«, schwärmte Valentina von dem Familientreffen, zu dem ihr Cousin, der im Allgäu einen Bauernhof mit Fremdenzimmern besaß, eingeladen hatte. »Ich hab zwar schon oft gehört, dass Familientreffen recht stressig verlaufen können, aber bei uns geht es glücklicherweise immer friedlich zu«, sagte sie und setzte sich, wie an jedem Morgen, mit einer Tasse Kaffee zu Daniel an den Tisch.

»Sollte es Ärger geben, werden Sie vermutlich die erste sein, die zwischen den Parteien vermittelt.«

»Ich bin halt harmoniebedürftig«, antwortete Valentina lächelnd.

»Das weiß ich«, sagte Daniel.

»Aber es gibt schon Leute, da kann ich auch nichts ausrichten. Die sind so von sich überzeugt, dass sie auf nichts hören wollen. Erst, wenn niemand mehr etwas mit ihnen zu tun haben will, kommen sie ins Grübeln. In meiner Familie gibt es so jemanden aber nicht«, erklärte Valentina vollkommen überzeugt, so als würde sie diesen Charakterzug auch niemandem gestatten.

»In meiner Familie gibt es diese Egomannen glücklicherweise auch nicht«, sagte Daniel. In meinem Bekanntenkreis allerdings schon, dachte er. Aber über diese Leute musste er sich keine großen Gedanken machen. Er traf sie nur selten oder hatte den Kontakt zu ihnen längst abgebrochen. Er vermisste sie nicht.

*

Im Verlauf der Vormittagssprechstunde musste Daniel glücklicherweise keinem seiner Patienten eine schlimme Diagnose stellen. Die, die an diesem Tag zu ihm kamen, klagten über die üblichen Beschwerden wie Hustenreiz, Schnupfen oder Magenverstimmung. Gusti Meier, die auch gern mal einen Vormittag im Wartezimmer verbrachte, nur um Neuigkeiten mit den Nachbarn auszutauschen, war die letzte Patientin an diesem Vormittag.

»Was kann ich für Sie tun, Frau Meier?«, fragte Daniel die Mittsechzigerin im hellblauen Trachtenkostüm, nachdem sie auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz genommen hatte.

»Ich bin beim Staubsaugen über das Kabel des Staubsaugers gestolpert. Ich konnt mich gerad noch an einer Kommode abfangen. Aber ich denk, ich hab mir den Zeigefinger und den Daumen ausgerenkt«, teilte sie ihm ihre Vermutung mit und zeigte ihm ihre rechte Hand.

»Nehmen Sie bitte dort Platz«, bat Daniel und deutete auf die Untersuchungsliege neben der Standuhr aus Ahornholz, der einzigen Antiquität in dem ansonsten ganz in Weiß eingerichteten Sprechzimmer. Offensichtlich war Gusti heute nicht nur zum Plaudern zu ihm gekommen.

»Muss ich operiert werden?«, fragte Gusti, als Daniel ihr rechtes Handgelenk umfasste und behutsam über ihren Zeigefinger strich.

»Nein, ich denke, das ist nicht nötig«, sagte er und zog, noch während er sprach, mit einem festen Ruck an ihrem Zeigefinger.

»Au!«, schrie Gusti und sah Daniel erschrocken an.

»Durchhalten, Frau Meier«, bat er sie, hielt ihr Handgelenk weiterhin fest und renkte auch die Knochen ihres Daumes mit einem festen Ruck wieder ein.

Dieses Mal unterdrückte Gusti einen Aufschrei und schüttelte nur ihre Hand, nachdem Daniel sie losließ. »Mei, die Schmerzen sind fort«, stellte sie gleich darauf erleichtert fest.

»Das hoffe ich doch«, antwortete Daniel lächelnd.

»Danke, Herr Doktor«, sagte Gusti noch immer ganz verblüfft über ihre schnelle Heilung. »Muss ich meine Finger jetzt schonen?«, wollte sie wissen.

»Nein, müssen Sie nicht. Sie sollten aber in Zukunft noch besser auf mögliche Stolperfallen im Haushalt achten«, riet er ihr.

»Ich wollt halt ganz schnell sein, und schon passiert so was. Aber meine Schwägerin hat sich für heut Nachmittag überraschend zum Kaffee angemeldet, da musst ich unbedingt noch mal die Wohnung durchwischen. Sie ist so eine ganz penible Madame, sieht sich immerzu um, ob sie irgendwo ein Staubkörnle entdecken kann, um mich dann bei der Verwandtschaft als schlechte Hausfrau hinzustellen«, erzählte ihm Gusti.

»Wäre das nicht das kleinere Übel verglichen mit einem Unfall, der sie ins Krankenhaus bringt?«

»Schon, zumal es meiner Schwägerin vermutlich nur ein abfälliges Lächeln entlockt hätte, wär ich mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus gelandet. So einer perfekten Hausfrau wie ihr passiert so etwas natürlich nicht. Aber wissen Sie was, mir reicht’s heut mit dem Putzen. Soll sie doch gehen, wenn es ihr nicht passt.«

»Gute Einstellung, Frau Meier«, sagte Daniel.

»Ich lern halt dazu, auch noch in meinem Alter«, entgegnete sie amüsiert. »Vielen Dank, Herr Doktor, ich wünsch Ihnen noch einen schönen Tag«, verabschiedete sie sich gleich darauf.

»Den wünsche ich Ihnen auch«, sagte er und begleitete sie zur Tür des Sprechzimmers.

»Einen schönen Gruß an Frau Doktor Mai.«

»Werde ich gern ausrichten«, versicherte er Gusti, die sich ihm noch einmal zuwandte, bevor sie den langen Gang in Richtung Empfangstresen durchquerte.

»Auf Wiedersehen, Frau Meier«, hörte er Lydia und Sophia, seine beiden Mitarbeiterinnen, die hinter dem Tresen standen, gleichzeitig antworten, nachdem Gusti sich auch von ihnen verabschiedet hatte.

»Falls Frau Meier irgendwann einmal nicht mehr alle vierzehn Tage hier auftaucht, dann ist sie wohl wirklich krank«, hatte Lydia neulich gesagt, und Sophia und er hatten ihr uneingeschränkt zugestimmt.

Bevor er in die Mittagspause ging, rief er noch zwei Patienten an, die erst kürzlich aus dem Krankenhaus entlassen wurden. Dennis, einem jungen Mann, der sich während eines Aufenthaltes in den Bergen ein Bein gebrochen hatte, ging es schon wieder recht gut. Da er viel Sport trieb, fiel ihm auch das Laufen an den Krücken, die er noch für einige Zeit benötigte, nicht sonderlich schwer. Auch der andere Patient, ein älterer Mann, der wegen eines Hüftleidens in der Klinik gewesen war, konnte sich schon wieder recht gut bewegen. Nachdem Daniel die Anrufe erledigt hatte, schaltete er seinen Computer aus und verließ das Sprechzimmer.

Er hatte gerade die Tür hinter sich geschlossen, als er hörte, wie die schwere Eingangstür zur Praxis geöffnet wurde. Sophia und Lydia, die beide türkisfarbene T-Shirts und weiße Jeans, ihre Praxiskleidung, trugen, schauten überrascht auf, da sie nicht mehr mit Patienten gerechnet hatten.

»Fall es kein Notfall ist, bitte ich Sie am Nachmittag wiederzukommen. Die Vormittagssprechstunde ist bereits vorbei«, sagte Lydia dann auch gleich.

»Kein Problem, ich will nicht in die Sprechstunde. Ich bin nur auf der Suche nach meinem Freund Daniel«, antwortete eine Frau, deren Stimme er sofort erkannte.

Auch wenn er Linda, seine ehemalige Studienkollegin, schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, ihre Stimme war ihm sofort wieder vertraut. Linda war einer dieser übertrieben selbstbewussten Menschen, die Daniel nicht besonders vermisst hatte. Er war gespannt, was dieser überraschende Besuch zu bedeuten hatte.

»Hallo, Schatz, wie schön, dich zu sehen!«, rief Linda, als sie beide gleichzeitig am Empfangstresen eintrafen.

»Hallo, Linda«, begrüßte er die große schlanke Frau. Sie hatte dunkles langes Haar, trug einen hellen eleganten Hosenanzug und taxierte ihn mit ihren mandelförmigen grünbraunen Augen.

»Ich war ein wenig in Sorge, dass du möglicherweise nicht dem Bild entsprechen könntest, das ich mir all die Jahre von dir gemacht habe, aber diese Sorge war unbegründet, Daniel. Du gehörst nach wie vor zu den attraktivsten Männern, die mir jemals begegnet sind«, versicherte sie ihm. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, küsste ihn auf die rechte und die linke Wange und umarmte ihn.

»Danke, für das Kompliment, das kann ich nur zurückgeben. Aus dem hübschen jungen Mädchen ist eine schöne Frau geworden«, entgegnete Daniel.

»Vielen Dank, mein Freund, das baut mich ein wenig auf. Aber ich befürchte, ich werde bald über die erste OP nachdenken müssen, um den äußerlichen Verfall aufzuhalten«, erklärte Linda mit einem tiefen Seufzer.

Daniel musste sich das Lachen verkneifen, als er sah, wie Sophia und Lydia die Augen verdrehten. Die beiden standen nebeneinander hinter dem Tresen, hatten die Ellenbogen aufgestützt, ihren Kopf in ihre Hände sinken lassen und beobachteten ihn und Linda.

Er kannte die beiden inzwischen gut genug, um zu ahnen, was sie gerade dachten. Dass eine blendend aussehende junge Frau wie Linda sicher noch keinen Gedanken an eine Schönheitsoperation verschwenden musste.

»Ein paar zarte Fältchen werden das Gesamtbild nicht stören. Davon abgesehen, auch eine Schönheitsoperation ist ein Eingriff mit Risiken«, sagte er.

»Diese Risiken werde ich wohl auf mich nehmen müssen. In der heutigen Welt zählt perfektes Aussehen mehr als Wissen. Ich möchte allerdings in beidem glänzen«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu. »Bevor wir gehen, solltest du mich den jungen Damen vorstellen, Daniel. Es könnte sein, dass ich in nächster Zeit häufiger hier vorbeischaue«, sagte sie und wandte sich Sophia und Lydia zu.

»Heißt das, du kommst zurück nach München?«

»Wir können uns beim Mittagessen darüber unterhalten. Du hast doch Zeit für ein Mittagessen mit mir?«

»Ich kann es einrichten«, sagte er. Da er für die Mittagspause keine Hausbesuche geplant hatte und auch nicht mit Olivia verabredet war, sprach nichts dagegen, mit Linda essen zu gehen.

»Wunderbar«, antwortete sie mit einem zufriedenen Lächeln.

»Frau Doktor Linda Betmann, eine ehemalige Studienkollegin von mir, Lydia Seeger«, machte er Linda mit Lydia, einer hübschen jungen Frau mit sportlicher Figur, dunkelblondem kinnlangem Haar und hellbraunen Augen bekannt. »Falls es hier in der Nähe brennt, könntest du Lydia begegnen. Sie gehört zu den Einsatzkräften der örtlichen Feuerwehr.«

»Ersthelfer besitzen meine vollste Bewunderung. Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Frau Seeger«, sagte Linda. »Sind Sie auch bei der Feuerwehr«, wandte sie sich an Sophia, eine zarte junge Frau mit hellblondem langem Haar.

»Nein, so mutig bin ich leider nicht«, antwortete Sophia. »Sophia von Arnsberg«, stellte sie sich Linda selbst vor.

»Ich muss ihr widersprechen, was die Einschätzung ihres Mutes betrifft. Sophia war OP-Schwester, bevor sie sich entschied, zu mir zu kommen. Wir wissen alle, dass das kein Job für zartbesaitete Seelen ist«, sagte Daniel.

»Nein, ist es nicht. Allerdings ist die Arbeit im OP auch unglaublich aufregend und interessant. Was hat Sie dazu bewogen, den OP gegen eine Hausarztpraxis zu tauschen?«, fragte Linda Sophia ganz direkt.

»Meine Mutter ist an MS erkrankt. Ich will für sie da sein. Das ist mit dem Schichtdienst in einer Klinik aber nur schwer planbar.«

»Damit haben Sie allerdings recht«, stimmte Linda Sophia zu. »Also dann, wohin gehen wir? Hast du ein Stammlokal hier in der Gegend?«, fragte sie Daniel.

»In der Fußgängerzone, zehn Minuten von hier entfernt, gibt es einen Italiener mit hervorragender Küche.«

»Klingt gut, aber bevor wir gehen, zeigst du mir noch, wie du wohnst«, bat Linda ihn und hakte sich bei ihm unter. »Wir sehen uns«, verabschiedete sie sich von Lydia und Sophia.

»Bis heute Nachmittag«, sagte Daniel, nickte den beiden noch einmal zu und verschwand mit Linda an seiner Seite in dem Hausgang, der seine Wohnung mit der Praxis verband.

»Ist dir aufgefallen, wie sie ihn angesehen hat?«, wandte sich Lydia mit nachdenklicher Miene Sophia zu.

»Ja, allerdings, so, als wäre sie auf der Jagd und hätte soeben ihr Ziel entdeckt.«

»Glücklicherweise kann Daniel Menschen gut einschätzen. Er wird hoffentlich rechtzeitig ausweichen.«

»Und wenn nicht?«, fragte Sophia nachdenklich.

»Darüber denken wir erst gar nicht nach.«

*

Daniel erfüllte Linda den Wunsch und zeigte ihr das Haus. Zuerst die Wohnküche mit dem großem Esstisch und dem blauen Kachelofen, danach das Wohnzimmer mit den hellen Ledermöbeln und das Gästezimmer mit dem Klappsofa und dem schmalen Kleiderschrank, bis sie schließlich im ersten Stock in seinem Schlafzimmer mit dem Balkon zum Garten hin standen.

»Minimalismus ist jetzt bei vielen angesagt«, stellte Linda fest und ließ ihren Blick durch den Raum mit den schneeweiß gestrichenen Wänden gleiten. Die Einrichtung beschränkte sich auf das blaue Boxspringbett, einen weißen Kleiderschrank und eine Fächerpalme im blauen Porzellankübel. »Andererseits könnte ich aus deiner eher spartanischen Einrichtung auch folgern, dass du schon länger allein lebst. So ist es doch, Schätzchen, du lebst allein in diesem Haus.« Sie setzte sich auf das Bett, lehnte sich auf ihren abgestützten Armen zurück und sah Daniel gespannt an.

»Richtig, ich wohne hier allein, aber ich bin nicht allein.«

»Ach, nein?«

»Nein, ich bin mit einer Frau zusammen, die ich liebe.«

»Das freut mich für dich, ehrlich, Daniel«, versicherte sie ihm, aber ihr Blick verriet, dass es ihr nicht wirklich gefiel, was sie gerade erfahren hatte.

»Wenn du noch essen gehen willst, dann sollten wir aufbrechen. Ich muss um drei wieder in der Praxis sein«, erinnerte er sie daran, dass er nicht den ganzen Nachmittag für sie Zeit hatte.

»Sicher, gehen wir. Ich kann mich ja nachher noch weiter hier umsehen.«

»Aber ich sagte doch, ich muss wieder in die Praxis.«

»Ich weiß, ich verspreche dir, ich werde keine Unordnung machen, während ich auf dich warte.«

»Was heißt warten?«, wunderte sich Daniel.

»Sagte ich noch nicht, dass ich morgen ein Vorstellungsgespräch in einer Klinik in der Stadt habe?«

»Nein, das sagtest du noch nicht.«

»Verzeih, es ist einfach zu aufregend, dich wiederzusehen«, entgegnete Linda und betrachtete ihn mit einem aufreizenden Blick. »Da ich davon ausgehe, dass auch du mich in guter Erinnerung behalten hast, dachte ich, ich wohne bei dir, solange ich in der Stadt bin, und wir reden ein bisschen über alte Zeiten.«

»Ich bin auf einen Übernachtungsgast gar nicht eingerichtet. Du hättest vorher anrufen sollen«, versuchte Daniel, ihr dieses Vorhaben auszureden.

»Aber du hast doch genug Platz. Ich quartiere mich einfach in deinem Gästezimmer ein und verspreche dir, dass ich deinen Tagesablauf nicht stören werde. Oder fürchtest du meine Gesellschaft?«

»Wieso sollte ich deine Gesellschaft fürchten?«, wunderte er sich.

»Dann bist du einverstanden, dass ich bleibe?«

»Das Gästezimmer steht dir zur Verfügung.« Was war schon dabei, wenn sie ein paar Tage bei ihm wohnte? Sie hatte ja nicht vor, bei ihm einzuziehen. Auch wenn er es noch immer merkwürdig fand, dass sie nach all den Jahren einfach so bei ihm auftauchte.

»Also dann, gehen wir essen«, sagte Linda und reichte ihm die Hand, damit er ihr half, vom Bett aufzustehen.

*

Eine Viertelstunde später saßen sie in dem gemütlich eingerichteten Restaurant in der Fußgängerzone, nicht weit von Daniels Praxis entfernt. Linda hatte geräucherten Lachs und einen gemischten Salat bestellt, Daniel Pasta mit Pilzrahmsauce. Während Linda ein Glas des teuersten Rotweins trank, den das Restaurant auf der Weinkarte anbot, beschränkte sich Daniel auf ein Glas Wasser zum Essen. In einer Stunde musste er wieder in der Praxis sein, da brauchte er einen klaren Kopf.

»Du bist damals gleich nach deinem Staatsexamen nach Frankreich gegangen, weil du dich in diesen Virologen aus Lyon verliebt hattest. Seid ihr noch zusammen?«, fragte Daniel.

»Es hat nicht funktioniert. Es hielt nur ein knappes halbes Jahr. Ich zog dann weiter nach Paris und habe dort meine Facharztausbildung gemacht. Es war eben nicht die große Liebe.« Linda trank einen Schluck von ihrem Wein, schaute aus dem Fenster und beobachtete die Einheimischen und Touristen, die durch die Fußgängerzone spazierten.

»Hast du dich in Paris neu verliebt?«

»Mal mehr, mal weniger. Es ist schwierig, in der Liebe habe ich wohl kein Glück. Was ist mit dir und deiner derzeitigen Beziehung? Ist es die große Liebe?«, fragte sie, als ein junges Pärchen eng umschlungen am Restaurant vorbeilief.

»Für mich schon.«

»Und für sie? Obwohl, lassen wir das. Du kannst nicht für sie sprechen. Wir sollten uns ohnehin davor hüten, für andere zu sprechen. Es ist schlicht unmöglich zu wissen, was ein anderer wirklich denkt.«

»Du klingst, als hättest du eine Enttäuschung nach der anderen erlebt. Was ich mir aber nicht vorstellen kann. Soweit ich mich erinnere, hast du zumindest früher immer gesagt, dass du nicht fürs Alleinsein geschaffen bist.«

»Stimmt, das habe ich gesagt, es waren aber auch deine Worte. Du wolltest immer eine große Familie. Wann willst du dieses Vorhaben verwirklichen?«

»Das Leben ist keine Blaupause, nach der wir planen können.«

»Klingt auch nicht besonders euphorisch.«

»Stimmt, auch ich hatte meine Tiefpunkte, aber ich habe sie überwunden.«

»Das habe ich auch geschafft. Meine letzte Beziehung hat fünf Jahre gedauert, jetzt ist sie vorbei.«

»Bist du deshalb hier, um Abstand zu gewinnen?«

»Ich bin hier, weil ich mich nach meiner Heimat und den alten Freunden sehne.«

»Was ist mit deiner Familie?«

»Meine Eltern leben inzwischen in ihrem Landhaus am Starnberger See. Ich werde sie besuchen, sobald ich den Vertrag an der Klinik unterschrieben habe.«

»Du hast dich als Chirurgin beworben?«

»Herzchirurgin, ich habe mich in den letzten Jahren spezialisiert. An unserer Klinik in Paris wurden einige verbesserte Operationsmethoden entwickelt, ich war Teil dieses Teams. Die Klinik, in der ich mich morgen vorstellen werde, hat mir zugesagt, dass ich mir dort ein eigenes Team zusammenstellen kann, um weiter in dieser Richtung zu forschen.«

»Du wirst nicht im OP stehen?«

»Selbstverständlich werde ich operieren. Ich brauche die Praxis, um meine Methoden weiterzuentwickeln.«

»Es ist also dein fester Entschluss, wieder nach München zu ziehen?«

»Ja, ist es. Sobald ich mich mit der Klinik geeinigt habe, werde ich mir eine Wohnung suchen. Ich hoffe, ich kann solange bei dir bleiben. Ich habe keine Lust auf ein Hotel. Außerdem haben wir uns so lange nicht gesehen. Ich wollte einfach ein bisschen Zeit mit dir verbringen.«

»Wo genau suchst du eine Wohnung?«

»Mein Traum wäre ein repräsentativer Altbau in der Maxvorstadt, gern etwas größer.«

»Hast du schon mit einem Makler gesprochen?«

»Das mache ich, sobald mein Anstellungsvertrag unterschrieben ist. Könntest du mir einen Makler empfehlen, der in diesem Preissegment unterwegs ist?«

»Nein, kann ich leider nicht.«

»Gut, dann werde ich mich im Internet schlau machen.«

»Hat es dir nicht geschmeckt?«, wunderte sich Daniel, als Linda den Teller beiseite schob, nachdem sie erst die Hälfte des Lachsfilets gegessen hatte.

»Im Gegenteil. Die Küche hier ist offensichtlich hervorragend, ich werde mir dieses Restaurant merken. Ich habe heute nur keinen großen Hunger. Die lange Fahrt mit dem Auto war stressig, und unser Wiedersehen nimmt mich auch ziemlich mit«, erklärte sie ihm schmunzelnd.

»Diese Aufregung wird sich doch inzwischen gelegt haben«, entgegnete Daniel. Lindas ausgeprägtes Selbstbewusstsein hatte schon früher dafür gesorgt, dass andere auf sie keinen allzu großen Eindruck machten.

»Ist dir eigentlich bewusst, wie viel du mir bedeutet hast und immer noch bedeutest?« Linda lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und betrachtete Daniel wie einen Schatz, den sie nach einer langen Suche wiedergefunden hatte.

»Wir waren nie mehr als gute Freunde.«

»Ich weiß, ich war damals erlebnishungrig und wollte mich nicht binden. Da du mir wichtig warst, wollte ich unsere Freundschaft nicht wegen einer kurzen Affäre riskieren. Möglicherweise war das eine falsche Entscheidung. Vielleicht hätte ich die anderen gar nicht mehr gebraucht, wenn ich den Mut gehabt hätte, mich auf dich einzulassen.«

»Im Nachhinein betrachtet stellen sich viele Entscheidungen, die wir im Laufe unseres Lebens treffen, als fragwürdig dar. Aber wir haben uns aus der damaligen Situation heraus so entschieden.«

»Und da fühlte es sich richtig an«, stimmte Linda ihm zu.

»Wieso ist deine letzte Beziehung in die Brüche gegangen?«, fragte Daniel, um sie von ihren Überlegungen, was aus ihnen beiden wohl hätte werden können, abzulenken.

»Er hat mir keinen Freiraum gelassen und meine Karriere behindert. Ich habe einen Schlussstrich gezogen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«

Offensichtlich wollte sie nicht über diese gescheiterte Beziehung reden, deshalb fragte Daniel auch nicht weiter nach. Sie sprachen noch eine Weile über gemeinsame Freunde aus ihrer Studentenzeit und verließen um kurz vor drei das Restaurant.

Daniel war noch immer nicht von der Vorstellung begeistert, dass Linda ein paar Tage bei ihm wohnen wollte. Er konnte sich noch gut erinnern, wie einnehmend sie sein konnte, dass nur das zählte, was sie wollte. Andererseits, wenn mir etwas nicht passt, sage ich es ihr einfach, dachte er und nahm sich vor, die positiven Seiten dieses überraschenden Besuchs in den Vordergrund zu rücken. Er erinnerte sich gern an die Zeit an der Uni, und Linda war ein Teil dieser Erinnerung.

»Ich werde mich in deinem Gästezimmer einrichten und mich danach auf die Terrasse setzen, solange die Sonne noch scheint«, sagte sie, als Daniel ihr vor der Praxis den Schlüssel für den Eingang zum Wohnteil des Hauses überließ, damit sie ihr Gepäck aus dem Auto holen konnte.

»Fühle dich ganz wie zu Hause«, sagte er und hoffte, dass sie dieses Angebot nicht allzu lange in Anspruch nehmen würde.

*

»Wie war Ihre Mittagspause, Daniel?«, wollte Lydia wissen, als er auf dem Weg zu seinem Sprechzimmer am Empfangstresen vorbeikam. »Schwierigkeiten?«, fragte sie, als er vor ihr stehen blieb und sich mit den Händen auf dem Tresen abstützte.

»Linda hat beschlossen, ein paar Tage bei mir zu wohnen«, verriet er ihr.

»Es sieht nicht so aus, als würden Sie sich darüber freuen.«

»Sagen wir mal so, mit diesem Besuch habe ich nicht gerechnet. Ich habe jahrelang nichts von Linda gehört.«

»Offensichtlich hat Frau Doktor Betmann Sie nicht vergessen.«

»Nein, hat sie wohl nicht«, stimmte Daniel Lydia zu. »Schon ziemlich voll für diese Uhrzeit«, stellte er fest, als er einen Blick in das Wartezimmer mit den gelben Ledersesseln und den hochgewachsenen Grünpflanzen warf, das nur durch eine Glaswand vom Empfangsbereich getrennt war.

»Die meisten sind wieder Opfer der Gartensaison«, klärte Lydia ihn schmunzelnd auf.

»Wir haben hoffentlich genug Verbandsmaterial.«

»Keine Sorge, wir sind gut ausgestattet, auch was die Tetanusauffrischungen betrifft«, versicherte ihm Lydia.

»Dann fangen wir am besten gleich an«, sagte Daniel und ging den Gang entlang zu seinem Sprechzimmer.

»Sie will also bleiben«, sagte Sophia, die aus dem Laborraum kam, den sie für die Sprechstunde vorbereitete. Sie hatte die kurze Unterhaltung zwischen ihrem Chef und ihrer Kollegin von dort aus verfolgen können.

»Eine Entwicklung, die zu unserer Vermutung passt.«

»Ja, allerdings. Ich denke, Daniel sollte ihr möglichst schnell Olivia vorstellen, damit diese Frau Doktor Betmann gleich weiß, woran sie ist.«

»In diesem Punkt können wir ganz zuversichtlich sein. Bei dieser räumlichen Nähe ist es so gut wie unmöglich, Olivia nicht über den Weg zu laufen.«

»Das stimmt, und außerdem, was machen wir uns überhaupt solche Gedanken? Daniel ist glücklich mit Olivia. Egal, was Frau Doktor Betmann vorschweben mag, Daniel wird da ganz sicher nicht mitmachen.«

»Nein, auf keinen Fall«, pflichtete Lydia Sophia bei und wandte sich dem Telefon zu, um den nächsten Anruf entgegenzunehmen.

So wie Lydia es ihm angekündigt hatte, kamen die meisten Patienten an diesem Nachmittag mit kleineren Blessuren zu ihm, die sie sich bei der Gartenarbeit zugezogen hatten. Seit Beginn der Apfel- und Birnenernte hatte er es ständig mit Hobbygärtnern zu tun, die sich während des Obstpflückens verletzten.

Auch Ariane Stegner, eine pummelige Frau Anfang fünfzig, hatte sich bei der Gartenarbeit verletzt. Sie hatte Äste an ihrem Apfelbaum geschnitten und war mit der Schere abgerutscht, die ihr daraufhin aus der Hand fiel und mit der Spitze auf ihrem Fuß landete.

»Es hat nicht arg geblutet, Herr Doktor, aber ich wollte sicher gehen, dass sich die Wunde nicht entzündet«, sagte sie, nachdem sie auf der Untersuchungsliege im Sprechzimmer Platz genommen hatte und den Rock ihres grünen Dirndls sorgfältig über ihre Knie zog, während Daniel den Verband abnahm, den sie sich um den linken Fuß gewickelt hatte.

»Haben Sie die Wunde desinfiziert?«, fragte Daniel. Der Schnitt, den die Schere an der Innenseite des Fußes hinterlassen hatte, war nicht sehr tief und würde schnell verheilen.

»Ich habe ein Wundspray benutzt.«

»Wann hatten Sie die letzte Tetanusimpfung?«

»Es könnte schon zehn Jahre her sein, aber ich kann nachschauen. Ich habe meinen Impfpass dabei.« Sie kramte ihn aus ihrer Handtasche hervor, die neben ihr auf der Liege stand, und gab ihn Daniel.

»Ihre letzte Impfung gegen Tetanus war vor elf Jahren«, stellte er nach einem kurzen Blick in den Impfpass fest.

»O Gott, muss ich mir jetzt Sorgen machen?«, fragte Ariane erschrocken.

»Nein, das müssen Sie nicht. Nach der Grundimmunisierung in der Kindheit besitzen wir bereits einen guten Schutz. Eine Auffrischung mit einer Spritze reicht deshalb auch jetzt noch völlig aus.«

»Dann kann ich mich wieder beruhigen? Mir wird durch diese Wunde nichts Schlimmes passieren?«

»Es ist alles gut, Frau Stegner«, versicherte er seiner Patientin.

»Vielen Dank, Herr Doktor«, sagte sie und seufzte erleichtert.

Nachdem er Lydia über das Haustelefon gebeten hatte, Frau Stegner gegen Tetanus zu impfen und ihre Wunde noch einmal zu desinfizieren und zu verbinden, rief er Susanna Lohmeier, seine nächste Patientin, auf. Die zierliche junge Frau, die gleich darauf in sein Sprechzimmer kam, war schon ein paar Mal bei ihm gewesen.

»Was ist passiert, Frau Lohmeier?«, fragte er, als Susanna auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz nahm, ihre Hände ineinander verschränkte, den Pony ihres kurzen hellbraunen Haares aus dem Gesicht strich und ihn mit ihren großen dunklen Augen unruhig anschaute.

»Gerald, mein Verlobter, plant eine Bergtour in den Anden. Ich würde ihn gern begleiten. Denken Sie, dass ich dazu in der Lage bin?«

»Nein, das sind Sie nicht, Frau Lohmeier. Das wäre zu riskant für Sie«, antwortete er ihr ohne Umschweife.

»Wegen des geringen Sauerstoffgehalts in den Hochlagen?«

»Richtig.«

»Gibt es wirklich keine Möglichkeit für mich, meinen Verlobten zu begleiten?«

»Hören Sie, Frau Lohmeier, Sie können ein normales Leben führen, trotz Ihres angeborenen Herzfehlers. Abgesehen von Extremsportarten und Ausflüge in ein Hochgebirge gibt es nichts, worauf Sie verzichten müssten.« Daniel war bisher davon ausgegangen, dass die junge Frau, die Griechisch und Latein an einer Abendschule unterrichtete, sich mit den wenigen Einschränkungen, die ihr das Leben abverlangte, abgefunden hätte. »Warum müssen es denn die Anden sein?«, fragte er.

»Es ist Geralds Traum, durch die Anden zu wandern. Ich meine, es geht nicht um den Mount Everest. Wir wollen nur in die Anden, nicht in den Himalaya.«

»Einige Berge in den Anden erreichen fast siebentausend Meter.«

»So hoch wollen wir gar nicht hinauf. Fünftausend Meter sind Geralds Ziel.«

»Eine Höhe, die für Sie mit dieser Verengung zwischen ihren Herzkammern gefährlich werden könnte.«

»Schade, ich hatte gehofft, es würde irgendwie gehen«, sagte Susanna und schaute enttäuscht zur Seite.

»Ihr Verlobter weiß, was er Ihnen mit dieser Reise zumuten würde?«, fragte Daniel.

»Er weiß nur, dass ich einen kleinen Geburtsfehler habe, der mich aber nicht weiter belastet. Jetzt werde ich ihm wohl sagen müssen, dass aus seinem Traum, mit mir in die Anden zu fahren, nichts wird. Könnte sich denn an meinem Zustand inzwischen etwas verändert haben? Ich meine, dass ich mir vielleicht doch mehr zutrauen könnte? Oder möglicherweise gibt es inzwischen eine Operation, die mir hilft, ganz gesund zu werden.«

»Selbst wenn es die gäbe, würde ich Ihnen nicht dazu raten. Eine Operation ist immer ein Risiko. Niemand sollte sich diesem Risiko aussetzen, wenn es nicht sein muss.«

»Ja, ich weiß, ich sollte froh darüber sein, dass es mir so gut geht, aber manchmal sind die Träume mächtiger als die Vernunft«, seufzte sie.

»Wissen Sie was, Frau Lohmeier, wir machen einen neuen Status. Ich überweise Sie zu einem Radiologen. Sie lassen sich dort untersuchen, danach besprechen wir das Ergebnis«, schlug Daniel ihr vor.

»Vielen Dank, Herr Doktor.«

»Kein Problem, ich verstehe sehr gut, dass Sie gern Gewissheit haben möchten, was genau Sie sich zutrauen dürfen«, sagte er und begleitete sie zur Tür. Sollte sich an ihrem Gesundheitszustand nichts verändert haben, würde er ihr auf keinen Fall eine dieser riskanten Operationen empfehlen.

Nachdem Susanna sich verabschiedet hatte, ging er zum Fenster und schaute hinüber zum Haus der Mais. Olivia erwartete ihn um sieben zum Abendessen. Noch hatte er ihr nichts von seinem Besuch erzählt und dass aus dem gemeinsamen Abend vielleicht nichts werden würde. Das wollte er gleich nach der Sprechstunde nachholen. Da er nicht vorhatte, während Lindas Besuch auf seine Treffen mit Olivia zu verzichten, hoffte er, dass die beiden Frauen einander sympathisch genug fanden, um die Abende mit ihm gemeinsam zu verbringen. Ich werde es bald wissen, dachte er und rief seinen nächsten Patienten auf, einen älteren Mann, der beim Unkrautjäten in einen Rechen getreten war.

*

»Was willst du hier?! Verschwinde, du Virenschleuder!«, hörte Daniel Linda aufgeregt rufen, als er nach der Sprechstunde in seine Wohnung kam. Die Terrassentür war geöffnet, und er konnte Linda im Garten stehen sehen. Sie war leicht nach vorn gebeugt und schien auf etwas herunterzusehen.

»Was ist los?«, wollte Daniel wissen, als er auf die Terrasse hinausging, um herauszufinden, worüber sie sich aufregte.

»Gut, dass du da bist. Würdest du bitte dafür sorgen, dass dieses Tier deinen Garten verlässt?«, forderte sie ihn auf und drehte sich zu ihm um.

»Sprichst du von Ortrud?«, fragte er, als die rot getigerte Katze in diesem Moment ins Haus jagte, so als müsse sie einer Gefahr entkommen.

»Ortrud? Du gibst diesen Streunern Namen?«, wunderte sich Linda, als Daniel zu ihr kam.

»Ortrud ist keine streunende Katze, sie gehört meinen Nachbarinnen«, klärte er sie auf.

»Deinen Nachbarinnen? Lass mich raten. Wir sprechen von älteren Damen mit schlohweißem Haar, die behaupten, in ihren Glaskugeln die Zukunft zu sehen.«

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte er und folgte Lindas Blick, der dem Haus der Mais galt.

»Um das herauszufinden, musste ich mich nicht groß anstrengen. Türkisfarbene Fensterläden, türkisfarbene Türen, die rosafarbenen Rosen in den Blumenschalen auf der Terrasse, der wildromantische Garten mit seinen Obstbäumen. Wer sonst, außer ältlichen selbsternannten Wahrsagerinnen mit rot getigerten Katzen, könnte sich in einem derart kitschigen Umfeld wohlfühlen?«

»Kitschiges Umfeld? Ich glaube, Ihnen fehlt der Sinn für Romantik«, stellte das Mädchen fest, das plötzlich auf dem Balkon des Nachbarhauses stand und offensichtlich Lindas Mutmaßungen über ihr Zuhause mitangehört hatte.

»Reg dich nicht auf, junge Dame. Es ging nicht gegen dich. Ich nehme an, du bist bei deiner Großmutter oder Großtante zu Besuch«, entgegnete Linda und sah das Mädchen mit den langen roten Haaren und den hellen blauen Augen amüsiert an.

»Offensichtlich wissen Sie es noch nicht, aber ich denke, Sie werden überrascht sein, wenn Sie erfahren, wer hier wohnt.«

»Linda, das ist Ophelia Mai, die Tochter von Olivia, der Frau, die ich liebe. Ophelia, das ist Linda Betmann, wir haben zusammen studiert«, machte Daniel die beiden miteinander bekannt.

»Ich wusste gar nicht, dass du so romantisch veranlagt bist, Schätzchen«, stellte Linda schmunzelnd fest, während sie Ophelia beobachtete. Sie schätzte das Mädchen auf vierzehn oder fünfzehn Jahre, schon zu klug und zu erwachsen, um ihr etwas vorzumachen.

Ihr Plan, mit Daniel in Erinnerungen zu schwelgen und das nachzuholen, was sie beide vor Jahren versäumt hatten, würde sich unter den stets wachsamen Augen eines Teenagers nicht so leicht verwirklichen lassen. Frauen in ihrem Alter fühlte sich Linda gewachsen. Kinder und Heranwachsende mit ihren wankelmütigen Gemütern konnte sie nur schwer durchschauen.

»Ist deine Mutter zu Hause, Ophelia?«, fragte Daniel.

»Sie ist mit Oma einkaufen. Ich denke, sie werden in einer halben Stunde zurück sein. Du kommst doch nachher zum Essen zu uns, richtig?« Ophelia sprach zwar mit Daniel, behielt dabei aber Linda fest im Blick.

»Ich denke, das wird nicht klappen. Daniel und ich haben für heute Abend schon eigene Pläne«, kam Linda dem jungen Arzt mit der Antwort zuvor.

»Welche Pläne haben wir denn?«, wunderte sich Daniel, und überhaupt, wie kam Linda dazu, seine Verabredung zum Essen ohne Rücksprache mit ihm abzusagen?

»Wir sprechen gleich über unsere Pläne, mein Schatz«, sagte sie und küsste ihn auf die Wange.

»Du kommst also nicht zu uns?«, fragte Ophelia erstaunt nach.

»Wir besprechen das nachher. Ich komme zu euch, sobald Olivia zurück ist«, antwortete er dem Mädchen. Er musste Linda erst einmal klar machen, dass sie sich nicht in seine Angelegenheiten einzumischen hatte.

»Ich bin schon auf Mamas Reaktion gespannt«, entgegnete Ophelia. »Falls Ortrud bei dir ist, bringe sie nachher bitte mit. Wir machen gerade eine Wurmkur mit ihr, sie muss ihre Tablette nehmen.«

»Diese Katze, die hier durch den Garten schleicht, gehört also dir?«, fragte Linda.

»Sie ist die beste von uns im Glaskugellesen.«

»Werde nicht unverschämt, Kind.«

»Das mit den Glaskugeln war doch Ihre Idee«, entgegnete Ophelia.

Gut so, lass dich von ihr nur nicht einschüchtern, dachte Daniel. Solange sich Ophelia zu wehren wusste, würde er nicht eingreifen.

»Ich hoffe, dir ist bewusst, dass Katzen einige Krankheiten auf Menschen übertragen können. Besonders dann, wenn ihre Besitzer sie draußen herumstreunen lassen«, setzte Linda ihre Unterhaltung mit Ophelia fort.

»Wir gehen mit Ortrud regelmäßig zum Tierarzt. Die meisten Katzenkrankheiten sind für Menschen mit einem intakten Immunsystem allerdings ungefährlich.«

»Ganz so einfach ist das nicht«, widersprach Linda dem Mädchen. »Toxoplasmose zum Beispiel …«

»Ist nur für Schwangere gefährlich, die noch nie mit diesem Erreger in Kontakt gekommen sind«, unterbrach Ophelia Daniels Gast.

»Sieh an, sieh an, ein ganz schlaues Kind, aber eben nur ein Kind. Ich bin Ärztin, Kleine, du darfst mir ruhig zutrauen, dass ich über die Gefahr, die von Katzen ausgeht, weitaus besser Bescheid weiß als du«, sagte Linda und musterte Ophelia mit einem zurechtweisenden Blick.

»Komm jetzt, Linda, du wolltest doch mit mir reden«, unterbrach Daniel das Gespräch. Er wollte Ophelia Lindas Rhetorik nun nicht mehr länger aussetzen. Er wusste nicht, wie sie sich inzwischen verhielt, aber er konnte sich noch gut daran erinnern, wie verletzend sie früher werden konnte, sobald ihr die Argumente ausgingen.

»Gehen wir, viel Glück beim Lesen der Zukunft, Kleine«, sagte Linda und winkte Ophelia mit gönnerhafter Miene noch einmal zu, bevor sie sich bei Daniel unterhakte und mit ihm zur Terrasse ging.

Ganz schön arrogant, dachte Ophelia, als sie Linda nachschaute, die auf ihren hohen Schuhen Schwierigkeiten hatte, über den Rasen zu laufen. Es hatte am Abend zuvor geregnet, ihre Absätze bohrten sich in den noch feuchten Boden, und sie musste die Beine immer wieder anheben, um sich aus der Erde zu befreien. Das sieht aber gar nicht elegant aus, dachte sie und lächelte in sich hinein.

*

»Würdest du bitte dafür sorgen, dass sie geht«, bat Linda Daniel, während sie auf Ortrud starrte, die auf der Fensterbank im Esszimmer lag und den Garten beobachtete.

»Hier ist ihr zweites Zuhause. Ich werde sie nicht vertreiben«, sagte Daniel, der in der Küche stand und den Wasserkocher anschaltete, um eine Kanne Ingwertee zuzubereiten, den er abends gern trank.

»Und ich bin dein Gast. Du solltest ein Interesse daran haben, dass ich mich bei dir wohlfühle.«

»Hast du eine Katzenallergie?«

»Nein, das nicht«, antwortete Linda wahrheitsgetreu, weil sie wusste, dass sie ihm in dieser Hinsicht nichts vormachen konnte. Als Allgemeinmediziner kannte er die Symptome einer Allergie.

»Bist du schwanger?«

»Nein, glücklicherweise nicht.«

»Dann hast du auch nichts zu befürchten. Ophelia hat recht, von Katzen geht für uns Menschen kaum Gefahr aus.«

»Falls Sie uns nicht das Gesicht abschlecken oder uns kratzen.«

»Wenn du Ortrud in Ruhe lässt, wird dir nichts passieren. Sie hat ohnehin ein gutes Gespür, wem sie sich nähern sollte und wem nicht. Aber damit du beruhigt bist, ich nehme sie nachher mit, wenn ich zu Olivia gehe. Verrätst du mir jetzt, welche Pläne du für heute Abend hast?«

»Ich würde gern einen Spaziergang an der Isar machen, und danach in der Stadt in einem hübschen Restaurant essen gehen.«

»Ich habe einen anderen Vorschlag. Wir essen bei mir, und ich werde Olivia bitten, nach dem Abendessen zu mir zu kommen, damit ihr euch kennenlernt.«

»Traust du dich etwa nicht, etwas allein mit mir zu unternehmen? Ist diese Frau krankhaft eifersüchtig oder so etwas?«, fragte Linda, die inzwischen ihren Hosenanzug gegen ein cremefarbenes Kleid getauscht hatte, das in einem aufregenden Kontrast zu ihrem seidigen dunklen Haar stand. Sie hatte sich auch von ihren hohen Schuhen befreit und lief barfuß über die hellen Steinfliesen der Wohnküche.

»Olivia hat keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Was spricht dagegen, sie kennenzulernen?«

»Verzeih, Daniel, aber deshalb bin ich nicht hier. Vermutlich ist diese Beziehung ohnehin nicht von Dauer. Die Frau interessiert mich nicht. Ich will einfach nur ein bisschen Zeit mit dir verbringen. Ist das so schwer zu verstehen?«, fragte sie ihn und streichelte ihm über den Arm.

»Olivia gehört inzwischen zu meinem Leben, Linda«, ließ er sie wissen und goss das Wasser aus dem Wasserkocher in die weiße Teekanne mit dem frisch geschnittenen Ingwer.

»Das heißt, du musst dich auch mit diesem motzigen Teenager herumschlagen?«

»Falls du damit Ophelia meinst, kann ich dir versichern, dass es absolut keine Schwierigkeiten gibt. Ophelia und ich verstehen uns gut.«

»Noch, aber glaube mir, Teenager wechseln ständig ihre Meinung. Was heute noch angesagt ist, kann morgen schon total out sein. Einige meiner Bekannten in Paris haben Kinder in diesem Alter. Sie sind unberechenbar.«

»Du sagtest vorhin, dass du glücklicherweise nicht schwanger bist. Willst du keine Kinder?«, fragte Daniel.

»Ich kann es mir im Moment nicht vorstellen. Mein Ziel ist es, eine anerkannte Herzchirurgin zu werden. Ich will etwas für den medizinischen Fortschritt tun.«

»Hoffst du auf einen Platz in den Geschichtsbüchern?«

»Ja, allerdings, darauf arbeite ich hin. Was ist falsch daran, Karriere machen zu wollen?«

»Gar nichts ist falsch daran. Wer das möchte, sollte es tun. Heutzutage dürfte es doch auch für eine Frau möglich sein, trotz Familie Karriere zu machen.«

»Das setzt voraus, einen Partner zu haben, der das genauso sieht, und seine Karriere nicht über meine stellt.«

»Und den hast du bisher noch nicht gefunden?«

»Bedauerlicherweise nicht.«

»Manchmal dauert es eben ein wenig länger, bis wir den Menschen finden, der wirklich zu uns passt.«

»Ja, das weiß ich«, seufzte sie leise und betrachtete ihn von der Seite.

»Was hältst du von einer Gemüsepfanne und Baguette zum Abendessen?«, fragte Daniel, nachdem er einen kurzen Blick in den Kühlschrank geworfen hatte.

»Dann bleiben wir also wirklich hier?«, hakte sie nach, und Daniel sah ihr die Enttäuschung an.

»Du wirst sehen, du wirst dich mit Olivia gut verstehen«, versicherte er ihr. »Ich bin gleich wieder da, du kannst schon die Paprika aus dem Gemüsefach nehmen und würfeln, wenn du etwas tun willst«, sagte er, nahm Ortrud auf seine Arme und verließ die Küche über die Terrasse.

»Auch wenn du es leugnest, diese Frau hat bereits eine Schlinge um deinen Hals gelegt, und du hast es nicht einmal bemerkt. Ich denke, du brauchst dringend Hilfe. Ich werde dich dabei unterstützen, dich wieder von ihr zu befreien«, murmelte Linda und schaute Daniel nach.

*

»Ich habe Mama schon von deinem Gast erzählt«, eröffnete Ophelia ihm, als sie ihm die Haustür der Mais öffnete.

»Danke, dann habe ich einen guten Einstieg«, entgegnete er lächelnd und setzte Ortrud auf dem Boden in der Diele ab.

»Wir werden sehen«, sagte Ophelia und trat zur Seite, um ihm Platz zu machen.

Olivia war in der Küche mit den in U-Form angeordneten Möbeln aus hellem Holz. Sie stand vor dem Herd und blickte aus dem Fenster auf die Kirschbäume im Garten, die inzwischen keine Früchte mehr trugen. »Du hättest deinen Gast ruhig zum Essen mitbringen können«, sagte sie, während sie mit einem Holzlöffel das Chili, das sie zubereitet hatte, in dem großen Edelstahltopf umrührte.

»Sie hat mich mit ihrem Besuch überrascht. Ich wollte euch nicht auch noch mit einem Gast zum Abendessen überraschen.«

»Wir können auf spontane Ereignisse reagieren«, entgegnete Olivia und drehte sich zu ihm um.

»Ja, das weiß ich«, sagte er und sah sie an. Wie immer wurde ihm dabei ganz warm ums Herz. Das rote lange Haar, das so gut zu dem hellgrünen Pulli passte, den sie zu der weißen Jeans trug, die hellen blauen Augen, in deren Tiefen er so gern versank, ihr liebevolles Lächeln, ihre sanfte Stimme, was auch immer sie anhatte, wie sie ihn auch ansah, er liebte sie, er liebte sie so sehr, dass er es kaum in Worte fassen konnte.

»Du bist mit Linda seit eurem Studium befreundet, hat Ophelia gesagt. Du hast mir schon von einigen Leuten aus dieser Zeit erzählt, Linda hast du bisher nicht erwähnt«, sagte sie und erinnerte ihn daran, warum er gekommen war.

»Ich hatte schon ewig nichts mehr von ihr gehört. Sie stand heute Morgen plötzlich in der Praxis. Sie hat die letzten Jahre in Paris gelebt und ist für ein paar Tage in München, um sich an einer Klinik zu bewerben.«

»Sie will Paris verlassen?«

»Es scheint ihr dort nicht mehr zu gefallen.«

»Wie eng wart ihr befreundet?«

»Wir waren nur gute Freunde.«

»Das soll heißen, er hatte nichts mit dieser Frau Doktor«, erklärte Ophelia schmunzelnd.

»Danke, ich hätte es nicht besser formulieren können«, sagte Daniel lächelnd. »Wie wäre es, wenn du nach dem Essen zu mir kommst, um Linda kennenzulernen?«, schlug er Olivia vor.

»Ophelia meint, sie sei ein wenig schwierig.«

»Das ist keine Meinung, das ist eine Feststellung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie auf einen Abend zu dritt aus ist«, sagte Ophelia. Sie saß mit Ortrud auf dem Schoß auf dem hellgrünen Sofa im Esszimmer, einem hellen Raum mit duftigen weißen Gardinen, der nur durch eine halbhohe Mauer von der Küche getrennt war.

»Linda weiß, dass ich mit deiner Mutter zusammen bin«, entgegnete Daniel, obwohl ihm klar war, dass Ophelias Vermutung zutraf.

»Es macht mir nichts aus, wenn du den Abend mit ihr allein verbringst. Ihr habt euch nach der langen Zeit bestimmt viel zu erzählen«, sagte Olivia.

»Ja, mag sein, aber ich habe nicht vor, wegen Linda auf deine Gesellschaft zu verzichten.«

»Du willst nicht mit ihr allein sein?«

»Es geht mehr darum, dass sie weiß, dass ich nicht allein bin. Ich habe den Eindruck, dass sie vergessen hat, dass wir damals nur Freunde waren.«

»In Ordnung, Daniel, ich komme nachher zu euch, damit sie begreift, dass du bereits vergeben bist.«

»Gut, dann bis nachher. Danke, Olivia«, sagte er und küsste sie zärtlich auf die Wange.

»Pass gut auf dich auf, Doc!«, rief Ophelia Daniel nach, als er die Küche verließ.

»Das mache ich!«, versicherte er ihr lachend.

»Mama, ich traue dieser Frau nicht«, wiederholte Ophelia, was sie ihrer Mutter bereits gesagt hatte.

»Vielleicht ist sie gar nicht so schräg drauf, wie du es genannt hast, möglicherweise will sie wirklich nur für ein paar Tage in alten Erinnerungen schwelgen. So etwas kann in unserem Alter vorkommen«, erklärte Olivia ihrer Tochter.

»Ich werde dich morgen fragen, was du von ihr hältst.«

»Und ich werde dir ehrlich antworten.«

»Noch ein Tipp von mir, Mama, schalte die Psychologin in dir nicht aus, wenn du bei Daniel bist. Ich denke, es ist wichtig, dass du weißt, mit wem du es zu tun hast.«

»Ich werde mir diese Linda genau ansehen, versprochen. Und jetzt sag deiner Oma Bescheid, dass wir essen können«, bat Olivia ihre Tochter.

*

Olivia war gespannt, wie ihre Begegnung mit dieser Frau, die Ophelia ihr als arrogant und total unsympathisch geschildert hatte, verlaufen würde. Sie hatte sich vorgenommen, ihr vorurteilsfrei gegenüberzutreten. Zu einer guten Beziehung gehört es, dass wir die Freunde und Bekannten des anderen akzeptieren. Wir müssen sie nicht mögen, aber wir sollten auch nicht versuchen, den anderen davon zu überzeugen, dass es besser wäre, den Kontakt mit ihnen einzuschränken, dachte sie.

Sie sah, dass die Terrassentür offenstand, als sie in Daniels Garten kam. Bevor sie das Haus betrat, klopfte sie kurz an. Da niemand antwortete, wartete sie noch einen Augenblick und ging schließlich unaufgefordert hinein. »Hallo, Daniel!«, rief sie und blieb in der Küche stehen.

»Wer bitte sind Sie? Sie können doch nicht einfach so hereinkommen«, fuhr die Frau in dem cremefarbenen Kleid sie an, die barfuß aus dem ersten Stock herunterkam.

»Daniel hat mich eingeladen. Ich bin Olivia«, stellte sie sich mit einem freundlichen Lächeln vor. »Ich nehme an, Sie sind Linda.«

»Da wir uns nicht kennen, würde ich Frau Doktor Betmann bevorzugen«, entgegnete Linda von oben herab und warf ihr Haar mit einer schnellen Handbewegung in den Nacken.

»Wenn Sie das so möchten, Frau Doktor Betmann.«

»Danke, Frau Mai.«

»Frau Doktor Mai«, verbesserte Olivia sie. Damit du dich mit deinem Doktortitel nicht so allein fühlst, dachte sie. Ophelia hatte recht, diese Frau war arrogant. Der Versuch, sich mit ihrem Doktortitel aufzuwerten, war lächerlich. Sollte sie immer so auftreten, konnte sie nicht viele Freunde haben.

»Sind Sie auch Medizinerin?«, wunderte sich Linda.

»Nein, Psychologin.«

»Ein undankbares Aufgabengebiet. Schwer gestörten Menschen können Sie mit ihren Gesprächstherapien sowieso nicht helfen, und die anderen kommen nur zu Ihnen, weil sie niemanden sonst zum Reden haben. Ich halte die Psychologie im Gegensatz zur Psychiatrie, die eine echte Wissenschaft ist, eher für so eine Art Kaffeekränzchen.«

»So einfach ist das leider nicht.«

»Ich denke schon, dass es so ist. Wir Mediziner sind diejenigen, die den Menschen wirklich helfen, wobei wir Chirurgen selbstverständlich an erster Stelle zu nennen sind. Unterhalten Sie sich mit einem Neurochirurgen. Sie werden staunen, wie viele Menschen monatelang mit Gesprächstherapien gequält werden, bevor jemand feststellt, dass ein Hirntumor die Ursache der Persönlichkeitsveränderung ist.«

»So etwas kommt vor, aber es ist die Ausnahme«, entgegnete Olivia. »Wo ist Daniel?«, fragte sie, weil sie keine Lust mehr auf diese merkwürdige Unterhaltung mit Linda hatte.

»Er ist noch oben im Schlafzimmer. Da ich mir demnächst eine Wohnung einrichten werde, habe ich sein Bett ausprobiert. Ich hatte bisher noch kein Boxspringbett und wollte wissen, wie ich darin liege«, erzählte sie, während sie Olivia beobachtete, so als erwartete sie eine bestimmte Reaktion.

Aber Olivia ließ sich von ihr nicht vorführen. Sie würde sich nicht den Anflug von Eifersucht anmerken lassen. Außerdem, was war schon dabei, wenn Linda Daniels Bett ausprobierte? Das war nichts, worüber sie sich Gedanken machen musste.

»Wie ich sehe, habt ihr euch schon miteinander bekannt gemacht«, sagte Daniel, der nun auch aus dem ersten Stock herunterkam. »Schön, dass du da bist«, begrüßte er Olivia und legte den Arm um ihre Schultern. »Wie wäre es mit einem Glas Wein?«, fragte er und sah zuerst Olivia und danach Linda an.

»Falls du noch eine Flasche von diesem guten Rotwein hast, mit dem wir gerade beim Abendessen auf unser Wiedersehen angestoßen haben, dann gern«, sagte Linda, während sie Olivia mit einem abschätzenden Blick beobachtete.

»Ich hole eine Flasche aus dem Keller. Setzt euch ins Wohnzimmer, ich bin gleich bei euch.«

»Ich gehe nicht davon aus, dass Sie hier bereits einen Stammplatz haben, Frau Doktor Mai«, sagte Linda, als sie und Olivia in das an das Esszimmer angrenzende Wohnzimmer gingen und sie mitten auf dem Sofa Platz nahm.

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ich finde schon einen geeigneten Platz«, entgegnete Olivia lächelnd und setzte sich auf einen der beiden Sessel, die mit dem gleichen hellen Leder bezogen waren wie das Sofa. Was auch immer diese Frau vorhatte, sie würde sich vor ihr keine Blöße geben.

»Wie gut kennen Sie Daniel, Frau Doktor Mai? Sind Sie sicher, dass er der Mann ist, für den Sie ihn halten?« Linda lehnte sich lässig zurück, schlug die Beine übereinander und sah Olivia mit einem lauernden Blick an.

»Wie lange haben Sie ihn nicht gesehen?«, fragte Olivia mit ruhiger Stimme. Diese Frau wollte sie provozieren, aber sie hatte nicht vor, auf dieses Spiel einzugehen.

»Es tut nichts zur Sache, wie lange wir uns nicht gesehen haben. Daniel und ich standen uns einmal sehr nahe, wir wissen alles voneinander. Ich spreche von seinen verborgenen Geheimnissen und Wünschen. Kennen Sie die auch, Frau Doktor Mai?«, fragte sie mit einem überheblichen Grinsen.

»Verzeihen Sie, dass ich Sie korrigiere, Frau Doktor Betmann, Sie kannten Daniel vor vielen Jahren. Ich bin sicher, dass sie ihn heute nicht mehr kennen.« Selbst Linda musste klar sein, dass Menschen sich veränderten.

»Ich denke, Sie irren sich.«

»Nein, das denke ich nicht.«

»Ich werde noch eine Weile hier sein. Warten wir doch einfach ab, was passiert.«

»Was soll passieren?«, fragte Daniel, der mit einer Flasche Rotwein wieder aus dem Keller heraufkam.

»Frau Doktor Mai und ich sprachen gerade über Erinnerungen, die wir immer in uns tragen.«

»Die uns aber nicht davon abhalten, uns im Laufe der Zeit zu verändern«, sagte Olivia.

»Was nicht bedeutet, dass wir ein komplett anderer Mensch werden, auch wenn sich die Zellen unseres Körpers in gewissen Zeiträumen immer wieder erneuern, wie mir natürlich bewusst ist«, erklärte Linda.

»Ich bezog mich auf unseren Geist, unsere Erfahrungen, all die guten und weniger guten Erlebnisse, das prägt uns im Laufe der Zeit. Erinnerungen helfen uns, unsere Erfahrungen einzuordnen, und manchmal dienen sie uns auch als Fluchtpunkt, an dem wir uns wohlfühlen.«

»So als säßen wir an einem eisigen Winterabend vor einem wärmenden Kamin«, verdeutlichte Daniel Olivias Aussage mit einer bildlichen Vorstellung. Er hatte inzwischen die Weinflasche geöffnet, drei Gläser aus der Vitrine geholt und sie zur Hälfte gefüllt. Er spürte diese Spannung, die sich zwischen den beiden Frauen aufgebaut hatte, und hoffte, dass sie sich im Laufe des Abends auflöste.

»Frau Doktor Mai hat mich übrigens gerade fast zu Tode erschreckt, als sie plötzlich in deiner Küche stand. Zuerst die Katze und jetzt sie. Kann jeder bei dir ein- und ausgehen, wann es ihm beliebt?«, fragte Linda und lenkte damit von dem Gespräch über die Erinnerung eines Menschen ab.

Jetzt bin ich gespannt auf deine Antwort, dachte Olivia und sah Daniel an.

»Nein, nicht jeder«, sagte er, ohne eine Erklärung hinzuzufügen. So vermied er eine weitere spitze Bemerkung seines Gastes aus Paris, wofür Olivia ihm dankbar war.

»Sie leben in Paris, Frau Doktor Betmann?«, versuchte Olivia es noch einmal, Linda zu einer freundlichen Unterhaltung zu bewegen.

»Ich habe bisher dort gelebt. Mir wurde der Posten der Chefärztin der Herzchirurgie in einer Münchner Privatklinik angeboten. Forschungsgelder, um meine Operationsmethoden zu vervollkommnen, eingeschlossen.«

»Das klingt nach einem guten Angebot.«

»So ist es, deshalb werde ich es auch annehmen. Chirurgen haben die Verpflichtung, ihre Operationsmethoden ständig zu verbessern, um Leben zu retten.«

»Das ehrt Ihren Berufsstand. Die erfolgreichsten Chirurgen waren stets herausragende Handwerker. Die Wundärzte im Mittelalter, die sich damals um diese Eingriffe kümmerten, mussten alle zuvor eine handwerkliche Ausbildung bei einem Bader oder Barbier mit abschließender Gesellenprüfung absolvieren.«

»Richtig, im Gegensatz zu den Tölpeln von der Universität, die sich Ärzte nannten und meistens absolut keine Ahnung davon hatten, wie sie einem leidenden Menschen helfen sollten. Da wir inzwischen eine allgemeine medizinische Ausbildung voraussetzen, bevor wir uns in der Chirurgie weiterbilden, sollte es jedem bewusst sein, dass wir Chirurgen mittlerweile die Elite der Ärzteschaft sind. Ich für meine Person hoffe, dass meine Arbeit irgendwann entsprechend gewürdigt wird. Vielleicht mit dem Nobelpreis. Was ist?«, fragte sie Daniel, der sie schmunzelnd betrachtete.

»Ich warte darauf, dass der Heiligenschein sichtbar wird, den du dir gerade aufgesetzt hast.«

»Das ist unfair, Daniel, du weißt, dass ich recht habe.«

»Du hast selbstverständlich recht, dass Chirurgen Leben retten. Jeder, der schon einmal in einer Notaufnahme Dienst hatte, weiß das nur zu gut. Allerdings haben wir nicht nur Fortschritte in der Chirurgie zu verzeichnen. Es gibt Impfungen, um Krankheiten zu verhindern, und wir haben Behandlungsmethoden, die dazu dienen, Operationen zu vermeiden.«

»Nicht zu vergessen, der Zugang zu sauberem Trinkwasser und eine funktionierende Kanalisation, die größten Errungenschaften der Menschheit in der Gesundheitsvorsorge«, sagte Olivia.

»Ja, sicher, auch das stimmt«, entgegnete Linda gelangweilt, so als wäre es vollkommen unwichtig, was Olivia zu diesem Thema beizutragen hatte. »Ich dachte eigentlich, du würdest dich auch für die Chirurgie entscheiden. Jemand wie du gehört zu uns«, wandte sie sich Daniel wieder zu.

»Danke für diese Einschätzung, aber ich fühle mich auf meinem Platz ganz wohl. Ich habe es mir nun einmal zur Aufgabe gemacht, Menschen eine Operation möglichst zu ersparen.«

»Ein guter Diagnostiker verdient durchaus meine Bewunderung«, antwortete Linda lächelnd und breitete die Arme auf der Sofalehne aus, so als wollte sie Daniel einladen, sich neben sie zu setzen. »Aber wir sollten nun nicht länger über unseren Beruf sprechen. Sicher langweilt sich Frau Doktor Mai bereits. So ergeht es schließlich den meisten Nichtmedizinern, wenn sie mit Medizinern zusammen sind.«

»Ich langweile mich nicht, Frau Doktor Betmann. Ganz im Gegenteil, für mich ist diese Unterhaltung ausgesprochen interessant«, versicherte ihr Olivia.

»Wo genau wohnst du denn in Paris?«, fragte Daniel, um Linda von Olivia abzulenken. Er befürchtete, dass Linda sich sonst etwas Neues ausdenken würde, das ihr dazu dienen könnte, Olivia zu verletzen.

»Meine Wohnung ist in der Nähe des Eiffelturmes direkt am Ufer der Seine«, sagte sie und streifte Olivia mit ihrem Blick. Psychologen waren ihr suspekt. Sie gaben anderen immer das Gefühl, sie zu durchschauen, erst recht, wenn sie dann noch Fragen stellten, die diesen Eindruck bestätigten. Auch Daniel fühlte sich früher in der Gesellschaft der Psychologiestudenten an der Uni nie ganz wohl. Seine Einstellung zu diesen Plaudertaschen hatte sich offensichtlich verändert.

»Du wohnst sicher in einem schönen Altbau«, riss Daniel sie aus ihren Gedanken.

»Sechs Zimmer, drei Bäder, zwei Balkone.«

»Ziemlich groß für jemanden, der allein lebt«, wunderte sich Daniel.

»Du hast auch sechs Zimmer und einen Garten.«

»Stimmt, ich habe nicht weniger Platz zur Verfügung«, gab Daniel zu. Seine nächste Frage, wie sie sich eine Luxuswohnung in dieser Lage von Paris leisten konnte, behielt er für sich. Chirurgen verdienten gut, sicher auch in Paris, aber eine Sechszimmerwohnung in dieser Lage konnten sich wohl nur die wenigsten leisten, es sei denn, sie stammten aus einer vermögenden Familie, so wie Linda.

»Ich bin schon sehr gespannt, wie weit es die anderen aus unserer früheren Clique inzwischen gebracht haben. Könntest du ein Treffen arrangieren, Daniel? Wir waren doch damals oft in diesem Restaurant in der Nähe des Viktualienmarktes. Ich meine das mit den verschiedenen Sälen und der Jugendstileinrichtung.«

»Ich weiß, welches Restaurant du meinst. Als Viktor neulich in der Stadt war, haben wir uns mit Karsten dort getroffen.«

»Karsten? Ist er wieder hier? Ich dachte, er wäre damals in die USA gegangen«, wunderte sich Linda.

»Er hat vor Kurzem eine HNO-Praxis in der Innenstadt übernommen.«

»Sieh an, HNO, einer der Ärzte, die uns reich und glücklich machen können. Mandeln, Polypen, Nasenscheidewände, viele kleine Operationen mit geringem Risiko«, entgegnete sie mit einem zufriedenen Lächeln. »Was ist aus Viktor geworden?«

»Das wird dir gefallen. Er ist Allgemeinchirurg an einer Klinik in Salzburg.«

»Siehst du, er weiß, was sich lohnt. Finanziell und für die Menschheit. Was ist?«, fuhr sie Olivia an, die an ihrem Weinglas nippte und sie beobachtete.

»Ich höre nur zu.«

»Ich denke, Sie hören nicht einfach nur zu, Sie versuchen, etwas herauszuhören«, giftete sie Olivia erneut an.

»Was sollte ich denn heraushören wollen?«

»Etwas, was Ihnen die Gewissheit gibt, dass mit mir etwas nicht stimmt.«

»Sie sind nicht meine Patientin.«

»Nein, sicher nicht. Wie ich schon sagte, ich halte nichts von diesen Gesprächstherapien. Ich habe Freunde, die mir zuhören, falls ich jemanden zum Zuhören brauche«, sagte Linda und sah dabei Daniel an.

»Linda, wir sollten noch einmal von vorn anfangen«, schlug Olivia in einem freundlichen Ton vor. Falls sie diese Frau jetzt nicht stoppte, würde sie Daniels Haus erst wieder betreten, wenn sie fort war.

»Frau Doktor Betmann«, wies Linda erneut auf ihren Doktortitel hin und sah Olivia mit flackerndem Blick an.

»Ich bitte dich, Linda, lass das mit den Doktortiteln. Olivia und ich sind zusammen und nicht erst seit gestern. Wenn du mich besuchst, dann besuchst du auch sie«, erklärte ihr Daniel.

»Ist das so?«, entgegnete Linda und kräuselte die Stirn, so als würde sie ihm nicht glauben.

»Ich denke, ich gehe jetzt. Wir sollten den Neustart verschieben. Kommen Sie mit Daniel morgen Abend zu uns zum Essen, dann versuchen wir es noch einmal miteinander«, schlug Olivia Linda vor. Sie hatte genug. Diese Frau war sichtlich bemüht, sie aus der Fassung zu bringen. Diesen Triumph wollte sie ihr nicht gönnen.

»Ich werde darüber nachdenken«, entgegnete Linda mit gönnerhafter Miene.

»Olivia, bleib noch«, bat Daniel sie, als sie sich aus ihrem Sessel erhob.

»Wir sehen uns morgen. Ich wünsche euch noch einen schönen Abend«, sagte sie und ließ die beiden allein. Sie war sicher, dass Linda im Moment nicht kompromissbereit war.

»Was bitte sollte das?«, fuhr Daniel Linda an, nachdem Olivia gegangen war.

»Was meinst du? Wir haben uns doch nur unterhalten. Kann ich etwas dafür, dass deine Freundin so empfindlich ist?«, versuchte Linda, ihr Verhalten zu rechtfertigen.

»Wäre sie empfindlich, wie du sagst, dann wäre sie keine Minute geblieben.«

»Habe ich mich wirklich so schlecht benommen?«, spielte Linda die Überraschte, obwohl sie innerlich darüber jubelte, dass es ihr gelungen war, Olivia zu vertreiben. Zumindest für diesen Abend.

»Ja, du hast dich schlecht benommen«, sagte Daniel.

»Du meinst, ich müsste mich entschuldigen?«

»Das solltest du tun.«

»Gut, dann nehme ich ihre Einladung zum Essen an und werde mich bei dieser Gelegenheit bei ihr entschuldigen.«

»Das wäre ein guter neuer Anfang.«

»Wir werden sehen, aber genug davon. Erzähle mir von den anderen, mit denen wir damals in der Uni zusammen waren. Ich möchte einfach alles wissen«, sagte Linda und schenkte sich noch ein Glas Wein ein.

*

Als Olivia nach Hause kam, war Ophelia in ihrem Zimmer, und Ottilie hatte sich in ihr Appartement im Dachgeschoss des Hauses zurückgezogen. Nur Ortrud war noch im Esszimmer und döste auf dem Sofa. Sie setzte sich neben sie, streichelte sie und fragte sich, was Linda vorhatte.

»Falls du wissen willst, ob ich einen schönen Abend hatte, muss ich dir leider gestehen, dass es nicht so war«, vertraute sie der Katze an. Sie ärgerte sich nicht wirklich über Lindas Verhalten, sie fand es eher amüsant. Linda war so sehr bemüht, sich als großartig und einmalig darzustellen, dass es schon lächerlich wirkte. Ob sie im klassischen Sinne an einer krankhaften Egomanie, einer übersteigerten Ichbezogenheit, litt, konnte sie noch nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht war sie einfach nur derart von sich überzeugt, weil sie bisher weitaus mehr Lob als Kritik an ihrer Person erfahren hatte. »Will ich das wirklich herausfinden? Was meinst du, Ortrud?«, fragte sie die Katze, die sie mit ihren hellen blauen Augen anschaute. »Ich denke, ich sollte mich da raushalten«, sagte sie. Diese Frau würde in ein paar Tagen wieder fort sein. Falls Daniel plante, weiterhin in Kontakt mit ihr zu bleiben, dann war das seine Sache. Sie musste an möglichen Treffen der beiden ja nicht teilnehmen.

»Du bist schon wieder zurück?«, wunderte sich Ophelia, die in die Küche kam, um sich eine Flasche Wasser zu holen.

»Du hattest recht, diese Frau ist schwierig«, gestand Olivia ihrer Tochter.

»Was hat sie getan? Hat sie dich beleidigt oder dich vertrieben?«, fragte Ophelia und setzte sich neben ihre Mutter.

»Sie hat beides versucht.«

»Und hatte wohl auch Erfolg. Tut mir leid, Mama«, sagte Ophelia und lehnte ihren Kopf an Olivias Schulter. »Hat Daniel dich nicht verteidigt?«, wollte sie wissen.

»Das musste er nicht. Ich habe mich selbst gegen ihre Anfeindungen gewehrt, und gegangen bin ich, weil ich hoffe, dass sie sich vielleicht wieder fängt, wenn sie mit Daniel allein ist.«

»Denkst du, sie will etwas von ihm?«

»Keine Ahnung, vielleicht hält sie sich auch nur für unwiderstehlich und glaubt, dass sie jeden Mann um den Finger wickeln kann. Ich habe sie und Daniel morgen zum Essen zu uns eingeladen, dann werden wir sehen, ob sie dieses Spiel weiter vorantreibt.«

»Das wird bestimmt ein amüsanter Abend.«

»Wir sollten ihr die Chance geben, sich von einer anderen Seite zu präsentieren. Wir werden sie freundlich empfangen und abwarten, was passiert. Vielleicht wird es ein amüsanter Abend für uns alle.«

»Gut, versuchen wir es. Ich werde ganz lieb zu ihr sein«, versicherte ihr Ophelia und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.

*

Susanna hatte gleich nach ihrem Besuch in der Praxis Norden eine radiologische Praxis angerufen, um nach einem Termin zu fragen. Als sie hörte, dass sie ohne Termin vorbeikommen konnte, machte sie sich gleich am nächsten Morgen auf den Weg.

Sie hatte Gerald bisher noch nicht erzählt, dass sie sich vor der Wandertour in den Anden noch einmal untersuchen ließ. Auch ihren Besuch bei ihrem Hausarzt hatte sie ihm verschwiegen, weil sie gehofft hatte, dass Doktor Norden keine Einwände wegen der Tour in den Anden anmelden würde. Sie fühlte sich doch gesund, war viel mit dem Rad unterwegs und ging zur Gymnastik und zum Yoga.

Gerald hatte ihr die Reise auch nicht als außergewöhnlich anstrengend geschildert. Sie würden an einem Tag immer nur ein paar Kilometer unterwegs sein und in Pensionen übernachten, weil sie beide nicht die großen Campingfans waren. Sie wusste zwar, dass die Höhe der Berge wegen des verringerten Sauerstoffgehaltes möglicherweise ein Problem für sie sein könnten, aber sie hatten ja nicht vor, über siebentausend Meter zu steigen, eine Höhe, die auch für absolut gesunde Menschen gefährlich ist.

Sie war froh, dass Gerald im Moment auf Geschäftsreise war und von ihren Arztbesuchen nichts mitbekam. Er arbeitete als Kurator in einem Museum und war für ein paar Tage in Belgien, um sich eine Bildersammlung anzusehen. Er würde erst am Wochenende zurückkommen, bis dahin würde sie hoffentlich wissen, was sie sich tatsächlich zutrauen konnte.

Als Susanna im Wartezimmer des Radiologen saß, wurde ihr plötzlich mulmig zumute. Ihre Gedanken waren bisher nur darum gekreist, ob sich ihr Gesundheitszustand möglicherweise verbessert hatte. Eine Verschlechterung wäre doch auch möglich, das war sogar wahrscheinlicher als eine Verbesserung. Vor ihr waren noch zwei jüngere Frauen und ein älterer Mann an der Reihe. Sie würde noch eine Weile ausharren müssen.

Um sich abzulenken, betrachtete sie die Gemälde, die in dem hell und freundlich eingerichteten Raum an den Wänden hingen. Durch ihr Interesse für Geralds Arbeit kannte sie sich inzwischen mit Gemälden recht gut aus. In diesem Fall waren es Originale eines bekannten modernen Malers. Ein Radiologe konnte sich die aber durchaus leisten. Sie gehörten zu den Spitzenverdienern unter der Ärzteschaft, wie sie neulich erst gelesen hatte.

Zwanzig Minuten später betrat sie die Umkleidekabine, in der sie sich für die Untersuchung ausziehen konnte. Sie atmete noch einmal tief ein und aus, bevor sie dann die Tür zu dem großen dunklen Raum aufzog, in dem die Röhre stand, in die sie gleich hineingeschoben wurde.

Nachdem sie der jungen Ärztin, die sie in Empfang nahm, versichert hatte, dass sie nicht unter Platzangst litt, legte sie sich auf die Liege, die kurz darauf langsam in die Röhre hineinglitt. Sie hatte diese Art der Untersuchung schon einige Male über sich ergehen lassen. Um das Surren und Klicken der Maschine wenigstens zum Teil auszublenden, stellte sie sich vor, sie stünde an einem kristallklaren See hoch oben in den Bergen und beobachtete Bergziegen, die mit klappernden Hufen eine Felswand hinaufkletterten.

Nach fünf Minuten war die Untersuchung vorbei, und sie konnte sich wieder anziehen. Die junge Ärztin sah ganz entspannt aus, als sie ihr mitteilte, dass der Untersuchungsbericht in einer Viertelstunde fertig sein würde und sie ihn gleich mitnehmen konnte. Das bedeutete, sie konnte ihn und die dazugehörigen Bilder noch heute in der Praxis Norden abgeben. Sie hoffte, dass Doktor Norden die Gelegenheit fand, sich den Bericht und die Fotos schon vorab anzusehen, bevor sie am nächsten Tag zu ihm in die Sprechstunde kam. Sie beschloss, den Umschlag ungeöffnet abzugeben, sie hatte einfach zu viel Angst vor einer schlechten Nachricht.

*

Daniel stand in der Mittagspause am Küchenfenster, schaute in den Garten hinaus und aß ein mit Käse und Salat belegtes Brötchen. Um Linda musste er sich im Moment nicht kümmern. Sie war zu ihrem Vorstellungsgespräch in die Klinik gefahren und wollte danach Karsten mit einem Besuch in seiner Praxis überraschen. Da er wusste, dass Karsten Linda schon früher ziemlich nervig fand und inzwischen verheiratet war und Kinder hatte, konnte er nicht darauf hoffen, dass er auf die Idee kam, ihr sein Gästezimmer anzubieten. Er würde sich wohl damit abfinden müssen, dass sie noch ein paar Tage länger bei ihm blieb.

Ich muss mich bei ihr entschuldigen, dachte er, als er Olivia in ihrem Garten entdeckte. Sie trug eine lindgrüne Gartenschürze über ihrer Jeans und dem weißen langärmeligen T-Shirt, hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und schnitt mit einer Gartenschere die Johannisbeersträucher zurück.

»Hallo, Daniel«, begrüßte sie ihn mit einem liebevollen Lächeln, als er kurz darauf durch das Tor in der Hecke zu ihr kam.

»Es tut mir sehr leid, wie der Abend gestern verlaufen ist«, entschuldigte sich Daniel, als sie in ihrer Arbeit innehielt und ihn anschaute.

»Linda wollte mir zeigen, wie nahe ihr euch steht, und dass ich euer Wiedersehen störe. Es war nicht deine Schuld. Du hast ihr klar gemacht, dass wir beide zusammengehören, mehr war nicht nötig«, beruhigte sie ihn.

»Ich hatte vergessen, dass sie so ein Biest sein kann.«

»Das heißt, sie war früher auch schon so übertrieben selbstbezogen?«

»Es war nicht leicht, mit ihr auszukommen. Frauen hatten es damals besonders schwer mit ihr. Mit ihren männlichen Studienkollegen kam sie besser zurecht.«

»Ganz besonders mit dir, nehme ich an.«

»Ich hatte immer den Eindruck, dass sie eine Art Maske trägt, um sich vor ihren Mitmenschen zu schützen.«

»Und bei dir hat sie diese Maske abgelegt.«

»Ich denke schon.«

»Hast du sie jemals darauf angesprochen, warum sie sich so verhält?«

»Ja, habe ich. Sie meinte, dass ich mir das nur einbilde.«

»Hast du es dir nur eingebildet?«

»Ich habe mir irgendwann keine Gedanken mehr darum gemacht. Sie stammt aus reichem Haus und ist wie eine kleine Prinzessin aufgewachsen. Sie ist es gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen.«

»Das ist eine gute Erklärung für ihr Verhalten. Sie ist das klassische Beispiel für eine verwöhnte selbstverliebte Tochter aus reichem Haus«, entgegnete Olivia lächelnd.

»Ihre Familie besitzt eine Hotelkette, die inzwischen ihr Bruder leitet.«

»Gab es für sie keinen Platz in diesem Unternehmen?«

»Nicht den an der Spitze.«

»Warum wollte sie Medizin studieren?«

»Das schlagende Herz eines Menschen in Händen zu halten, ist die höchste Form von Macht. Ich will die Macht besitzen, Leben zu retten, hat sie einmal zu mir gesagt.«

»Denkst du, sie ist eine gute Ärztin?«

»Ich bin davon überzeugt, dass sie in einem Operationssaal alles gibt, um Erfolg zu haben. Das heißt, sie will so viele Leben wie möglich retten oder verbessern. Außerhalb des Operationssaals hat sie allerdings noch immer starke Defizite im Umgang mit anderen Menschen.«

»Wem sagst du das«, antwortete Olivia lachend.

»Falls du es dir wegen heute Abend anders überlegt haben solltest, wir könnten auch mit Linda essen gehen«, schlug Daniel vor.

»Ich habe es mir nicht anders überlegt. Wir essen bei uns. Vielleicht ist Linda heute etwas zugänglicher, und es wird ein schöner Abend.«

»Das wünsche ich mir. Darf ich dir bei der Gartenarbeit helfen? Ich habe noch eine Dreiviertelstunde Zeit«, sagte Daniel nach einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr. Gartenarbeit war zwar entspannend, aber der wahre Grund, warum er ihr helfen wollte, war, dass es sich gut anfühlte, etwas mit ihr gemeinsam zu tun.

»Ich nehme deine Hilfe gern an. Ich hole dir ein paar Handschuhe«, sagte sie lächelnd und küsste ihn zärtlich auf die Wange.

*

Die Nachmittagssprechstunde kam Daniel mal wieder vor wie ein Nachbarschaftstreffen. Die Patienten im Wartezimmer schienen sich alle zu kennen und plauderten ganz entspannt miteinander. Einige hielten einen Becher mit Kaffee in der Hand, den sie sich aus der großen Thermoskanne abgefüllt hatten, die auf einem Tisch neben dem Wasserspender in der Empfangsdiele stand.

Auch in seinem Sprechzimmer ging es entspannt zu. Niemand hatte eine ernsthafte Krankheit. Die meisten kamen auch an diesem Nachmittag mit Schnupfen, Husten oder leichten Magenbeschwerden. Als Allgemeinmediziner würde er es vermutlich nie zu einem Nobelpreis bringen, dachte er, nachdem er seinen letzten Patienten verabschiedet hatte und Linda auf der Terrasse vor seiner Küche stehen sah.

Bevor er das Sprechzimmer verließ, las er noch den Bericht des Radiologen, den Susanna Lohmeier während der Nachmittagssprechstunde bei Lydia abgegeben hatte. Glücklicherweise gab es keinen Anlass zur Sorge. Ihr Gesundheitszustand hatte sich nicht verschlechtert. Er hoffte, dass diese gute Nachricht seine Patientin davon überzeugte, sich nicht unnötigerweise mit einer Operation in Gefahr zu bringen.

Als er schon an der Tür war, um das Zimmer zu verlassen, ging er noch einmal zurück zu seinem Schreibtisch und holte den Umschlag mit dem Bericht des Radiologen. Linda war mit Sicherheit eine gute Herzchirurgin. Es konnte nicht schaden, wenn sie sich die Bilder der Untersuchung einmal anschaute.

»Wie läuft es mit Ihrem Besuch aus Paris?«, fragte Lydia, als er in die Praxisküche kam, um sich von ihr und Sophia zu verabschieden.

»Sie hat sich im Gästezimmer einquartiert, und gestern Abend hat sie Olivia vertrieben.« Er verbrachte so viel Zeit mit Sophia und Lydia, sie kannten ihn inzwischen ziemlich gut. Sie würden ihm nicht glauben, wenn er ihnen Linda als verträglichen Gast schildern würde.

»Wie lange wird sie bleiben?«, fragte Sophia, die gemeinsam mit Lydia den Geschirrspüler ausräumte, den sie während der Sprechstunde hatten laufen lassen.

»Sie sucht gerade eine Wohnung.«

»Das kann dauern«, stellte Lydia mit einem bedauernden Achselzucken fest.

»Was sucht sie denn?«, fragte Sophia.

»Altbau, luxuriös, Maxvorstadt«, fasste Daniel Lindas Vorstellung einer Wohnung zusammen.

»Möglicherweise kann ich helfen«, sagte Sophia.

»Lass mich raten, jemand aus deinem adligen Bekanntenkreis besitzt Häuser in der Maxvorstadt«, entgegnete Lydia lächelnd.

»Kann sein, das weiß ich aber nicht. Aber ich kenne einen Makler, der ausschließlich luxuriöse Wohnungen in Bestlage anbietet. Ich könnte ihn fragen, ob er aktuell eine Wohnung im Angebot hat, die für Frau Doktor Betmann interessant wäre«, schlug Sophia Daniel vor.

»Ja, bitte, tun Sie das, Sophia«, nahm Daniel ihren Vorschlag sofort an.

»In Ordnung, ich gebe Ihnen morgen Bescheid.«

»Auch wenn es neugierig klingt, wie geht das jetzt zwischen Ihrem Besuch und Olivia weiter?«, fragte Lydia.

»Wir starten einen neuen Versuch der Annäherung. Wir sind heute Abend bei den Mais zum Essen eingeladen.«

»Okay, dann viel Glück, dass es dieses Mal besser läuft«, sagte Lydia.

»Ich hoffe es, bis morgen«, verabschiedete sich Daniel und verließ die Praxis.

»Dass sie Olivia gestern Abend vergrault hat, könnte darauf hindeuten, dass sie sich tatsächlich mehr von diesem Besuch bei ihrem alten Freund von der Uni verspricht, als nur ein paar Tage bei ihm zu wohnen.«

»Daniel wird nicht zulassen, dass sie seine Beziehung zu Olivia gefährdet.«

»Sie ist eine Frau, Sophia, wir sind ziemlich gut darin, mit Worten Unfrieden zu stiften.«

»Ja, stimmt«, gab Sophia lachend zu. »Ich muss dann auch los. Markus und ich gehen ins Theater.«

»Ich wünsche dir viel Vergnügen«, sagte Lydia und zog den Stecker des Wasserkochers aus der Steckdose. Sie hatte schon einige Brände erlebt, die durch den Kurzschluss eines Wasserkochers ausgelöst wurden.

»Ich erzähle dir morgen, wie es war.«

»Nein, das musst du nicht tun.«

»Auch okay, wenn es dich nicht interessiert.«

»Das habe ich nicht gesagt. Gehen wir, ich habe es auch ein bisschen eilig«, sagte Lydia und lächelte in sich hinein.

*

»Wie war dein Vorstellungsgespräch?«, wollte Daniel von Linda wissen, als er aus der Praxis kam und sie mit einem Glas Eistee auf dem Sofa im Wohnzimmer saß. Sie trug ein elegantes rotes Kleid mit langen Ärmeln und hatte ihr Haar zu einem lockeren Knoten im Nacken gebunden.

»Setz dich zu mir«, bat sie ihn.

»Ich wollte mich erst umziehen.«

»Nur fünf Minuten, nimm dir ein Glas Eistee und entspann dich.«

»Gut, fünf Minuten.« Schließlich wollte er etwas von ihr wissen, dann musste er sich auch Zeit für sie nehmen. Er holte die Flasche mit dem Eistee aus dem Kühlschrank, goss sich ein Glas davon ein und setzte sich auf einen Sessel, statt auf das Sofa neben Linda. Er lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und sah sie an. »Also, wie war es?«, fragte er sie erneut.

»Ich könnte mir vorstellen, dass ich den Posten annehmen werde. Allerdings habe ich mit der Geschäftsleitung vereinbart, dass ich mir den Betrieb in der Klinik in den nächsten Tagen erst einmal aus der Nähe ansehen werde, danach werde ich mich endgültig entscheiden.«

»Was heißt aus der Nähe ansehen?«

»Ich werde bei einigen Operationen zusehen. So kann ich herausfinden, über welche Fähigkeiten meine zukünftigen Kollegen verfügen. Ich weiß dann auch gleich, mit wem ich nicht arbeiten kann.«

»Du wirst dich aber hoffentlich nicht bereits vor deiner Einstellung für Entlassungen einsetzen.«

»Nein, erst nachdem ich den Vertrag unterschrieben habe. Danach werde ich nicht zögern, die Leute loszuwerden, die nicht über die Qualität verfügen, die ich von meinen Mitarbeitern erwarte.«

»Hin und wieder haben Menschen einen schlechten Tag, auch Chirurgen. Du solltest diese Leute erst einmal kennenlernen«, riet er ihr.

»Chirurgen dürfen sich keine schlechten Tage erlauben, Daniel. Das könnte Leben kosten.«

»Deshalb sind Chirurgen nicht allein in einem OP. Du solltest dich mit diesen übereilten Maßnahmen nicht von vornherein bei deinen neuen Kollegen unbeliebt machen.«

»Chefärzte müssen nicht beliebt sein, sie müssen dafür sorgen, dass Patienten die beste Behandlung bekommen.«

»Linda, du bist mit Sicherheit eine gute Ärztin, aber ich habe Zweifel daran, dass du die richtige in einer Führungsposition bist.« Er hatte ihr nie etwas vorgemacht. Er hatte ihr immer ehrlich gesagt, was er dachte, und das würde er auch weiterhin tun.

»Danke für deine Ehrlichkeit, Daniel, aber du irrst dich. Ich kann ein Team motivieren und führen.«

»Dann fang damit an, dass du den Menschen, mit denen du arbeiten möchtest, die Chance gibst, dir zu beweisen, dass du ihnen vertrauen kannst.«

»Ich werde sie mir ohne Vorurteile ansehen.«

»Ich hoffe, dass du das tust. Ich würde dich gern um einen Gefallen bitten«, sagte Daniel.

»Um was geht es?«

»Ich habe eine Patientin, die ihren Verlobten auf eine Tour in die Anden begleiten möchte.«

»Wo ist das Problem?«

»Sie hat ein angeborenes Herzleiden. Sie war gestern bei einem Radiologen. Würdest du dir den Bericht ansehen?«

»Selbstverständlich, das mache ich gern für dich.«

»Warte kurz.« Daniel ging in die Diele und holte den Umschlag mit dem Bericht des Radiologen, den er auf der Kommode dort abgelegt hatte, und brachte ihn Linda.

Während sie sich die Bilder ansah, ging er hinauf in den ersten Stock, stellte sich unter die Dusche und tauschte seine Praxiskleidung gegen eine schwarze Jeans und ein hellblaues Poloshirt. Als er wieder hinunter zu Linda kam, lag sie auf dem Sofa, hatte die Hände unter dem Nacken verschränkt und schaute an die Decke, so als würde sie dort etwas sehen, was er nicht sehen konnte. »Hast du dir die Bilder angeschaut?«, fragte er sie.

»Ja, habe ich. Die Frau sollte nicht in größeren Höhen herumsteigen.«

»Nein, das sollte sie auf keinen Fall tun.«

»Es wäre aber durchaus möglich, die Verengung durch eine OP zu beseitigen. Danach könnte sie alles tun, wonach ihr der Sinn steht.«

»Ich werde ihr nicht raten, sich operieren zu lassen. Es geht ihr gut, sie sollte sich nicht dem Risiko einer Operation aussetzen. Sie könnte während dieser OP sterben.«

»Jede Operation kann tödlich enden, wenn es schlecht läuft.«

»Deshalb sollten wir Patienten nicht zu einer Operation raten, die sie nicht unbedingt brauchen.«

»Vielleicht wäre sie aber bereit dazu, weil es ihr Lebenstraum ist, durch die Anden zu wandern.«

»Nein, ich denke, es ist der Traum ihres Verlobten.«

»Diese Operation hat ein großes Potenzial zu gelingen. Du solltest ihr die Entscheidung überlassen. Schlag ihr die Operation vor. Wir sind verpflichtet, Patienten über die Möglichkeiten einer Heilung aufzuklären.«

»Ich werde mit ihr darüber sprechen, aber ich werde ihr nicht zu dieser Operation raten.«

»Wie gesagt, es die Entscheidung deiner Patientin. Du hast mich nach meiner Meinung gefragt, und ich denke, sie sollte es riskieren. Diese Operation ist für einen Chirurgen eine gute Gelegenheit, sein Können zu beweisen.«

»Wir sind uns aber einig darüber, dass sie auch ohne diese Operation weiterhin ein normales Leben führen kann.«

»Wenn sie auf die großen Abenteuer verzichtet, ist das wohl so.«

»Das Leben selbst ist ein Abenteuer, Linda. Wir müssen nicht jeder Herausforderung nachgeben.«

»Warum sich mit weniger zufriedengeben, wenn wir mehr haben können? Tu doch nicht so bescheiden«, entgegnete sie schmunzelnd, so als ginge sie davon aus, dass Daniel nicht ernst meinte, was er gerade gesagt hatte.

»Wir sollten jetzt gehen. Olivia erwartet uns«, erinnerte er sie an ihre Verabredung mit den Mais.

»Sofort.« Sie verschwand im Gästebad und kam gleich darauf mit einem herbstlichen Blumenstrauß zurück. »Für Frau Doktor Mai«, sagte sie.

»Könntest du bitte mit diesem Frau Doktor aufhören?«

»Wir haben für unsere Doktortitel hart gearbeitet. Warum sollten wir sie nicht benutzen?«

»Deine Doktorarbeit über die Auswirkungen von Zimmerpflanzen auf bettlägerige Patienten war fünfzig Seiten lang und brachte keine wirklich neuen Erkenntnisse. Niemand braucht so etwas, um ein guter Arzt zu werden.«

»Es schmückt den Namen und hebt das Ansehen. So wie elegante Kleidung, die wir tragen, andere davon überzeugt, dass wir etwas Besonderes sind.«

»Olivia ist Psychologin, du kannst sie mit solchen Äußerlichkeiten nicht beeinflussen.«

»Jeder ist beeinflussbar.«

»Wenn du das glauben willst«, entgegnete Daniel genervt. »Warst du eigentlich bei Karsten? Du wolltest ihn doch in seiner Praxis besuchen?«

»Ja, war ich. Die Praxis ist beeindruckend, gleich am Stachus gelegen, hochmodern eingerichtet, und ich bin sicher, mit vielen Privatpatienten. Er hatte aber nicht viel Zeit. Wir wollen noch mal telefonieren, solange ich hier bin, um ein Treffen auszumachen.«

»Wundere dich nicht, wenn er keine Zeit hat. Karsten ist ein Familienmensch geworden. Er ist am liebsten zu Hause bei seiner Frau und den Kindern«, warnte Daniel sie schon einmal vor, dass aus diesem Treffen vermutlich nichts werden würde.

»Er war früher auch schon eher der langweilige Typ. Im Gegensatz zu dir, du warst immer für eine Herausforderung zu haben. Damals, als wir drei beschlossen, in die Alpen zu fahren, um einen Tandemsprung mit dem Fallschirm zu riskieren. Wir beide haben es getan, er hat vor Ort gekniffen.«

»Er war eben vernünftiger als wir.«

»So lässt sich Feigheit auch ausdrücken.«

»Sich nicht aus einem Flugzeug stürzen zu wollen, hat nichts mit Feigheit zu tun.«

»Wenn du meinst«, murmelte sie.

»Kann ich mich darauf verlassen, dass du Olivia heute nicht erneut herausforderst?«, fragte er, als sie kurz darauf das Grundstück der Mais betraten.

»Wir werden einfach nur miteinander plaudern, so wie es sich für ein Abendessen mit Nachbarn gehört«, antwortete sie lächelnd.

»Die Mais sind nicht nur Nachbarn.«

»Das weiß ich doch«, antwortete sie schmunzelnd.

Hoffentlich hält sie sich an ihr Versprechen, dachte Daniel. Er fragte sich, ob Linda früher wirklich schon derart anstrengend war. Falls es so war, musste er damals um einiges geduldiger gewesen sein. Sie hatte ihn immer dafür gelobt, ein guter Zuhörer zu sein. Vielleicht hatte er sie aber auch einfach nur reden lassen, um sich nicht in eine Diskussion mit ihr zu verstricken. Inzwischen fragte er sich, wieso er überhaupt jemals mit ihr so eng befreundet gewesen war. Er konnte es sich nur damit erklären, dass er tatsächlich irgendetwas in ihr gesehen hatte, was andere nicht sahen, eine verletzte Seele, die sich hinter dieser zur Schau gestellten Arroganz verbarg.

»Guten Abend, Olivia, vielen Dank für die Einladung«, sagte Linda mit einem freundlichen Lächeln und überreichte Olivia, die ihnen die Haustür öffnete, den Blumenstrauß.

Olivia nahm die Blumen entgegen, bedankte sich und tauschte einen verwunderten Blick mit Daniel, während sie die beiden hereinbat. Ophelia kam in die Diele, begrüßte die Gäste und nahm ihrer Mutter die Blumen ab.

»Ein Dreimädelhaus ist das hier also«, sagte Linda, nachdem Olivia ihr Ottilie vorgestellt hatte.

»Ein Viermädelhaus«, verbesserte Ophelia sie. Sie deutete auf Ortrud, die auf dem grünen Sofa am anderen Ende des Zimmers lag.

»Sicher, das Kätzchen gehört auch dazu«, entgegnete Linda lächelnd, als sie sich alle an den gedeckten Tisch im Esszimmer setzten, auf den Ophelia auch die Vase mit den Herbstblumen gestellt hatte.

Dass sie den Abend mit zwei Psychologinnen verbringen würde, damit hatte Linda nicht gerechnet. Daniel hatte ihr zwar erzählt, dass auch Olivias Mutter Psychologin war, mit ihr in diesem Haus wohnte und ihre Tochter hin und wieder in der Praxis unterstützte, aber sie war nicht darauf vorbereitet, dass sie an diesem Essen teilnahm. In Gegenwart einer Psychologin fühlte sie sich bereits unwohl, konnte ihr Unbehagen aber noch recht gut überspielen. Ob ihr das auch noch gelang, wenn zwei von diesen ‚Ich-durchschaue-dich-Personen‘, wie sie Psychologen gern nannte, im Raum waren, das war allerdings fraglich.

»Ein Glas Rotwein, Linda?«, fragte Olivia.

»Ja, sehr gern«, antwortete sie höflich. Sie haben alle rotes Haar und helle blaue Augen, sogar die Katze, dachte sie. Was das Essen betraf, war sie angenehm überrascht, hatte sie doch ein deftiges bayerisches Abendessen erwartet, von dem sie dann nur einige Bissen gegessen hätte, weil sie deftiges Essen nicht mochte. Der gebackene Schafskäse, die gemischte Gemüseplatte und der Gurkensalat, das Essen, das es stattdessen gab, war aber ganz nach ihrem Geschmack, und sie musste nicht einmal heucheln, als sie es lobte.

»Darf ich fragen, wie Ihr Vorstellungsgespräch verlaufen ist?«, wandte sich Olivia während des Essens an Linda.

»Sagen wir so, die Klinik hat sich mir vorgestellt, und ich werde entscheiden, ob ich bereit bin, mit diesen Leuten zu arbeiten.«

»Wie soll das ablaufen?«, fragte Olivia.

»Ich werde das Personal dieser Klinik eine Woche lang beobachten, ob es meinen Ansprüchen gerecht werden könnte. Falls nicht, werden sie die Leute auswechseln müssen, bevor ich zusage«, erklärte ihr Linda.

»Sind Sie so gut, dass Sie so etwas durchsetzen könnten?«, wunderte sich Ophelia.

»Jede Klinik auf diesem Planeten würde sich glücklich schätzen, mit mir arbeiten zu können. Aber natürlich gibt es nur wenige, die meinen Ansprüchen genügen und die sich eine Chirurgin wie mich leisten können.«

»Es gibt doch sicher auch noch andere, die ebenso gut wie Sie sind.«

»Ehrlich gesagt, mein Kind, kenne ich niemanden in meinem Fachgebiet, der auch nur annähernd so talentiert ist, wie ich es bin.«

»Sie sind also besser als die Ärzte, die Sie ausgebildet haben?«, fragte Ophelia.

»Selbstverständlich. Wären wir nicht besser als unsere Lehrer, würden wir uns nicht weiterentwickeln. Ich bin davon überzeugt, dass ich eines Tages Bahnbrechendes leisten werde.«

»Sie hoffen auf den Nobelpreis?«

»So sieht es aus.«

»Wow, Sie sind wirklich von sich überzeugt. Aber das mit dem Nobelpreis wird sicher schwer. Hat den überhaupt schon einmal ein Chirurg gewonnen? Ich dachte, den gewinnen nur Wissenschaftler.«

»Neue Operationsmethoden zu entwickeln, das ist eine Wissenschaft. Und ja, drei Chirurgen haben diesen Preis schon gewonnen. Der erste bereits 1909. Ich werde die erste Chirurgin sein, die diesen Preis überreicht bekommt.«

»Ich hoffe, dass Sie das noch schaffen.«

»Wie meinst du das?«

»Ich denke, dass es nicht mehr allzu lange dauern wird, bis Roboter Chirurgen ersetzen.«

»Das ist Sciencefiction. Roboter werden uns niemals ersetzen«, zischte Linda.

»Vielleicht sollte ich besser von Künstlicher Intelligenz sprechen, von perfekten Maschinen, verpackt in einen Körper, der uns Menschen ähnelt.«

»Du hast offensichtlich zu viele Computerspiele konsumiert. Du verwechselst Traum und Realität.«

»Nein, tut sie nicht, ich muss ihr recht geben. Wir werden uns in der Medizin auf Veränderungen einstellen müssen«, sprang Daniel dem Mädchen bei, während Olivia und Ottilie sich zurückhielten.

»Ich bitte dich, Daniel, du unterstützt das unqualifizierte Geplapper eines Teenagers? Das Mädchen hat doch noch keine Ahnung vom Leben. Sie sollten Ihrer Tochter beibringen, Erwachsene nicht mit ihrem Unsinn zu brüskieren. Ich würde mich schämen, wenn sich meine Tochter derart danebenbenehmen würde«, wandte sie sich in einem zurechtweisenden Ton an Olivia.

»Wenn Sie jemals eine Tochter haben, sollten Sie sich wünschen, dass sie so ist wie meine. Ich bin stolz auf sie«, sagte Olivia, legte ihren Arm um Ophelias Schultern und zog das Mädchen liebevoll an sich.

»Wie Daniel schon sagte, die Zukunft wird Veränderungen bringen, damit müssen wir uns abfinden, und es ist gut, dass unsere Kinder sich auf diese Veränderungen vorbereiten. Ophelia wollte Sie nicht verletzten oder Ihre Fähigkeiten infrage stellen«, versicherte Ottilie Linda.

»Es hat sich aber genauso angehört.«

»Dann war es ein Missverständnis. Mir ist klar, wie anstrengend Ihr Beruf ist und dass Sie oft über Ihre Grenzen hinausgehen müssen«, sagte Ophelia, die den Abend nicht verderben wollte und Lindas fachliche Qualitäten auch nicht anzweifelte. »Ich bin froh, dass es Menschen wie Sie gibt, die sich zutrauen, andere aufzuschneiden, damit sie gesund werden. Sollte ich Sie beleidigt haben, bitte ich Sie um Entschuldigung.«

»Entschuldigung angenommen. Und übrigens, ein Roboter oder ein Computer kann immer nur so gut sein wie die Menschen, die diese Maschinen programmieren.«

»Das weiß ich, aber diese Maschinen werden das Wissen von vielen Menschen in sich tragen, deshalb werden sie irgendwann besser als wir sein.«

»Du denkst also wirklich, dass Maschinen uns irgendwann ersetzen?«

»Nur in manchen Bereichen. Auch in der Medizin werden Roboter nicht überall einsetzbar sein. Ärzte wie Daniel werden sie vermutlich niemals ersetzen können.«

»Ach nein, warum nicht?«, fragte Linda.

»Weil Patienten von ihm erwarten, dass er ihnen zuhört, ihnen Hoffnung gibt, Ihnen Trost spendet und ihnen, wann immer es zu verantworten ist, eine Operation erspart.«

»Daniel ist wohl dein großer Held, Kind? So wie du ihn anhimmelst, bist du wohl in den Freund deiner Mutter verliebt. Das ist ungesund, Herzchen.«

»Ich befürchte, Ihre Menschenkenntnis ist nicht besonders gut, Frau Doktor Betmann. Ist es in Ordnung, wenn ich jetzt gehe, Mama? Ich bin zum Chatten verabredet«, wandte sich Ophelia ihrer Mutter zu.

»Geh nur, Schatz.« Olivia wusste, dass Ophelia eine weitere Auseinandersetzung mit Linda vermeiden wollte. Sie hatte nicht einmal ihren Teller leergegessen, was sie sonst eigentlich immer tat, erst recht, wenn es gebackenen Schafskäse gab, eines ihrer Lieblingsgerichte.

»Einen schönen Abend noch. Auf Wiedersehen, Frau Doktor Betmann«, verabschiedete sich Ophelia und verließ kopfschüttelnd das Zimmer. Die Frau ist auf jeden Fall irgendwie durchgeknallt, dachte sie. Sie hatte absolut keine Lust mehr, sich noch länger Lindas Eigenbeweihräucherung anzuhören.

»Dieses Mädchen hat sich nicht im Griff. Die Eifersucht, die es auf seine eigene Mutter projiziert, steuert auf einen äußerst belastenden Konflikt hin«, gab sich Linda besorgt, nachdem Ophelia gegangen war.

»Wir sind auf Konfliktbewältigung spezialisiert«, antwortete Olivia lächelnd. Entweder hatte Ophelia recht und Linda konnte Menschen tatsächlich nur schwer einschätzen, weil sie ständig mit sich selbst beschäftigt war, oder es gefiel ihr einfach, andere zu provozieren. Vermutlich war es eine Mischung aus beidem. Du solltest trotz aller Vorbehalte über eine Gesprächstherapie nachdenken, Frau Doktor Betmann, dachte sie.

»Wie lange leben Sie schon in Paris?«, fragte Ottilie, um mit einem erneuten Themawechsel die Gemüter zu beruhigen.

»Seit zehn Jahren«, sagte Linda.

»Ich war während meiner Schulzeit als Austauschschülerin ein halbes Jahr lang in Paris. Es war eine aufregende Zeit«, erzählte Ottilie.

»Paris ist eine aufregende Stadt.«

»Das steht außer Frage«, stimmte Ottilie ihr mit einem verträumten Blick zu. »Vielleicht gibt es noch das eine oder andere Café, das ich damals mit meinen neuen Freunden besuchte«, sagte sie und nannte Linda einige Namen.

»Das ist auch mein Lieblingscafé«, hakte Linda ein, als Ottilie von dem Café erzählte, das ihr damals am besten gefiel.

»Zu meiner Zeit war es noch mit Möbeln aus den 40er Jahren eingerichtet, dunkles Holz, viel roter Plüsch und Jugendstillampen.«

»Daran hat sich nichts verändert, allerdings wurden die Möbel inzwischen restauriert«, sagte Linda.

Ottilie wollte von ihr wissen, ob in diesem Café noch immer vorwiegend Künstler verkehrten. Als Linda es bestätigte, erzählte Ottilie von den bekannten Persönlichkeiten, die sie zu ihrer Zeit dort gesehen hatte, und Linda sprach über die prominenten Gäste, die inzwischen dort ihren Kaffee tranken.

Ottilie gelang es schließlich, Linda in ein Gespräch über die Stadt und ihre schönsten Orte zu verwickeln. Da Olivia und Daniel den beiden zunächst nur zugehört hatten, bot sich ihnen jetzt die Möglichkeit, sich an der Unterhaltung zu beteiligen, und sie nutzten sie.

Nach einer Weile schien Linda diese Unterhaltung aber zu langweilen, und sie gähnte hinter vorgehaltener Hand. »Tut mir leid, aber ich bin ziemlich müde. Ich hatte heute einen anstrengenden Tag. Lass uns gehen, Daniel«, forderte sie ihn auf.

»Hier, meine Schlüssel. Ich bleibe noch ein paar Minuten«, antwortete er, ohne zu zögern. Er hatte nicht vor, mit Linda an seiner Seite Olivias Haus zu verlassen. Es erschien ihm unpassend, so als wäre er mit Linda zusammen und nicht mit Olivia.

»Du solltest besser mitkommen. Ich könnte einschlafen, dann stehst du vor verschlossener Tür«, versuchte sie, ihn davon zu überzeugen, dass er sie begleiten musste.

»Ich denke, ich finde eine andere Übernachtungsmöglichkeit.«

»Wenn das so ist, dann noch einen schönen Abend«, verabschiedete sich Linda und nahm den Hausschlüssel entgegen, den Daniel ihr reichte.

»Ich bringe Sie zur Tür«, sagte Ottilie und begleitete Linda in die Diele.

»So richtig hat es auch heute nicht mit ihr und mir funktioniert«, flüsterte Olivia, als Daniel sie mit einem entschuldigenden Achselzucken ansah.

Nachdem Linda gegangen war, wünschte Ottilie ihnen von der Diele aus eine gute Nacht und ging hinauf in ihre Wohnung. Sie wusste, dass die beiden ein bisschen Zeit für sich allein brauchten, um sich von Lindas Anwesenheit zu erholen.

»Falls sie Ophelia noch einmal angreift, werde ich vermutlich heftiger als vorhin darauf reagieren«, sagte Olivia, als sie und Daniel sich noch ein Glas Wein eingossen.

»Das ist dein gutes Recht. Obwohl ich nicht den Eindruck hatte, dass Ophelia auf Hilfe angewiesen war.«

»Nein, dieses Mal nicht, aber so wie Linda sich selbst einschätzt, geht sie davon aus, dass sie uns, mal abgesehen von dir, überlegen ist. Da sie hochintelligent ist, wird sie nicht aufhören, weiterhin nach Schwachpunkten zu suchen, um uns zu verletzen.«

»Ich hoffe, sie findet schnell eine Wohnung, damit euch weitere Begegnungen mit ihr erspart bleiben«, sagte Daniel.

»Sie kennt doch sicher noch andere Leute in München, die sie überraschend besuchen könnte.«

»Offensichtlich ahnt sie, dass die meisten über ihren Besuch nicht erfreut wären. Ich könnte sie aber bitten, sich ein Hotelzimmer zu suchen.«

»Einerseits wäre mir das ganz recht, andererseits sollte unsere Beziehung diesen Besuch aushalten. Also nein, setz sie nicht vor die Tür.«

»Ich kann aber nicht garantieren, dass sie keinen Unsinn mehr anstellt.«

»Was auch immer sie tut oder sagt, du bist nicht für sie verantwortlich.«

»Entschuldige«, sagte Daniel, als sein Handy läutete. »Was ist denn jetzt?«, wunderte er sich, als Lindas Name auf seinem Display aufleuchtete. »Linda, ist etwas passiert?«, fragte er, nachdem er das Gespräch angenommen hatte.

»Bitte, Daniel, du musst schnell kommen. Mir geht es nicht gut«, sagte sie so leise, dass er sie kaum verstehen konnte.

»Was heißt, dir geht es nicht gut? Linda?« Aber es kam keine Antwort mehr. Sie hatte die Verbindung bereits unterbrochen.

»Was ist los?«, fragte Olivia.

»Linda geht es nicht gut.«

»Sie will, dass du zu ihr kommst, nehme ich an.«

»Vielleicht quält sie ihr schlechtes Gewissen, und sie will wissen, ob ich noch mit ihr spreche.«

»Vielleicht will sie mir auch erneut beweisen, dass sie dich beeinflussen kann.«

»Sie hat mich um Hilfe gebeten, Olivia.«

»Ich weiß, geh nur, es ist alles gut.«

»Ist wirklich alles gut?«

»Ja, ist es«, versicherte sie ihm.

»Wir sehen uns morgen. Ich wünsche dir schöne Träume«, sagte er und verabschiedete sich mit einem zärtlichen Kuss von ihr.

Ich werde mich nicht auf dein Spiel einlassen, Linda, dachte Olivia, nachdem sie die Haustür hinter Daniel geschlossen hatte. Was auch immer Linda ihr beweisen wollte, es würde ihr nicht gelingen, einen Keil zwischen Daniel und sie zu treiben. Zumindest war sie fest entschlossen, es nicht zuzulassen.

*

Linda stand in der geöffneten Terrassentür, als Daniel nach Hause kam, und atmete tief ein und aus. »Es tut mir leid, dass ich deinen Abend so abrupt beendet habe«, entschuldigte sie sich und sah ihn mit großen unschuldigen Augen an.

»Du sagtest, es geht dir nicht gut. Was genau hast du?«, fragte er.

»Ich denke, ich habe das Wiedersehen mit meiner alten Heimat unterschätzt. Ich meine, all diese Erinnerungen, die plötzlich wieder so real wirken, die Gespräche mit dir. Es kommt mir so vor, als hätte ich die letzten Jahre auf einem anderen Planeten verbracht und sei wieder zur Erde zurückgekehrt. Verzeih, ich muss mich setzen«, flüsterte sie.

»Warte, ich helfe dir.« Daniel umfasste ihre Taille und stützte sie, als es so aussah, als würde sie schwanken.

»Es ist genau wie früher, ich kann mich auf dich verlassen«, sagte sie und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Ich lege mich auf das Sofa, und du bleibst noch ein bisschen bei mir. Wäre das in Ordnung für dich?«

»Sicher, kein Problem.« Er begleitete sie ins Wohnzimmer, wartete, bis sie sich auf das Sofa gelegt hatte, und deckte sie mit der roten Wolldecke zu, die seine Mutter ihm zum Einzug geschenkt hatte. »Möchtest du einen Tee oder ein Wasser?«

»Ein Kamillentee wäre gut.«

»Hast du Magenschmerzen?«

»Nein, Kamillentee hat unsere Köchin mir immer zubereitet, wenn ich mich in meiner Kindheit nicht wohlfühlte. Kamillentee hat für mich etwas Tröstliches.«

»Du brauchst also keinen Arzt, sondern jemanden, der dir die Hand hält.«

»Ich bin nicht gern allein, wie du weißt.«

»Wie machst du das zu Hause in deiner großen Wohnung?«

»Ich habe immer viel Besuch. Wolltest du mir nicht einen Kamillentee machen?«

»Zwei Minuten«, sagte Daniel und ging in die Küche.

Was sagst du nun, liebe Olivia? Er ist bei mir, nicht bei dir, dachte Linda, als sie mit einem triumphierenden Grinsen aus einem der Fenster schaute, durch das sie das Haus der Mais sehen konnte.

»Warum bist du vorhin wieder auf Ophelia losgegangen?«, fragte Daniel, als er mit dem Tee zu ihr kam.

»Sie ist auf mich losgegangen.«

»Nein, ist sie nicht. Es hat dir nur nicht gefallen, dass sie dir widersprochen hat.«

»Sie hat fürchterlichen Unsinn geredet.«

»Hat sie nicht, und das weißt du auch.«

»Ich kann eben nicht so gut mit Kindern. Tut mir leid, dass ich dich in Schwierigkeiten gebracht habe«, sagte sie und streichelte über seine Hand.

»Du hast mich nicht in Schwierigkeiten gebracht.« Jedenfalls noch nicht, dachte er.

»Gut, lassen wir dieses Thema. Erzähle mir von deiner Familie, Daniel. Wie geht es deinen Eltern und deinen Geschwistern?«

»Du interessierst dich für meine Familie?«, wunderte er sich.

»Aber ja, ich habe mich schon immer für dich und deine Familie interessiert«, entgegnete sie lächelnd. »Also, wie geht es ihnen?«

»Fährst du morgen wieder in die Klinik, um dir deine zukünftigen Kollegen anzusehen?«, wollte Daniel von Linda wissen, nachdem er ihr von seiner Familie erzählt hatte.

»Das hatte ich vor.«

»Dann sollten wir jetzt schlafen gehen.«

»Du hast recht, es wird Zeit, gehen wir schlafen«, erklärte sie sich sofort einverstanden.

»Sollte etwas sein, du weißt, wo du mich findest.«

»Ja, das weiß ich«, sagte sie, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und verschwand im Gästezimmer.

*

»Ich glaube es nicht, was machst du hier?« Daniel schoss hoch, als er am nächsten Morgen aufwachte und Linda eng an ihn gekuschelt in seinem Bett lag.

»Guten Morgen, Schätzchen«, entgegnete Linda und rekelte sich genüsslich. Die Spaghettiträger ihres roten Seidenachthemdes rutschten ihr dabei von den Schultern.

»Wie lange bist du schon hier?«, fuhr Daniel sie an.

»Seit Mitternacht. Ich hatte mich plötzlich wieder so allein gefühlt. Entspann dich, es ist nicht das erste Mal, dass ich in deinem Bett übernachte.«

»Diese Zeiten sind vorbei, Linda.«

»Spielverderber«, sagte sie lachend und streichelte ihm über das Haar.

»Ich gehe ins Bad«, entgegnete Daniel und verließ das Zimmer. Er hoffte, dass sich dieser Vorfall nicht wiederholte. Falls doch, würde er sie nicht länger in seinem Haus dulden.

Ich werde der Nachbarschaft etwas zum Nachdenken geben, dachte Linda. Sie ging auf den Balkon hinaus und lächelte in sich hinein, als sie Ophelia in Daniels Garten sah. Obwohl es ihr in dem leichten Nachthemd auf dem Balkon zu kühl war, blieb sie dort stehen. Sie hatte eine wundervolle Idee.

»Ortrud, bitte, komm zu mir!«, rief Ophelia. Sie versuchte, die Aufmerksamkeit der Katze von dem Vogelhäuschen abzulenken, das sie in einer Birke entdeckt hatte. Ortrud schien der Jagdinstinkt gepackt zu haben. Geschickt kletterte sie von Ast zu Ast den Baum hinauf. »Dieses Mal hole ich nicht die Feuerwehr!«, rief Ophelia. Auch wenn diese Warnung der Katze vermutlich egal war, erinnerte sie sie trotzdem an den Vorfall vor einigen Wochen, als Lydia ihre Kollegen von der Feuerwehr rufen musste, um Ortrud aus einer Baumkrone zu holen, aus der sie sich nicht mehr hinunter traute.

Sie hoffte, dass Ortrud noch rechtzeitig genug aufgab. Sie sollte weder einen Vogel fangen noch dort oben im Baum hängenbleiben. Glücklicherweise hatte sie das sich ankündigende Unheil noch rechtzeitig bemerkt. Sie hatte gleich nach dem Aufstehen nach Ortrud Ausschau gehalten, die wie jeden Morgen bei Sonnenaufgang durch die Katzenklappe in der Haustür zu einem Spaziergang aufgebrochen war. Als sie sie in Daniels Garten vor der Birke entdeckte, wie sie auf das Vogelhäuschen starrte, hatte sie sich sofort auf den Weg gemacht, sie von dort wegzuholen.

»Guten Morgen, Ophelia!«, hörte sie plötzlich Linda rufen.

»Guten Morgen«, antwortete sie, als sie sich umdrehte und Linda auf Daniels Schlafzimmerbalkon stehen sah.

»Geht es dir gut?«, fragte Linda und sah Ophelia mit einem freundlichen Lächeln an.

»Ja, es geht mir gut«, antwortete Ophelia. Was soll ich denn daraus schließen?, dachte sie, während sie Linda musterte. Wieso stand sie in diesem Hauch von Nachthemd auf dem Balkon vor Daniels Schlafzimmer? Und warum sieht sie so zufrieden aus?, fragte sich Ophelia, als Linda den oberen Lauf des metallenen Balkongeländers umfasste, die Augen schloss und sich den Morgenwind durch das Haar wehen ließ. »Da bist du ja«, sagte sie und wandte sich Ortrud zu, die es sich offensichtlich anders überlegt hatte, nicht mehr jagen gehen wollte und zu Ophelia zurückkam. »Braves Mädchen«, lobte Ophelia die Katze und nahm sie auf ihre Arme.

»Schönen Tag noch, Ophelia!«, rief Linda, als das Mädchen Daniels Garten verließ.

»Danke, Ihnen auch!«, entgegnete Ophelia, ohne sich umzudrehen. Sie nahm sich vor, ihrer Mutter erst einmal nicht zu erzählen, was sie gerade gesehen hatte, aber sie wusste es bereits.

»Du hattest eine nette Unterhaltung mit Frau Doktor Betmann«, sagte Olivia, die vor der Haustür auf Ophelia wartete.

»Tut mir leid, Mama«, entgegnete Ophelia leise.

»Dir muss gar nichts leidtun, du hast nichts falsch gemacht.«

»Willst du darüber reden?«, fragte Ophelia.

»Nein, im Moment nicht. Komm, gehen wir frühstücken«, sagte Olivia und legte den Arm um die Schultern ihrer Tochter. Sie hatte die Morgenzeitung aus dem Briefkasten geholt und gehört, dass Linda mit Ophelia sprach. Als sie auf das Nachbargrundstück hinüberschaute, sah sie Linda in diesem verführerischen roten Nachthemd auf dem Balkon stehen. Dazu gab es wohl kaum noch etwas zu sagen. Bravo, Linda, nun hast du es doch geschafft, dich zwischen Daniel und mich zu drängen, dachte sie.

*

Als Daniel eine Viertelstunde später in seine Küche kam, war der Tisch für das Frühstück gedeckt. Es duftete nach frisch gebrühtem Kaffee, und die Toastscheiben in dem Brotkörbchen waren noch warm.

»Setz dich, ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich im Nachthemd frühstücke«, sagte Linda, die mit der Kaffeekanne an den Tisch kam und seine und ihre Tasse füllte.

»Nein, es stört mich nicht«, sagte er. Ihm war es egal, was sie anhatte, solange sie ihm nicht wieder zu nahekam. »Wann fährst du in die Klinik?«

»Ich muss erst in einer Stunde los. Wir haben also genug Zeit für ein gemütliches Frühstück«, entgegnete sie mit einem verführerischen Lächeln.

»Tut mir leid, ich habe es heute eilig. Ich muss vor der Sprechstunde noch ein paar Anrufe erledigen.« Er wollte ihr lieber aus dem Weg gehen, bevor sie sich erneut etwas ausdachte, was sie beide in eine unangenehme Lage versetzte.

»Schade, dann koche ich heute Abend etwas für uns.«

»Nein, das musst du nicht, lass es einfach gut sein«, bat er sie. Er atmete erleichtert auf, als er ein paar Minuten später die Praxis betrat. Für die nächsten Stunden war er Linda erst einmal entkommen.

»Heute schon so früh?«, wunderte sich Lydia, die aus der Küche herausschaute, als sie die Tür hörte, die Daniels Wohnung mit der Praxis verband.

»Es ist gerade ein wenig stressig bei mir«, sagte er.

»Kommen Sie, setzen Sie sich ein paar Minuten zu uns«, forderte sie ihn mit einem freundlichen Lächeln auf.

»Guten Morgen, Daniel«, begrüßte ihn Sophia, die mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf dem blauen Sofa saß, mit einem freundlichen Lächeln.

»Auch noch einen Kaffee?«, fragte Lydia ihn.

»Ja, bitte, der gerade eben hat mir nicht geschmeckt«, gab er zu. Er setzte sich auf einen der bequemen blauen Polsterstühle, nachdem Lydia ihm eine Tasse Kaffee gebracht hatte und neben Sophia auf dem Sofa Platz nahm.

»Frau Doktor Betmann ist wohl nicht sehr umgänglich«, mutmaßte Lydia.

»Nein, das ist sie nicht«, gab er offen zu. »Sie legt sich sogar mit Ophelia an«, sagte er und erzählte den beiden von Lindas Auseinandersetzung mit Ophelia am Abend zuvor.

»Ophelia weiß sich schon zu wehren«, versicherte ihm Sophia. Sie alle kannten die Schlagfertigkeit des Mädchens. Sie mussten sich keine Sorgen um Ophelia machen, wenn es um eine verbale Auseinandersetzung ging.

»Das ändert aber nichts daran, dass Linda ständig Grenzen überschreitet«, entgegnete Daniel.

»Das ist anstrengend, das glaube ich Ihnen gern. Ich habe übrigens mit dem Makler gesprochen. Er hat einige Wohnungen, die Frau Doktor Betmann gefallen könnten, aktuell im Angebot. Sie sind auch alle sofort bezugsfertig. Hier seine Visitenkarte, er erwartet ihren Anruf«, sagte Sophia und reichte Daniel die Karte des Maklers.

»Das wird schon«, sagte Lydia und klopfte Daniel auf die Schulter, als sie aufstand, um sich eines der Schokocroissants zu holen, die Sophia und sie sich an diesem Morgen gegönnt hatten. »Möchten Sie auch ein Croissant, Daniel? Ich weiß, sie sind nicht gerade gesund.«

»Ich nehme gern ein Croissant. Hin und wieder müssen wir auch sündigen«, sagte er lächelnd.

Eine Viertelstunde später ging es ihm schon weitaus besser als während des Frühstückes in seiner Wohnung, und er betrat gut gelaunt sein Sprechzimmer. Sophia und Lydia hatten es verstanden, ihn mit einer kleinen Geschichte, die sie ihm erzählten, aufzuheitern.

Sophia war am Abend zuvor mit Markus im Theater verabredet gewesen und hatte keine Ahnung gehabt, dass Lydia und ihr Freund Thomas auch da sein würden. Lydia hatte mit den beiden Männern ausgemacht, Sophia mit diesem gemeinsamen Abend zu überraschen, weil Sophia vor Kurzem mit Bedauern festgestellt hatte, dass sie in letzter Zeit viel zu wenig gemeinsam unternahmen.

Während Lydia und Sophia die Praxis öffneten und das Wartezimmer sich allmählich füllte, erledigte Daniel noch einige Anrufe, erkundigte sich nach Patienten, die er in eine Klinik überwiesen hatte. Als er schließlich mit der Sprechstunde begann, dachte er nicht mehr an Linda. Er war ganz für seine Patienten und ihre Beschwerden da.

Nachdem er seinen letzten Patienten an diesem Vormittag verabschiedet hatte, einen jungen Mann, der sich beim Aufbau eines Baugerüstes verletzt hatte, wollte er schon sein Sprechzimmer verlassen, als Lydia ihm über das Haustelefon mitteilte, dass noch jemand zu ihm wollte.

»Du?«, wunderte er sich, als er die Tür des Sprechzimmers öffnete und Ophelia vor ihm stand. Sie kam zweifellos gerade erst aus der Schule. Sie hatte noch ihren pinkfarbenen Rucksack auf, in dem sie ihre Bücher und Hefte transportierte.

»Hallo, Daniel«, sagte sie und betrat mit ernster Miene das Sprechzimmer.

»Was kann ich für dich tun?«, fragte er, als Ophelia ihren Rucksack abnahm und den weißen Pullover glättete, den sie zu ihrer Jeans trug.

»Setzen wir uns. Nein, du gehst dorthin«, sagte sie und deutete auf die beiden Stühle vor seinem Schreibtisch, während sie sich auf Daniels Sessel hinter dem Schreibtisch setzte. »Es geht um dich, nicht um mich«, erklärte sie ihm, als er sie überrascht anschaute.

»Okay, und was ist mit mir?«, fragte er und setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber.

»Gut, ohne Umschweife. Ich war heute Morgen bei dir im Garten, weil Ortrud in den Baum mit dem Vogelhäuschen steigen wollte. Ich konnte sie glücklicherweise davon abhalten.«

»Wann komme ich ins Spiel?«, fragte Daniel, als Ophelia innehielt und sich ihr Haar aus der Stirn strich.

»Ich wünschte, ich hätte auch dich von etwas abhalten können.«

»Und von was?«

»Ich habe Linda auf dem Balkon deines Schlafzimmers gesehen, in diesem roten Nachthemdchen. Sie hat mit mir gesprochen, und zwar super freundlich, so als hätte sie gerade etwas Großartiges erlebt und würde am liebsten die ganze Welt umarmen.«

»Es ist nicht so, wie es möglicherweise ausgesehen hat.«

»Du weißt schon, wie das klingt. Das sagen die Leute sogar noch dann, wenn sie gerade …

»Schon gut, mir ist klar, was du sagen willst. Hör zu, Ophelia, Linda hat sich heute Nacht einfach zu mir ins Bett gelegt. Ich habe es erst bemerkt, als ich heute Morgen aufwachte.«

»Sie hat sich einfach nur zu dir ins Bett gelegt?«

»So hat sie es früher auch immer gemacht, wenn ich mal in ihrer WG übernachtet habe.«

»Okay, auch wenn viel Fantasie dazu gehört, sich vorzustellen, dass du wirklich nicht bemerkst, wenn eine schöne Frau in dein Bett steigt, ich könnte mich dazu durchringen, dir diese Geschichte zu glauben.«

»Danke«, sagte Daniel und ahnte bereits, dass die Sache damit noch nicht ausgestanden war.

»Was, denkst du, würde Mama sagen, wenn sie jetzt statt meiner hier auf dem Stuhl sitzen würde?«, fragte Ophelia ihn auch gleich darauf. »Für sie wäre das eine äußerst merkwürdige Erklärung für Lindas Auftritt auf deinem Balkon.«

»Das ist mir bewusst«, gab er zu. »Weiß sie denn, was du gesehen hast?«

»Ja, sie weiß es, aber nicht von mir. Sie war am Briefkasten, als Linda auf dem Balkon stand. Ich hätte ihr nichts gesagt, ich hätte erst mit dir gesprochen, aber nun weiß sie es eben, und es ist deine Aufgabe, ihr das zu erklären.«

»Ich hatte bis jetzt keine Ahnung, dass sich Linda im Nachthemd auf meinem Balkon gezeigt hat.«

»Okay, aber das macht es auch nicht einfacher.«

»Nein, vermutlich nicht. Ist deine Mutter zu Hause?«

»Nein, sie macht heute Hausbesuche. Sie hat doch einige ältere Patienten, die nicht mehr so gern in die Praxis gehen. Du wirst dich bis heute Abend gedulden müssen.«

»Mir wird wohl nichts anderes übrigbleiben. Danke, Ophelia, dass du es mir gesagt hast.«

»Das habe ich gern gemacht. Pass einfach auf, dass diese durchgeknallte Frau Mama und dich nicht auseinanderbringt.«

»Das werde ich nicht zulassen«, versprach ihr Daniel.

»Ich verlasse mich darauf. Ich würde dich vermissen, wenn es zwischen dir und Mama aus wäre.«

»Wir werden diesen Besuch von Linda überstehen.«

»Dann gehe ich mal. Oma wartet mit dem Essen auf mich. Mach’s gut, Daniel, wir sehen uns«, verabschiedete sie sich, nahm ihren Rucksack in die Hand und verließ das Sprechzimmer.

Jetzt reicht es, dachte Daniel. Er würde ganz bestimmt nicht zulassen, dass Linda seine Beziehung zu Olivia zerstörte. Er ging nicht davon aus, dass sie wirklich an einer Beziehung mit ihm interessiert war. Vermutlich wollte sie nur beweisen, dass er nicht in der Lage war, ihr zu widerstehen, um Olivia das Gefühl zu geben, ihr unterlegen zu sein. Das würde ihr aber nicht gelingen.

*

In der Mittagspause sah Daniel immer mal wieder hinüber zum Grundstück der Mais, aber von Olivia war nichts zu sehen. Weil er dieses Missverständnis so schnell, wie möglich, aus der Welt schaffen wollte, rief er sie schließlich auf ihrem Handy an.

»Nein, ich will jetzt nicht mit dir sprechen, Daniel«, sagte sie, als sie das Gespräch annahm. »Nach dem, was ich heute Morgen gesehen habe, wüsste ich auch nicht, worüber wir noch sprechen sollten.«

»Es ist nicht so …«

»Sicher, so ist es nie«, antwortete sie und beendete das Gespräch.

Es ist nicht so, wie es aussieht, vollendete Daniel diese abgenutzte Ausrede in seinen Gedanken und schüttelte über sich selbst den Kopf. Diesen Spruch hätte er Olivia und sich ersparen sollen. Per Telefon funktioniert das nicht, dachte er. Er musste sie ansehen, wenn er ihr versicherte, dass er nichts getan hatte, was sie verletzen könnte.

Während der Nachmittagssprechstunde hatte er seine Gedanken nicht mehr so gut im Griff wie am Vormittag. Ihm war klar, dass Lindas Balkonauftritt für Olivia kaum Interpretationsmöglichkeiten bot.

Seine letzte Patientin an diesem Nachmittag war Susanna. Sie kam, um ihren Untersuchungsbericht mit ihm zu besprechen. Die zierliche junge Frau wirkte verängstigt, als sie sich auf einen der beiden Stühle vor seinen Schreibtisch setzte. »Haben Sie sich den Bericht des Radiologen schon angesehen?«, fragte sie leise.

»Ja, das habe ich, und ich habe ihn auch einer Herzchirurgin gezeigt«, sagte er. Er befürwortete zwar diese Operation nicht, die Linda in Erwägung gezogen hatte, aber er wollte Susanna diese Möglichkeit auch nicht vorenthalten.

»O Gott, dann steht es wohl sehr schlimm um mich, wenn Sie eine Spezialistin hinzugezogen haben. Wie sehr hat sich mein Zustand verschlechtert?«, fragte Susanna mit zitternder Stimme.

»Es gibt keine Verschlechterung. Meine Kollegin ist allerdings der Meinung, dass eine Operation Ihnen zu einem Leben ohne Einschränkungen verhelfen könnte.«

»Sie sagten doch, ich soll mich nicht operieren lassen.«

»Daran hat sich nichts geändert. Das heißt aber nicht, dass ich Sie nicht über Ihre Optionen informiere.«

»So ist es, Sie haben eine Option«, verkündete Linda, die in diesem Moment in sein Sprechzimmer platzte.

»Würdest du mich bitte erst einmal allein mit Frau Lohmeier sprechen lassen?«, entgegnete Daniel und sah Linda ungehalten an.

»Sicher, nur zu, aber ich bin die Spezialistin, ich kann Frau Lohmeier genau erklären, wie diese Operation ablaufen würde. Guten Tag, Frau Lohmeier, ich bin Doktor Betmann. Ich habe Ihren Fall heute mit einigen Kollegen besprochen. Wir könnten Sie gleich nächste Woche operieren.«

»Gleich nächste Woche?«, fragte Susanna überrascht.

»Falls Sie vorhaben, an der Wanderung durch die Anden, von der Doktor Norden mir erzählt hat, teilzunehmen, sollten Sie nicht zögern.«

»Ich könnte nach dieser Operation also alles machen, was ich bisher nicht machen konnte?«

»So ist es«, sagte Linda.

»Welche Komplikationen könnte es während der Operation geben?«

»Die üblichen. Infektionen, Thrombosen …«

»Sie könnten auch ins Koma fallen«, mischte sich Daniel ein.

»Das ist extrem selten«, versicherte Linda Susanna. Sie hatte sich auf die Kante der Untersuchungsliege gesetzt und behielt Susanna im Auge.

»Es könnte aber passieren, dass es mir nach dieser Operation schlechter geht als jetzt?«, fragte Susanna und sah zuerst Linda und danach Daniel an.

»Ich würde diese Operation selbst leiten. Sie dürfen mir vertrauen, ich bin eine wirklich gute Chirurgin. Geben Sie Doktor Norden bis Montag Bescheid, ob ich Sie in den OP-Plan eintragen soll.«

»Wie lange müsste ich denn im Krankenhaus bleiben, falls ich mich für die Operation entscheide?«

»Wenn alles glatt läuft, nicht länger als zehn Tage. Allerdings sind wir ziemlich ausgebucht. Sie sollten den Termin nächste Woche wahrnehmen. Nutzen Sie die Chance, die sich Ihnen bietet. Wir sehen uns, Daniel«, sagte Linda und huschte aus dem Sprechzimmer.

»Ihre Kollegin geht davon aus, dass diese Operation gelingt. Warum raten Sie mir trotzdem ab?«, wollte Susanna von Daniel wissen, nachdem Linda gegangen war.

»Weil in Ihrem Fall auch ein kleines Risiko noch zu hoch ist. Wäre ihr Leben ihn Gefahr, würde ich Ihnen zu dieser Operation raten, aber Ihr Leben ist nicht in Gefahr. Es geht Ihnen gut, Frau Lohmeier. Bevor Sie weiter über diese Operation nachdenken, sollten Sie erst einmal mit Ihrem Verlobten sprechen. Fragen Sie ihn, was er von dieser Idee hält.«

»Er wäre sicher maßlos enttäuscht, wenn wir diese Tour nicht gemeinsam erleben könnten.«

»Sprechen Sie mit ihm, Frau Lohmeier. Er sollte wissen, was Sie bereit sind zu tun, um ihm diesen Traum zu erfüllen.«

»Gut, ich werde mit ihm darüber sprechen. Ich hatte zwar vor, diese Sache für mich allein zu entscheiden, andererseits leben wir aber zusammen, und diese Operation wäre ein einschneidendes Erlebnis für uns beide.«

»Das wäre sie mit Sicherheit.«

»Danke, Doktor Norden. Ich melde mich bis spätestens Montag, wie ich mich entschieden habe«, sagte Susanna und verabschiedete sich von ihm.

Kaum war Susanna gegangen, kam Lydia zu ihm. »Es tut mir echt leid, aber ich konnte Frau Doktor Betmann nicht aufhalten. Sie kam in die Praxis, um Sie nach der Sprechstunde abzuholen, wie sie sagte. Sie hat wohl gehört, wie Sophia, die gerade aus dem Labor kam, mich fragte, ob Frau Lohmeier noch bei Ihnen sei. Sie hat sich dann sofort auf den Weg ins Sprechzimmer gemacht.«

»Sie ist der Meinung, Frau Lohmeier sollte sich operieren lassen. Das wollte sie ihr persönlich mitteilen.«

»Wieso sollte Frau Lohmeier sich operieren lassen? Doch nicht wegen dieser Reise in die Anden, von der sie Sophia und mir erzählt hat?«

»Diese Operation könnte ihr ein Leben ohne Einschränkungen eröffnen.«

»Eine Herzoperation ist aber mit großen Risiken verbunden.«

»Deshalb habe ich ihr auch davon abgeraten.«

»Hoffentlich lässt sie sich nicht von Frau Doktor Betmann überzeugen, dieses Risiko einzugehen.«

»Wir werden sehen, wem sie mehr vertraut. Letztendlich ist es Ihre Entscheidung. Ich kann sie nur beraten.«

»Sie sind Ihr Hausarzt, sie sollte Ihnen vertrauen.«

»Ich wünsche mir, dass es so ist.« Zehn Minuten später verließ Daniel die Praxis. Er hatte an diesem Abend noch einiges zu erledigen.

*

»Da bist du ja, ich sehe mir gerade deine Vorräte an«, sagte Linda, die vor dem geöffneten Kühlschrank stand, als Daniel in die Küche kam. Sie trug ein schmal geschnittenes violettes Kleid und rote High-Heels.

»Mach bitte den Kühlschrank zu und setz dich«, forderte Daniel sie auf und deutete auf die Stühle am Esstisch.

»Was ist los? Ich wollte uns doch nur etwas kochen.«

»Das ist jetzt nicht wichtig. Wir müssen reden. Was hast du dir dabei gedacht, in mein Sprechzimmer zu platzen, um meine Patientin zu einer Operation zu überreden?«

»Ich wollte nur helfen.« Linda machte ein reumütiges Gesicht und setzte sich auf den Stuhl gegenüber von Daniel.

»Wobei?«

»Deiner Patientin eine großartige Perspektive zu eröffnen.«

»Ich hatte ihr bereits von dir und deinem Vorschlag erzählt.«

»Wunderbar, dann fällt ihr die Entscheidung sicher leichter, sich für die OP zu entscheiden.«

»Ich habe ihr abgeraten, und dabei werde ich auch bleiben.«

»Ich hoffe, deine Patientin ist ein bisschen wagemutiger als du.«

»Linda, du solltest dir ein Hotelzimmer nehmen«, sprach Daniel nun ganz direkt aus, was ihm auf der Seele lag.

»Nein, bitte, verlang das nicht von mir«, entgegnete sie mit einem flehenden Blick.

»Du bringst Unruhe in mein Leben, und das ist noch milde ausgedrückt.«

»Was meinst du mit Unruhe? Etwa die harmlosen Diskussionen mit deiner Freundin und ihrer Tochter?«

»Harmlose Diskussionen? Du warst ständig darauf aus, die beiden zu provozieren. Und das heute Morgen war der Gipfel.«

»Von was genau sprichst du? Dass ich in deinem Bett war und du neben mir aufgewacht bist?«

»Darüber kann ich hinwegkommen. Es geht um deinen Auftritt danach, dem auf dem Balkon.«

»Ich habe doch nur ein paar freundliche Worte mit der Kleinen gewechselt.«

»Du wolltest, dass sie denkt, wir hätten die letzte Nacht zusammen verbracht.«

»Ich bin nicht dafür verantwortlich, was dieses Mädchen denkt. Und woher weißt du überhaupt davon? Hast du mich heimlich beobachtet und abgewartet, wie die Dinge sich entwickeln?«

»Ophelia war bei mir und hat es mir erzählt.«

»Die Kleine und ihre Mutter sind wie Kletten. Sie werden dich immer mehr vereinnahmen. Irgendwann wird es dir die Luft abschnüren.«

»Nein, ich denke nicht.«

»Das sagst du jetzt, aber bei mir und meinem Mann …«

»Deinem Mann?«, hakte Daniel sofort nach, als sie innehielt. »Bist du verheiratet?«

»Seit drei Jahren«, gab Linda zögernd zu.

»Wieso behauptest du dann, du lebst allein?« Daniel war fassungslos. Welche Lügen mochte sie ihm noch erzählt haben?

»Vielleicht lebe ich ja bald allein. Ich denke darüber nach, mich von Alain zu trennen.«

»Was ist passiert?«, fragte Daniel schon weniger ärgerlich. War ihr arrogantes Verhalten vielleicht nur der Versuch, das, was ihr zugestoßen war, zu überspielen?

»Wir hatten in letzter Zeit einigen Ärger. Alain und ich arbeiten zusammen. Er ist der Chefarzt der Chirurgie, und natürlich kann er mir Anweisungen erteilen, aber er kann mir nicht vorschreiben, wie ich mit den neuen Assistenzärzten, den Frischlingen von der Universität, umzugehen habe.«

»Was verlangt er denn vor dir?«

»Ich soll sie anleiten wie eine Lehrerin, nicht wie ein Feldwebel kommandieren. Das ist nicht witzig.«

»Nein, ist es nicht«, gestand ihr Daniel zu, obwohl er sich das Lachen kaum noch verkneifen konnte, weil er sich nur allzu gut vorstellen konnte, wie Linda die jungen Ärzte befehligte.

»Ein Krankenhaus ist kein Klassenzimmer. Diese Frischlinge müssen sich mir anpassen, wenn sie etwas lernen wollen. Alain ist der Meinung, ich müsste sie öfter an Operationen teilnehmen lassen.«

»Womit er recht hat. Nur so können sie etwas lernen.«

»Sie können meine Vorträge besuchen, und natürlich dürfen sie während einer OP auch zusehen. Ich werde aber nicht zulassen, dass diese unwissenden Kinder meine Patienten verstümmeln.«

»Du willst dich von deinem Mann trennen, weil er deine Lehrmethoden kritisiert?«

»Als wir uns kennenlernten, hat er mir das Gefühl gegeben, der Mittelpunkt seines Lebens zu sein. Er konnte zugeben, dass ich zu den besten in meinem Fachgebiet gehöre. Jetzt unterstellt er mir, ich würde mich davor fürchten, dass der eine oder andere Frischling mir eines Tages Konkurrenz machen könnte.«

»Hat er recht damit?«

»Keine Ahnung, mir ist noch kein Frischling mit meinem Talent begegnet.«

»Du erinnerst mich gerade an Schneewittchens Stiefmutter, die ständig den Spiegel befragt, ob sie noch die schönste Frau im Land ist.«

»Ich bin vielleicht nicht die schönste, aber ich bin die beste, und das werde ich irgendwann auch allen beweisen.«

»Liebst du Alain noch?«, fragte Daniel, nachdem Linda eine Weile nachdenklich geschwiegen hatte.

»Ja, schon. Zu Hause liest er mir auch immer noch fast jeden Wunsch von den Augen ab. Er kann unser privates Leben von unserem beruflichen trennen. Mir gelingt das nicht, und da ich meine Karriere nicht gefährden will, muss ich mich umorientieren.«

»Gut, mach das, aber ich habe nicht vor, mein Leben zu verändern. Ruf diesen Makler an, er kann dir eine Wohnung nach deinen Vorstellungen vermitteln. Wenn du dich schnell entscheidest, kannst du noch ein paar Tage hierbleiben, vorausgesetzt, du lässt Olivia und Ophelia in Ruhe«, sagte Daniel und gab ihr die Visitenkarte des Maklers, die er von Sophia bekommen hatte und die noch in seiner Hosentasche steckte.

»Es wäre wirklich schön, wenn ich noch bleiben könnte. Ich brauche diese Zeit mit dir, weißt du. Ich muss mich an meine unbeschwerte Jugend erinnern, um herauszufinden, wer ich wirklich bin.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich dir dabei helfen kann. Ich bin nicht mehr der Junge, der gerade sein Abitur gemacht hat und dein Benehmen nicht infrage stellt.«

»Wohin willst du?«, fragte Linda, als Daniel aufstand, nachdem er kurz aus dem Fenster geschaut hatte, und zur Terrassentür ging.

»Ich muss in Ordnung bringen, was du kaputt gemacht hast«, sagte er. Olivia war gerade nach Hause gekommen. Er wollte zur ihr, um ihr Vertrauen zurückzugewinnen.

*

Obwohl Daniel keine Schuld an Lindas Theaterstück auf dem Balkon traf, fühlte er sich äußerst unwohl, als er die Einfahrt der Mais erreichte. Olivia war schon auf dem Weg zur Haustür, als sie auf ihn aufmerksam wurde. Er fühlte sein Herz schneller schlagen, als er sie ansah. Sie trug das weinrote Kleid mit den schmalen langen Ärmeln, eine Farbe, die in einem wundervollen Kontrast zu ihrem hellroten Haar stand.

»Kann ich etwas für dich tun, Daniel?«, fragte sie ihn und stellte den Einkaufskorb, den sie in der Hand hielt, auf der Treppe ab.

»Ich bitte dich, mir zuzuhören«, antwortete er und hielt ihren Blick fest.

»Wie ich dir schon am Telefon sagte, habe ich heute etwas gehört und gesehen, was eigentlich keine Erklärung mehr erfordert.«

»Das ist richtig. Es gibt nichts zu erklären, weil nichts passiert ist, was ich dir erklären müsste.« Seine Unsicherheit, was er tun sollte, um Olivia davon zu überzeugen, dass sie Lindas Auftritt missverstanden hatte, war verflogen.

»Es gibt also nichts zu erklären?«

»Nein, es gibt nur eine Vorgeschichte.«

»Die wäre?«

»Linda hat sich letzte Nacht in mein Bett geschlichen. Als sie heute Morgen neben mir lag, habe ich das Bett sofort verlassen. Ich habe von dieser Balkonaufführung nichts mitbekommen.«

»Wer hat es dir erzählt?«

»Ich war nach der Schule bei ihm in der Praxis«, übernahm Ophelia die Antwort. Sie stand am geöffneten Küchenfenster und hoffte, dass ihre Mutter Daniel glaubte. »Daniel ist nicht für Lindas Kopfkino verantwortlich. Ich vertraue ihm, Mama, du solltest das auch tun«, sagte sie.

»Sollte ich?«

»Ja, unbedingt«, versicherte Daniel ihr und nahm sie in seine Arme. »Ich liebe dich, das weißt du, Olivia. Warum sollte ich dich auf diese Weise verletzen? Glaubst du wirklich, ich würde dir so etwas antun?«

»Nein, das würdest du nicht, das weiß ich. Obwohl ich es nicht wollte, habe ich genauso reagiert, wie Linda es sich erhofft hatte. Es tut mir leid.« Sie verstand plötzlich selbst nicht mehr, warum sie so überreagiert hatte. Andererseits, sie war verliebt, das bedeutete, dass der Verstand hin und wieder versagte.

»Es ist alles gut«, antwortete er leise, zog sie an sich und küsste sie.

»Wie lange wird sie noch bleiben?«, fragte Olivia, als sie sich wieder voneinander lösten.

»Ich habe sie gebeten, sich eine Wohnung zu suchen oder sich nach einem Hotelzimmer umzusehen. Aber ich denke, dass sie weder das eine noch das andere tun wird. Deshalb habe ich mich entschlossen, selbst etwas zu unternehmen.«

»Und was?«, wollte Olivia wissen.

»Darf ich reinkommen?«

»Aber ja, natürlich darfst du das!«, rief Ophelia. Sie stürmte zur Haustür und zog sie auf.

»Wir werden diesen Besuch überstehen«, sagte Olivia lächelnd und nahm Daniel an die Hand, während er ihren Einkaufskorb ins Haus trug.

*

»Du willst also wirklich ihren Mann anrufen? Das könnte Ärger geben«, stellte Olivia nachdenklich fest. Sie saß zwischen Ophelia und Daniel auf dem grünen Sofa in ihrem Esszimmer und hatte ihren Laptop auf dem Schoß, auf dem die Webseite der Pariser Klinik zu sehen war, für die Linda bis vor Kurzem gearbeitet hatte.

»Diesen Ärger riskiere ich«, sagte Daniel.

»Wie sieht es mit deinen Französischkenntnissen aus?«, fragte Olivia.

»Es geht so, aber ich werde sie nicht überstrapazieren müssen. Alain stammt aus dem Elsass, er spricht hervorragend Deutsch.« Daniel tippte die Telefonnummer der Klinik in sein Handy ein und stand auf. »Bonjour Madame, je m’appelle Daniel Norden«, hörten Olivia und Ophelia ihn noch sagen, bevor er auf die Terrasse hinausging.

»Ich hoffe, dass ihr Mann sie noch liebt, sonst wird sie uns wohl noch eine Weile erhalten bleiben«, sagte Olivia, während Daniel auf der Terrasse auf- und ablief. Er hatte ihr und Ophelia von Lindas Geständnis erzählt, was ihr bestätigte, dass Linda es nicht ertragen konnte, wenn sie nicht ständig im Mittelpunkt stand. Die Frage war jetzt nur, wie viel war ihr Mann bereit zu ertragen? Wollte er sie zurückhaben oder wollte auch er die Trennung?

»Weißt du was, wenn Daniel sie nicht loswird, dann kann er doch bei uns wohnen, bis sie herausgefunden hat, wohin sie gehört«, schlug Ophelia ihrer Mutter vor.

»Vielleicht kommen wir darauf zurück. Danke für diesen Vorschlag, mein Schatz«, sagte Olivia und nahm ihre Tochter liebevoll in den Arm. »Hast du ihn erreicht?«, fragte sie, als Daniel bald darauf wieder ins Haus kam.

»Ja, habe ich. Er war noch im Krankenhaus.«

»Was hat er gesagt?«

»Er hat, noch während wir telefonierten, einen Flug für morgen Mittag nach München gebucht. Linda hat ihm erzählt, sie würde zu einem Klassentreffen fahren.«

»Hast du ihm die Wahrheit gesagt?«

»Ich habe ihm erklärt, woher ich Linda kenne, dass sie plötzlich vor meiner Tür stand und ein paar Tage bei mir wohnen wollte. Ich habe ihn gebeten, sich mit seiner Frau auszusprechen, da sie offensichtlich glaubt, dass er sie nicht mehr liebt. Das hat ihn hörbar geschockt.«

»Du bist sicher, dass sie sich nur von ihm trennen will, weil sie sich beruflich nicht genügend anerkannt fühlt?«

»Sie will sich vermutlich gar nicht von ihm trennen. Es fällt ihr nur schwer zu begreifen, dass es auch für sie Grenzen gibt. Davon mal abgesehen, du hast Linda kennengelernt. Sie wird nicht mit ihm gehen, falls sie es nicht will. Oder glaubst du, sie lässt sich von einem Mann unterdrücken?«

»Nein, sicher nicht«, stimmte Olivia ihm zu. »Sie neigt wohl eher dazu, einem Mann ihren Willen aufzuzwingen. Wozu auch gehört, nachts in sein Bett zu steigen«, sagte sie, als Daniel sich wieder neben sie auf das Sofa setzte.

»Gut, dass du das ansprichst. Könnte ich heute Nacht bei euch bleiben?«

»Sehr gern«, sagte Olivia lächelnd und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

»Wie wäre es heute mit Pizza?«, fragte Ophelia. »Oma ist nicht da, Mama ist gerade erst nach Hause gekommen, und ich habe auch nichts vorbereitet«, erklärte sie schmunzelnd.

»Gute Idee«, stimmten Olivia und Daniel ihr zu.

Fünf Minuten nachdem der Pizzabote die Pizza geliefert hatte, klingelte es an der Haustür.

»Erwarten wir jemanden?«, fragte Ophelia, als ihre Mutter aufstand, um zur Tür zu gehen.

»Nein, eigentlich nicht«, antwortete Olivia. »Sie?«, hörten Daniel und Ophelia sie gleich darauf überrascht sagen. Danach war es still, so als wäre sie vor die Tür gegangen und hätte sie hinter sich zugezogen.

»Mama, was wird das?«, fragte Ophelia ungläubig, als ihre Mutter ein paar Minuten später mit Linda ins Esszimmer kam.

»Sie bekommt Panikanfälle, wenn sie abends allein ist. Sie möchte gern hier bei uns bleiben«, erklärte Olivia ihrer Tochter.

»Panikanfälle, du?«, wunderte sich Daniel.

»Ich sagte dir doch schon gestern, dass ich nachts nur ungern allein bin. Ehrlich gesagt, war ich noch nie nachts allein, und wie du inzwischen weißt, wohne ich auch nicht allein in meiner Wohnung. Die Wahrheit ist, ich verstecke meine Ängste hinter meiner Arroganz. Zumindest wurde mir es so von einem Psychologen erklärt, den ich aber nur einmal aufgesucht habe.«

»Vermutlich, weil deine Arroganz dich davon abhielt, Hilfe anzunehmen«, sagte Daniel.

»Könnte sein«, gab Linda zu.

»Bitte, setzen Sie sich, Frau Doktor Betmann«, sagte Olivia. Sie holte noch einen vierten Teller, goss Linda ein Glas Wein ein und gab ihr zwei Ecken von ihrer Pizza ab.

»Danke, dass ich bleiben darf, und vergessen wir das mit dem Doktortitel, Olivia. Sagen Sie einfach Linda, das gilt auch für dich«, wandte sie sich Ophelia zu.

»Na gut, dann eben Linda«, murmelte Ophelia, und genau wie Daniel teilte auch sie ihre Pizza mit ihr.

Nach dem Essen zog sich Ophelia auf ihr Zimmer zurück. Olivia und Daniel kümmerten sich um Linda, die auf einmal ganz offen über ihre Probleme im Umgang mit ihren Mitmenschen sprach. Unter Tränen gestand sie ihnen, dass sie mit ihrem Verhalten vermutlich ihre Ehe ruiniert hätte und Alain nur noch aus Pflichtbewusstsein bei ihr bliebe.

»Ich kann mir nicht vorstellen, ohne ihn leben zu müssen. Ich liebe ihn, aber ich kann es einfach nicht ertragen, abgewertet zu werden.«

»Er wertet dich nicht ab, wenn er dich auf dein Verhalten aufmerksam macht«, erklärte ihr Daniel.

»Ich empfinde es aber so. Aber wie auch immer, er wird ohnehin inzwischen genug von mir haben«, seufzte sie und kämpfte mit den Tränen.

Daniel schüttelte den Kopf, als Olivia ihn ansah. Er ahnte, dass sie erwartete, er würde Linda von seinem Telefongespräch mit Alain erzählen. Aber das hatte er nicht vor. Er wollte es Alain überlassen, wie das zwischen ihm und seiner Frau weiterging.

Gegen Mitternacht richtete Olivia Linda das Sofa im Esszimmer für die Nacht her und zog sich mit Daniel in ihr Schlafzimmer zurück. »Sie braucht dringend Hilfe. Sie spielt die starke Frau und überfordert damit das ängstliche kleine Mädchen, das sie manchmal noch ist«, erklärte Olivia Daniel, als sie mit ihm allein war.

»Darum muss sich Alain kümmern. Es liegt nicht mehr in meiner Verantwortung«, sagte er und zog Olivia zärtlich an sich.

*

Am nächsten Morgen frühstückten Daniel und Linda noch mit Olivia und Ophelia, bevor sie zu Daniel gingen, um sich für den Tag umzuziehen. Bevor Linda im Gästebad und er in seinem Badezimmer im ersten Stock verschwand, wollte Daniel von Linda wissen, wann sie heute aus der Klinik zurückkommen würde.

»So gegen zwei. Warum? Wollen wir etwas zusammen unternehmen?«, fragte sie.

»Vielleicht«, sagte er, aber eigentlich wollte er nur sichergehen, dass sie auch da war, wenn Alain eintraf.

»Hat Frau Doktor Betmann schon mit dem Makler gesprochen?«, wollte Sophia wissen, die hinter dem Tresen in der Empfangsdiele stand, als er zwanzig Minuten später in die Praxis kam.

»Nein, noch nicht, und ich denke, dass sich das mit der Wohnung auch bereits erledigt hat. Ihr Nachname ist übrigens auch nicht mehr Betmann, sondern Bernard.«

»Ist sie mit einem Franzosen verheiratet?«

»Seit drei Jahren«, sagte Daniel und ging in sein Sprechzimmer. Sollte Linda ihm und Olivia am Abend zuvor kein Theater vorgespielt haben, würde ihr Treffen mit Alain hoffentlich den Ausgang nehmen, den er sich wünschte. Sie würde diesen Besuch bei ihm beenden.

Da die Praxis freitags nur bis zwei Uhr geöffnet hatte, war das Wartezimmer schon bald bis auf den letzten Platz besetzt, und er hatte keine Zeit mehr, über Linda nachzudenken. Erst als gegen Ende der Sprechstunde Susanna in Begleitung ihres Freundes Gerald, eines sympathischen jungen Mannes im Businessanzug, in sein Sprechzimmer kam, wurde er wieder an das Chaos erinnert, das Linda beinahe in seinem Leben angerichtet hatte.

»Ich habe Ihren Rat befolgt, Doktor Norden, und mit Gerald über mein Problem gesprochen«, sagte Susanna.

»Sie hat mir von dieser Operation erzählt und dass Sie ihr abgeraten haben. Dafür möchte ich mich bei Ihnen bedanken. Susanna bedeutet mir alles, da kann kein Gebirge der Welt mithalten. Ich will auf keinen Fall, dass sie sich einem unnötigen Risiko aussetzt«, versicherte Gerald dem jungen Arzt. »Außerdem ist mir das Meer ebenso lieb wie die Berge. Wir werden unseren Urlaub deshalb am Mittelmeer verbringen«, sagte er und nahm Susanna liebevoll in den Arm.

»Eine gute Entscheidung«, entgegnete Daniel. Er war froh, dass er sich nun um Susanna keine Sorgen mehr machen musste.

»Gerald meinte, sollte ich jemals auf die Idee kommen, meinen Hausarzt zu wechseln, solange wir hier wohnen, dann bekomme ich Ärger mit ihm«, erzählte Susanna Daniel lächelnd.

»Richtig, das habe ich gesagt, weil Sie zu den Ärzten gehören, die sich wirklich um ihre Patienten kümmern. Noch einmal vielen Dank. Wir haben gesagt, was wir sagen wollten, und jetzt gehen wir wieder«, erklärte Gerald.

Wenigstens hat Linda in diesem Fall keinen Schaden anrichten können, dachte Daniel, nachdem Susanna und Gerald sich verabschiedet hatten. Die Operation, die sie vorgeschlagen hatte, konnte für andere, die unter schwerwiegenden Einschränkungen litten, sicher ein Segen sein, für Susanna aber war sie nicht notwendig.

Gegen halb drei hatten die letzten Patienten die Praxis verlassen. Daniel wünschte Lydia und Sophia ein schönes Wochenende und die beiden ihm, dass sein Besuch möglichst schnell abreiste.

*

Linda saß in einem weißen knielangen Kleid im Wohnzimmer auf dem Sofa, als Daniel in seine Wohnung kam. »Ich habe der Klinik abgesagt. Ich will gar nicht dort anfangen«, eröffnete sie ihm.

»Das heißt, du willst wieder zurück nach Paris?«, fragte er sie, während er im Türrahmen zum Esszimmer stehen blieb.

»Daraus wird leider nichts werden. Ich habe versucht, Alain anzurufen, aber er meldet sich nicht. Offensichtlich will er nicht einmal mehr mit mir sprechen«, erzählte sie ihm, und dabei liefen ihr die Tränen über das Gesicht.

»Vielleicht operiert er gerade.« Die Mittagsmaschine aus Paris war vor einer Stunde gelandet, davon hatte er sich noch in der Praxis mit einem Blick auf die Internetseite des Flughafens überzeugt. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Alain eintraf.

»Ich habe alles kaputt gemacht«, seufzte Linda.

»Vielleicht auch nicht. Würdest du bitte aufmachen?«, bat er sie, als es in diesem Moment an der Haustür läutete. Ihm war das Taxi nicht entgangen, das gerade vor dem Haus angehalten hatte.

»So verheult, wie ich aussehe?«

»Bitte, Linda, tu mir den Gefallen.«

»Es gibt wohl Leute, denen du aus dem Weg gehen willst«, stellte sie schmunzelnd fest und ging barfüßig, wie sie war, zur Tür. »Alain!«, hörte er sie gleich darauf rufen.

Gebe ich ihnen ein paar Minuten, dachte Daniel und ging in den Garten hinaus.

»Besuch aus Paris, nehme ich an«, sagte Olivia, die aus dem Fenster ihres Schlafzimmers schaute und Linda mit einem attraktiven Mann um die vierzig, in Designerjeans und elegantem ­Jackett, vor der Haustür stehen sah.

»Hast du Zeit für einen Kaffee bei mir?«, fragte Daniel. Er wollte Alain wenigstens auf einen Kaffee einladen, aber er wollte nicht mit ihm und Linda allein sein. Er hatte keine Lust darauf, sich mit ihren Beziehungsproblemen auseinanderzusetzen.

»Ich bringe Kuchen mit«, sagte Olivia und verschwand vom Fenster.

Alain machte es Daniel ganz leicht. Nachdem Linda ihm Olivia und Daniel vorgestellt hatte, bedankte er sich noch einmal bei dem jungen Arzt dafür, dass er ihn angerufen hatte. Danach wechselte er das Thema und überraschte Linda damit, dass er sich ein paar Tage freigenommen hatte.

»Ich habe ein Zimmer in einem Wellnesshotel in Garmisch für uns gebucht. Wir können gleich aufbrechen«, sagte er.

»Heißt das …«

»Was auch immer du mich fragen willst, wir haben eine Woche Zeit, über alles zu sprechen, was dir auf der Seele liegt«, versicherte ihr Alain und betrachtete sie mit einem zärtlichen Blick.

»Ja, du hast recht, verschieben wir diese Gespräche«, stimmte sie ihm zu.

Linda und Alain blieben noch eine halbe Stunde, aßen ein Stück von Olivias Marmorkuchen, danach verabschiedeten sie sich. Bevor sie gingen, raunte Alain Olivia noch zu, dass er sich der Probleme, die Linda hatte, bewusst sei und sich um Hilfe kümmern würde.

»Eine Gesprächstherapie wäre ein guter Anfang«, sagte sie so leise, dass nur er es verstehen konnte.

»Diesen Wirbelsturm haben wir überstanden«, stellte Olivia lächelnd fest, während sie dem Auto mit Alain am Steuer nachsahen.

»Ich wünsche mir, dass wir jeden Sturm überstehen, der über uns hinwegfegt«, sagte Daniel, zog sie ins Haus und nahm sie in seine Arme.

Die neue Praxis Dr. Norden 2 – Arztserie

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