Читать книгу Die neue Praxis Dr. Norden 2 – Arztserie - Carmen von Lindenau - Страница 9
Оглавление»Das ist eine mutige Entscheidung«, stellte Daniel mit unverhohlener Bewunderung fest, nachdem er erfahren hatte, was Johann Baumstetter, sein letzter Patient an diesem Vormittag, plante.
»Es ist die einzig richtige Entscheidung. Solange ich mich noch gut fühle, will ich das Leben spüren. Ich werde mich nicht in meiner Wohnung verkriechen und auf das Ende warten. Ich werde mir noch ein paar Träume erfüllen«, erklärte der attraktive Mann mit dem silbergrauen Haar und den stahlblauen Augen, der zum ersten Mal bei ihm war.
Johann war ganz offensichtlich bereit, sein Schicksal anzunehmen. Er hatte sich damit abgefunden, dass der Hirntumor, der vor einigen Wochen bei ihm diagnostiziert wurde, inoperabel war und er nur noch ein paar Monate zu leben hatte.
»Es ist nicht das erste Mal, dass ich daran denke, meine Zelte hier abzubrechen, um näher bei meiner Familie zu sein. Meine Tochter lebt schon seit über zehn Jahren in Sydney. Sie hat zwei kleine Mädchen, vier und sechs Jahre alt. Ich werde sie nicht aufwachsen sehen, das bedauere ich sehr, deshalb möchte ich noch so viel Zeit wie möglich mit ihnen verbringen.«
»Sie werden ärztliche Hilfe benötigen, wenn die Krankheit fortschreitet«, sagte Daniel.
»Das ist mir bewusst. Ich habe eine Klinik gefunden, die mich aufnehmen wird, sobald es so weit ist. Glücklicherweise habe ich finanzielle Rücklagen, die mir dieses Arrangement erlauben. Ich habe nicht vor, meiner Familie zur Last zu fallen.«
»Sie dürfen aber ruhig ein wenig Hilfe annehmen«, sagte Daniel, als Johann nachdenklich auf die Zeiger der alten Standuhr aus rotem Ahornholz schaute, die dem ansonsten ganz in Weiß eingerichteten Sprechzimmer eine gemütliche Atmosphäre verlieh.
»Meine Familie weiß noch nichts von meiner Krankheit, Doktor Norden«, gab Johann zu, als er sich Daniel wieder zuwandte. »Ich will unsere letzten gemeinsamen Monate nicht mit diesem Wissen belasten. Es soll eine unbeschwerte Zeit für uns werden.«
»Wie haben Sie Ihren Entschluss, in Zukunft in Australien zu leben, gegenüber Ihrer Tochter begründet?«
»In meinem Beruf als Meeresbiologe bin ich viel gereist und war auch oft bei meiner Familie. Ich habe bis letztes Jahr für ein Labor in Kiel gearbeitet. Jetzt bin ich im Ruhestand und kann leben, wo immer es mich hinzieht. Zuerst war es München, die Stadt meiner Geburt. Inzwischen ist es mir aber am wichtigsten, bei meiner Familie zu sein.«
»Ihnen ist bewusst, dass sich nicht wirklich abschätzen lässt, wie lange sie noch symptomfrei sein werden. Es könnte auch plötzlich ganz schnell gehen«, erinnerte Daniel ihn daran, was er ihm bereits gesagt hatte, nachdem er den Befund aus Kiel gelesen und sich die dazugehörigen Bilder angesehen hatte.
»Ich hoffe einfach, dass es noch eine Weile so bleibt, wie es gerade ist. Hätte ich nicht vor zwei Monaten diesen Fahrradunfall gehabt, wüsste ich doch noch gar nichts von diesem Tumor.«
»Nein, vermutlich nicht«, gab Daniel ihm recht. Johann hatte ihm von dem Unfall erzählt, der ihn ins Krankenhaus gebracht hatte. Er war auf einem Fahrradweg in der Innenstadt unterwegs gewesen, als ein Auto rückwärts einparkte, ihn streifte und er vom Fahrrad fiel. Wegen des Verdachtes auf eine Gehirnerschütterung wurde ein CT seines Kopfes angeordnet und der Tumor entdeckt.
»Als meine Frau vor zwölf Jahren starb, habe ich mich in die Arbeit gestürzt. Meine Tochter war damals gerade mit der Schule fertig und hatte bereits ihr eigenes Leben. Wir waren beide nur noch unterwegs. Die vielen Monate, die meine Frau unter ihrer Krankheit litt, hatte uns allen nicht viel Freiraum gelassen. Ich werde es nicht zulassen, dass meine Tochter so etwas noch einmal mitmachen muss.«
»Das verstehe ich. Wir wollen nicht, dass die Menschen, die wir lieben, leiden müssen, trotzdem haben sie die Wahrheit verdient.«
»Ich werde es meiner Tochter sagen, irgendwann, aber nicht gleich. Werden Sie mir helfen, dass ich diese Reise in einer halbwegs guten Verfassung antrete?«
»Im Moment sind Sie noch in einer guten Verfassung, Herr Baumstetter. Wir werden Sie mit den notwendigen Impfungen versorgen und einen Check-up machen. Mehr ist im Moment nicht notwendig.«
»Dann machen wir das so.«
»Gut, dann lassen Sie sich einen Termin für den Check-up geben. Wegen der Impfungen können Sie jederzeit auch ohne Termin vorbeikommen.«
»Ich danke Ihnen, Doktor Norden. Bis zum nächsten Mal«, verabschiedete sich Johann, als Daniel ihn zur Tür begleitete.
»Passen Sie auf sich auf, Herr Baumstetter«, sagte Daniel und sah Johann noch kurz nach, während er durch den Gang lief, der das Sprechzimmer mit der Empfangsdiele der Praxis verband.
Hätte er den Befund nicht gelesen, den Johann aus Kiel mitgebracht hatte, wäre er niemals auf die Idee gekommen, dass dieser Mann ernsthaft krank sein könnte. Seine aufrechte Haltung, seine fließenden Bewegungen hätten ihn glauben lassen, einen gesunden sportlichen Mann vor sich zu haben.
Als er ein paar Minuten später das Sprechzimmer verließ, standen Lydia und Sophia noch hinter dem weißen Tresen mit der blauen LED-Beleuchtung, die den Dielenboden erhellte. Die beiden jungen Frauen trugen türkisfarbene T-Shirts und weiße Jeans, ihre Praxiskleidung, und waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie ihn erst gar nicht bemerkten.
»Du hast recht, ein wirklich interessanter Mann«, hörte er Lydia sagen, die Sophias Blick zur Praxistür folgte.
»Wenn er dreißig Jahre jünger wäre, dann …«
»Dann wäre gar nichts, weil du deinen Markus liebst und dich niemals auf einen anderen einlassen würdest«, unterbrach Lydia ihre Kollegin, die ganz verträumt aussah und mit den Spitzen ihres hellblonden Haares spielte, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte.
»Richtig, ich liebe Markus«, stimmte Sophia ihr lächelnd zu.
»Hallo, Daniel, nicht wundern«, sagte Lydia, die ihn bemerkt hatte. »Wir sprachen gerade über Herrn Baumstetter«, klärte sie ihn auf und strich eine Strähne ihres halblangen dunkelblonden Haares aus dem Gesicht.
»Das dachte ich mir schon«, entgegnete Daniel schmunzelnd.
»Na gut, dann vergessen wir das auch mal wieder und gehen in die Mittagspause«, sagte Lydia.
»Ja, bitte, mein Magen knurrt schon.«
»Verzeihung, Baroness von Arnsberg, sollten Sie sich nicht ein bisschen gewählter ausdrücken?«, zog Lydia ihre Freundin und Kollegin mit ihrem Adelstitel auf.
»Wir sind ein altes Adelsgeschlecht und ein wenig grobschlächtig«, entgegnete Sophia lachend.
»Ich gehe dann mal, bis später, die Damen«, verabschiedete sich Daniel von den beiden und verließ die Praxis durch den Gang, der hinüber zum Wohnteil des Hauses führte. Dass Sophia und Lydia sich auch privat gut verstanden, sorgte für ein angenehmes Arbeitsklima. Das wiederum trug dazu bei, dass die Patienten sich in seiner Praxis wohlfühlten.
*
Johann war bewusst, dass der junge Arzt recht hatte, wenn er ihm riet, seine Familie über seinen Gesundheitszustand aufzuklären. Aber dann wäre es mit der Unbeschwertheit seiner letzten Wochen vorbei, alle würden in ihm nur noch den schwerkranken Mann sehen, dem sie nichts mehr zutrauten.
»Nein, das will ich nicht«, murmelte er, als er sich seinem Auto näherte, das unter einem der Ahornbäume am Ende der Straße parkte.
Er hatte den weißen Mercedes aus den 70er Jahren erst kurz vor seiner Diagnose gekauft, weil er ein Faible für Oldtimer aus dieser Zeit hatte. Nun würde er sich wieder von ihm trennen, so wie von fast allem, was er besaß. Mehr als zwei Koffer wollte er nicht mit auf seine letzte Reise nehmen. Als er seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche zog, fiel er auf den Boden, und er musste sich bücken. Während er sich wieder erhob, achtete er nicht auf die Frau in dem hellgrünen Mantel, die mit einem Einkaufskorb in der Hand um die Ecke bog.
»Vorsicht!«, rief sie, als Johann sich in dem Moment aufrichtete, als sie nur noch einen Schritt von ihm entfernt war.
Aber es war schon zu spät. Johann prallte mit ihr zusammen. Sie verlor das Gleichgewicht und drohte zu stürzen. Johann reagierte sofort und fing sie in seinen Armen auf. Nur der Korb, der ihr aus der Hand glitt, fiel zu Boden.
»Verzeihen Sie, ich habe nicht aufgepasst«, entschuldigte sich Johann und betrachtete die Frau, die er noch immer in seinen Armen hielt. Sie war umwerfend attraktiv, hatte wunderschöne helle blaue Augen und hellrotes Haar. Der verdutzte Gesichtsausdruck, mit dem sie ihn anschaute, weckte in ihm den Beschützerinstinkt, der ihn dazu brachte, sie weiterhin festzuhalten. Erst als sie ihn bat, sie wieder loszulassen, reagierte er und half ihr, sich aufzurichten.
»Danke, dass Sie mich vor einem Sturz bewahrt haben«, sagte sie und ging in die Hocke, um ihren Einkauf, der aus dem Korb gefallen war, wieder aufzuheben.
»Warten Sie, ich helfe Ihnen«, sagte er und ging ebenfalls in die Hocke.
»Falls etwas kaputt gegangen ist, ersetze ich Ihnen selbstverständlich den Schaden«, versicherte er ihr, als er ihr die Packungen mit dem Mehl und dem Zucker reichte, die er aufgehoben hatte.
»Nein, es ist alles gut, es gibt keinen Schaden«, stellte sie mit einem kurzen Blick in die Schachtel mit den Eiern fest, die noch im Korb stand und den Sturz schadlos überstanden hatte.
»Marmorkuchen mit Schokoladenglasur, richtig?«, fragte Johann lächelnd, nachdem er ihr auch noch den Vanillezucker, die Packung mit dem Kakaopulver und die Schokolade gereicht hatte.
»Stimmt, backen Sie auch?«
»Ich habe es schon versucht, allerdings mit mäßigem Erfolg«, gab Johann zu, als er ihr schließlich noch einen weißen Umschlag reichte, aus dem die Eintrittskarte für ein Blueskonzert hervorschaute, das am nächsten Tag in einem Club in der Innenstadt stattfand.
»Es gibt inzwischen unzählige Videos im Internet, die Ihnen das Backen Schritt für Schritt erklären. Ich bin absolut sicher, Sie werden Fortschritte machen, wenn Sie es wirklich wollen«, entgegnete sie lächelnd. »Oder gehören Sie zu den Menschen, die schnell wieder aufgeben?«, fragte sie ihn, als er sich wieder erhob und ihr die Hand reichte, um auch ihr aufzuhelfen.
»Nein, eigentlich nicht«, antwortete er, hielt ihre Hand umfasst und sah ihr direkt in die Augen.
»Gut, dann viel Erfolg«, sagte sie, ohne ihren Blick abzuwenden.
Wäre ich nicht dem Tod geweiht, würde ich sie jetzt nach einem Date fragen, dachte er. Es war schon lange her, dass er sich von einer Frau auf diese Weise angezogen fühlte. Andererseits war es wohl ziemlich gewagt anzunehmen, dass sie ungebunden war. Nein, diese Frau lebte nicht allein, und der Mann, der sich auf den Marmorkuchen freuen durfte, musste ein sehr glücklicher Mann sein. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag«, sagte er und ließ ihre Hand los.
»Den wünsche ich Ihnen auch«, entgegnete sie, nahm ihren Korb in die Hand und ging mit einem Lächeln davon.
Bevor er in seinen Wagen stieg, schaute er noch einmal auf und sah, wie sie auf das Grundstück neben dem des jungen Arztes einbog. Das passt zu ihr, dachte er und warf einen kurzen Blick auf das Haus mit den türkisfarbenen Fensterläden, das von einem wildromantischen Garten mit Obstbäumen und Rosenbüschen umgeben war. Vielleicht würde er ihr ja wieder begegnen, wenn er das nächste Mal die Praxis Norden aufsuchte. Gleich darauf fragte er sich aber, zu was das gut sein sollte. Erstens würde er bald sterben, und zweitens lebte sie so gut wie sicher in einer festen Beziehung. Ich muss diese Begegnung schnell wieder vergessen, dachte er und setzte sich hinter das Steuer seines Wagens.
*
»Was war das denn?«, flüsterte Ottilie, die dem Oldtimer nachschaute, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Sie hatte auf einmal das Gefühl, auf Wolken zu schweben. Es war lange her, dass ein Mann sie derart aus der Fassung gebracht hatte. Sie sah noch immer sein Gesicht vor sich, hörte den Klang seiner Stimme und spürte den sanften Druck seiner Hand. Reiß dich zusammen, Ottilie, dachte sie. Es war sinnlos, noch länger an diesen Mann zu denken. Sie würde ihn sicher niemals wiedersehen.
»Hallo, Oma!«, rief das Mädchen, das mit wehenden roten Haaren auf einem Fahrrad in die Einfahrt einbog.
»Hallo, Ophelia, wie war die Schule?«, fragte sie ihre Enkelin, die einen pinkfarbenen Rucksack aufgeschnallt hatte, vor der Garage bremste und von ihrem Fahrrad stieg.
»Ganz okay, nichts Besonderes«, antwortete das Mädchen. »Aber du hast etwas Besonderes erlebt, stimmt’s?«, fragte Ophelia und betrachtete ihre Großmutter schmunzelnd.
»Wie kommst du denn darauf?«, wunderte sich Ottilie, war sie doch davon ausgegangen, dass sie sich die Überraschung über das gerade Erlebte nicht anmerken ließ.
»Du siehst glücklich verträumt aus«, ließ Ophelia sie wissen.
»Glücklich verträumt? Nun, ich denke, das liegt daran, dass ich bereits von dem köstlichen Geschmack des Kuchens träume, den ich uns gleich backen werde«, sagte sie und hoffte, dass Ophelia sich mit dieser Erklärung zufriedengab.
»Wenn das so ist, dann bekomme ich auch gleich einen glücklich verträumten Blick«, entgegnete Ophelia lächelnd. »Aber ehrlich gesagt denke ich nicht, dass das die ganze Wahrheit ist«, fügte sie noch hinzu, als Ottilie schon glaubte, sie hätte sie überzeugt.
»Ich habe eben meine kleinen Geheimnisse«, sagte sie, um Ophelia von weiteren Fragen abzuhalten. Diese Begegnung mit dem schönen Fremden und die Gefühle, die er in ihr ausgelöst hatte, gehörten in die Schatzkiste der kleinen Geheimnisse. Über sie zu sprechen, das ließe sie wie eine Seifenblase zerplatzen, weil sie nur für den Moment gemacht waren und einer längeren Betrachtung nicht standhielten.
»Wir haben alle unsere kleinen Geheimnisse, Oma«, entgegnete Ophelia lächelnd und küsste ihre Großmutter liebevoll auf die Wange, bevor sie Ottilie den Schlüssel aus der Hand nahm und die Haustür aufschloss. Sie muss etwas wirklich Schönes erlebt haben, dachte Ophelia, als sie ihre Großmutter noch einmal anschaute. Aber wenn sie nicht darüber sprechen wollte, würde sie sie auch nicht weiter ausfragen.
*
Daniel hatte im Laufe des Tages immer mal wieder an Johann Baumstetter denken müssen. Er fand es nach wie vor erstaunlich, wie fit sein Patient trotz seines Zustandes noch war. Möglicherweise lag es daran, wie er mit seiner Krankheit umging, dass er Schwäche einfach noch nicht zuließ, weil er dem Leben noch etwas abtrotzen wollte. Manchmal half ein starker Wille dabei, ein wenig Zeit zu gewinnen. Hin und wieder geschah auch ein Wunder, und jemand, der als unheilbar krank galt, war plötzlich wieder gesund, ohne dass sich dafür eine Erklärung fand. Aber diese Fälle waren extrem selten. Johann befand sich bereits in einem weit fortgeschrittenen Stadium seiner Krankheit. Eine Heilung war so gut wie ausgeschlossen. Er konnte nicht mehr viel für ihn tun, und das fühlte sich nicht gut an.
Nach der Sprechstunde schob er die Gedanken an Johann aber erst einmal beiseite. Er war mit Olivia zum Tennis verabredet, das würde ihm helfen, für eine Weile abzuschalten. Eine Auszeit, die er dringend brauchte, um den Kopf frei zu bekommen. Nur so konnte er jeden Tag aufs Neue mit seiner ganzen Kraft für seine Patienten da sein. Manchmal aber beschäftigte ihn die Krankheit eines Patienten so sehr, dass ihn die Gedanken daran nicht losließen.
Wenn er einen fachlichen Rat brauchte, sprach er mit seinen Eltern darüber, wenn es um die psychische Belastung ging, vertraute er sich Olivia an, so wie sie sich ihm anvertraute, wenn sie mit einem ihrer Patienten Probleme hatte.
Olivia kam gleich aus dem Haus, als er wenig später mit seinem Auto vor ihrem Grundstück anhielt. Die limonenfarbene Jacke, die sie zu ihrer weißen Jeans trug, stand in einem aufregenden Kontrast zu ihrem hellen roten Haar. Jedes Mal, wenn er sie aus der Ferne betrachtete, fühlte es sich für einen Moment so an, als würde er sie zum ersten Mal ansehen. Es war ein wundervoller Moment, weil er stets zur Folge hatte, dass er sich erneut in sie verliebte.
»Wie war dein Tag?«, fragte sie ihn, nachdem sie zu ihm in den Wagen gestiegen war, ihre Sporttasche auf den Rücksitz stellte und ihn mit einem Kuss auf die Wange begrüßte.
»Meine Patienten haben ihn gut überstanden«, antwortete er lächelnd.
»Meine auch«, sagte sie und schnallte sich auf dem Beifahrersitz an. Olivia war sofort klar, dass Daniel etwas beschäftigte, worüber er aber gerade nicht sprechen wollte. Sie kannte ihn inzwischen gut genug, um auch die kleinste Veränderung in seinem Blick und seiner Stimme wahrzunehmen. Aber sie wusste auch, dass sie ihm Zeit lassen musste, bis er ihr selbst anvertraute, was ihn beschäftigte.
Manche Dinge musste jeder erst einmal für sich allein ordnen, bevor er mit einem anderen darüber sprechen konnte. Und jetzt würde sie ihm ohnehin keine Fragen stellen. Auch sie nutzte den Sport, um loszulassen, um für eine Weile an nichts anderes zu denken als daran, den Sieg auf dem Spielfeld davonzutragen. Da sie beide ungefähr gleich gute Spieler waren, war es jedes Mal ein ergebnisoffenes Spiel, bei dem jeder von ihnen alles geben musste, um den anderen zu besiegen.
Die Tennishalle mit dem futuristischen weißblauen Dach, das an einen riesigen Ballon erinnerte, war von dem Licht der an den Wänden befestigten Neonröhren hell beleuchtet. Von den rostfarbenen Spielfeldern waren nur noch zwei frei. Es waren die beiden Felder, die immer zuletzt belegt wurden. Sie lagen in der Mitte der Halle, und die meisten Clubmitglieder legten keinen Wert darauf, während des Spiels von allen Seiten beobachtet zu werden. Daniel und Olivia war das egal, und sie ließen sich eines der beiden Felder reservieren, bevor sie in die Kabine gingen, um sich umzuziehen.
Ein paar Minuten später standen die beiden sich auf dem Spielfeld gegenüber. Olivia in ihrem weißen kurzen Kleid, mit dem zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haar, und Daniel in weißer Leinenhose und weißem Poloshirt. Wie immer folgten ihnen bewundernde Blicke. Der junge Arzt und die junge Psychologin galten als das Traumpaar des Tennisclubs.
Sie hatten gerade einmal eine halbe Stunde gespielt, als Olivia plötzlich übel wurde. Sie ließ ihren Tennisschläger fallen und schaffte es gerade noch rechtzeitig zu den Toilettenräumen. Nachdem sie sich Erleichterung verschafft hatte, ging es ihr wieder gut.
»Was war denn das?«, flüsterte sie, als sie in dem mit dunkelgrauen Granitsteinen gefliesten Raum vor einem der rechteckigen Waschbecken stand und in den Spiegel schaute. Sicher nur eine leichte Magenverstimmung, dachte sie, strich ihr Haar aus der Stirn zurück und betupfte ihr Gesicht mit kaltem Wasser, bevor sie den Waschraum wieder verließ.
»Geht es wieder?«, fragte Daniel, der mit einer kleinen Wasserflasche in der Hand an der Wand gegenüber der Tür lehnte und auf sie gewartet hatte.
»Ja, alles wieder gut. Ich habe sicher nur etwas Falsches gegessen«, versicherte sie ihm und trank das Wasser, das er ihr reichte.
»Was genau hast du denn gegessen?«, wollte Daniel wissen, während er sie anschaute.
»Heute Morgen ein Brötchen mit unserer selbstgemachten Johannisbeermarmelade. Zum Mittagessen gab es einen Gemüseauflauf, und vorhin, bevor wir uns trafen, habe ich einen Apfel gegessen. Vielleicht habe ich ihn zu schnell gegessen und die Säure nicht vertragen.«
»Einen Apfel auf nüchternen Magen vertragen viele nicht«, gab Daniel ihr recht.
»Mein letzter Patient hat heute erst kurz vor halb sieben die Praxis verlassen. Ich hatte keine Zeit mehr für ein längeres Abendessen, und irgendwie hatte ich auch keinen richtigen Hunger«, gab sie zu.
»Hast du jetzt Hunger?«
»Schon, aber ich denke, ich werde mich heute auf Tee beschränken und meinen Magen noch ein bisschen schonen«, sagte sie und legte ihre Hand auf ihren oberen Bauch.
»Dann bringe ich dich nach Hause.«
»Das wäre mir sehr recht. Tut mir leid, dass ich uns den Abend verdorben habe«, entschuldigte sich Olivia.
»Du hast gar nichts verdorben. Wichtig ist nur, dass es dir wieder gut geht«, sagte Daniel, während er ihr Handgelenk umfasste, um ihren Puls zu fühlen. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass ihr Herz ruhig und gleichmäßig schlug, trennten sie sich, um sich in den Kabinen wieder umzuziehen.
*
»Ihr seid schon zurück?«, wunderte sich Ottilie. Sie war in der Küche, einem gemütlichen Raum mit in U-Form angeordneten Möbeln aus hellem Holz, und räumte das Geschirr in die Spülmaschine, das sie und Ophelia zum Abendessen benutzt hatten.
»Mir war ein wenig übel«, sagte Olivia. Sie ging in das angrenzende Esszimmer, das nur durch ein Sideboard von der Küche getrennt war, und legte sich auf das hellgrüne Sofa, das neben den Fenstern mit den duftigen weißen Gardinen stand. Sie wollte sich nur ein paar Minuten ausruhen.
»Muss ich mir Sorgen machen?«, fragte Ottilie und sah zuerst ihre Tochter und danach Daniel an, der neben dem Sideboard zur Küche stehen geblieben war und Olivia beobachtete.
»Niemand muss sich Sorgen machen, mir geht es schon wieder gut. Ich trinke noch einen Kamillentee und vergesse das Ganze wieder.«
»Ich kann ihr erst einmal nicht widersprechen«, sagte Daniel, als Ottilie ihn erneut ansah.
»Gut, dann mache ich den Tee. Wie wäre es mit einem Stück Marmorkuchen?«, fragte sie Daniel.
»Sehr gern«, antwortete er. Er blieb jeden Abend nach dem Tennis noch eine Weile bei den Mais, und heute würde er auf jeden Fall bleiben, bis er sicher war, dass es Olivia wirklich wieder gut ging.
»Mama, was ist mit dir?«, wollte Ophelia wissen, die kurz darauf gefolgt von Ortrud, der rot getigerten Katze der Mais, aus dem ersten Stock herunterkam. Für sie war es ein ungewohntes Bild, ihre Mutter schon so früh am Abend auf dem Sofa liegen zu sehen.
»Es ist alles gut, mir war nur ein bisschen übel«, erklärte Olivia ihrer Tochter.
»Kein Fieber, keine anderen Beschwerden?«, fragte Ophelia und setzte sich auf einen der hellgrauen Stühle, die an dem weißen Esstisch standen.
»Nein, alles gut«, antwortete Olivia lächelnd.
»Hast du schon Fieber gemessen? Manchmal merkt man gar nicht, dass man Fieber hat. Ist doch so, oder, Daniel?«, wandte sie sich dem jungen Arzt zu.
»Du hast recht, wir sollten ihre Temperatur überprüfen«, stimmte Daniel dem Mädchen zu.
»Ich hole das Thermometer«, sagte Ophelia. Sie stürmte die Treppe in den Keller hinunter, um es aus dem Medizinschränkchen zu holen, das sie im Vorratsraum an der Wand befestigt hatten.
Obwohl Daniel nicht davon ausging, dass Olivia Fieber hatte, wollte er dem Mädchen nicht widersprechen. Wenn es ein Infekt war, den Olivia sich eingefangen hatte, war es durchaus möglich, dass sie noch Fieber bekam. Als Ophelia gleich darauf mit dem Thermometer wieder zurückkam, hielt sie es selbst in Olivias Ohrmuschel.
»Entwarnung. Nur 36.5«, verkündete sie erleichtert, nachdem sie das Ergebnis abgelesen hatte.
»Wie gesagt, mir geht es gut«, beteuerte Olivia erneut.
»Es war nur eine Absicherung, Mama«, sagte Ophelia, die sichtlich erleichtert darüber war, dass ihre Mutter kein Fieber hatte. »Könnte ich vielleicht auch noch ein Stück Kuchen haben?«, wandte sie sich Ottilie mit einem unschuldigen Augenaufschlag zu, die Daniel einen Teller mit dem frisch gebackenen Marmorkuchen reichte.
»Sicher, gern, wir müssen ihn nicht aufheben«, sagte Ottilie und nahm zwei weitere Teller aus dem Schrank, weil sie gerade beschlossen hatte, sich auch noch ein Stück von diesem Kuchen zu gönnen.
Während des Backens hatte sie die ganze Zeit an den attraktiven Mann denken müssen, dem sie am Morgen begegnet war. Sie hatte sich sogar dabei ertappt, dass sie verträumt über die Verpackungen strich, die er berührt hatte, als er ihr half, den Korb wieder einzuräumen. Dieser Kuchen war etwas ganz Besonderes für sie.
»Willst du uns nicht verraten, was mit dir los ist?«, fragte Olivia, nachdem Ottilie die Tasse mit dem Kamillentee auf den Beistelltisch vor dem Sofa abgestellt hatte.
»Was meinst du?«, entgegnete Ottilie und versuchte, dem Blick ihrer Tochter auszuweichen.
»Du wirkst den ganzen Tag schon so verträumt, so als hättest du eine aufregende Begegnung gehabt«, sprach Olivia aus, was ihr schon während des Mittagessens aufgefallen war.
»Genau das habe ich heute auch schon festgestellt«, erhielt sie sofort Unterstützung von Ophelia.
»Mir geht es einfach nur gut«, erklärte Ottilie.
»Und sie hat ihre kleinen Geheimnisse«, verriet Ophelia, was Ottilie zu ihr gesagt hatte.
»Die haben wir doch alle, nicht wahr, Ortrud?«, sagte Olivia und streichelte erst die Katze, die es sich auf ihrem Schoß gemütlich gemacht hatte, bevor sie aufschaute und Daniels Blick festhielt.
»Ich kann nicht widersprechen«, gab er ihr recht. Sie alle hatten Geheimnisse. Allerdings wünschte er sich, dass Olivia und er sich nach und nach das eine oder andere Geheimnis enthüllten. »Dein Kuchen schmeckt wieder köstlich«, wandte er sich schnell Ottilie zu, weil er das Gefühl hatte, das Olivia gerade seine Gedanken erriet.
»Er schmeckt sogar noch besser als sonst«, sagte Ophelia.
»Das liegt daran, dass er mit ganz viel Liebe gebacken wurde.«
»Welche Liebe genau meinst du?«, fragte Ophelia mit einem verschmitzten Lächeln.
»Die Liebe, die ich in mir trage, mein Schatz.«
»Das ist nicht die ganze Wahrheit. Wir werden schon noch herausfinden, was du vor uns verbirgst«, erklärte Ophelia, als ihre Großmutter plötzlich wieder ganz verträumt aussah.
»Ihr wollt also, dass ich mein kleines Geheimnis preisgebe?«, fragte Ottilie, als nun auch Daniel sie mit einem herausfordernden Lächeln anschaute.
»Ja, bitte, Oma, verrate es uns«, bat Ophelia.
»Ihr werdet mich für übergeschnappt halten.«
»Nein, auf keinen Fall«, versicherte ihr Ophelia.
»Also gut, ich glaube, ich habe mich verliebt«, sprach Ottilie zum ersten Mal laut aus, was ihr schon seit Stunden klar war.
»Wow, Oma. In wen denn?«, wollte Ophelia wissen.
»In einen charmanten und äußerst attraktiven Mann.«
»Und weiter? Wir wollen mehr wissen«, sagte Ophelia und ließ ihre Großmutter nicht aus den Augen.
»Mehr gibt es nicht zu erzählen. Es war eine zufällige Begegnung, die nicht länger als fünf Minuten gedauert hat. Ich werde ihn vermutlich nie wiedersehen.«
»Wo genau hast du ihn gesehen? Wie genau sah er aus?«, hakte Ophelia nach.
»Lass es gut sein, Schatz, mehr möchte ich dazu wirklich nicht sagen. Ich werde noch ein paar Tage von ihm träumen und ihn dann allmählich vergessen.«
»Aber du …«
»Ophelia, du hast gehört, was deine Oma gesagt hat«, bat Olivia ihre Tochter, Ottilies Wunsch zu respektieren, sie nicht länger auszufragen.
»Ich dachte ja nur, heutzutage lassen sich Leute durchaus auffinden. Irgendjemand kennt jemand, der wieder jemanden kennt. Fotos im Internet, soziale Medien, es gibt viele Möglichkeiten«, rechtfertigte Ophelia ihre Nachfrage.
»Vielleicht will ich ihn gar nicht finden«, sagte Ottilie.
»Warum nicht?«, wunderte sich Ophelia.
»Um mir eine Enttäuschung zu ersparen. Ich gehe nicht davon aus, dass dieser Mann allein lebt«, ließ Ottilie ihre Enkelin wissen, was sie davon abhielt, Nachforschungen anzustellen.
»Okay, das verstehe ich«, zeigte sich Ophelia dann auch schnell einsichtig. Sie wechselte das Thema und erzählte von dem Referat, das sie für den Biologieunterricht ausarbeiten sollte. »Ich habe mich für das Thema Leben in den Ozeanen entschieden«, sagte sie. »Ich hoffe, ich finde etwas, was noch nicht jeder über die Ozeane weiß.«
»Wenn du willst, kann ich mich an der Forschung im Internet beteiligen«, schlug Ottilie vor.
»Das wäre super, Oma, danke«, nahm Ophelia den Vorschlag auch gleich an. Je mehr Material sie hatte, umso interessanter konnte sie das Referat gestalten.
»Ich gehe dann«, sagte Daniel leise, als er zu Olivia schaute und sah, dass sie eingeschlafen war. »Sollte irgendetwas sein, ruft mich an«, bat er Ottilie und Ophelia.
»Ja, das machen wir, aber ich denke nicht, dass es nötig sein wird. Ihr scheint es wirklich wieder gut zu gehen«, versicherte ihm Ottilie. Olivia atmete ruhig und sah ganz entspannt aus.
»Ich denke auch, dass es ihr gut geht«, stimmte Daniel ihr zu und verabschiedete sich von ihr und Ophelia. Am nächsten Morgen, bevor er in die Praxis ging, würde er zuerst nach Olivia sehen.
Als er gleich darauf durch die Gärten zu seinem Haus hinüberging, dachte er wie schon so oft in den letzten Wochen daran, dass er sich gut vorstellen konnte, mit Olivia gemeinsam in einem Haus zu wohnen. Irgendwann würde er sie fragen, wie sie darüber dachte, und damit würde er nicht mehr lange warten. Er wollte mit ihr zusammen sein, wollte morgens neben ihr aufwachen und abends neben ihr einschlafen. Auch wenn sie das hin und wieder schon taten, weil sie bei ihm oder er bei ihr übernachtete, waren es doch immer nur Besuche. Es wird Zeit für die Frage, inwieweit wir uns eine gemeinsame Zukunft vorstellen können, dachte er, als er noch einmal zu den Mais hinüberschaute, bevor er seine Haustür aufschloss.
*
Johann fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Er hatte wieder zwei Kisten mit all den Dingen gepackt, von denen er sich trennen wollte, so wie an jedem Abend in den letzten vierzehn Tagen. Er hatte gleich damit begonnen, nachdem er sich entschlossen hatte, seine letzten Monate in Australien zu verbringen. Mia, seine Tochter, sollte sich nicht mit der Auflösung seines Nachlasses herumschlagen müssen. Die Zweizimmerwohnung im zwölften Stock eines neuerbauten Apartmenthauses am Isarufer, die er erst vor Kurzem gekauft hatte, hatte er bereits wieder verkauft. Sein Traum, noch viele Jahre in dieser Landschaft mit ihren Seen und Bergen verbringen zu dürfen, war nach der schrecklichen Diagnose zerplatzt.
Allzu viele Kisten hatte er nicht mehr zu packen. Er war ja erst vor drei Monaten nach München gekommen. Wäre er damals kurz nach seinem Einzug nicht noch einmal nach Kiel gefahren, um an der Fahrradtour teilzunehmen, die einer seiner engsten Freunde jedes Jahr anlässlich seines Geburtstages unternahm, wüsste er vermutlich noch gar nicht, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Eigentlich hatte er nach diesem Sturz gar nicht ins Krankenhaus gehen wollen. Er war sicher, dass er sich nicht ernsthaft verletzt hatte. Dass er sich dann doch zu einer Untersuchung überreden ließ, hatte ihm diese furchtbare Wahrheit beschert.
Das wird so nichts, dachte er, als er sich erneut von einer Seite auf die andere wälzte, um irgendwie eine bequeme Stellung zu finden, die es ihm ermöglichte einzuschlafen.
Nach einer Weile stand er auf, ging ins Wohnzimmer und öffnete die Schiebetür zum Balkon. Es war kurz nach vier, noch schlief die Stadt. Kein Flugzeug störte die Ruhe. Der Motorenlärm der wenigen Autos, die um diese Uhrzeit unterwegs waren, wurde von dem Rauschen des Wassers übertönt, das sich über die Staustufe der Isar in den Fluss ergoss. Da in diesem Teil der Stadt nur wenige Lichter brannten, konnte er sogar Sterne am Himmel sehen. Eigentlich hatte er doch bereits mit allem abgeschlossen, sich mit dem Unabänderlichen abgefunden. Niemals wäre er davon ausgegangen, dass er sich noch einmal verlieben könnte. Und doch war es passiert.
Er hatte sich auf den ersten Blick in diese wunderschöne Frau, die ihm nach seinem Besuch in der Praxis Norden begegnet war, verliebt. Noch wusste er nichts über sie, und insgeheim hoffte er sogar, dass sie in einer festen Beziehung wäre. So würde er keine Chance haben, sie näher kennenzulernen. Was ohnehin unendlich egoistisch von ihm wäre, da es für ihn keine Zukunft mehr gab.
Die kühle Herbstluft tat ihm gut, und nach einer Weile hatte er das Gefühl, wieder einschlafen zu können. Er schloss die Balkontür und ging zurück in sein Schlafzimmer. Ich sollte es nicht tun, dachte er, als er auf die Eintrittskarte schaute, die auf seinem Nachttisch lag. Sein Verstand hatte ihn gewarnt, aber er konnte sein Herz nicht überzeugen. Er hatte sich gleich nach der Begegnung mit der schönen Unbekannten eine Eintrittskarte für das Konzert im Bluesclub gekauft, für das auch sie eine Karte hatte. Vielleicht war diese Karte gar nicht für sie, aber sollte sie in den Club kommen und er den Eindruck haben, dass sie ohne Begleitung war, würde er sie vielleicht doch ansprechen.
Aber wie sollte es dann weitergehen? Er würde ihr erst einmal verschweigen, wie es um ihn stand, weil sie sich ganz bestimmt nicht mit einem todkranken Mann einlassen würde, der schon bald wieder aus ihrem Leben verschwand. Vielleicht verbringe ich einfach nur einen Abend mit ihr, falls es sich ergibt. Ich muss sie danach nicht wiedersehen, dachte Johann, nachdem er sich wieder hingelegt hatte. Wenigstens einen Abend, dachte er, und mit dem Gesicht seiner schönen Unbekannten vor Augen schlief er wieder ein.
*
Es scheint wohl doch ein Virus zu sein, dachte Olivia, als sie am nächsten Morgen unter der Dusche stand und ihr erneut so übel wurde, dass sie sich übergeben musste. Vermutlich war es besser, ihre Mutter zu bitten, heute ihre Patienten zu übernehmen, schließlich wollte sie niemanden anstecken. Das Beste war, sie blieb heute mal im Bett, kurierte sich richtig aus und kam auch Ophelia nicht zu nahe. Nach der Dusche zog sie einen frischen Schlafanzug an, den grünen aus Satin, und wartete, bis sie ihre Mutter und ihre Tochter unten in der Küche hörte. Bevor sie zu ihnen hinunterging, zog sie dicke Socken und eine weiße hüftlange Strickjacke an, weil ihr kalt war, obwohl sie bereits die Heizung aufgedreht hatte.
Ophelia goss sich gerade ein Glas Orangensaft ein, und Ottilie bereitete das Müsli mit den Vollkornhaferflocken und den Beeren zu, das sie alle drei jeden Morgen aßen, als sie gleich darauf in die Küche kam. »Bist du doch krank, Mama?«, fragte Ophelia erschrocken, die sie zuerst bemerkte und sich zu ihr umdrehte.
»Ich denke, ich habe mir tatsächlich ein Virus eingefangen, deshalb komme ich euch auch gar nicht zu nahe.«
»Dann geh zurück ins Bett. Ich bringe dir nachher einen Tee und Zwieback, oder möchtest du etwas anderes?«, fragte Ottilie, die in ihrer Arbeit innehielt und ihre Tochter anschaute.
»Tee und Zwieback reichen mir erst einmal«, sagte Olivia. »Könntest du meine Patienten heute übernehmen?«
»Kein Problem. Wann kommt der erste?«
»Um halb zehn.«
»In Ordnung, ich sehe mir dann gleich den Terminplan und die Fallberichte an.«
»Ich danke dir.«
»Kein Problem, mein Schatz.«
»Ich gehe dann wieder hoch. Viel Spaß in der Schule, Ophelia.«
»Danke, Mama. Ich wünsche dir gute Besserung.«
»Danke, Schätzchen«, sagte Olivia und ging wieder hinauf in ihr Schlafzimmer.
»Wirklich krank sieht sie aber nicht aus, oder was meinst du, Oma?«, fragte das Mädchen, nachdem Olivia gegangen war.
»Nein, sie sieht nicht krank aus«, stimmte Ottilie ihrer Enkelin zu. »Du musst dir keine Sorgen um sie machen«, versicherte sie ihr.
»Ich gehe schon«, sagte Ophelia und stürmte in die Diele, als es an der Haustür läutete. »Guten Morgen, Doc, komm rein«, hörte Ottilie sie sagen.
»Guten Morgen, Daniel, du willst sicher wissen, wie es Olivia geht?«, stellte Ottilie fest, nachdem sie den jungen Arzt begrüßt hatte.
»Ja, deshalb bin ich hier. Wo ist sie?«, fragte Daniel, weil er sie weder in der Küche noch im Esszimmer sah.
»Sie bleibt heute mal im Bett. Es geht ihr noch nicht so gut«, sagte Ottilie.
»Ich würde gern nach ihr sehen.«
»Nur zu, du bist auch ihr Arzt«, entgegnete Ottilie lächelnd.
Vielleicht hat sie sich doch ein Virus eingefangen, dachte Daniel, als er die Treppe in den ersten Stock hinaufging. Leise klopfte er an ihrer Schlafzimmertür. Falls sie schlief, wollte er sie nicht wecken. Er würde dann in der Mittagspause nach ihr sehen.
»Ja, bitte!«, hörte er sie aber gleich rufen, nachdem er angeklopft hatte.
»Guten Morgen, wie geht es dir?«, fragte er, als er die Tür aufzog.
»Hallo, Daniel, es ist lieb, dass du nach mir siehst. Aber du solltest Abstand halten. Ich will dich nicht anstecken«, sagte sie. Sie saß in zwei dicke Kissen gelehnt in ihrem Bett und sah ihn an. Das Licht der Morgensonne, das durch die beiseite geschobenen Vorhänge in das Zimmer fiel, ließ die Frau, die er so sehr liebte, beinahe unwirklich durchsichtig erscheinen. Bei dem Gedanken, dass sie ernsthaft krank sein könnte, spürte er einen stechenden Schmerz in der Magengegend, wusste er doch, wie schnell es manchmal gehen konnte.
»Bitte, Daniel, sieh mich nicht so an, als stünde ich bereits auf der Schwelle des Todes. So schlecht geht es mir nicht«, versicherte sie ihm lächelnd.
»Nein, natürlich nicht«, sagte er. Ganz offensichtlich kannte sie ihn wirklich schon so gut, dass er ihr nichts vormachen konnte.
»Mir ist nur ein bisschen übel, aber es wird schon besser«, versicherte sie ihm, als er sich an das Fußende des Bettes setzte und sie anschaute.
»Hast du Fieber gemessen?«, fragte er.
»Ja, habe ich. 36.5, so wie gestern, exakt meine normale Temperatur. Du musst dir also keine Sorgen machen.«
»Ich werde aber trotzdem gleich nach der Sprechstunde zu dir kommen.«
»Du denkst an einen Hausbesuch mit Untersuchung der Patientin?«
»So ist es«, sagte er und streichelte über ihre Füße, die sie unter der mit blauem Satin bezogenen Bettdecke bewegte.
»Na gut, wenn du das so willst.«
»Ja, das will ich unbedingt«, antwortete er lächelnd, obwohl ihm in diesem Moment ganz und gar nicht zum Lachen war. Es wäre ihm wohler gewesen, wenn sie Fieber hätte, das hätte auf einen unangenehmen, aber vermutlich harmlosen Infekt hingewiesen. Übelkeit ohne Fieber konnte das Symptom einer bösartigen Krankheit sein. Er wollte auf keinen Fall etwas übersehen. »Ich muss jetzt los, Olivia. Sollte es dir im Laufe des Vormittages schlechter gehen, melde dich bitte gleich«, bat er sie, als er schon zur Tür ging.
»Das mache ich«, versprach sie ihm.
»Gut, dann bis nachher«, verabschiedete er sich.
»Ja, bis nachher«, antwortete sie, und der zärtliche Blick, mit dem er sie noch einmal betrachtete, bevor er ihr Zimmer verließ, zeigte ihr, wie sehr er sie liebte. Sie ahnte, dass er sich Sorgen um sie machte, aber sie war sicher, dass er das nicht tun musste.
Da sie beschlossen hatte, den Tag im Bett zu verbringen, konnte sie auch noch ein bisschen schlafen. Sie schloss die Augen, genoss die Wärme der Sonnenstrahlen, die über ihr Gesicht strichen, und war bald darauf eingeschlafen.
Sie schlief so fest ein, dass sie nicht mitbekam, als Ottilie ihr eine Viertelstunde später Tee und Zwieback auf die kleine Kommode neben ihr Bett stellte. Ottilie machte sich auch nicht bemerkbar, ließ sie schlafen und ging leise wieder aus dem Zimmer.
*
Das Wartezimmer war schon gut gefüllt, als Daniel in die Praxis kam. Lydia stand hinter dem Tresen, trug die eintreffenden Patienten in eine Liste ein und nahm die Anrufe entgegen. Sophia hatte bereits mit dem Labor begonnen und kümmerte sich um die von ihm angeordneten Blutentnahmen. Da beide keine Fragen an ihn hatten, ging er gleich weiter in sein Sprechzimmer, schaltete den Computer ein und rief die Patientenliste auf, die Lydia angelegt hatte.
Bevor er Raimund Listner, seinen ersten Patienten an diesem Vormittag, aufrief, schaute er noch einmal aus dem Fenster zum Haus der Mais hinüber. Er konnte auch Olivias Fenster sehen, das noch immer von der Sonne angestrahlt wurde. Es sieht aus, als wäre dort der Eingang zu einer mystischen Welt, eine mystische Welt, die ich betreten darf, dachte er, und in diesem Moment wurde ihm ganz warm ums Herz.
Er hielt noch einen Augenblick verträumt inne, dann drückte er auf die Sprechtaste, die ihn mit dem Lautsprecher im Wartezimmer verband, und rief Herrn Listner, dem die Bäckerei in der Fußgängerzone gehörte, auf.
»Herr Doktor, mich drückt’s recht oft so, als hätt ich einen Stein in meinem Magen«, schilderte der große schwere Mittfünfziger die Beschwerden, die ihn in die Praxis geführt hatten. Er saß in dem Stuhl vor Daniels Schreibtisch, lehnte sich zurück und legte die Hand auf seinen Magen.
»Was heißt recht oft?«, fragte Daniel.
»Meistens in der Früh nach dem Frühstück in der Backstube.«
»Und was frühstücken Sie?«
»Am liebsten Krapfen mit Marmelade gefüllt.«
»Wie viele?«
»Drei oder vier«, gestand ihm Raimund.
»Versuchen Sie es mal mit einem anderen Frühstück«, riet Daniel ihm schmunzelnd.
»Geh, Herr Doktor, Sie glauben doch nicht, dass mein Unwohlsein von den Krapfen kommt«, wunderte sich Raimund.
»Doch, das nehme ich an. Die Hefe und das Fett auf nüchternen Magen, das ist Schwerstarbeit für den Verdauungstrakt«, erklärte Daniel ihm.
»Mei, vielleicht haben Sie recht. Dieses Drücken im Bauch spür ich auch erst, seitdem ich mir die Krapfen zum Frühstück angewöhnt habe«, zeigte sich Raimund einsichtig.
»Dann liegt die Vermutung nahe, dass es wirklich die Krapfen sind. Ich möchte mir aber gern Gewissheit verschaffen.«
»Soll ich mich dorthin legen?«, fragte Raimund und schaute auf die Untersuchungsliege.
»Darum wollte ich Sie gerade bitten«, entgegnete Daniel schmunzelnd.
Nachdem er Raimunds Bauch abgetastet und ihm noch einige Fragen gestellt hatte, aber nichts feststellen konnte, was auf eine ernsthafte Ursache für seine Beschwerden hinwies, bat er ihn noch einmal eindringlich, seine Frühstücksgewohnheiten zu ändern. »Falls Sie sich nicht umgehend besser fühlen, kommen Sie bitte wieder zu mir«, sagte er, als sich Raimund gleich darauf von ihm verabschiedete.
»Das mache ich dann auch, Herr Doktor«, versicherte ihm der Bäckermeister.
Nach Raimund kam Marion Kassler, eine junge Bankangestellte, zu ihm. Auch sie klagte über Unwohlsein. Die Symptome, die sie ihm schilderte, und das leichte Fieber, das er bei ihr feststellte, deuteten auf einen Infekt ihn. Er schrieb sie ein paar Tage krank und riet ihr zu Tee und leichter Kost. Wie sich schnell herausstellte, grassierte tatsächlich eine Magen-Darm-Grippe in der Gegend. Fast alle Patienten, die an diesem Vormittag zu ihm kamen, litten an dieser Grippe. Da er aber niemanden ohne Handschuhe untersuchte, sich vor und nach jeder Untersuchung die Hände wusch und die Oberflächen in seinem Sprechzimmer desinfizierte, musste er kaum mit einer Ansteckung rechnen.
Auch Lydia und Sophia waren äußerst aufmerksam, um eine Verbreitung des Infektes innerhalb der Praxis zu vermeiden. Als sie Daniel vorschlugen, in den nächsten Tagen auch die Sprechstunde per Videoschaltung in Betracht zu ziehen, auf die ihre Praxis bereits vorbereitet war, stimmte er ihnen sofort zu. Patienten, die in den nächsten Tagen wegen der typischen Beschwerden einer Magen-Darm-Grippe anriefen und sich nicht davor scheuten, mit ihrem Arzt über eine Kamera zu sprechen, würden von ihnen einen Termin zugeteilt bekommen.
Um kurz nach zwei hatten die letzten Patienten die Praxis verlassen. Daniel verzichtete an diesem Freitag auf den sonst üblichen kleinen Plausch mit Sophia und Lydia, wünschte den beiden ein schönes Wochenende und verließ die Praxis. Er wollte endlich nach Olivia sehen.
»Heute hat er es aber eilig«, stellte Sophia fest, nachdem Daniel gegangen war.
»Ich denke, ich weiß, warum er so schnell fort wollte«, sagte Lydia, die zum Fenster schaute, als sie beide ihre Mäntel aus dem Garderobenraum neben der Küche holten.
»Verrätst du es mir?«, fragte Sophia, die Lydias Blick folgte und genau wie sie auf den Durchgang in der Hecke schaute, die Daniels Grundstück und das der Mais voneinander trennte.
»Er hat seine Arzttasche mit zu ihnen genommen. Die Frage ist nur noch, wer von ihnen ist krank. Olivia, Ottilie oder Ophelia.«
»Hoffentlich keine von ihnen.«
»Warum nimmt er dann seine Arzttasche mit?«
»Vielleicht will er nachher noch einen Hausbesuch machen.«
»Von dem wir nichts wissen dürfen?«, wunderte sich Lydia.
»Das wäre merkwürdig, stimmt«, gab Sophia zu.
»Vielleicht hat sich eine von ihnen auch diesen Infekt eingefangen.«
»Ja, vermutlich ist das die Erklärung«, stimmte Sophia Lydia zu. »Gehen wir nach Hause, wir müssen uns sicher keine Sorgen machen.«
»Nein, müssen wir nicht«, sagte Lydia. Genau wie Sophia waren auch ihr die Mais ans Herz gewachsen, und sie hoffte, dass Daniel nicht wegen eines echten Notfalls seine Tasche mitgenommen hatte.
*
Ottilie hatte gerade ihren letzten Patienten des Tages verabschiedet und stand noch in der geöffneten Haustür, als Daniel das Grundstück der Mais durch das Tor in der Hecke, wie sie den durch zwei fehlende Lorbeerbäumchen entstandenen freien Raum nannten, betrat.
»Sie ist im Esszimmer«, sagte Ottilie und wich zur Seite, um ihm Platz zu machen.
»Das heißt dann wohl, es geht ihr besser«, entgegnete er und sah Ottilie an.
»Davon gehe ich aus, aber überzeuge dich selbst«, bat sie ihn lächelnd.
Olivia lag zugedeckt mit einer roten Wolldecke auf dem grünen Sofa im Esszimmer und las in einem Roman. Ortrud hatte es sich auf ihren Beinen gemütlich gemacht. Die Katze schaute nur kurz auf, als Daniel hereinkam, schloss aber sofort wieder die Augen und schlief weiter.
»Wie geht es dir?«, fragte Daniel, als Olivia das Buch sinken ließ und ihn ansah.
»Viel besser, ich genieße meinen freien Tag. Die brauchst du nicht«, sagte sie und sah auf seine Arzttasche, die er mitgebracht hatte. »Wir sollten uns beide häufiger einen extra Ausruhetag gönnen«, schlug sie ihm vor.
»Ich habe nichts dagegen«, antwortete er und hielt ihren Blick fest.
»Was hast du vor?«, wollte sie wissen, als er einen Stuhl vom Esstisch zum Sofa brachte, ihn auf Höhe ihres Kopfes platzierte und seine Arzttasche auf den Boden stellte.
»Ich will mich davon überzeugen, dass es dir wirklich wieder gut geht«, sagte er und setzte sich auf den Stuhl.
»Ich verfüge über ein medizinisches Grundwissen. Ich habe einige Jahre in Kliniken zugebracht, das weißt du«, erinnerte sie ihn an ihre berufliche Ausbildung.
»Bitte den Mund öffnen«, bat er sie, nachdem er ein Paar seiner Einmalhandschuhe angezogen und eines der Holzstäbchen zur Untersuchung des Rachenraumes aus seiner Tasche geholt hatte. Auf ihren Einwand, dass sie eine Untersuchung nicht für nötig hielt, ging er nicht ein. Er musste sicher sein, dass sie gesund war. Sollte er die Anzeichen einer ernsthaften Krankheit übersehen, würde er sich das niemals verzeihen.
»Es hat seine Gründe, warum ein Arzt weder Verwandte noch enge Freunde behandeln sollte«, sagte Olivia, nachdem sie die Untersuchung zugelassen hatte und Daniel nichts Auffälliges in ihrem Rachen entdecken konnte.
»Ich behandle dich nicht. Ich untersuche dich nur«, entgegnete er und drückte vorsichtig ihren Magen und ihren Bauch ab. »Sag mir, falls es irgendwo wehtut.«
»Es ist alles gut, Daniel. Mir tut nichts weh, und ich habe nach wie vor kein Fieber«, versicherte ihm Olivia. »Du kannst dich entspannen«, fügte sie mit einem liebevollen Lächeln hinzu, als er schließlich noch ihren Blutdruck überprüfte.
»Ich verlasse mich darauf, dass du es mir sagst, sollte es dir wieder schlechter gehen.«
»Ich verspreche es dir.«
»Ich nehme an, du hast noch nicht zu Mittag gegessen, Daniel«, sagte Ottilie, die zu ihnen ins Esszimmer kam. Sie hatte noch rasch einen Bericht in der Praxis geschrieben, um die Vormittagssprechstunde abschließen zu können.
»Nein, habe ich noch nicht. Ich wollte zuerst nach Olivia sehen«, sagte er.
»Bei uns gibt es heute zwar nur schnelle Küche, einen Gemüseeintopf mit Würstchen, aber du bist herzlich eingeladen.«
»Du hast mich doch sicher gar nicht mit eingeplant.«
»Du bist uns immer willkommen, das weißt du«, sagte Ottilie.
»Gut, ich bleibe«, stimmte er ihrer Einladung zu. Den Nudelauflauf, den Valentina ihm für das Mittagessen zubereitet hatte, konnte er auch noch am Abend essen. Wenn er jetzt noch eine Weile bei den Mais blieb, dann würde ihm das helfen, sich davon zu überzeugen, dass Olivia sich wieder erholt hatte.
»Vier Teller? Wer isst mit uns?«, hörte Daniel Ophelia fragen, die aus der Schule nach Hause kam, als er sich im Gästebad die Hände wusch. »Okay, ich weiß es schon. Die Arzttasche hat deine Anwesenheit verraten«, sagte sie, als Daniel in diesem Moment zurück ins Esszimmer kam. »Mittagessen mit der ganzen Familie, das haben wir selten«, stellte sie fest.
»Danke, dass du mich zur Familie zählst«, sagte Daniel.
»Weil es so ist, Doc«, entgegnete sie lächelnd. »Ich nehme an, du bist hier, um nach Mama zu sehen.«
»Das haben wir schon hinter uns«, meldete sich Olivia zu Wort. Sie hatte sich aufgerichtet, setzte Ortrud behutsam auf den Boden, schlug die Decke zurück und stand auf.
»Offensichtlich geht es dir wieder gut«, stellte Ophelia fest, als sie sah, dass ihre Mutter den Schlafanzug gegen Jeans und einen rosafarbenen Pullover getauscht hatte.
»So ist es, und ich habe genug von Zwieback und Tee«, sagte Olivia.
»Aber nicht gleich übertreiben«, bat Ophelia ihre Mutter, als sie gleich darauf alle am Tisch saßen und Olivia ihren Teller mit der Suppe füllte.
»Ich werde langsam essen«, versprach Olivia ihrer besorgten Tochter.
Während Ophelia und Daniel Olivia erneut zur Vorsicht mahnten, als sie sich den Teller noch einmal füllte, betrachtete Ottilie ihre Tochter mit einem verschmitzten Schmunzeln. Sie sah etwas, was die anderen noch nicht sahen, etwas, was Olivia offensichtlich noch nicht einmal selbst wusste.
»Da es dir wieder besser geht, kann ich ja das Wochenende doch bei Alina verbringen. Ich wollte ihr schon absagen, weil Oma doch nachher auch fortgeht und Daniel freitags manchmal Hausbesuche macht«, sagte Ophelia.
»Danke, Schatz, aber du musst nicht auf mich aufpassen. Geh du nur zu deiner Freundin.«
»Weder du noch Ottilie müssen sich Sorgen um Olivia machen. Ich habe heute keine Hausbesuche. Ihr könnt beide ganz beruhigt etwas unternehmen«, versicherte Daniel den beiden.
»Ich möchte auch etwas unternehmen«, sagte Olivia.
»An was hast du dabei gedacht?«, fragte Daniel.
»Ein Spaziergang wäre schön.«
»Dann machen wir einen Spaziergang«, antwortete er lächelnd.
»Bevor irgendjemand das Haus verlässt, muss ich noch wissen, wie ihr das Kleid findet, das ich mir für heute Abend gekauft habe«, hakte Ottilie in das Gespräch ein.
»Du gehst doch zu einem Konzert. Solltest du nicht lieber etwas Bequemes anziehen. Jeans und Pullover zum Beispiel«, schlug Ophelia ihrer Großmutter vor.
»Ja, vielleicht sollte ich das. Aber weißt du, Schätzchen, ich gehe so selten aus, ich wollte mich einfach ein bisschen hübsch machen«, erklärte Ottilie ihrer Enkelin, was sie bewogen hatte, sich ein Kleid für diesen Anlass zu kaufen.
»Zeige uns dein Kleid«, bat Olivia ihre Mutter.
»Das mache ich gern. Ich räume nur noch die Küche auf.«
»Das übernehme ich«, sagte Daniel.
»Und ich helfe ihm«, schloss sich Ophelia ihm an.
»Also dann, bis gleich«, entgegnete Ottilie lächelnd und ging hinauf in ihr Apartment im Dachgeschoss des Hauses.
»Du hast heute Ruhetag, Mama, schön sitzen bleiben«, wies Ophelia ihre Mutter an, als Olivia aufstehen wollte, um ihnen in die Küche zu folgen.
»Ganz wie du willst, meine strenge Tochter«, entgegnete Olivia lachend.
Ophelia und Daniel waren gerade mit der Küche fertig, als Ottilie wieder ins Esszimmer kam. Sie trug ein silbergraues Kleid aus weichem anschmiegsamem Stoff. Es war schmal geschnitten, hatte Dreiviertelärmel und einen runden Ausschnitt. Ihr Haar hatte sie zu einem lockeren Knoten im Nacken gebunden, der zartblaue Lidschatten und die schwarze Wimperntusche betonten ihre Augen. Die schwarzen Wildlederpumps passten perfekt zu ihrem Kleid.
»Wow, Oma, du siehst echt super aus«, sagte Ophelia und sah Ottilie bewundernd an.
»Ich kann mich nur anschließen, Mama. Dieses Kleid ist wie für dich gemacht. Deine Freundinnen, die dich zum Konzert begleiten, werden es schwer haben, dass sie noch jemand wahrnimmt, wenn sie mit dir unterwegs sind«, schloss sich Olivia der Bewunderung für ihre Mutter Ophelia an.
»Und was meinst du?«, wandte sich Ottilie an Daniel.
»Du siehst wundervoll aus, Ottilie«, sagte er, und sein bewundernder Blick bestätigte ihr, dass er es ernst meinte.
»Demnach seid ihr alle drei der Meinung, dass ich mich so in der Öffentlichkeit zeigen kann?«
»Ja, unbedingt«, versicherte ihr Olivia, und Ophelia und Daniel stimmten ihr zu.
»Und jetzt möchte ich ein bisschen vor die Tür«, erklärte Olivia.
»Dann sollten wir das auch tun«, sagte Daniel. So wie es aussieht, hat sie das Essen gut vertragen, dachte er. Sie war auch nicht mehr blass, im Gegenteil sie sah sogar erholt aus. Der Vormittag im Bett hatte ihr ganz offensichtlich gut getan. Er musste sich keine Sorgen mehr um sie machen.
Hand in Hand liefen sie über einen Feldweg zum Isarufer. Die Sonne schien von einem blauen Himmel herab, das herbstliche Laub der Bäume leuchtete in den unterschiedlichsten Rot- und Goldtönen. Stare auf der Suche nach Futter kreisten über den abgeernteten Weizen- und Maisfeldern. Als sie den Fluss erreichten, setzten sie sich auf einen der großen Steine, die am Ufer lagen.
»Es tut mir sehr leid, dass du dir heute so große Sorgen um mich gemacht hast, Daniel«, sagte Olivia und schaute auf das in der Sonne glitzernde Wasser, das sich seinen Weg um die Kiesbänke in der Mitte des Flusses bahnte. »Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es dir gehen könnte, wenn ich einmal wirklich krank sein sollte.«
»Ich hoffe, ich kann verhindern, dass das passiert.«
»Das kannst du nicht.«
»Ich kann es versuchen.«
»Du darfst nichts Unmögliches von dir verlangen. Du musst hin und wieder auch den Arzt in dir vergessen.«
»Das ist aber nicht so leicht.«
»Ich weiß, aber du kannst es.«
»Habe ich gerade eine Therapiestunde?«, fragte er sie, als sie sich einander zuwandten und ansahen.
»Du brauchst keine Therapie, du schaffst das auch so.«
»Falls nicht?«
»Dann werde ich dir helfen, dich zu entspannen. Wir werden unser Leben genießen und uns nicht über mögliche Krankheiten den Kopf zerbrechen. Alles ist gut, so wie es ist«, sagte sie.
»Ja, das ist es, ohne Zweifel«, stimmte er ihr zu und nahm sie zärtlich in die Arme.
Ophelia war schon fort, als sie nach ihrem Spaziergang nach Hause kamen, und Ottilie machte sich gerade bereit, das Haus zu verlassen. Sie wünschten ihr einen schönen Abend und schauten ihr noch nach, wie sie in den roten Sportwagen stieg, den sie sich vor Kurzem gekauft hatte.
»Ich wünschte, dieser Mann, von dem sie uns gestern vorgeschwärmt hat, wäre nicht gleich wieder aus ihrem Leben verschwunden. Es wäre schön, wenn sie die Liebe noch einmal erleben könnte«, sagte Olivia.
»Manchmal passieren kleine Wunder. Vielleicht begegnen die beiden sich noch einmal.«
»Und sollte dann auch noch alles passen, das heißt, auch er müsste allein sein, dann könnte etwas daraus werden. Das klingt eher nach einem Märchen als nach einer echten Möglichkeit.«
»Dass wir beide Nachbarn wurden, ist ein Märchen, das wahr wurde.«
»So betrachtet ist natürlich alles möglich«, stimmte Olivia Daniel lachend zu und küsste ihn zärtlich auf die Wange.
*
Nachdem Ottilie ihr Auto in einem Parkhaus in der Nähe des Bluesclubs abgestellt hatte, ließ sie sich Zeit. Sie war erst in einer halben Stunde mit ihren beiden Freundinnen vor dem Eingang des Clubs verabredet. Dieses Treffen mit Sieglinde und Emma, die sie schon seit ihrer Schulzeit kannte, erinnerte sie an ihre Teenagerzeit. Damals nannten sie alle nur ›Die unzertrennlichen Drillinge‹, weil sie immer gemeinsam unterwegs waren. Auch nach der Schule blieben sie enge Freundinnen, daran konnte auch der Umzug der beiden vor dreißig Jahren nach München nichts ändern.
Als Ottilie den Karlsplatz überquerte, den die Münchner liebevoll Stachus nennen, in Anlehnung an den Namen eines Wirtes, der im 18. Jahrhundert an diesem Platz einen Biergarten eröffnet hatte, setzte sie sich auf einen der Steine, die um den großen Brunnen herum platziert waren. Sie schaute auf das Wasser, das in Fontänen in die Höhe schoss, sich danach in Bögen über dem Brunnen spannte, wieder versiegte und aufs Neue in die Höhe schoss.
Manchmal hat die Zeit einfach keine Bedeutung, dachte sie. Sie fühlte sich auf einmal wieder wie ein junges Mädchen, das die Welt erst entdeckte. Vielleicht lag es daran, dass sie schon lange nicht mehr zu einem Konzert in einen Club gegangen war. Möglicherweise ist aber auch diese Begegnung mit ihm schuld, dachte sie und schloss für einen Moment die Augen, um sich wieder an das Gesicht und die Stimme des attraktiven Fremden zu erinnern.
Es war erstaunlich, was eine Begegnung wie diese bewirken konnte, dass eine Frau wie sie, die bald sechzig wurde, sich plötzlich wie ein frisch verliebter Teenager fühlte. Da sie diesen Mann aber vermutlich nie wiedersah, würde dieses Gefühl bald wieder vergehen, was sie bedauerte. Es fühlte sich einfach großartig an, verliebt zu sein.
Sie blieb noch ein paar Minuten am Brunnen sitzen, träumte von dem schönen Fremden und machte sich dann auf den Weg zu ihrem Treffen. Sieglinde und Emma warteten schon vor dem Eingang des Clubs, als Ottilie in die Seitenstraße einbog, die sie in der Nacht niemals allein durchqueren würde. Die Häuser mit ihren verschachtelten Hinterhöfen sahen alle ein wenig heruntergekommen aus, aber das machte vielleicht auch den Reiz dieser Straße mit ihren Clubs und Restaurants aus.
Ich hätte auf Ophelia hören sollen, dachte Ottilie, als sie sah, dass Emma und Sieglinde Jeans und Pullover trugen, genau wie die anderen Frauen, die sich bereits vor dem Club eingefunden hatten. Derart overdressed fühlte sie sich plötzlich unwohl. Ich könnte meine Karte verschenken und wieder nach Hause gehen, dachte sie, und dabei wurde sie immer langsamer.
Emma und Sieglinde standen mit dem Rücken zu ihr. Solange die beiden sie nicht gesehen hatten, konnte sie einfach umkehren, nach Hause fahren und sich darüber ärgern, dass sie offensichtlich falsche Vorstellungen von diesem Abend gehabt hatte. Als sie gerade auf dem Absatz kehrtmachen wollte, drehte sich Emma um und winkte ihr. Zum Umkehren war es nun zu spät. Und was war überhaupt so schlimm daran, ein bisschen anders als die anderen auszusehen? »Ich weiß, ich bin ein wenig overdressed«, sagte sie, als sie gleich darauf Sieglinde und Emma begrüßte.
»Es gibt keinen Dresscode, Liebes«, entgegnete Emma. Sie war einen halben Kopf kleiner als Ottilie, hatte ein rundes Gesicht, hellbraune Augen und stand zu den grauen Haarsträhnen in ihrem dunklen Haar.
»Dieses Kleid sieht toll an dir aus. Du bist mal wieder der Beweis dafür, dass auch Frauen in unserem Alter noch wunderschön sind. Ich bedaure, dass ich mich nicht auch ein bisschen gestylt habe«, sagte Sieglinde, eine große schlanke Frau mit hellem kinnlangem Haar und grünblauen Augen.
»Wir werden noch öfter miteinander ausgehen. Das nächste Mal werden wir auch ein wenig auftrumpfen«, erklärte Emma schmunzelnd. »Aber jetzt ist es erst einmal egal, wie wir aussehen, es geht los«, sagte sie und schaute auf das Tor des Hinterhofes, in dem der Bluesclub lag. Es wurde gerade von innen geöffnet.
»Was ist mit dir?«, fragte Sieglinde erschrocken, als Ottilie plötzlich wie erstarrt auf den geöffneten Eingang schaute und den Konzertbesuchern nachsah, die ganz vorn gestanden hatten.
»Ich dachte gerade, ich hätte jemanden gesehen, den ich kenne, aber ich habe mich mit Sicherheit getäuscht«, antwortete Ottilie und schüttelte über sich selbst den Kopf. Die Begegnung mit diesem fremden Mann hatte sie offensichtlich so sehr aus der Fassung gebracht, dass sie schon anfing, ihn überall zu sehen. So wie gerade eben, als sie glaubte, ihn unter den Konzertbesuchern weiter vorn am Eingang entdeckt zu haben. Wenn das so weiterging, würde sie bald an jeder Straßenecke glauben, ihn zu sehen.
»Ich denke ständig, dass ich jemanden sehe, den ich kenne. Das passiert, wenn man schon so lange in derselben Stadt lebt«, stellte Emma fest.
»Was auf Ottilie aber nicht zutrifft«, entgegnete Sieglinde.
»München ist voller Touristen. Es ist also durchaus möglich, dass ich jemanden sehen könnte, den ich kenne«, bot Ottilie den beiden Freundinnen eine Erklärung an.
»Könnte sein, aber das ist es nicht. Ich denke, du verschweigst uns etwas«, mutmaßte Emma.
»Wir sollten gehen, wenn wir noch einen Tisch in der Nähe der Bühne bekommen wollen«, sagte Ottilie und tat, als hätte sie Emmas Bemerkung nicht gehört.
*
Der Bluesclub, den Johann schon in seiner Jugend besucht hatte, lag im Kellergeschoss des Hinterhauses, durch dessen Hof er soeben gegangen war. Er wollte an diesem Abend bei den ersten sein, die den Club betraten, weil er hoffte, sich einen Platz an der Bar erobern zu können. Von dort hatte er den Eingang im Blick. Sollte sie allein kommen, würde er sie ansprechen. Sollte sie in Begleitung sein, würde er dafür sorgen, dass sie ihn nicht wahrnahm und den Club wieder verlassen. Er war nur wegen ihr gekommen und würde sich nicht damit quälen zuzuschauen, wie sie sich mit einem anderen amüsierte.
Er hatte Glück, einer der Hocker an der Bar war noch frei. Es war der, der am weitesten vom Eingang entfernt war, aber auch von dort hatte er die Gäste, die hereinkamen, noch gut im Blick.
Der Club hatte sich seit seiner Jugend kaum verändert. An dem aus hellen Steinen gemauerten Kellergewölbe hingen gerahmte Fotografien einiger Blueslegenden, die Granitplatten auf dem Boden erschienen ihm allerdings ein wenig dunkler als damals. Auch die runden Tische aus dunklem Holz schienen noch dieselben zu sein, was er aus den eingeritzten Botschaften schloss. Nur die Stühle waren neu. Der Bartresen und die Regale mit den Getränken waren immer noch ein Teil der alten Einrichtung, waren aber inzwischen restauriert worden.
Jetzt hilft nur noch warten, dachte Johann und bestellte ein Glas Zitronenlimonade. Er war zwar mit einem Taxi gekommen, wollte aber keinen Alkohol trinken, bevor er wusste, wie der Abend verlaufen würde.
»Ich glaube es nicht, Hannes, bist du es wirklich?« Ein Mann mit Halbglatze in Jeans und Jackett eilte auf Johann zu.
»Kennen wir uns?«, wunderte sich Johann und sah den Mann erstaunt an. Dass er ihn mit Hannes, so wie es seine Freunde taten, angesprochen hatte, deutete zwar daraufhin, dass es so war, aber er hatte keine Ahnung, wen er da gerade vor sich hatte.
»Georg Malschneider, wir sind zusammen in die Schule gegangen«, stellte sich der Mann vor.
»Ja, natürlich, Georg, unser Philosoph«, entgegnete Johann, der sich sofort wieder an den Jungen erinnerte, mit dem er einige Jahre zusammen in der Schule war und der schon in der fünften Klasse Gefallen an philosophischen Büchern gefunden hatte. »Ich freue mich, dich zu sehen«, sagte er, erhob sich von seinem Hocker und begrüßte Georg mit einer freundschaftlichen Umarmung.
»Schön, dass du deine Heimatstadt mal wieder besuchst. Du lebst doch noch in Kiel?«, fragte Georg.
»Nein, inzwischen wohne ich wieder in München. Ich hatte immer vor, in meine Heimat zurückzukehren, sobald ich im Ruhestand bin.«
»Ich bin schon vor drei Jahren in Pension gegangen.«
»Beamter?«
»Lehrer für Geschichte und Philosophie.«
»Wundert mich jetzt nicht«, entgegnete Johann lächelnd.
»Nein, vermutlich nicht, aber mein Beruf war natürlich nicht annähernd so spannend wie der Beruf eines Meeresbiologen. Du bist viel gereist, habe ich gehört.«
»Richtig, ich war viel unterwegs«, stimmte Johann ihm zu. Er hatte noch einige Freunde aus der Schulzeit, mit denen er in Kontakt geblieben war und die Georg wohl von ihm erzählt hatten.
»Bist du allein hier?«, fragte Georg.
»Ich bin verabredet«, sagte Johann.
»Alles klar. Ich bin mit ehemaligen Kollegen hier. Wenn du jetzt wieder hier wohnst, können wir uns ja mal treffen«, schlug Georg vor. »Hier meine Karte«, sagte er und reichte Johann eine Visitenkarte.
»Ich melde mich«, entgegnete Johann, obwohl er nicht wirklich davon ausging, dass er es auch tun würde. Er musste sich die Zeit, die ihm noch blieb, sorgfältig einteilen. Die wenigen Tage, die er noch in München verbringen würde, hoffte er mit dieser Frau zu verbringen, in die er sich auf den ersten Blick verliebt hatte.
»Dann auf bald«, verabschiedete sich Georg und verschwand zwischen den zahlreichen Konzertbesuchern, die sich inzwischen im Club eingefunden hatten.
Während der Unterhaltung mit Georg hatte Johann den Eingang des Clubs nicht ständig im Blick behalten. Inzwischen waren wohl die meisten Konzertbesucher eingetroffen, es kamen nur noch vereinzelte Gäste herein. Als kurz darauf die Tür geschlossen wurde, wusste er, dass er nun etwas Glück brauchte, um sie zu finden. Es waren etwa zweihundert Gäste in dem nur durch Wandlampen beleuchteten Raum.
Sie ist wohl nicht hier, dachte er, nachdem er sich einige Male umgesehen hatte und sie nirgendwo entdecken konnte. Als die Wandbeleuchtung bald darauf auf ein Minimum heruntergedimmt wurde und Scheinwerfer die Bühne ausleuchteten, musste er seine Suche erst einmal einstellen. Da er aber noch nicht aufgeben wollte, beschloss er, die Pause abzuwarten. Sobald das Licht wieder anging, würde er sich erneut umschauen.
Höre ich mir eben die Musik an, dachte er, als fünf Männer in schwarzen Anzügen, alle um die siebzig, die Bühne betraten. Johann war beeindruckt, wie elegant und leichtfüßig die beiden Gitarristen und die beiden Saxophonisten sich noch auf der Bühne bewegten. Der Pianist und Sänger der Band übertraf die anderen allerdings noch, was seine Bewegungen betraf, als er einige der Stücke im Stehen spielte und sich dabei im Rhythmus der Musik wiegte. Es ist auf keinen Fall ein vertaner Abend, selbst wenn mir ein Wiedersehen mit ihr nicht vergönnt ist, dachte Johann.
*
Obwohl Ottilie davon ausging, dass sie sich geirrt hatte, als sie glaubte, den Mann gesehen zu haben, der sie in der letzten Nacht in ihren Träumen verfolgt hatte, sah sie sich trotzdem während des Auftrittes der Band immer wieder um, ob er es nicht vielleicht doch gewesen sein könnte. Aber es war einfach zu dunkel, um die Gesichter der Menschen, die an den weiter entfernten Tischen saßen, erkennen zu können.
Sie und ihre beiden Freundinnen hatten noch einen der Tische vor der Bühne erobert, und als die Band auf die Bühne kam, stellte sie ihre Suche auch erst einmal ein. Schließlich war sie wegen des Konzertes gekommen und wollte die Musik hören. Der Mann, nach dem sie Ausschau hielt, war vermutlich ohnehin nicht im Raum.
»Irgendetwas ist doch mit dir«, raunte Emma ihr zu, nachdem der Beifall des Publikums nach der ersten Hälfte des Konzerts sich gelegt hatte.
»Das sehe ich genauso«, stimmte Sieglinde ihr zu. »Nun sag schon. Fühlst du dich verfolgt, weil du dich ständig umsiehst?«
»Es wäre schön, wenn er mich verfolgen würde.«
»Wer?«, fragten Sieglinde und Emma gleichzeitig, als das Licht sich wieder einschaltete.
»Vergesst, was ich gesagt habe, er ist wirklich hier«, flüsterte Ottilie, die sich erneut umgeschaut und ihn auf einem Hocker an der Bar entdeckt hatte.
»Wer ist hier?«, wollten Emma und Sieglinde wissen.
»Der Mann, in den ich mich verliebt habe«, antwortete Ottilie leise.
»Sprichst du von dieser gut aussehenden Erscheinung in dem weißen Hemd und der hellblauen Jeans ganz rechts an der Bar? Diesen Mann, den du gerade anstarrst?«, fragte Sieglinde.
»Ihr entschuldigt mich«, sagte Ottilie. Sie hatte beschlossen, zu ihm zu gehen, und das musste sie sofort in die Tat umsetzen, bevor sie der Mut verließ. Noch wusste sie nicht, ob er allein in den Club gekommen war, und sie wusste auch nicht, ob er sich überhaupt an sie erinnern würde oder daran interessiert war, sie wiederzusehen. Sie spürte, wie ihr Herz schneller klopfte, als sie sich der Bar näherte und er plötzlich in ihre Richtung schaute. Sein Lächeln ermutigte sie weiterzugehen, und als er von seinem Stuhl aufstand und einen Schritt auf sie zu machte, wusste sie, dass er sich sehr wohl an sie erinnerte.
»Hallo«, sagte er, als sie sich gleich darauf umringt von fremden Menschen, die zur Bar drängten, gegenüberstanden.
»Hallo«, antwortete sie und störte sich nicht an den anderen, die einen Bogen um sie herum machen mussten, um zur Bar zu gelangen. »Wir haben offensichtlich den gleichen Musikgeschmack«, stellte sie lächelnd fest.
»Die Musik gefällt mir, das stimmt, aber deshalb bin ich nicht hier«, entgegnete er und betrachtete sie mit einem zärtlichen Blick.
»Dann begleiten Sie wohl jemanden«, sagte sie und schaute sich um, ob sie beobachtet wurden, konnte aber auf den ersten Blick niemanden entdecken, der sich für ihre Begegnung interessierte.
»Nein, ich bin allein hier. Ich habe die Eintrittskarte gesehen, die Sie gestern bei sich hatten, und gehofft, Sie würden hier sein«, ließ er sie wissen, dass diese Begegnung kein Zufall war.
»Ich bin mit zwei Freundinnen hier«, sagte sie.
»Die Sie offensichtlich bereits vermissen«, stellte er fest, als er die beiden Frauen in Ottilies Alter sah, die an einem Tisch in der Nähe der Bühne saßen und angestrengt in ihre Richtung blickten.
»Sie kommen schon zurecht.«
»Wunderbar, dann trinken wir beide jetzt etwas an der Bar. Ich bin Hannes«, stellte er sich ihr mit dem Namen vor, unter dem ihn seine Freunde kannten.
»Ottilie«, sagte sie.
»Nimmst du meine Einladung an?«
»Ja, gern«, antwortete sie lächelnd. Es erschien ihr selbstverständlich, dass sie sich duzten, so wie es alle taten, die sich in einem Musikclub oder einer Bar begegneten.
Es dauerte eine Weile, bis sie an der Bar etwas bestellen konnten. Aber nach und nach wurde es leerer am Tresen. Die Gäste des Clubs gingen mit ihren Getränken zurück an ihre Tische und warteten darauf, dass das Konzert weiterging.
»Wir amüsieren uns, Süße. Mach dir keine Gedanken um uns«, sagte Emma, die sich inzwischen unbemerkt von Ottilie zur Bar vorgekämpft hatte und ihnen mit zwei Gläsern Wein in der Hand entgegenkam. Sie schenkte Hannes ein Lächeln und huschte davon.
»Das war Emma«, sagte Ottilie.
»Ich mag sie«, erklärte Hannes lächelnd. Es gefiel ihm, dass Emma ihrer Freundin gleich zu verstehen gegeben hatte, dass sie und die dritte im Bunde sich nicht zurückgesetzt fühlten, sollte Ottilie nicht gleich wieder zu ihnen an den Tisch kommen. »Was möchtest du trinken?«, fragte er, nachdem sie zwei freie Barhocker für sich erobert hatten.
»Einen Wodka Bitter Lemon.«
»Zwei, bitte«, sagte Hannes, als der Barkeeper, ein junger Mann mit dunklen Locken, ihn anschaute.
»Kommt sofort.«
»Wie lange wohnst du schon in München?«, wollte Hannes von Ottilie wissen, nachdem sie ihre Getränke bekommen hatten.
»Seit einem Jahr. Ich habe vorher in Heilbronn gelebt.«
»Dann kennst du sicher auch den Ottilienberg, der als magischer Ort gilt.«
»Allerdings, ich bin dort geboren. Meine Mutter wurde während eines Spaziergangs von meiner Geburt überrascht«, erzählte ihm Ottilie.
»Ein spannender Anfang für ein Leben. Offensichtlich liebst du das Abenteuer«, sagte er und betrachtete sie mit einem liebevollen Lächeln.
»Ich denke, dass wir alle das Abenteuer lieben, aber nicht alle besitzen den Mut, sich auf ein Abenteuer einzulassen. Darf ich dich fragen, was du von Beruf bist?«, fragte Ottilie.
»Ich habe bis vor Kurzem als Meeresbiologe gearbeitet. Inzwischen bin ich im Ruhestand.«
»Meeresbiologe? Das klingt auf jeden Fall nach der Bereitschaft zum Abenteuer«, stellte Ottilie fest.
»Schon, ohne den Mut zum Abenteuer wagt sich wohl niemand in die Tiefen des Ozeans oder der Meere abzutauchen.«
»Nein, mit Sicherheit nicht«, stimmte Ottilie ihm zu. Dieser Mann sah nicht nur gut aus und war äußerst charmant, er hatte auch viel erlebt. »Was interessiert dich mehr, die Pflanzen- oder die Tierwelt?«, fragte sie ihn.
»Beides, die Welt, die sich in unseren Meeren verbirgt, ist unglaublich schön, farbenprächtig, voller zarter und starker Wesen«, sagte er und erzählte ihr von einem Tauchgang in der Südsee.
Ottilie sah, wie seine Augen leuchteten, während er ihr das Leben unter Wasser schilderte. So wie die meisten Wissenschaftler brannte er für seine Arbeit, es war seine Leidenschaft. Die Begeisterung für das, was sie taten, gab ihnen die Gewissheit, irgendwann auf ein erfülltes Leben zurückblicken zu können, ein Gefühl, das vielen Menschen nicht vergönnt war.
»Schade, ich hätte dir gern noch weiter zugehört«, sagte Ottilie, als die Band wieder auf die Bühne kam, das Licht gelöscht wurde und die Musik so laut war, dass sie Hannes nicht mehr verstand. Der Auftritt der Bluesband war ihr nicht mehr so wichtig, sie wollte lieber noch mehr über Hannes erfahren.
»Wir könnten auch gehen«, raunte er ihr zu.
»Dann sollten wir es auch tun«, sagte sie. Bevor sie den Club verließen, schrieb sie Emma noch eine SMS, dass sie und Sieglinde nach dem Konzert nicht nach ihr suchen mussten. Morgen würde sie ihnen erklären, warum sie gegangen war.
Als Hannes eine Bar in der Nähe des Clubs vorschlug, in der sie sich ungestörter unterhalten konnten, ließ sie ihr Auto erst einmal stehen. Sollte sie sich noch einen Wodka Bitter Lemon oder ein anderes alkoholisches Getränk erlauben, würde sie ohnehin mit dem Taxi nach Hause fahren und ihren Wagen am nächsten Tag abholen.
*
Die Bar, in die Hannes sie führte, lag genau wie der Bluesclub in einem Kellergewölbe im Hinterhof eines Hauses aus der Gründerzeit. Deckenstrahler und Wandleuchten tauchten den Raum in ein sanftes Licht. Um den runden Bartresen in der Mitte des Raumes standen runde Tische mit bequemen weinroten Sesseln und Sofas. Noch war es früh am Abend, und es waren noch einige Tische frei.
Sie entschieden sich für den Tisch mit dem Sofa, das von zwei Fächerpalmen flankiert in der vom Eingang am weitesten entfernten Ecke des Raumes stand. Sie blieben bei Wodka Bitter Lemon und stießen auf ihr Wiedersehen an. Zuerst erzählte Hannes Ottilie noch von weiteren faszinierenden Tauchgängen, danach wollte er von ihr wissen, wofür sie sich begeisterte.
»Genau wie du, habe auch ich mir einen Beruf ausgesucht, der mich erfüllt«, sagte sie und erzählte ihm von ihren vielen Jahren als Psychologin. »So ganz kann ich von meinem Beruf noch nicht lassen. Das war wohl einer der Gründe, warum ich mit meiner Tochter nach München gezogen bin, als sie beschloss, hier eine Praxis zu eröffnen«, erzählte sie ihm.
»Das heißt, du übernimmst hin und wieder Patienten?«
»Ja, schon«, gab sie lächelnd zu. »Ich nehme an, du gehst hin und wieder auch noch tauchen.«
»Wer die Unterwasserwelt einmal erlebt hat, den zieht es immer wieder dorthin.« Mit dieser Antwort konnte er es umgehen, ihr zu gestehen, dass er das Tauchen inzwischen aufgegeben hatte. Nicht weil er es wollte, sondern weil er es musste. Nach seiner Diagnose war es bisher nur darum gegangen, noch möglichst viel Zeit mit seiner Familie zu verbringen. Tauchgänge waren zu gefährlich für seine angeschlagene Gesundheit.
»Als Teenager war ich einige Mal mit dem Schnorchel im Mittelmeer unterwegs, mehr habe ich von der Welt unter dem Wasser noch nicht gesehen«, gab Ottilie zu.
»Du kannst es nachholen.«
»Du meinst, ich könnte in meinem Alter noch Tauchen lernen?«, wunderte sie sich.
»Du brauchst nur die Tauglichkeitsbescheinigung eines Arztes. Du musst also nur gesund sein, dann kannst du in diese Welt eintauchen.«
»Ich werde darüber nachdenken. Du hast gesagt, dass du in Kiel gearbeitet hast. Wohnst du auch in Kiel?«, fragte sie ihn.
»Nein, ich bin vor Kurzem nach München gezogen. München ist meine Heimatstadt. Ich bin hier geboren und aufgewachsen.«
»Ich halte eine örtliche Veränderung nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben für eine gute Sache. Sich auf etwas Neues einzulassen, hält uns jung«, sagte Ottilie.
»Wenn ich dich so ansehe, kann ich dem nur zustimmen. Dieses Kleid steht dir übrigens ganz wundervoll. Das wollte ich dir schon in der Bar sagen. Aber ich dachte, ich lerne dich erst einmal ein bisschen kennen, bevor ich dir ein Kompliment mache.«
»Du meinst, ich nehme keine Komplimente von Fremden an?«
»Ich wollte kein Risiko eingehen«, entgegnete er lächelnd. »Du sagtest, du bist mit deiner Tochter nach München gezogen. Was ist mit dem Vater deiner Tochter?«
»Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist«, sagte sie und erzählte ihm von ihrem Mann, der als junger Arzt eine Expedition von Höhlenforschern in den Anden begleitet hatte und nie zurückkehrte. »Olivia war gerade erst geboren, als er fort ging. Sie hat ihn nie bewusst kennengelernt. Was ist mit dir? Hast du Familie?«
»Ja, habe ich«, sagte Johann und erzählte Ottilie von seiner verstorbenen Frau und seiner Tochter, die mit Mann und zwei kleinen Töchtern in Australien lebte. Sein Vorhaben, bald zu ihnen zu ziehen, erwähnte er nicht. Er sprach auch nicht über seine Krankheit. Nichts sollte diesen Abend mit Ottilie trüben. Er wollte weder ihr Mitleid noch wollte er zusehen müssen, wie sie sich mit einer Ausrede davonstahl, weil ihr sofort klar sein würde, dass sie ihre Zeit mit ihm vergeudete, da nie etwas aus ihnen werden konnte.
Weder Ottilie noch Hannes bekamen mit, wie die Bar sich gegen Mitternacht füllte. Sie hatten nur Augen füreinander, wollten alles voneinander wissen. Die Liebe war in jedem Alter überwältigend. So sehr sich die beiden auch bemühten, sich einzureden, dass sie einfach nur einen schönen Abend miteinander verbrachten, es war nicht die Wahrheit. Die Wahrheit war, dass sie sich ineinander verliebt hatten und mehr voneinander wollten als diesen einen Abend.
Es ist unfair ihr gegenüber, dachte Hannes, als er Ottilie gegen halb drei zu dem Taxi begleitete, dass sie für sich gerufen hatte, aber er konnte einfach nicht anders, als sie um ein Wiedersehen zu bitten. »Bist du schon einmal mit einem Ballon über die Alpen gefahren?«, fragte er sie, bevor er sich von ihr verabschiedete.
»Nein, bisher noch nicht«, antwortete sie.
»Ich könnte für Sonntag eine Fahrt organisieren. Würdest du mit mir kommen?«
»Sehr gern, Hannes«, sagte sie, und ihr wurde ganz warm ums Herz, weil er sie um ein Wiedersehen bat.
»Darf ich dich am Sonntag um zehn Uhr abholen?«, fragte er sie. Inzwischen wusste er ja, dass sie tatsächlich in diesem Haus mit dem verzauberten Garten direkt neben dem Grundstück von Doktor Norden wohnte.
»Ich freue mich darauf.«
»Bis dann, Ottilie«, sagte Hannes. Er umfasste ihre Hand, zog sie an seine Lippen und küsste sie sanft, bevor er sie wieder losließ und ihr die hintere Wagentür des Taxis aufhielt.
»Bis Sonntag«, entgegnete Ottilie lächelnd und stieg in das Taxi. Nachdem sie dem Fahrer ihre Adresse genannt hatte, schaute sie aus dem Fenster und winkte Hannes, der vom Licht einer Straßenlaterne angestrahlt wurde, noch einmal zu. Es war ein wundervoller Abend, dachte sie und berührte ihre Wange mit der Hand, die Hannes zuvor umfasst hatte.
*
»Ich bin sicher, du hattest einen schönen Abend«, sagte Olivia, als Ottilie am nächsten Morgen in die Küche hinunter kam. Sie konnte das Strahlen in den Augen ihrer Mutter sehen, das ihr verriet, wie sie sich fühlte. Außerdem wusste sie, dass Ottilie erst nach drei Uhr am Morgen nach Hause gekommen war. Ein Zeichen dafür, dass sie sich nicht mit ihren Freundinnen gelangweilt hatte.
»Es war ein ganz wundervoller Abend«, sagte Ottilie und goss sich einen Kaffee aus der Kanne ein, die auf einer Warmhalteplatte stand.
»Erzähle mir mehr«, bat Olivia, als Ottilie in eines der Croissants biss, die Olivia aus der Tiefkühltruhe geholt und für das Frühstück aufgebacken hatte.
»Zuerst sag mir, warum Daniel nicht mit dir frühstückt. Wäre er noch hier, hättest du den Tisch gedeckt und würdest nicht hier in der Küche im Stehen einen Kaffee trinken.«
»Korbinian Merzinger hat gestern Abend angerufen und ihn gebeten, mal wieder bei den Bogenschützen einzuspringen. Sie nehmen heute an einem Wettbewerb in Ingolstadt teil, und einer aus dem Verein, der mitfahren sollte, ist überraschend krank geworden. Daniel hat schon um sieben Uhr das Haus verlassen.«
»Du siehst blass aus, Schatz. Geht es dir wieder schlechter?«, fragte Ottilie, als sie Olivia anschaute.
»Nein, es ist alles gut«, versicherte sie ihrer Mutter und sah auf die Kirschbäume vor dem Küchenfenster, deren Blätter in goldfarbenen Tönen leuchteten. »Wolltest du mir nicht von gestern Abend erzählen«, erinnerte sie Ottilie an ihre Frage.
»Ich habe ihn wiedergesehen.«
»Wen hast du wiedergesehen?«
»Den Mann, dem ich vorgestern hier vor dem Haus begegnet bin.«
»Du meinst den Mann, in den du dich verliebt hast?«
»Er war gestern Abend im Club.«
»Ein wundervoller Zufall.«
»Nein, kein Zufall. Er hatte meine Eintrittskarte gesehen, die aus meinem Einkaufskorb gefallen war, und gehofft, dass ich im Club sein würde«, klärte Ottilie ihre Tochter auf und erzählte ihr von Hannes und dem Abend mit ihm.
»Mama, ich freue mich für dich«, sagte Olivia und streichelte ihrer Mutter liebevoll über den Rücken.
»Mal sehen, was daraus wird«, entgegnete Ottilie nachdenklich.
»Du musst nicht gleich an die Zukunft denken. Genieße einfach die Gegenwart.«
»Du hast recht, ich sollte nicht so viel nachdenken«, stimmte Ottilie ihr zu. »Was ist, Kind?«, fragte sie erschrocken, als Olivia plötzlich aufsprang und in das Gästebad in der Diele rannte. »Ich denke, das sollten wir jetzt klären«, sagte sie leise und ging zur Garderobe in der Diele. »Olivia, ich bin gleich wieder zurück! Ich muss etwas besorgen!«, rief Ottilie in Richtung Badezimmer. Sie nahm ihren Mantel von der Garderobe und verließ das Haus.
Als Olivia ein paar Minuten später wieder aus dem Bad kam, zog sie die Strickjacke an, die auf dem Sofa lag, und ging hinaus in den Garten. Sie liebte diese kühlen sonnigen Tage des Herbstes, die klare Luft und die bunten Farben. Ich sollte Daniel vorschlagen, mal wieder ein Wochenende in die Berge zu fahren, dachte sie, vielleicht in eine Berghütte. Sie fand es schön, hin und wieder mit ihm allein zu sein, ohne Gefahr zu laufen, dass das Telefon klingelte und er zu einem Notfall musste.
Sie betrachtete die Rosenstöcke, die die letzten Blüten des Jahres hervorgebracht hatten, erfreute sich an dem Laub, das unter ihren Füßen raschelte. Irgendetwas stimmt nicht mit mir, dachte sie. Sie konnte sich nicht länger etwas vormachen, diese Übelkeit war nicht nur eine harmlose Magenverstimmung, es musste etwas anderes sein.
»Ich bin zurück, Olivia. Ich habe etwas für dich«, sagte Ottilie, die zu ihr in den Garten kam. »Hier.«
»Was ist das?«, wunderte sich Olivia, als ihre Mutter ihr eine Papiertüte mit dem Aufdruck einer Apotheke reichte.
»Ich denke, das brauchst du jetzt«, sagte Ottilie.
»Ist das dein Ernst?« Olivia sah ihre Mutter verblüfft an, nachdem sie in die Tüte geschaut hatte.
»Ja, ist es«, entgegnete Ottilie lächelnd.
»Du denkst, dass mir deshalb übel ist?«, fragte Olivia und holte die Schachtel mit dem Schwangerschaftstest aus der Tüte heraus.
»Du solltest dir Gewissheit verschaffen. Du musst doch auch schon daran gedacht haben, dass du schwanger sein könntest.«
»Nein, ehrlich gesagt, habe ich nicht daran gedacht«, musste Olivia zugeben. Es erschien ihr immer noch äußerst unwahrscheinlich, dass sie schwanger sein sollte.
»Gibt es denn keine Anzeichen?«
»Nein, keine, meine Periode ist auch nicht ausgeblieben.«
»So etwas kann vorkommen.«
»Ja, ich weiß«, stimmte Olivia ihrer Mutter zu. »Aber Daniel und ich sind erst seit einigen Monaten zusammen, und ich war nicht darauf aus, schwanger zu werden.«
»Es gibt immer wieder Überraschungen«, entgegnete Ottilie schmunzelnd.
»Schon gut, ich werde den Test machen. Bis gleich«, sagte Olivia und ging ins Haus. Auch wenn sie nach wie vor davon ausging, dass sie nicht schwanger war, würde sie den Test jetzt machen.
Ein paar Minuten später wusste sie, dass ihre Mutter recht hatte. Der Test bestätigte es, sie erwartete ein Kind von Daniel. Wieso habe ich diese Möglichkeit gar nicht in Betracht gezogen?, fragte sie sich, als sie sich mit den Händen auf dem Waschbecken abstützte und in den Spiegel schaute. Was würde Daniel sagen, wenn er es erfuhr? Zunächst muss ich es erst einmal selbst begreifen, dachte sie.
»Ist er positiv?«, fragte Ottilie, die im Esszimmer auf sie wartete, als sie aus dem Bad kam.
»Die Tests sind nicht zu hundert Prozent sicher.«
»Olivia, bitte, mach es nicht spannend.«
»Ja, es stimmt, ich erwarte ein Kind«, sagte Olivia und setzte sich auf das grüne Sofa.
»Das ist eine wundervolle Nachricht«, entgegnete Ottilie, setzte sich neben sie und nahm sie in den Arm.
»Nach Ophelias Geburt habe ich nie wieder daran gedacht, noch einmal ein Kind zu bekommen«, gestand Olivia ihrer Mutter. Nach Ophelias Vater war ihr auch nie wieder jemand begegnet, den sie sich als Vater für ihr Kind hätte vorstellen können. Mit Daniel war es anders, mit ihm konnte sie es sich vorstellen. Die Frage war nur, ob er das genauso sah. »Sage bitte noch niemandem etwas. Ich will die Schwangerschaft erst von meiner Ärztin bestätigen lassen.«
»Ich behalte es für mich, mein Schatz«, versicherte Ottilie ihrer Tochter. »Und du teilst das Geheimnis mit uns«, sagte sie und streichelte Ortrud, die auf ihren Schoß sprang und laut schnurrte.
»Ich denke, auf Ortrud können wir uns verlassen«, sagte Olivia lachend und kraulte den Kopf der Katze. »Wie wäre es, wenn wir jetzt zum Parkhaus fahren, um dein Auto zu holen«, schlug Olivia Ottilie vor, weil sie eine kleine Ablenkung von den vielen Gedanken, die ihr jetzt durch den Kopf gingen, dringend nötig hatte.
»In Ordnung, fahren wir in die Stadt«, erklärte sich Ottilie sofort einverstanden. Sie ahnte, was gerade in ihrer Tochter vor sich ging.
*
Daniel kam am späten Nachmittag aus Ingolstadt zurück. Olivia war einige Male kurz davor, ihm von dem Kind, das sie erwartete, zu erzählen, aber sie tat es dann doch nicht. Sie hatte beschlossen, diesem Geständnis einen ganz besonderen Rahmen zu geben. Vielleicht sollte sie einen besonderen Ort auswählen, einen Ort, der ihnen beiden etwas bedeutete. Wäre es Sommer, hätte sie ihn zu einer Gondelfahrt auf den Kanälen im Park von Schloss Nymphenburg eingeladen, dem Ort, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Aber die Saison war vorbei, und sie musste sich etwas anderes einfallen lassen.
»Wie wäre es, wenn wir mal wieder ein Wochenende am Starnberger See verbringen würden?«, fragte sie ihn, als er an diesem Abend bei ihr blieb und er sie in seine Arme nahm, als sie in dieser Nacht schlafen gingen.
»Am nächsten Wochenende habe ich Notdienst. Wie wäre es in vierzehn Tagen?«
»Ja, bitte, das wäre wundervoll.«
»Gut, dann buche ich uns ein Zimmer.«
»In unserem Hotel?«
»Auf jeden Fall«, sagte er und küsste sie zärtlich.
Sie schmiegte sich in seine Arme und schloss die Augen. Dieses Hotel am Starnberger See, in dem sie während einer stürmischen Nacht Schutz gesucht hatten und sich das erste Mal liebten, war der richtige Ort, um ihm zu erzählen, dass er Vater wurde.
*
Ottilie hatte am Samstagabend noch lange mit Emma und Sieglinde per Videokonferenz gesprochen. Die beiden wollten natürlich alles über Hannes wissen. Wer er war, woher sie ihn kannte und ob sie vorhatte, ihn näher kennenzulernen. Die beiden waren schon seit vielen Jahren glücklich verheiratet, und Ottilie wusste, sie meinten es aufrichtig, wenn sie ihr versicherten, dass sie sich von ganzem Herzen wünschten, Hannes möge mehr als nur ein flüchtiges Abenteuer für sie sein.
Am Sonntagmorgen war das Wetter perfekt für eine Fahrt mit dem Heißluftballon. Der Himmel war strahlendblau, und es war angenehm warm. Als der weiße Mercedes vor ihrem Haus anhielt, waren Olivia und Daniel gerade zu einem Spaziergang aufgebrochen, und Ophelia, die auch am Samstag bei ihrer Freundin übernachtet hatte, war noch nicht zurück. So konnte niemand sehen, dass sie erneut so aufgeregt wie ein junges Mädchen war, das noch nie mit einem Jungen ausgegangen war. Für die Fahrt mit dem Ballon trug sie Jeans und Pullover und nahm ihre gefütterte gelbe Steppjacke und einen dicken Wollschal mit.
Hannes machte ihr das erneute Wiedersehen ganz leicht, begrüßte sie mit einer liebevollen Umarmung und hielt ihr die Beifahrertür seines Wagens auf. Als er sich danach hinter das Steuer setzte und sie in ein Gespräch über die Schönheit der Alpen verwickelte, verflog ihre Befangenheit, und sie fühlte sich einfach nur wohl an seiner Seite.
Der Ballon sollte um zwölf auf einem Feld am Stadtrand von Garmisch abheben. Gegen elf trafen sie dort ein und aßen noch eine Kleinigkeit in einem Waldcafé, das nur ein paar Minuten vom Startplatz entfernt war. Um zwölf stiegen sie in den Korb, der zu dem leuchtend blauen Ballon gehörte. Außer Franz, dem Piloten des Ballons, einem freundlichen älteren Mann mit Schnauzbart, der einen roten Anorak und eine gelbe Wollmütze trug, waren nur Ottilie und Hannes an Bord. Hannes hatte einen Aufpreis bezahlt, damit er mit Ottilie allein sein konnte.
Als der Ballon vom Boden abhob, war Ottilie erstaunt darüber, wie schnell er in die Höhe stieg, sodass die Dörfer, Felder und Wiesen unter ihnen bald wie eine Spielzeuglandschaft aussahen.
»Auf diese Weise in die Luft zu steigen, das bedeutet, die Natur wirklich zu erleben. In einem Flugzeug braust du einfach nur über die Erde hinweg und nimmst ihre Schönheit gar nicht richtig wahr«, sagte Hannes.
»Der Anblick ist atemberaubend schön«, entgegnete Ottilie, als sie bald darauf hoch genug hinaufgestiegen waren, um über die Gipfel der Berge hinweg zu schweben.
Das in der Sonne glitzernde Schneeplatt der Zugspitze, die Alpen mit ihren Gipfeln in Bayern, der Schweiz und Österreich erschienen wie ein Meer aus Bergen, gewaltig und unverrückbar, so als könnte nichts ihnen jemals etwas anhaben. Hannes stand hinter Ottilie, machte sie auf den einen oder anderen Berg in der Ferne aufmerksam, der mit einer besonders interessanten Gipfelform auffiel. Sie hörte ihm zu, und manchmal, wenn sie sich bewegte, berührte sie ihn. Diese Berührung war so angenehm, dass sie sich irgendwann an ihn lehnte, nur ganz leicht, aber so, dass sie sich mit ihm verbunden fühlte.
Während sie die Gipfel überquerten, gab Franz einige Sagen aus dem Allgäu zum Besten. Er erzählte von Berggeistern, die ihre Tiere vor der Gier der Menschen schützten und die Gewehre der Jäger in Flammen aufgehen ließen, von anderen, die es blitzen und donnern ließen, wenn ihnen die Arbeit auf den Berghöfen missfiel.
Nach der Hälfte der geplanten Strecke öffnete Hannes die Flasche Champagner, die er mitgebracht hatte. »Ich werde mich immer an dieses Abenteuer mit dir erinnern«, sagte er.
»Ich werde diesen Tag auch nicht vergessen«, entgegnete Ottilie. Ich hoffe allerdings auf weitere Tage wie diesen, dachte sie, nachdem sie miteinander angestoßen hatten und sie den prickelnden Geschmack des Champagners noch auf ihrer Zunge spürte.
Hannes ging nicht mehr weiter darauf ein, ob sie sich wiedersehen würden oder nicht. Er sprach über die Landschaft, auf die sie hinunterschauten, zeigte ihr die Gipfel, die er in seiner Jugend bestiegen hatte. In seiner Stimme lag so viel Ehrfurcht vor der Schönheit der Natur, dass sie sich allein deshalb in ihn hätte verlieben können.
Als sie nach vier Stunden auf einem Feld auf der österreichischen Seite der Alpen landeten, hatte Ottilie das Gefühl, als ginge ein wundervoller Traum zu Ende, der sich nie wiederholen würde. Auch wenn Hannes versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, spürte sie doch, dass ihn etwas quälte. Aber sie wagte es nicht, ihn darauf anzusprechen. Sie redete sich ein, dass sie es nicht tat, weil sie ihn noch nicht gut kannte, aber so war es nicht. Sie tat es nicht, weil sie noch ein bisschen weiter träumen wollte. Sie wollte nicht von ihm hören, dass sie sich nie wiedersehen würden, weil er vielleicht doch nicht so ungebunden war, wie sie es angenommen hatte.
Ich werde einfach abwarten, wie es weitergeht, dachte sie, als sie nach der Landung in den Geländewagen stiegen, mit dem der Veranstalter der Ballonfahrt sie wieder an den Ausgangspunkt zurückbringen würde.
»Auf bald, ich denk, ich werd euch bald wieder zu einer Fahrt mit dem Ballon begrüßen können. Ihr schaut echt begeistert aus«, hatte Franz, ihr Pilot, zu ihnen gesagt, nachdem sie sich von ihm verabschiedet hatten.
Da Hannes nur mit einem Lächeln geantwortet hatte, hatte auch Ottilie nichts dazu gesagt. Wieder in Garmisch angekommen schlug Hannes vor, dass sie in der Stadt zu Abend essen könnten, und Ottilie willigte ein. Hannes erzählte ihr von einem Restaurant mit französischer Küche, das nicht nur die Touristen, sondern auch die Einheimischen in den höchsten Tönen lobten.
»Wir sollten es ausprobieren«, sagte Ottilie.
»Sehr gern«, antwortete Hannes lächelnd.
Das Restaurant am Ufer der Loisach gefiel Ottilie. Es war geschmackvoll eingerichtet. Bodenfliesen aus hellem Terrakotta, die Wände mit weißem Rauputz angelegt und die Bar mit dem reich bestückten Weinregal aus weißen Steinen gemauert. Weiße Tischtücher auf jedem Tisch, funkelnde Gläser und glänzendes Porzellan vervollständigten das elegante Ambiente.
»Es ist wirklich schön hier«, sagte Ottilie, nachdem sie sich an einen der Tische am Fenster gesetzt hatten. Sie schaute auf den Fluss hinaus, sah zu, wie sich das Wasser kräuselte und die sanften Wellen über die Kiesbänke hinweg ans Ufer spülten.
»Was möchtest du trinken?«, fragte Hannes, nachdem ein Kellner im schwarzen Anzug und weißem Hemd ihnen die Speise- und Getränkekarte gebracht hatte.
»Da ich davon ausgehe, dass du mich nachher nach Hause bringst, könnte ich mir noch einen Wein nach dem Champagner von vorhin erlauben«, sagte Ottilie und bestellte ein Glas Roséwein, während Hannes, der noch fahren musste, sich eine Flasche Wasser bringen ließ.
Nach einem Blick in die Speisekarte einigten sie sich auf eine Platte mit Meeresfrüchten und Salat für zwei Personen. Ottilie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal gemeinsam mit einem Mann ein Essen für zwei bestellt hatte. Alles, was sie gerade mit Hannes erlebte, hatte sie schon lange nicht mehr erlebt. Das erste Mal seit Langem wurde ihr klar, wie sehr sie das alles vermisst hatte.
»Alles in Ordnung? Geht es dir gut?«, fragte Hannes, als der Kellner ihnen die Getränke servierte und sie noch einmal auf diesen Tag anstießen.
»Ja, Hannes, es geht mir gut«, versicherte sie ihm und hielt seinen Blick fest, als er sie mit seinen stahlblauen Augen anschaute.
Während des Essens kamen sie wieder auf seine Arbeit als Meeresbiologe zu sprechen, und Ottilie hörte ihm ebenso fasziniert zu wie schon zwei Tage zuvor, als sie die halbe Nacht in dieser Bar saßen. Manchmal, wenn er kurz innehielt, weil er über etwas nachdachte und sich ihre Blicke trafen, spürte Ottilie bereits, wie sehr sie ihn vermissen würde, sollten sie sich nicht wiedersehen.
»Wir könnten noch ein paar Schritte laufen, bevor wir zurück nach München fahren«, schlug Hannes vor, als sie gegen zehn das Restaurant verließen.
»Eine gute Idee«, erklärte Ottilie sich sofort einverstanden.
»Vorsichtig«, sagte Hannes, als sie zum Ufer hinuntergingen und Ottilie in der Dunkelheit beinahe an einem Ast hängenblieb, der in den Weg hineinragte. Er hatte ihre Hand umfasst und sie behutsam zur Seite gezogen.
Es fühlt sich wundervoll an, dachte sie, als sie weitergingen und er ihre Hand umfasst hielt, so als wäre es ganz selbstverständlich. Auch als sie das Flussufer erreichten und über den feinen weißen Kies liefen, der im Mondlicht silbrig schimmerte, ließ er sie nicht los.
»Nach was hältst du Ausschau?«, fragte sie ihn, als er immer wieder an den Himmel schaute, so als könnte er sich an den Sternen, die dort funkelten, nicht sattsehen.
»Ich hoffe darauf, ein paar Sternschnuppen zu sehen«, sagte er und wandte sich ihr zu.
»Willst du dir etwas wünschen?«
»Ja, das will ich unbedingt.«
»Hast du viele Wünsche?«
»Ich habe nur einen großen Wunsch.« Sollte er mir erfüllt werden, muss ich mir nichts mehr wünschen, dann kann ich mein Leben so gestalten, wie ich es mir gerade erträume, dachte Hannes. Aber dieses Wunder würde nicht passieren, seine Krankheit war schon zu weit fortgeschritten. Das hatten ihm die Ärzte nach seinem Fahrradunfall unmissverständlich zu verstehen gegeben, und Daniel Norden hatte es ihm noch einmal bestätigt.
»Hannes, was ist mit dir?«, fragte Ottilie, als das Mondlicht auf ihn fiel und sie die Traurigkeit in seinen Augen sah. Sie konnte dieses Gefühl, dass es ihm nicht gut ging, nicht mehr länger verdrängen.
»Sieh mal, der Himmel meint es gut mit mir«, flüsterte er und deutete an den Horizont. Ihre Frage wollte er ihr nicht beantworten, jedenfalls noch nicht.
»Ja, ganz offensichtlich«, stimmte sie ihm zu, als sie aufschaute und gleich mehrere Sternschnuppen nacheinander über den Nachthimmel jagten.
»Manchmal müssen wir nur fest an etwas glauben, dann wird es auch wahr«, sagte Ottilie, als Hannes sich ihr wieder zuwandte.
»Ja, ich weiß«, entgegnete er leise, auch wenn der Glaube in seinem Fall nichts mehr ausrichten konnte. »Ich bin unendlich dankbar, dass wir uns begegnet sind. Ich will dich wiedersehen, Ottilie.«
»Ich will dich auch wiedersehen, Hannes«, flüsterte sie, als er sie im nächsten Moment in seine Arme nahm.
»Dann sollten wir es auch tun«, sagte er und betrachtete sie mit einem zärtlichen Blick.
Dieser Tag sollte niemals enden, dachte Ottilie, als er sich über sie beugte und sie küsste. Es war ein Kuss zärtlich und leidenschaftlich zugleich, ein Kuss, der Ottilie keinen Raum mehr für Zweifel ließ. Sie hatte sich in diesen Mann verliebt, und sie sehnte sich nach mehr als nur nach einem Kuss.
Als sie sich schließlich wieder voneinander lösten, gingen sie noch eine Weile Hand in Hand am Ufer entlang und schmiedeten Pläne für die nächsten Tage. Es gab so vieles, was sie gern gemeinsam unternehmen wollten. Theater- und Kinobesuche, Tanzen gehen, Museen besuchen, Ausflüge in die Umgebung von München, das alles gehörte dazu.
»In diesem Moment empfinde ich es als großes Geschenk, das wir beide nicht mehr im Berufsleben stehen. Jetzt haben wir auch die Zeit, all diese Dinge zu tun«, sagte Ottilie.
»Die Zeit und ich sind keine Freunde. Ich finde, sie hat es meistens zu eilig«, entgegnete Hannes.
»Dann sollten wir sie ignorieren«, erwiderte Ottilie und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Sie ging davon aus, dass er von diesem Abend sprach, was in diesem Moment tatsächlich in ihm vor sich ging, konnte sie nicht ahnen.
*
Als Ottilie in dieser Nacht nach Hause kam, war es schon ganz ruhig im Haus. Nur Ortrud begrüßte sie in der Diele, als sie ihre Jacke und ihre Schuhe auszog. Sie ging davon aus, dass alle anderen schon schliefen. Aber sie hatte sich geirrt. Als sie in die Küche ging, um noch ein Glas Wasser zu trinken, sah sie Olivia im Schein einer Kerze, die auf dem Kamin stand, im Esszimmer auf dem Sofa sitzen.
»Was ist mit dir? Warum bist du nicht im Bett?«, wunderte sich Ottilie.
»Ich kann nicht schlafen. Mir geht so viel durch den Kopf«, sagte Olivia leise.
»Wo ist Daniel?«
»Er ist um elf gegangen.«
»Hattet ihr Streit?«, fragte Ottilie besorgt.
»Nein, es ist alles in Ordnung. Er muss nur morgen schon um sechs aufstehen, weil er vor der Sprechstunde noch einige Hausbesuche erledigen will. Er wollte mich morgen früh nicht stören, weil es mir in den letzten Tagen doch nicht gut ging.«
»Du hast ihm also wirklich nichts gesagt?«, fragte Ottilie und setzte sich mit einem Glas Wasser in der Hand neben ihre Tochter.
»Wir werden in vierzehn Tagen für ein Wochenende an den Starnberger See fahren. Dort werde ich es ihm sagen.«
»Du planst also eine romantische Atmosphäre für diese Eröffnung, die euer beider Leben verändern wird.«
»Ich denke, ein bisschen Romantik wäre als Rahmen für diesen einzigartigen Moment schon ganz nett.«
»Gute Idee, mein Schatz«, sagte Ottilie, legte den Arm um die Schultern ihrer Tochter und zog sie liebevoll an sich.
»Was ist mit dir? Hattest du auch einen romantischen Moment?«, fragte Olivia.
»Nicht nur einen, mehrere«, antwortete Ottilie mit einem glücklichen Lächeln.
»Willst du mir davon erzählen?«
»Ja, das würde ich gern tun.«
»Also dann, ich möchte es hören.«
»Wir haben während der Ballonfahrt Champagner getrunken«, sagte Ottilie, und dann erzählte sie Olivia von der Ballonfahrt, dem Besuch im Restaurant und ihrem nächtlichen Spaziergang an der Loisach.
»Dieser Mann besitzt offensichtlich viel Sinn für Romantik«, stellte Olivia fest, nachdem sie ihrer Mutter aufmerksam zugehört hatte.
»Er ist romantisch, zärtlich und einfühlsam, klug und unterhaltsam, und ich sehne mich nach seiner Nähe.«
»Ich würde Hannes sehr gern kennenlernen«, sagte Olivia. Bisher hatte ihre Mutter noch nie von einem Mann derart geschwärmt, und sie war wirklich gespannt, wer dieses Wunderwesen war, das diese Leidenschaft in ihr geweckt hatte.
»Ich könnte ihn in den nächsten Tagen zum Essen zu uns einladen«, schlug Ottilie vor.
»Das ist eine gute Idee.«
»Ich hoffe, du magst ihn, sonst kommst du noch auf die Idee, in mir auszureden.«
»Falls er kein Hochstapler ist, werde ich das sicher nicht tun. Es geht doch nicht darum, dass ich ihn mag. Wichtig ist nur, dass er dich glücklich macht.«
»Das tut er, Olivia.«
»Dann ist alles gut, Mama«, antwortete Olivia und hauchte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange.
*
Während Ottilie sich nun jeden Tag mit Hannes traf und jede Stunde mit ihm genoss, versuchte Olivia, sich vorzustellen, wie Daniel es aufnehmen würde, Vater zu werden. Sie war sich nicht sicher, ob er, nach dem, was er hinter sich hatte, schon wieder bereit für eine Familie war. Vielleicht wollte er dieses Leben ohne Verantwortung für eine Familie noch eine Weile auskosten. Sie waren zusammen, und sie waren glücklich, aber das bedeutete noch nicht, dass diese Beziehung auf Dauer halten würde.
Ihre Zweifel wurden größer, als sie und Daniel ein paar Tage später zusammen zum Tennis gingen, nach dem Spiel im Clubrestaurant noch etwas aßen und sie ihm von einer Bekannten erzählte, die gerade ein Baby bekommen hatte.
»Kinder sind ein Geschenk, und es ist sicher schön, sie aufwachsen zu sehen.«
»Aber?«, fragte Olivia, als Daniel plötzlich schwieg.
»Nichts aber, ich bin glücklich mit dir, Olivia, so wie es ist«, sagte er. Er wollte nicht, dass sie glaubte, er würde die Liebe an einer Familie mit eigenen Kindern festmachen. Das könnte sie glauben lassen, dass er in ihrer Beziehung keine Zukunft sah, obwohl genau das Gegenteil der Fall war.
»Ich bin auch glücklich mit dir«, sagte sie und hoffte, dass dieses Glück auch noch anhielt, nachdem sie ihm ihr Geheimnis anvertraut hatte.
Er hatte ihr schon vor langer Zeit von seiner großen Enttäuschung erzählt, die sein Leben vollkommen verändert hatte. Ob er für die nächste große Veränderung in seinem Leben schon bereit war, würde sie bald herausfinden.
»Was ist mit dir, Olivia? Haben wir beide Probleme, die ich nicht bemerkt habe?«, fragte er und umfasste ihre Hand.
»Aber nein, Daniel, wir haben keine Probleme. So etwas darfst du nicht denken«, versicherte sie ihm. »Vielleicht mache ich mir einfach zu viele Gedanken um meine Mutter und den Mann, den sie jetzt jeden Tag trifft«, sagte sie. Es war nicht wirklich eine Lüge. Sie wollte tatsächlich gern wissen, wer der Mann war, in den ihre Mutter sich so schnell verliebt hatte.
»Du musst dich nur noch zwei Tage gedulden, dann wirst du mehr über ihn erfahren«, erinnerte er sie an das Abendessen am Freitag, zu dem Ottilie auch ihn eingeladen hatte.
»Du hast recht, außerdem sollte ich der Menschenkenntnis meiner Mutter vertrauen.«
»Ja, unbedingt«, stimmte Daniel ihr zu. Auch wenn ihre Sorge um Ottilie durchaus ein Grund dafür sein konnte, dass sie seit einigen Tagen merklich ruhiger als sonst war, so ganz überzeugte ihn ihre Antwort nicht. Er spürte, dass da noch mehr war. Irgendetwas beschäftigte sie, aber ganz offensichtlich wollte sie nicht darüber sprechen.
»Ich denke, ich gehe heute mal früh schlafen«, sagte sie, als sie eine Stunde später den Tennisclub verließen und über den Parkplatz zu seinem Auto liefen.
»Wenn dir danach ist, solltest du das auch tun«, sagte er, obwohl er gar nicht den Eindruck hatte, dass sie wirklich müde war. »Da du morgen zu deiner Freundin nach Freising fährst, sehen wir uns wohl erst am Freitag wieder, nehme ich an.«
»Falls ich morgen nicht zu spät zurückkomme, melde ich mich noch bei dir«, versprach sie ihm. Sie hatte ihm zwar gleich am Montag erzählt, dass sie sich am Donnerstag mit einer Freundin treffen würde, hatte ihm aber verschwiegen, dass Madeleine nicht nur ihre Freundin, sondern auch ihre Gynäkologin war. Sie wollte sich die Schwangerschaft von ihr bestätigen lassen, noch traute sie dem Ergebnis des Testes nicht so recht.
»Ich wünsche dir morgen viel Spaß mit deiner Freundin«, sagte er, als er sein Auto ein paar Minuten später vor ihrem Grundstück anhielt und sie sich von ihm verabschiedete.
»Danke, den werden wir sicher haben. Bis Freitag, Daniel«, sagte sie, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und stieg aus dem Auto aus.
Was hast du, Olivia?, dachte er, als er gleich darauf in seine Einfahrt einbog, zu Olivia hinüberschaute und sah, dass sie noch vor ihrer Haustür stand und an den Himmel schaute. Suchst du in den Sternen nach der Antwort auf die Frage, die dich quält?, dachte er. Nachdem er sein Auto in die Garage gefahren hatte, ging er durch den Garten zu seiner Haustür, weil er vom Garten aus einen guten Blick auf das Nachbargrundstück hatte. Aber Olivia war nicht mehr zu sehen, sie war wohl inzwischen ins Haus gegangen.
Vielleicht hat sie dieses Wochenende am Starnberger See vorgeschlagen, weil sie mir dort sagen will, dass es mit uns vorbei ist, dachte er. Der Ort, an dem alles begann, sollte vielleicht auch der Ort sein, an dem es endete. Andererseits, nur weil Olivia mal ein paar Tage ein bisschen verschlossen war, musste das nicht gleich bedeuten, dass sich ihre Gefühle für ihn verändert hatten.
Ihr verändertes Verhalten konnte viele Gründe haben, möglicherweise fühlte sie sich noch immer krank, wollte es aber nicht zugeben. Ich darf mich nicht in etwas hineinsteigern, was allein meiner Fantasie entspringt, dachte er. Aber da war diese Stimme in ihm, die einfach keine Ruhe geben wollte. Diese Stimme, die ihn daran erinnerte, dass ihm schon einmal eine Frau, die vorgab, ihn zu lieben, sehr wehgetan hatte.
Er war davon ausgegangen, dass Olivia an ein romantisches Wochenende gedacht hatte, als sie ihm vorschlug, an den Starnberger See zu fahren. Aus diesem Grund hatte er auch in demselben Hotel dasselbe Zimmer gebucht, in dem sie sich damals in dieser stürmischen Nacht das erste Mal geliebt hatten. Noch wollte er daran glauben, dass das auch in ihrem Sinn war. Ich werde meine Antworten bekommen, dachte er, als er nach einem letzten Blick auf das Nachbargrundstück ins Haus ging.
*
Auch am nächsten Morgen hatte Daniel noch immer dieses merkwürdige Gefühl, dass sich zwischen ihm und Olivia etwas Grundlegendes geändert hatte. Sie war nicht nur auffallend ruhiger, sie wich auch seinem Blick ständig aus, so als befürchtete sie, er könnte etwas in ihren Augen erkennen, was sie ihm lieber verschweigen wollte. Zumindest vorerst.
»Herr Doktor, alles in Ordnung?«, fragte ihn Valentina besorgt. Die freundliche ältere Frau, die sich vormittags um seinen Haushalt kümmerte, erwartete ihn in der Küche und hatte ihm Rühreier mit Kräutern und Schafskäse zum Frühstück zubereitet.
»Aber ja, es ist alles gut«, versicherte er ihr.
»Geht es Frau Doktor Mai auch gut?«, fragte sie, als sie sich mit einer Tasse Kaffee zu ihm an den Tisch setzte.
»Wieso fragen Sie?« Wusste Valentina etwa mehr als er?
»Mei, sie sieht in letzter Zeit ein bissel blass aus.«
»Sie hatte vor ein paar Tagen eine Magenverstimmung.«
»Das wird wohl der Grund sein«, gab Valentina ihm recht und strich über ihre rotweiß gestreifte Schürze, die sie über ihrem hellblauen Dirndl trug.
»Was gibt es Neues in der Nachbarschaft?«, fragte Daniel, um das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Er wollte jetzt nicht über Olivia reden. Er musste sich von diesen Gedanken, es könnte ihm etwas Unangenehmes bevorstehen, unbedingt ablenken, sonst würde er nicht in der Lage sein, seinen Patienten aufmerksam zuzuhören.
»Das, was gerade alle beschäftigt, ist der Verkauf der alten Villa in unserer Straße. Die alten Leute, die dort gewohnt haben, sind schon vor zwei Jahren verstorben. Die Erben konnten sich lange nicht einigen, was aus dem Haus wird, hieß es. Jetzt hängt dort ein Schild: Verkauft. Bisher weiß niemand, wer demnächst dort einziehen wird. Auf jeden Fall wird sich in unserer Straße etwas verändern«, erzählte Valentina.
»So ist das Leben, Valentina, ständig müssen wir uns an Veränderungen gewöhnen«, entgegnete Daniel nachdenklich. Wenigstens ist sie traditionsbewusst, dachte er und betrachtete Ortrud, die wie an fast jedem Morgen auf der Fensterbank in der lichtdurchfluteten Küche lag und sich von den Sonnenstrahlen wärmen ließ.
»Geh, Herr Doktor, Sie sagen das so, als wären Veränderungen etwas Schlechtes. Sie sind doch noch so jung, da gehört es doch dazu, dass sich etwas im Leben verändert«, sagte Valentina, während sie Daniel mit einem skeptischen Blick anschaute.
»Ja, Sie haben recht, ich sollte mit Veränderungen rechnen. Ich muss dann auch los. Grüßen Sie Ihren Mann von mir«, verabschiedete er sich und ging hinüber in die Praxis.
»Irgendetwas hat er«, murmelte Valentina, nachdem Daniel gegangen war und sie den Tisch in der Küche abräumte.
»Miau«, machte Ortrud, die in diesem Moment die Augen öffnete und Valentina anschaute.
»Du hast es also auch bemerkt«, sagte Valentina, ging zu ihr und kraulte sie hinter den Ohren.
*
So sehr Daniel sich auch anstrengte, er konnte die Gedanken an Olivia nicht ganz verdrängen. Während der Sprechstunde schaute er immer wieder mal aus dem Fenster zum Grundstück der Mais hinüber. Er sah, wie Ophelia auf ihrem Fahrrad aus der Schule kam, wie Ottilie am frühen Nachmittag in einem leuchtend grünen Mantel und mit einem glücklichen Lächeln in einen weißen Mercedes stieg, der vor ihrer Einfahrt anhielt. Olivia aber sah er nicht.
»Können wir irgendetwas für Sie tun, Daniel?«, fragte Lydia, als er nach der Sprechstunde zu ihr und Sophia in die Küche kam, wo sie gerade die Spülmaschine ausräumten, die sie am Nachmittag hatten laufen lassen.
»Wieso fragen Sie?« Er hatte keine Ahnung, auf was Lydia ihr Hilfsangebot gerade bezog.
»Sie sehen ein bisschen mitgenommen aus. So als würden Sie sich über etwas Gedanken machen«, klärte Sophia ihn auf. »Das haben heute übrigens auch schon einige Patienten bemerkt. Sie haben uns gefragt, ob es Ihnen gut geht.«
»Was wir ihnen natürlich versichert haben«, sagte Lydia. »Allerdings sind Sophia und ich nicht davon überzeugt. Was ist los, Daniel?«, fragte Lydia erneut.
»Mit mir ist eigentlich gar nichts. Olivia kommt mir nur in den letzten Tagen irgendwie verändert vor«, vertraute er den beiden an, was ihm Sorgen bereitete.
»Könnte es sein, dass sie krank ist? Sie sieht in letzter Zeit immer ein bisschen blass aus«, sagte Sophia und schloss sich damit Valentinas Beobachtung an.
»Sie sagt, es geht ihr gut.«
»Möglicherweise will sie Sie nicht beunruhigen, und vielleicht ist ja auch gar nichts«, versuchte Lydia, den jungen Arzt zu beruhigen, als sie sah, wie erschrocken er auf einmal aussah. »Sind Sie heute mit ihr verabredet?«
»Nein, sie besucht eine Freundin in Freising«, verriet Daniel den beiden jungen Frauen, die sein Vertrauen besaßen.
»Sophia und ich sind mit Markus und Thomas beim Italiener zum Essen verabredet. Kommen Sie doch mit«, schlug Lydia ihm vor.
»Als fünftes Rad am Wagen?«
»Nein, als schmückende Krone«, entgegnete Lydia lachend.
»Wissen Sie was, ich komme mit«, sagte Daniel.
»Gute Entscheidung«, erklärte Sophia lächelnd.
»Ja, das denke ich auch«, sagte er. Mit Thomas und Markus verstand er sich ebenso gut wie mit Lydia und Sophia. Den Abend mit ihnen zu verbringen, das war auf jeden Fall besser für sein Gemüt, als allein zu Hause zu sitzen und sich schreckliche Dinge auszumalen, die ihn und Olivia demnächst auseinanderbringen könnten.
Der Abend verlief genauso, wie er es sich erhofft hatte. Markus, Sophias Freund, ein junger Anwalt, und Thomas, Lydias Freund, der vor Kurzem den Optikerladen seiner Eltern übernommen hatte und genau wie Lydia bei der Freiwilligen Feuerwehr war, waren bestens gelaunt. Markus erzählte, ohne die Namen der Beteiligten zu nennen, amüsante Geschichten aus dem Gericht. Von Kleinkriminellen, die über eine rege Fantasie verfügten und sich ständig neue Geschichten ausdachten, um nicht verurteilt zu werden, obwohl die Staatsanwaltschaft sie längst mit beweiskräftigen Fotos überführt hatte.
»Anwälte versuchen immer vor der Staatsanwaltschaft an die Fotos der Überwachungskameras zu gelangen, um eine glaubwürdige Verteidigung aufzubauen«, ließ er seine aufmerksamen Zuhörer wissen, die mit ihm an dem weiß eingedeckten Tisch in dem gemütlichen Restaurant saßen.
Das Restaurant mit seinen dunklen Holztischen, den grünen Polsterstühlen und den Ölgemälden, die alle farbenprächtige Dörfer an der Mittelmeerküste zeigten, gehörte inzwischen zu Daniels Lieblingsrestaurants.
»Daraus schließe ich, dass du auch diejenigen verteidigst, die schuldig sind«, sagte Lydia.
»Wir Anwälte sind unseren Mandanten verpflichtet, und wir alle besitzen den Ehrgeiz, vor Gericht zu gewinnen.«
»Du würdest also auch versuchen, einen Schwerverbrecher vor einer Strafe zu bewahren?«, wollte Lydia wissen.
»Ein Versuch muss nicht unbedingt zu dem erwarteten Ergebnis führen«, erklärte Markus augenzwinkernd. »In deinem Beruf sollte das allerdings schon anders sein«, wandte er sich an Daniel, der bisher noch nicht viel gesagt hatte.
»Wenn wir Ärzte es mit einer Behandlung versuchen, bedeutet das leider auch nicht unbedingten Erfolg.«
»Etwas zu versuchen, ist auf jeden Fall besser, als einfach nur abzuwarten. Wenn wir mit der Feuerwehr zu einem Brand fahren, wissen wir meistens nicht, was uns hinter der Tür erwartet. Wir müssen trotzdem versuchen, den Brand zu löschen, und manchmal nehmen wir dabei auch ein höheres Risiko für uns selbst in Kauf, um Schlimmeres zu verhindern«, erzählte Thomas.
»Stopp, keine traurigen Geschichten. Sprechen wir doch lieber über die alte Villa, die gerade verkauft wurde«, wechselte Lydia das Thema. »Zieht vielleicht jemand vom alten Adel dort ein?«, wandte sie sich an Sophia.
»Das weiß ich leider nicht«, antwortete Sophia lächelnd.
Nach und nach hatte jeder eine andere Idee, wer in die Villa einziehen könnte. Angefangen bei einem Zauberer über eine Frau mit drei Katzen oder eine ganz normale Familie mit Kindern. Sie dachten sich die merkwürdigsten Lebensläufe der neuen Bewohner aus und brachten sich gegenseitig zum Lachen.
Als Sophia und Lydia Daniel an diesem Abend immer mal wieder aus Versehen duzten, bot er ihnen schließlich an, dass sie ab sofort auch dabei bleiben sollten. Da er sich mit Thomas und Markus schon länger duzte, war es einfach nur ein Schritt, der schon längst überfällig war. Daniel fühlte sich in der Gesellschaft der beiden Paare immer sehr wohl, und er wusste, dass es Olivia ebenso erging.
Und überhaupt, ich habe mir nur etwas eingebildet, mit Olivia ist alles in Ordnung, dachte er, als er sich gegen halb elf von den anderen verabschiedete. Sie hatten ihn von seinen trüben Gedanken abgelenkt. Sie würden ihn nicht länger quälen, er würde sie einfach nicht mehr zulassen.
Olivia war noch nicht zu Hause, wie er sehen konnte, als er auf seinem Heimweg an ihrem Grundstück vorbeikam. Sie parkte ihr Auto immer vor der Garage, während Ottilie ihren Wagen in der Garage abstellte. Aber vor der Garage stand kein Auto. Vielleicht übernachtet sie bei ihrer Freundin, dachte er. Morgen würde er Olivia wiedersehen, und dann war sicher wieder alles so, wie es immer zwischen ihnen war.
*
Als Daniel am nächsten Morgen in der Praxis war und das Fenster in seinem Sprechzimmer schließen wollte, das Lydia zum Lüften geöffnet hatte, bog Olivias Auto gerade in die Einfahrt des Nachbargrundstückes ein. Er wartete, bis sie ausgestiegen war, und hoffte, dass sie in seine Richtung blicken würde, was er als Zeichen deuten konnte, das sie an ihn dachte.
»Ich danke dir«, flüsterte er und atmete innerlich auf, als sie, noch während sie die Tür ihres Autos schloss, zu ihm herüberschaute, lächelte und ihm winkte. Ganz offensichtlich hatte er sich getäuscht, zwischen ihnen gab es keine Unstimmigkeiten, es war alles in Ordnung.
»Sie schaun heute besonders glücklich aus, Herr Doktor«, stellte Evelyn Maurer, seine erste Patientin an diesem Morgen, fest, als sie ihm wenig später gegenübersaß.
»Mir geht es auch gut«, antwortete er lächelnd. »Wie kann ich Ihnen helfen, Frau Maurer?«
»Mei, ich bin alleweil recht nervös. Ich dachte, Aerobic oder Yoga könnte mir helfen, mich ein wenig zu entspannen.«
»Das ist durchaus eine Möglichkeit«, pflichtete er ihr bei. »Gibt es denn einen bestimmten Grund für Ihre Unruhe?« Bisher hatte die Inhaberin des kleinen Modegeschäftes in der Fußgängerzone immer recht entspannt auf ihn gewirkt. Evelyn war eine attraktive Frau, achtundfünfzig, ein bisschen rundlich, mit blondem kurzem Haar und dunklen Augen. Ihr Geschäft lief gut, wie er auch von Ottilie und Olivia wusste, die beide zu ihren Kundinnen gehörten.
»Ich habe gerade eine Enttäuschung erlebt. Sie kennen doch sicher diese Dating-Portale, die Menschen, die wenig Zeit zum Ausgehen haben, nutzen, um den Partner fürs Leben zu finden.«
»Hin und wieder funktioniert diese Art des Kennenlernens.«
»Bei mir hat es nicht funktioniert. Der erfolgreiche Vertreter für Damenmoden, gutaussehend und charmant, hat sich als Hochstapler herausgestellt, der nur hinter meinem Geld her war.«
»Das tut mir sehr leid, Frau Maurer«, antwortete Daniel mitfühlend.
»Glücklicherweise habe ich noch rechtzeitig bemerkt, worauf er aus war«, sagte Evelyn. »Aber um noch einmal auf Yoga zurückzukommen. Ich habe eine Freundin auf dem Grundbuchamt, sie hat mir verraten, dass in der alten Villa, die gerade verkauft wurde, schon bald ein Aerobic- und ein Yogastudio eröffnet werden.«
»Ach ja? Das hat sich bisher noch gar nicht herumgesprochen«, wunderte sich Daniel.
»Das wird sich bestimmt bald ändern. Meine Freundin hat mir verraten, dass sie von einer Bekannten vom Bauamt gehört hat, dass die neuen Besitzer der Villa eine riesige Werbetafel auf ihrem Grundstück aufstellen wollen.«
»Interessante Neuigkeiten.«
»Das denke ich auch. Also, warum ich hier bin. Ich würde mich gern zu einem Aerobic-Kurs anmelden, sobald es dort losgeht, und wollte wissen, ob von Ihrer Seite aus etwas dagegenspricht. Ich bin nicht mehr die Allerjüngste, und die Kurse sind manchmal doch recht anstrengend.«
»Ich gehe davon aus, dass sie dort auch Anfängerkurse anbieten. Sie sollten nicht gleich bei den Fortgeschrittenen mitmachen.«
»Freilich nicht.«
»Um sicher zu gehen, dass sie diesem Sport gewachsen sind, können wir auch gern noch einen Check-up machen, der besonders auf sportliche Fähigkeiten abzielt«, schlug Daniel ihr vor.
»Ja, bitte, das würde ich gern in Anspruch nehmen. Vielen Dank, Herr Doktor.«
»Sehr gern, Frau Maurer, lassen Sie sich von Lydia oder Sophia einen Termin für den Check-up geben.«
»Das mache ich, auf Wiedersehen, Herr Doktor. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende«, verabschiedete sie sich gleich darauf mit einem zufriedenen Lächeln.
Nachdem Frau Maurer gegangen war, dachte Daniel noch einmal an den Hochstapler, von dem sie ihm erzählt hatte. In diesem Moment erschien ihm Olivias Sorge um ihre Mutter gar nicht mehr so abwegig. Vielleicht war es gar kein Zufall, dass Ottilie diesem Mann ausgerechnet in der Nähe ihres Hauses begegnet war. Ottilie war nicht nur eine schöne Frau, ihre Lebensumstände konnten einen Mann durchaus glauben lassen, dass er sie um ihre Ersparnisse bringen konnte.
Als er sich dann um kurz nach zwei von Sophia und Lydia ins Wochenende verabschiedete, versicherten sie ihm, dass er inzwischen wieder recht zufrieden aussah.
»Der Abend gestern mit euch hat mir gut getan.«
»Grübeln taugt nicht viel, wenn wir unsere Gedanken ordnen wollen. Ein fröhlicher Abend mit Freunden ist dafür besser geeignet«, sagte Lydia.
»Unbedingt. Übrigens, das Grübeln um die neuen Bewohner der alten Villa kann beendet werden.«
»Hast du Neuigkeiten?«, fragte Lydia.
»Es gibt Hinweise auf ein Aerobic- und Yogastudio.«
»Sind diese Hinweise vertraulich?«, wollte Sophia wissen.
»Das Geheimnis soll bald offiziell gelüftet werden. So lange sollten wir es für uns behalten.« Er wollte Frau Maurer nicht das Vergnügen nehmen, die Neuigkeiten zu verbreiten.
»In Ordnung, Chef, wir können schweigen«, versicherte ihm Lydia lächelnd.
»Also dann, bis Montag. Ich wünsche euch ein schönes Wochenende.«
»Das wünschen wir dir auch, und schöne Grüße an die Mais«, sagte Sophia.
»Werde ich ausrichten«, antwortete Daniel.
*
Den Nachmittag verbrachte Daniel bei seinen Eltern. Sie hatten beide an diesem Tag keinen Dienst. In letzter Zeit waren seine Besuche bei ihnen seltener geworden, was seinen Vater zu der Frage ermutigt hatte, ob er sich eine neue Familie gesucht hätte.
»Nein, keine neue, nur eine zweite«, hatte er geantwortet. Es war eine Antwort, die seiner Mutter sofort gefiel.
»Das heißt, dass unser Sohn wieder glücklich ist, und in diesem Fall sollten wir uns liebend gern hin und wieder hinten anstellen. Meinst du nicht auch, mein Schatz?«, hatte sie seinen Vater dann mit einem liebevollen Lächeln gefragt. Und er hatte ihr zugestimmt.
Als Daniel sich gegen sechs von seinen Eltern verabschiedete, gaben sie ihm liebe Grüße für die Mais mit auf den Weg, und er nahm sich vor, demnächst einmal beide Familien gemeinsam zu einem Essen in sein Haus einzuladen.
Ottilies Gast war noch nicht eingetroffen, als Daniel bei den Mais eintraf. Ophelia deckte gerade den Tisch, und Olivia half ihrer Mutter in der Küche. Ottilie konnte nicht verbergen, dass sie nervös war.
»Ich hätte nicht gedacht, dass er so schnell einwilligt, meine Familie kennenzulernen. Wir kennen uns doch selbst erst ein paar Tage«, sagte sie, als sie Daniel die Schüssel mit dem gemischten Blattsalat reichte, die er auf den Esstisch stellen sollte.
»Was schließt du daraus?«, fragte Olivia, die die Pilzsauce zubereitete, die es zu den selbstgemachten Semmelknödeln geben sollte.
»Ich denke, ihm ist ebenso wie mir bewusst, dass wir in unserem Alter keine Zeit vertrödeln sollten, wenn wir noch etwas voneinander haben wollen.«
»Müssen wir damit rechnen, dass ihr nächste Woche bereits heiratet?«
»Nein, so schnell sind wir nun auch wieder nicht«, beruhigte Ottilie ihre Tochter. »Da wir beide in derselben Stadt leben und die Möglichkeit haben, uns auch ganz spontan zu treffen, werden wir aber sicher bald herausfinden, wohin das alles führen könnte.«
»Nach dem, was du bisher von ihm erzählt hast, scheint dieser Mann es wert zu sein, sich auf ihn einzulassen«, sagte Daniel.
»Ja, er ist es wert«, stimmte Ottilie ihm mit einem verträumten Lächeln zu.
»Außerdem ist er auch noch topfit und kein bisschen langweilig. Erst die Ballonfahrt, am Montag euer Ausflug in die Kletterhalle und gestern der Freizeitpark. Stell dir vor, Doc, Oma ist zum ersten Mal in ihrem Leben mit einer Achterbahn gefahren, einer Achterbahn mit einem Looping«, erzählte Ophelia Daniel.
»Hannes meinte, ich sollte spüren, wie es ist, schwerelos zu sein, auch wenn dieser Zustand nur eine Sekunde lang andauert. Es war ein aufregendes Gefühl. Ich denke, es gibt ein paar Dinge, die ich schon viel früher hätte tun sollen«, stellte Ottilie nachdenklich fest.
»Denk nicht zu oft an die Vergangenheit, Mama. Das Leben spielt sich in der Gegenwart ab. Ganz davon abgesehen, ist es doch wundervoll, etwas zum ersten Mal zu tun, sich von einem nie gekannten Gefühl überwältigen zu lassen«, sagte Olivia.
»Du hast recht, ich sollte nicht zurückschauen und mich bedauern«, entgegnete Ottilie lächelnd. »Er ist da«, sagte sie, als der weiße Mercedes, in den Daniel sie schon hatte einsteigen sehen, gleich darauf in ihre Einfahrt einbog. Sie nahm die Schürze ab, die sie über dem hellgrünen Kleid mit dem zartroten Pünktchenmuster getragen hatte, hängte sie an einen Haken in der Küche und ging zur Haustür.
»Ich bin echt gespannt«, raunte Ophelia Daniel zu, die neben ihm an dem Sideboard stand.
»Ihr steht da wie die Jury, die ein Urteil über ihn fällen möchte«, stellte Olivia fest, als sie sich den beiden zuwandte.
»Genau das haben wir doch auch vor«, entgegnete Ophelia leise.
»Wir sollten es uns aber nicht anmerken lassen«, sagte Daniel. Er hatte sich vorgenommen, Ottilies Bekannten ganz ohne Vorurteile gegenüberzutreten, trotzdem konnte er diesen Gedanken nicht ganz abschalten, dass dieser Mann es nicht wirklich ernst mit ihr meinen könnte.
»Okay, machen wir uns locker«, flüsterte Ophelia. Sie ging zurück zum Tisch und tat so, als würde sie die Teller geraderücken.
»Hallo, ihr Lieben, darf ich euch Hannes vorstellen?«, sagte Ottilie, die in Begleitung des Mannes, den Daniel als Johann Baumstetter kannte, ins Esszimmer kam.
»Hallo, Hannes, ich bin Olivia, Ottilies Tochter«, stellte sich Olivia ihm zuerst vor.
»Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Olivia«, sagte Hannes und reichte ihr die Hand. »Du bist sicher Ophelia, deine Großmutter hat mir schon viel von dir erzählt«, wandte er sich dem Mädchen zu.
»Oma hat uns auch schon einiges von Ihnen erzählt«, entgegnete Ophelia.
»Da ihr mich empfangt, nehme ich an, ich bin dabei ganz gut weggekommen.«
»Ja, das sind Sie«, versicherte ihm Ophelia mit einem verschmitzten Lächeln.
Daniel wusste sofort, was Hannes meinte, als er ihn anschaute und er ein Kopfschütteln andeutete. Die anderen sollten nicht wissen, dass sie sich kannten.
»Das ist Daniel, der freundliche Doc von nebenan und Mamas Freund«, stellte Ophelia ihn Hannes vor.
»Freut mich sehr«, sagte Hannes und reichte auch Daniel die Hand. »Gibt es eine bestimmte Sitzordnung?«, fragte er, als Ottilie ihn bat, Platz zu nehmen.
»Nein, die gibt es nicht, aber du sitzt natürlich neben mir«, antwortete Ottilie lächelnd und wies auf den Stuhl, auf dem er Platz nehmen sollte.
»Ottilie hat von ihren Ausflügen mit Ihnen erzählt, auch, dass Sie mit ihr Achterbahn gefahren sind«, lenkte Daniel das Gespräch auf den Freizeitpark, nachdem er sich auf den Stuhl gegenüber von Hannes gesetzt hatte. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass Hannes in seinem Zustand eine Fahrt mit der Achterbahn beschwerdefrei überstehen konnte.
»Ich bin schon immer gern Achterbahn gefahren. Solange ich es noch kann, werde ich mir hin und wieder dieses Vergnügen gönnen«, sagte Hannes, der wohl ahnte, dass Daniel sich über seine Unternehmungen wunderte. »Wir nehmen uns meistens viel zu wenig Zeit für die Dinge, die uns wirklich Spaß machen, solange wir noch im Berufsleben stehen.«
»Richtig, deshalb sollten wir beide dankbar sein, dass es uns noch so gut geht und wir jetzt all das tun können, was wir uns in den letzten Jahrzehnten nicht gegönnt haben«, sagte Ottilie und lehnte ihren Kopf an Hannes’ Schulter.
»So sehe ich das auch«, stimmte er ihr zu und wich Daniels Blick aus. Ihm war bewusst, dass er dem jungen Arzt eine Erklärung schuldete, aber dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Am Montag hatte er ohnehin einen Termin in seiner Praxis, dann würde er mit ihm über sein Verhältnis zu Ottilie sprechen.
Während Daniel Hannes genau beobachtete, schienen Olivia und Ophelia sofort begeistert von ihm. Auch Ortrud teilte ihre Sympathie für den Gast. Sie sprang irgendwann auf Hannes’ Schoss, kuschelte sich an ihn und ließ sich von ihm streicheln. Als Ottilie während des Essens das Gespräch auf Hannes’ Beruf lenkte und Ophelia hörte, dass er Meeresbiologe war, bestürmte sie ihn sofort mit Fragen wegen ihres Referates. Sie hoffte, dass er ihr etwas erzählen würde, womit sie ihre Klasse überraschen konnte, und das tat er dann auch.
»Wie du sicher weißt, sind die Meere alles andere als leise. Eisberge schmelzen mit ohrenbetäubendem Lärm, Wale singen, das Rauschen der Brandung, all diese Geräuschquellen verschmelzen zu einem einzigen Hintergrundrauschen. Zweimal am Tag kommt dann noch ein Brummen hinzu, das wir zwar nicht wahrnehmen, da es kaum lauter als das Hintergrundrauschen ist, aber das durchaus messbar ist.«
»Wovon wird es verursacht?«, fragte Ophelia, die Hannes gespannt zuhörte.
»Es gibt Millionen von Organismen wie Fische, Krustentiere und andere Lebewesen, die in der Tiefe von 200 bis 1000 Metern leben, in dem Bereich, den wir die Dämmerzone nennen. Abends steigen sie alle gleichzeitig hinauf zur Oberfläche der Ozeane, um nach Nahrung zu suchen, und in der Morgendämmerung ziehen sie sich wieder zurück. Diese gewaltige Bewegung, das Gewicht dieser Lebewesen wird auf etwa zehn Milliarden Tonnen geschätzt, verursacht dieses weltweite Brummen.«
»Wow, das kommt auf jeden Fall in mein Referat. Vielen Dank«, bedankte sich Ophelia bei Hannes.
»Solltest du noch weitere Anregungen für dein Referat brauchen, erzähle ich dir gern noch mehr über mein Fachgebiet«, bot Hannes ihr an.
»Vielleicht komme ich darauf zurück«, sagte Ophelia.
»Sehr gern«, antwortete Hannes.
»Hannes und ich haben vor, demnächst wieder in den Freizeitpark zu fahren. Die Achterbahn dort würde euch sicher auch gefallen. Habt ihr nicht Lust mitzukommen?«, fragte Ottilie.
»Ich bin dabei«, erklärte sich Ophelia sofort einverstanden.
»Klar, warum nicht«, sagte Daniel. »Was ist mit dir?«, fragte er Olivia, die nichts zu dem Vorschlag ihrer Mutter sagte.
»Ja, sicher, ich komme auch mit«, erklärte Olivia, auch wenn sie im Moment mit den Vergnügungen eines Freizeitparks nicht viel anfangen konnte, nicht in ihrem Zustand. Aber vielleicht ließ die Übelkeit ja bald nach. Die Untersuchung bei Madeleine hatte die Schwangerschaft bestätigt. In vierzehn Tagen würde sie den ersten Ultraschall machen, bis dahin sollte Daniel wissen, dass er Vater wurde. Sie wollte ihn bei diesem Termin unbedingt an ihrer Seite haben.
Im weiteren Verlauf des Abends überließ Daniel den anderen die Unterhaltung. Er beteiligte sich zwar an den Gesprächen, verhielt sich aber zurückhaltender, als Olivia und ihre Familie das gewohnt waren. Er wollte sich zu keiner Bemerkung hinreißen lassen, die verriet, dass er Hannes kannte.
Es war nicht nur Hannes’ erstaunlich gute körperliche Verfassung, die ihm Rätsel aufgab, er fragte sich auch, wie dieser Mann sich die Zukunft mit Ottilie vorstellte. Offensichtlich hatte er ihr bisher nicht gesagt, dass er in ein paar Wochen fort sein würde, sonst hätte sie vorhin nicht erwähnt, dass sie nichts überstürzen mussten, sich erst einmal ganz in Ruhe kennenlernen könnten. Von Australien aus war das aber nicht möglich.
Als Hannes sich gegen Mitternacht von den Mais verabschiedete und auch ihm schließlich die Hand reichte, sah er ihm an, dass er sich ihm gegenüber nicht ganz wohlfühlte. Er wusste, dass Hannes am Montag einen Termin bei ihm in der Praxis hatte, und er war schon gespannt, wie er seine Zurückhaltung gegenüber Ottilie, was seine Zukunftspläne betraf, erklären würde.
Nachdem Hannes gegangen war, zog sich Ophelia auf ihr Zimmer zurück. Ottilie bat Olivia und Daniel, noch ein Glas Wein mit ihr zu trinken, weil sie wissen wollte, was sie über Hannes dachten.
»Mir ist er sympathisch«, versicherte ihr Olivia.
»Auf mich wirkt er auch sympathisch«, sagte Daniel. Es war Absicht, dass er die Einschränkung wirkte benutzte. Es wirkte wie schloss einen Irrtum mit ein. Eine Wirkung konnte sich immerhin als schöner Schein erweisen, der die Wirklichkeit gekonnt verdeckt hatte.
Ottilie aber machte sich über Daniels Feinheiten in der Wortwahl an diesem Abend keine Gedanken. Für sie war der Abend genauso verlaufen, wie sie es sich gewünscht hatte. Auch für Daniel war die Welt erst einmal wieder in Ordnung, als Olivia ihn fragte, ob er bleiben wollte, nachdem Ottilie in ihr Apartment im Dachgeschoss gegangen war. Er befürchtete nicht länger, dass etwas zwischen ihnen stehen könnte.
*
So wie immer, wenn Daniel mit dem Wochenenddienst in seinem Bezirk an der Reihe war, wurde er ständig angerufen. Es waren nicht seine eigenen Patienten, die gönnten ihm seine Freizeit von Herzen. Es waren Patienten anderer Ärzte, die ihn zu sich baten, obwohl es gar nicht um einen Notfall ging. Die schwere Migräne, wie sie ihm am Telefon geschildert wurde, war nach der Einnahme einer Kopfschmerztablette verschwunden, die schweren Magenkrämpfe stellten sich als Völlegefühl nach einem schweren Essen heraus. Dafür schilderten ihm die Leute Beschwerden, die sie schon länger mit sich herumschleppten, und ließen ihn wissen, dass sie sich von ihrem bisherigen Hausarzt nicht gut beraten fühlten. Er hörte ihnen zu, verwies sie aber auf ihren bisherigen Hausarzt, sobald sich herausstellte, dass sie den Notdienst nur nutzten, um ihn auf eine bequeme Weise kennenzulernen.
»Die Leute nutzen den Notdienst aus, um den beliebtesten Arzt in unserem Bezirk kennenzulernen«, hatte Lydia ihm erst kürzlich erklärt, was die Leute sich im Wartezimmer über die vielen Hausbesuche, die ihm an diesen Wochenenden abverlangt wurden, erzählten. Sie und Sophia hatten mit ihren Kolleginnen in den umliegenden Praxen gesprochen und herausgefunden, dass die anderen Ärzte weitaus weniger an ihren Notdienstwochenenden zu tun hatten.
Daniel hoffte, dass sich die Neugierde der Leute, was ihn betraf, irgendwann legte und er in Zukunft weniger vorgeschobene Notfälle betreuen musste. Aber noch war es nicht so weit. Erst am Sonntagnachmittag kehrte ein wenig Ruhe ein, und er konnte sogar einen Spaziergang mit Olivia am Isarufer unternehmen.
Am frühen Abend setzten dann die Anrufe wieder ein, was dazu führte, dass er schließlich in seinem Haus übernachtete, damit nicht auch noch Olivia, wie schon in der Nacht zuvor, ständig durch das Klingeln des Telefons geweckt wurde. Er war froh, dass am Montagmorgen alles wieder seinen gewohnten Gang nahm und er für die nächsten acht Wochen nur noch für seine eigenen Patienten verantwortlich war.
Als er an diesem Morgen in die Praxis kam, ließ er sich von Lydia die Patientenakte von Johann Baumstetter bringen, bevor er mit der Sprechstunde begann. Er wollte sich die CT-Aufnahmen, die er aus Kiel mitgebracht hatte, noch einmal ansehen. Er konnte sich seine ausgezeichnete körperliche Verfassung noch immer nicht erklären. Hannes hatte um zehn einen Termin zum Belastungs-EKG, danach hatte er mehr als das Ergebnis dieser Untersuchung mit ihm zu besprechen.
Ottilie war auch am Samstag und Sonntag mit ihm unterwegs gewesen. Er hatte sie am Sonntagabend kurz gesprochen, als er von einem Patienten zurückkehrte und sie von einem Theaterbesuch mit Hannes nach Hause kam. So glücklich, wie sie in diesem Moment war, war er sicher, dass sie die Wahrheit über Hannes noch nicht kannte. Er fragte sich, ob Hannes seinen Termin bei ihm überhaupt noch wahrnehmen würde. Vielleicht zog er es vor, ihm erst einmal aus dem Weg zu gehen, und würde sich einen anderen Arzt suchen, der ihn vor seiner Reise ohne Rückkehr noch einmal untersuchte.
Aber Johann Baumstetter war kein Feigling, der sich verstecken wollte, das war ihm klar, als Lydia ihn um kurz vor zehn über das Praxistelefon mitteilte, dass er soeben eingetroffen sei. Während Lydia Hannes’ EKG überwachte, setzte Daniel seine Sprechstunde fort. Er hatte Lydia gebeten, Hannes auszurichten, dass er nach dem EKG mit ihm sprechen wollte. Natürlich stand es ihm frei, das Ergebnis der Untersuchung auch telefonisch mit ihm zu besprechen.
Da Hannes diesen Termin aber wahrgenommen hatte, ging er davon aus, dass er zu einem persönlichen Gespräch bereit war. Und so war es auch. Eine halbe Stunde nach seinem Eintreffen in der Praxis saß er ihm an seinem Schreibtisch gegenüber.
»Ich weiß, dass ich Ihnen einiges zu erklären habe«, gab Hannes schuldbewusst zu.
»Ja, das stimmt, ich habe einige Fragen. Weitaus wichtiger ist mir allerdings, dass Ottilie die Wahrheit erfährt. Sie hat keine Ahnung, dass Sie schon bald fort sein werden, nehme ich an.«
»Sie haben recht, sie verdient die Wahrheit, aber bitte lassen Sie mir noch ein wenig Zeit. Sobald sie erfährt, dass ich krank bin, wird diese Leichtigkeit und diese Freude verschwinden, die uns gerade jeden Tag begleitet. Ottilie wird in mir einen kranken Mann sehen, für den jede Unternehmung tödlich enden könnte.«
»Ottilie ist eine starke Frau, sie kann damit umgehen.«
»Ja, vielleicht, aber ich weiß nicht, ob ich es kann. Ich will nicht, dass sie in mir einen schwachen kranken Mann sieht. Das würde alles zerstören.«
»Falls Sie ihr auch weiterhin die Wahrheit vorenthalten, was wird dann mit ihr passieren, wenn Sie fort sind?«
»Ich denke daran, meine Abreise zu verschieben.«
»Das wird aber letztendlich nichts daran ändern, dass es für Ottilie und Sie keine Zukunft gibt.«
»Stellen Sie sich vor, Daniel, Sie wären an meiner Stelle. Wie würden Sie sich gegenüber Olivia verhalten? Versuchen Sie, sich ihren Blick vorzustellen, wenn Sie ihr sagen würden, dass Sie todkrank sind. Die Sehnsucht, die Leidenschaft, die Sie gerade noch in ihren Augen sahen, würde von einem tiefen Mitleid verdrängt. Würden Sie das wirklich wollen?«
»Es klingt nicht gerade verlockend«, gab Daniel zu.
»Nein, ganz und gar nicht. Würden Sie es nicht bevorzugen, dass Sie beide noch eine Weile einfach glücklich sein könnten? Sollten wir nicht jeden glücklichen Moment, den uns dieses Leben schenkt, auskosten, und die Wahrheit, die nur darauf wartet, alles zu zerstören, einfach noch eine Weile außen vorlassen?«
»Vielleicht haben Sie recht«, sagte Daniel nachdenklich, als er zum Fenster schaute.
»Sie ist ein wahr gewordener Traum«, flüsterte Hannes, der seinem Blick gefolgt war und Ottilie auf dem Balkon ihres Apartments stehen sah.
Sie trug ein leuchtend blaues langärmeliges Kleid, das halblange rote Haar bewegte sich im Wind, während sie an den Horizont schaute. »Lassen Sie uns noch ein bisschen träumen, Daniel«, wandte er sich dem jungen Arzt wieder zu.
»Ich verlasse mich darauf, dass Sie nicht einfach wieder aus ihrem Leben verschwinden, ohne ihr vorher die Wahrheit zu sagen.« Hannes hatte recht, sein Geständnis würde dieses Glück, das Ottilie gerade empfand, zerstören. Warum sollte er ihr das antun wollen?
»Ich werde nicht einfach gehen, das verspreche ich Ihnen«, versicherte ihm Hannes.
»Gut, dann habe ich noch eine Frage, was Ihre CT-Aufnahmen betrifft. Wann hatten Sie eigentlich diesen Nasenbruch?«, fragte er und schaute auf die Aufnahmen, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen.
»Nasenbruch? Meine Nase war nie gebrochen. Wie kommen Sie darauf?«
»Ich habe mir Ihre CT-Aufnahmen noch einmal genau angesehen, weil ich mir Ihren Zustand ehrlich gesagt nicht erklären kann. Der Tumor müsste Sie inzwischen weitaus mehr einschränken. Ihre Sehschärfe müsste extrem nachlassen, Sie müssten unter Kopfschmerzen und Schwindelgefühl leiden.«
»Mir geht es gut, Daniel.«
»Ich weiß, ich gönne Ihnen dieses Wunder auch von Herzen. Ich möchte es nur verstehen.«
»Ein Wunder ist deshalb ein Wunder, weil wir es nicht verstehen.«
»Die Wissenschaft lässt keine Wunder zu.«
»Nein, das tut sie nicht«, stimmte Hannes ihm zu. »Wo ist also die Erklärung für mein ganz eigenes Wunder?«
»Das weiß ich noch nicht. Sie sind sich also ganz sicher, dass Ihre Nase nie gebrochen war?«
»Ja, das bin ich.«
»Es war nur eine kleine Verletzung, vielleicht haben Sie sie gar nicht bemerkt. Möglicherweise hatten Sie Nasenbluten, und Ihre Nase war geschwollen, was Sie aber durch eine ausreichende Kühlung wieder in den Griff bekamen.«
»Wenn überhaupt, muss das in meiner Kindheit gewesen sein.«
»So alt ist die Verletzung noch nicht, soweit ich das beurteilen kann. Haben Sie heute schon etwas vor?«
»Ich bin mit Ottilie zum Mittagessen verabredet.«
»Verschieben Sie das Essen, gehen Sie stattdessen in die Radiologie. Wir sollten uns den Tumor noch einmal genau ansehen.«
»Ich bin kein Notfall. Wo soll ich denn so schnell einen Termin für ein CT herbekommen?«
»Das ist kein Problem. Ich habe gute Beziehungen. Meine Eltern leiten eine Klinik«, erklärte ihm Daniel lächelnd und griff nach dem Telefon, um seinen Vater anzurufen. »Sie werden erwartet«, sagte er, nachdem er mit seinem Vater gesprochen hatte, und beschrieb Hannes den Weg zur Klinik.
»Vielen Dank, Daniel, ich mache mich gleich auf den Weg. Ich weiß, dass ich mit meinem Befund nicht auf eine spontane Heilung hoffen darf, aber vielleicht wächst der Tumor langsamer als angenommen.«
»Wir werden sehen, warten wir erst einmal das Ergebnis der Untersuchung ab. Ich werde bis ungefähr 17 Uhr in der Praxis sein. Bis dahin werde ich auch das Belastungs-EKG ausgewertet haben. Falls Sie es schaffen, kommen Sie mit den Aufnahmen und dem Bericht des Radiologen in die Nachmittagssprechstunde. Wir können uns aber auch nach der Sprechstunde treffen. Melden Sie sich auf jeden Fall heute noch bei mir«, bat Daniel ihn und gab ihm seine Visitenkarte mit seiner privaten Handynummer.
Als sich Hannes gleich darauf von ihm verabschiedete, war ihm klar, dass er ihm Hoffnungen gemacht hatte, dass ihm mehr Zeit blieb, als er bisher geglaubt hatte. Möglicherweise ist das Unmögliche aber die einzig mögliche Erklärung für Hannes’ Zustand, dachte er. Er musste sich noch ein paar Stunden gedulden, dann würde er Gewissheit haben.
*
In der Mittagspause hatte Daniel keinen großen Hunger. Er machte sich ein Sandwich, aß es ihm Stehen in der Küche und legte sich dann im Wohnzimmer aufs Sofa. Er hatte in der Nacht zuvor nur wenig geschlafen, da er zweimal zu einem Notfall gerufen wurde. Ein älterer Mann hatte unter schmerzhaften Blähungen gelitten, die er mit Tabletten lindern konnte. Eine junge Frau musste er mit Verdacht auf einen wandernden Nierenstein ins Krankenhaus einweisen. Kaum hatte er sich hingelegt, war er eingeschlafen. Um kurz vor halb drei läutete der Wecker seines Handys. Nachdem er sich im Bad frisch gemacht hatte, ging er auf die Terrasse hinaus, um noch ein bisschen frische Luft zu atmen. Als er Olivia aus dem Haus kommen sah, ging er zu ihr.
»Hallo, Daniel, konntest du wenigstens letzte Nacht ein bisschen schlafen?«, fragte sie ihn, als sie ihm entgegenkam.
»Ich musste noch zweimal fort, aber ich habe gerade ein wenig Schlaf nachgeholt. Sehen wir uns heute Abend?«, fragte er sie.
»Das hoffe ich doch«, antwortete sie lächelnd und küsste ihn zärtlich auf die Wange. »Wir könnten heute Abend mal wieder mit Ophelia zum Italiener gehen«, schlug sie vor.
»Gute Idee, das machen wir. Was ist mit deiner Mutter?«
»Sie ist mit Hannes verabredet, das war sie allerdings auch schon heute zum Mittagessen. Er hat aber abgesagt, weil er etwas Dringendes erledigen musste. Sie hat schon die Vermutung geäußert, dass ihm alles zu schnell geht und er ein bisschen auf Abstand gehen will.«
»Ich denke, da täuscht sie sich.«
»Das heißt, er hat dich bereits davon überzeugt, dass er in meiner Mutter nicht nur einen Zeitvertreib sieht.«
»Ja, er hat mich überzeugt, ich halte ihn auch nicht mehr für einen Hochstapler.«
»Gut zu hören, aber jetzt muss ich los. Gesprächstherapie im Seniorenstift«, ließ sie ihn wissen, wohin sie wollte.
»Bis heute Abend«, sagte Daniel und streichelte ihr liebevoll über das Haar, bevor sie in ihr Auto stieg, das vor der Garage parkte. Er wartete, bis sie die Einfahrt verlassen hatte und auf die Straße einbog, winkte ihr noch einmal und machte sich auf den Weg zur Praxis.
In der Praxis blieb er noch einen Augenblick am Empfangstresen stehen, um ein paar Worte mit Sophia und Lydia zu wechseln. Die beiden klärten ihn darüber auf, dass die meisten Patienten an diesem Nachmittag wegen Erkältungsbeschwerden gekommen seien und er vermutlich einige Krankschreibungen ausstellen musste.
Im Laufe des Nachmittages bestätigte sich ihre Vermutung. Dieser Bezirk der Stadt wurde ganz offensichtlich gerade von einer Erkältungswelle überrollt. Auch wenn seine Patienten kein Fieber hatten, riet er ihnen, sportliche Anstrengungen erst einmal zu meiden, und diejenigen, die Fieber hatten, bat er, sportliche Aktivitäten ganz sein zu lassen. Es gab immer noch zu viele Menschen, die glaubten, dass sie sich wegen einer Erkältung nicht schonen mussten.
»Ihr Immunsystem ist im Moment damit beschäftigt, krankmachende Viren zu bekämpfen. Ihr Körper braucht deshalb Erholungspausen. Erholung bedeutet, keine Anstrengungen«, gab er seinen Patienten als Ratschlag mit auf den Weg und hoffte, dass sie seinen Rat annahmen. Falls nicht, würde er den einen oder anderen mit einer Bronchitis oder schlimmeren Komplikationen wiedersehen.
Kurz nach fünf hatten die letzten Patienten die Praxis verlassen. Daniel wollte gerade seinen Computer ausschalten, als Lydia ihn über das Haustelefon informierte, dass Hannes eingetroffen war. Jetzt bin ich wirklich gespannt, dachte Daniel, als er Hannes gleich darauf die Tür des Sprechzimmers öffnete.
»Danke, Daniel«, sagte Hannes und nahm den jungen Arzt freundschaftlich in den Arm.
»Womit habe ich das verdient?«, fragte Daniel. Sollte sich wirklich bewahrheitet haben, was ihm zunächst nur als vage Hoffnung erschienen war?
»Der Bericht der Klinik«, sagte Hannes und drückte Daniel einen großen braunen Umschlag in die Hand.
»Nehmen Sie Platz«, bat Daniel seinen Patienten.
»Ich kann es immer noch nicht richtig glauben«, sagte Hannes, als sie sich an Daniels Schreibtisch gegenübersaßen, der junge Arzt sich die neuen CT-Aufnahmen anschaute, den Bericht des Radiologen las und sich auch die Ergebnisse der anderen Untersuchungen ansah.
Ärzte verschiedener Fachrichtungen hatten Hannes untersucht, sie hatten ihm Blut abgenommen, ihn befragt, Gewebeproben entnommen und das Fazit des Abschlussberichtes lautet: Der Patient Johann Baumstetter ist vollkommen gesund.
»Der Tag in der Klinik hat sich gelohnt, Hannes. Und das Belastungs-EKG von heute Morgen hat Ihren Gesundheitszustand bestätigt. Es ist alles in Ordnung«, stellte Daniel mit einem glücklichen Lächeln fest. Es war ein ganz wundervolles Gefühl, einem Patienten sagen zu können, dass er gesund war.
»Aber wie kann das sein?«, fragte Hannes, der sich diese Wunderheilung noch immer nicht erklären konnte.
»Ich denke, dass Ihre CT-Aufnahmen in Kiel vertauscht wurden.«
»Der Busunfall«, sagte Hannes. »Als ich damals im Krankenhaus war, ging es ziemlich hektisch zu. Mehrere Opfer eines Busunfalls wurden dort gerade eingeliefert.«
»Ich werde mit der Klinik sprechen.«
»Sollten sie dort die Verwechslung nicht längst bemerkt haben? Ich meine, jemand, der so krank ist, wird vermutlich die Symptome zeigen, die Sie bei mir erwartet haben. Die Diskrepanz zwischen CT-Aufnahme und Symptomatik müsste dem behandelnden Arzt doch auffallen.«
»Eigentlich schon. Wie gesagt, ich werde das klären.«
»Ich hatte bereits mit meinem Leben abgeschlossen.«
»Und dann kam Ottilie. Nur durch Ihre Bekanntschaft mit ihr konnte mir dieser Widerspruch zwischen Diagnose und tatsächlichem Gesundheitszustand überhaupt erst so schnell auffallen«, entgegnete Daniel.
»Ich glaube, es wäre Ihnen auch so aufgefallen. Sie gehören zu den wenigen Ärzten, die sich ihre Patienten genau ansehen und auch das Gespräch mit ihnen suchen. Sie hätten sicher bald erfahren, was ich so treibe, und die richtigen Schlüsse daraus gezogen.«
»Ich hoffe, dass es so gekommen wäre.«
»Wie auch immer, ich bin sehr, sehr froh, dass ich Sie als meinen neuen Arzt gewählt habe. Und jetzt, da ich beschlossen habe, auch weiterhin in München zu leben, habe ich den Hausarzt meines Vertrauens bereits gefunden.«
»Werden Sie Ottilie sagen, was Ihnen passiert ist?«
»Ja, das werde ich tun«, versicherte ihm Hannes. »Ich gehe davon aus, dass wir uns in Zukunft häufiger sehen werden. Vorausgesetzt, Ottilie verzeiht mir, dass ich ihr die Wahrheit verschwiegen habe«, sagte er, als er sich wenig später von Daniel verabschiedete.
»Sie werden das schon hinbekommen«, antwortete Daniel lächelnd. Viel Glück, Hannes, dachte er, als er einen Blick aus dem Fenster seines Sprechzimmers warf, nachdem Hannes gegangen war.
Ottilie lehnte an Hannes’ Auto und hatte ganz offensichtlich den Eingang der Praxis im Blick. Sie trug noch immer dieses leuchtendblaue Kleid, mit dem er sie am Vormittag auf dem Balkon hatte stehen sehen. Er war zuversichtlich, dass Hannes die richtigen Worte finden würde, um Ottilie davon zu überzeugen, dass er es wirklich ernst mit ihr meinte. Er wandte sich vom Fenster ab und ging zurück an seinen Schreibtisch, um mit der Klinik in Kiel zu telefonieren.
*
»Könnte es sein, dass du heute Vormittag schon einmal hier warst?«, fragte Ottilie, als Hannes sich seinem Auto näherte, das er nur wenige Meter von der Praxis entfernt auf der Straße geparkt hatte.
»Ja, das stimmt, ich war heute schon einmal hier«, gab er zu.
»Gut, dann habe ich mich nicht geirrt, als ich heute Vormittag glaubte, dich vorbeifahren zu sehen.«
»Du hast dich nicht geirrt«, sagte Hannes und blieb vor Ottilie stehen.
»Du warst heute schon einmal bei Daniel?«
»Ich hatte etwas mit ihm zu klären und er mit mir.«
»Gleich zweimal am Tag?«
»Das hat sich so ergeben.«
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du zu Daniel in die Sprechstunde gehst? Warum hast du es eine dringende Angelegenheit, die du erledigen musst, genannt, als du unsere Verabredung zum Mittagessen abgesagt hast?«
»Lass uns einen Spaziergang machen«, bat Hannes sie.
»Du wirst mir erzählen, was los ist?«, fragte Ottilie und hielt seinen Blick fest.
»Das habe ich vor«, sagte er und umfasste ihre Hand.
Sie bogen in den Weg ein, der zum Ufer der Isar führte. Das bunte Herbstlaub der Ahornbäume, die den Weg zu beiden Seiten begrenzten, leuchtete in der Abendsonne. Hannes fiel es nicht leicht, Ottilie zu gestehen, dass er ihr seine Australienpläne erst einmal verschweigen wollte. Da er ihre Beziehung aber nicht mit einer Lüge beginnen wollte, erzählte er ihr die ganze Wahrheit, ohne irgendetwas zu beschönigen.
»Wie lange wolltest du mir das alles verschweigen?«, fragte Ottilie, nachdem sie Hannes’ Geständnis gehört hatte.
Sie hatten inzwischen den Fluss erreicht, waren am Ufer stehen geblieben und schauten den Enten zu, die sich auf einer der weißen Sandbänke in der Mitte der Isar von den letzten Sonnenstrahlen des Tages wärmen ließen.
»Ganz ehrlich, ich weiß es nicht«, gestand Hannes Ottilie, als sie sich ihm wieder zuwandte. »Ich wollte einfach nur, dass wir eine schöne Zeit haben, solange es für mich noch möglich war. Zuerst wollte ich meine Gefühle für dich nicht zulassen, aber ich konnte mich auch nicht gegen sie wehren. Ich hatte niemals vor, dir wehzutun, Ottilie. Ich wollte einfach nur mit dir glücklich sein. Denkst du, du könntest es mir nachsehen, dass ich dir nicht die Wahrheit gesagt habe?«
»Nach dem, was du mir gerade erzählt hast, hat sich diese Wahrheit als Lüge herausgestellt.«
»Das ändert aber nichts daran, dass ich dir etwas verschwiegen habe.«
»Das ist richtig, aber weißt du was, wie auch immer das mit uns ausgegangen wäre, diese Tage mit dir waren wundervoll. Ich habe mich schon lange nicht mehr so jung gefühlt.«
»Das heißt, du verzeihst mir?«
»Das Leben ist endlich, und wenn sich in unserem Alter die Liebe noch einmal meldet, dann sollten wir sie unter keinen Umständen vorbeiziehen lassen. Ja, Hannes, ich verzeihe dir, dass du mir nicht gleich dein ganzes Leben offenbart hast.«
»Dann geht es mit uns weiter?«, fragte er und sah sie voller Erwartung an.
»Von mir aus sehr gern.«
»Wir werden noch viele aufregende Dinge miteinander tun«, sagte Hannes, zog Ottilie zärtlich an sich und küsste sie.
»Da ich davon ausgehe, dass Daniel deine Geschichte kennt, sollten wir sie jetzt auch Olivia und Ophelia erzählen. Es würde mir nicht gefallen, wenn ich diese falsche Diagnose, die dir dein Leben eine Zeit lang so schwer gemacht hat, vor den beiden geheim halten müsste.«
»In Ordnung, gehen wir zu ihnen und erzählen es ihnen«, willigte Hannes sofort ein.
»Gut, dann gehen wir heute italienisch essen«, sagte Ottilie lächelnd.
Als sie eine halbe Stunde später in dem Restaurant in der Fußgängerzone eintrafen, waren Daniel, Olivia und Ophelia schon da. Sie setzten sich zu ihnen, bestellten genau wie die anderen das Tagesmenü Lasagne und Salat, und Hannes erzählte Olivia und Ophelia von der falschen Diagnose und ihren Folgen.
»Das ist ja gruselig. Sie haben echt gedacht, Sie würden demnächst sterben«, stellte Ophelia entsetzt fest.
»Ich hatte mich damit abgefunden, aber dann traf ich deine Oma, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als Zeit mit ihr zu verbringen und dieses Damoklesschwert, das über mir schwebte, für eine Weile zu vergessen«, sagte Hannes.
»Egal wie, ich finde es super, dass ihr euch begegnet seid«, erklärte Ophelia und betrachtete Hannes und ihre Großmutter mit einem zufriedenen Lächeln. »Doc, du hast mal wieder genau das Richtige getan«, sagte sie und hob ihr Glas mit Limonade an, um mit Daniel anzustoßen.
Daniel nahm ihr Lob lächelnd zur Kenntnis, bestellte eine Flasche Wein für die Erwachsenen und ein Glas alkoholfreien Sekt für Ophelia, und dann stießen sie auf Hannes und Ottilie an.
»Gut, dass dieses Geheimnis jetzt gelüftet ist«, sagte Hannes.
»Es gibt für jedes Geheimnis den richtigen Zeitpunkt, um es aufzudecken. Wir müssen nur darauf achten, dass wir diesen Zeitpunkt nicht verpassen«, erklärte Ottilie, streifte Daniel mit einem kurzen Blick und sah danach Olivia an.
»Auf euch beide.« Olivia hob erneut ihr Glas an, um mit ihrer Mutter und Hannes anzustoßen. Sie wusste natürlich, worauf Ottilie gerade anspielte, aber noch war der richtige Zeitpunkt nicht gekommen, um ihr eigenes Geheimnis zu lüften. Ihr Geständnis musste noch warten. Glücklicherweise hatte sich die Übelkeit, die sie ein paar Tage so sehr gequält hatte, gelegt. Sie spürte sie inzwischen nur noch morgens kurz nach dem Aufstehen, hatte sie aber so gut im Griff, dass sie sie vor Daniel verbergen konnte.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Daniel leise, als ihm auffiel, dass Olivia nur einmal kurz an ihrem Weinglas genippt hatte, es aber sonst nicht weiter anrührte.
»Ja, alles gut«, versicherte sie ihm.
»Dann bleibt es bei unserem Ausflug an den Starnberger See am Samstag?«
»Ja, auf jeden Fall«, sagte sie und streichelte sanft über seine Hand.
*
»Daniel, das war eine wundervolle Idee«, sagte Olivia, als sie am Samstag um die Mittagszeit in ihrem Hotelzimmer standen.
Das Eckzimmer mit den drei großen Fenstern lag im zweiten Stock des Hotels und bot einen weiten Blick auf den See. Es hatte einen dunklen Holzfußboden, rotweiße Vorhänge, und die Kissen und Decken in dem großen Bett waren mit weißer Seidenbettwäsche bezogen. Rosafarbene Rosen standen in einer Glasvase auf einer Kommode aus dunklem Holz und erfüllten den Raum mit ihrem Duft. Es war dasselbe Zimmer, das sie auch in dieser stürmischen Nacht, in ihrer ersten gemeinsamen Nacht, bewohnt hatten.
»Dieses Zimmer hat eine Bedeutung für uns«, entgegnete Daniel leise.
»Deshalb ist es auch der richtige Ort für das, was ich dir heute sagen will. Lass uns auf den Balkon gehen«, bat sie ihn.
»Was willst du mir sagen?«, fragte er und legte seine Arme um ihre Taille, als sie gleich darauf draußen auf dem Balkon standen.
»Manchmal wollen wir nicht, dass sich Dinge wiederholen, die beim ersten Mal nicht gut ausgegangen sind«, sagte Olivia. Sie schaute auf die Sonne, die hoch über den Gipfeln der Berge stand und sich im See spiegelte.
»Was meinst du damit?«
»Ich bin nicht sicher, ob du schon bereit für das bist, was ich dir zu sagen habe.«
»Sieh mich an, Olivia«, bat er sie. Er legte seine Hand unter ihr Kinn und drehte ihren Kopf sanft zu sich, sodass sie ihn ansehen musste. »Was ist los, sage es mir«, forderte er sie auf und hielt ihren Blick fest.
»Ich bin schwanger, Daniel. Wir bekommen ein Kind«, gestand sie ihm, was sie bisher für sich behalten hatte, und strich über den Rock ihres gelben Leinenkleides. »Ich weiß, das kommt jetzt überraschend, wir sind ja noch nicht so lange zusammen, und wenn du …«
»Nein, bitte, sage nichts mehr«, bat er sie.
»Daniel, was ist?«, fragte sie ihn erschrocken, als sie die Tränen in seinen Augen sah.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich über diese Eröffnung freue«, sagte er, beugte sich über sie und küsste sie.
»Dann ist es nicht zu früh für dich?«, wollte sie wissen, als sie sich wieder voneinander lösten.
»Nein, es ist genau der richtige Zeitpunkt. Warte kurz.«
Was hat er vor?, dachte sie, als er ins Zimmer ging und vor der Vase mit den Rosen stehen blieb, seinen Autoschlüssel, der dort lag, in die Hand nahm und sich dann über die Vase beugte. Als er wenig später wieder auf den Balkon kam, hielt er etwas hinter seinem Rücken versteckt.
»Daniel, was machst du?«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen, als er sich mit dem rechten Knie auf den Boden kniete, ihre Hand umfasste und sie anschaute.
»Olivia Mai, willst du meine Frau werden?«, hörte sie ihn im nächsten Moment sagen.
»Ja, das will ich, Daniel«, antwortete sie, ohne auch nur einen einzigen Moment zu zögern.
»Das ist nur ein Anfang«, sagte er.
»Ein äußerst origineller Anfang«, stellte sie lächelnd fest, als er ihr den mit den Blütenblättern einer Rose umschlungenen Schlüsselring an den Finger steckte.
»Ophelia sollte es zuerst erfahren«, sagte er, als er sich wieder erhob und sie in seine Arme nahm.
»Ja, das denke ich auch«, stimmte sie ihm zu.
»Videonachricht?«
»Ja, bitte«, sagte sie, als er sein Handy aus seiner Jeanstasche zog.
»Ophelia, kannst du uns beide sehen?«, fragte Olivia, nachdem Ophelia Daniels Anruf angenommen hatte.
»Ja, ich sehe euch. Was gibt’s?«
»Sieh mal«, sagte Olivia und hielt ihren Blütenring vor die Kamera des Telefons.
»Mama! Ist es das, was ich denke?«, fragte Ophelia hörbar aufgeregt.
»Ja, ist es. Daniel hat mich gefragt, ob ich seine Frau werden möchte.«
»Und sie hat Ja gesagt«, meldete sich Daniel zu Wort.
»Wow, das ist echt abgefahren, ich meine, echt großartig, o Mann, ich freue mich so für euch und auch für mich«, verkündete Ophelia mit einem glücklichen Lächeln.
»Ophelia, es gibt noch etwas, was du wissen solltest«, sagte Olivia.
»Okay, den Teil kann ich mir schon denken.«
»Ach ja?«, wunderte sich Olivia.
»Mama, bitte, diese Übelkeit die ganze Zeit. Wir wohnen in einem Haus«, erklärte Ophelia lachend. »Ich bekomme ein Geschwisterchen, richtig?«
»So ist es, mein Schatz«, sagte Olivia.
»Okay, ihr zwei, ich wünsche euch noch viel Spaß, ich muss jetzt ein paar Leute anrufen. Zuerst Emilia Seefeld, die kann am besten nachempfinden, wie ich mich gerade fühle«, erklärte Ophelia mit einem glücklichen Lächeln und beendete das Gespräch.
»Sie scheint sich zu freuen«, sagte Daniel.
»Ich glaube, diesen Ausgang hat sie geplant, seitdem sie damals auf der Suche nach Ortrud in dein Schlafzimmer eingestiegen ist.«
»Es war ein guter Plan.«
»Ja, war es«, stimmte Olivia ihm zu und schmiegte sich an ihn, als er seinen Arm um sie legte.
Die bewundernden Blicke der Spaziergänger am Seeufer, die dem schönen Paar auf dem Balkon des Hotels galten, nahmen sie nicht wahr.
Sie hatten in diesem Moment nur Augen füreinander.