Читать книгу Die Abenteuer der Linny Witt - Carola Hipper - Страница 6

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1. Kapitel Der schwebende Schatten

Ein mächtiges Gewitter trieb seine schwarzen Wolken über das Land. Der Wind fegte den Regen wütend und unerbittlich durch die Straßen. Einer der Fensterläden hatte sich aus seiner Halterung gelöst und schepperte gegen die Hauswand. Der Strom war ausgefallen, und so Linny hatte zum Abendessen ein paar Teelichte auf dem Eßtisch arrangiert. Die kleinen Flammen flackerten bei jedem Luftzug aufgeregt, als versuchten sie, das Mädchen vor einem heraufziehenden Unheil zu warnen. Während sie ihre Mahlzeit einnahm, las Linny in einem alten tibetischen Märchenbuch. Vor ihr auf dem Tisch stand ein liebevoll gerahmtes Foto ihrer Mutter, die glücklich in die Kamera lächelte. Linny liebte dieses Foto. Wann immer sie es ansah, hatte sie beinahe das Gefühl, ihre Mama säße leibhaftig vor ihr, und gemeinsam erzählten sie einander die Erlebnisse vom Tage, wie sie es früher oft getan hatten.

Es gab Momente, da machte die Erinnerung an vergangenes Familienglück Linny ein wenig traurig. Doch zumeist schöpfte sie Kraft aus dem Lächeln ihrer geliebten Mama, die ihr aus dem Bilderrahmen aufmunternd zuzuzwinkern schien. Wie so oft in den vergangenen Wochen und Monaten hatte Linny allein zu Abend gegessen. Ihre Tante Verula, mit der sie seit drei Jahren das kleine verwinkelte Häuschen in der Pantheoneumallee bewohnte, war, wie so oft, zeitig in ihrem Zimmer verschwunden, um ihren Rausch auszuschlafen.

Wie stets, so hatte Tante Verula auch an diesem Tag bereits nachmittags begonnen, sich mit hochprozentigem und, wie Linny fand, übelriechendem Alkohol über den Verlust ihres Verlobten Peter, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, hinwegzutrösten. Tante Verula war oft verkatert, fast jeden Tag hatte sie Kopfschmerzen und war unpäßlich. Trotz alledem bemühte sie sich sehr, für Linny zu sorgen.

Linnys Tante war Alkoholikerin. Wenn sie trank wurde sie fast immer sehr traurig und müde, niemals aber war sie aggressiv oder gar ungerecht gegen Linny. Tante Verula hatte das völlig verstörte Mädchen in ihre Obhut genommen, nachdem Linnys Mutter bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Tragische Unfälle, so schien es, waren keine Seltenheit in Linnys Familie. Trotz oder gerade wegen ihrer Alkoholkrankheit bemühte sich Tante Verula um so mehr, Linny die Mutter zu ersetzen. Dennoch hatte das Mädchen sehr früh die Verantwortung für das gemeinsame Leben mit ihrer Tante übernehmen müssen. Jeden Morgen brachte Linny Tante Verula das Frühstück mitsamt einer Kopfschmerztablette ans Bett. Und wann immer ihre Tante verkatert war, half Linny ihr bei der Morgentoilette und beim Ankleiden. Auch des Abends hatte sie ein Auge auf ihre Tante, denn sie schlief oft mit einer Flasche Wodka in der Hand ein. Und wenn dies geschah, räumte Linny die leeren Flaschen und Gläser beiseite und brachte ihre Tante hilflose Tante zu Bett.

An diesem Abend hatte sich Tante Verula ohne Abendessen in ihr Schlafzimmer zurückgezogen. Und so kam es, daß das Mädchen wieder einmal allein seine Mahlzeit hatte einnehmen müssen. Nach dem Essen las Linny noch eine Weile in ihrem Buch. Als sie schläfrig wurde, löschte sie die Lichter und ging auf ihr Zimmer. Dort entzündete sie, wie jeden Abend seit dem frühen Tod ihrer Mama, eine weiße Kerze und stellte sie auf das Fensterbrett. Ihre Mutter hatte dasselbe für Linnys Großmutter getan, nachdem sie gestorben war, und das Mädchen hatte diese kleine Familientradition übernommen.

»Damit sie weiß, daß wir immer an sie denken«, hatte Linnys Mutter ihr erklärt, als sie fragte, wozu die kleine Kerze gut sei. »Das Licht der Kerze wird Großmutter in dunklen Stunden den Weg nach Hause weisen.«

Und nun war es Linny, die diese Tradition fortsetzte. Sie wünschte sich, daß auch ihre Mama den Weg nach Hause finden möge, nach Hause zu ihrer Tochter, die das Andenken der Mutter schmerzlich in ihrem Herzen bewahrte.

Draußen über den Dächern der Stadt tobte der Sturm. Linny zuckte bei jedem Donnerschlag zusammen und zog die Decke über den Kopf. Von Blitz und Donner getrieben, hatten sich pechschwarze Wolken über der Stadt versammelt. Soeben fuhr der Wind mit aller Macht durch den schmalen Spalt unter Linnys Tür, als sei er ein verwunschener Geist, der sich nach jahrhundertelanger Qual den Weg aus seinem Gefängnis bahnte. Als scharfer Luftzug zwängte sich der Wind durch das enge Schlüsselloch. Dabei entstand ein hoher, melodischer Pfeifton. Auf das Pfeifen folgte ein drohendes Knarren der alten Holztür, und gleich darauf ein dumpfes Ächzen der Fensterläden, die sich mit Kräften dagegen wehrten, vom Sturm aus den Angeln gehoben zu werden.

Linny versuchte, sich abzulenken und an etwas Schönes zu denken. Wann immer sie ganz allein in ihrem Zimmer war und fühlte, daß die Furcht unter ihre Decke kroch und mit eiskalter Hand die Finger nach ihr ausstreckte, dachte sie an den Urlaub in Indien. Eigentlich war es für ihre Mutter gar kein richtiger Urlaub gewesen, denn sie war als Dolmetscherin nach Asien geschickt worden, um auf einem internationalen Kongreß als Simultanübersetzerin zu arbeiten. Ihre Mama war mehrsprachig aufgewachsen. Das Talent für das Erlernen fremder Sprachen und Dialekte hatte sie von ihrem Vater geerbt, der die ganze Welt bereist hatte. Linnys Mutter sprach acht Sprachen fließend, und als Linny noch sehr klein war, hatte sie wie selbstverständlich mit ihrer Tochter französisch, englisch, holländisch, chinesisch, japanisch, arabisch und sogar russisch gesprochen. Heute erinnerte sich Linny an das frühe Sprachtraining nicht mehr besonders gut. Aber ihre Mutter hatte stets mit einem milden Lächeln gesagt:

»Wer weiß, wozu es gut ist, wenn du ein paar Vokabeln lernst!«

Ihre Mama hatte auch gemeint, daß man gar nicht früh genug anfangen könne, so viel wie möglich zu lernen und dabei die Geheimnisse der Welt zu ergründen.

Gerade wurde Linny jäh aus ihren Gedanken gerissen, denn eine harte Bö schleuderte den Fensterladen gegen das verwitterte Holzfenster, das mit heftigem Rattern und Scheppern aus seiner Halterung sprang und dem Sturm den Weg in das kleine Zimmer freigab. All ihre Gürtel, die Linny fein säuberlich mit den Schnallen nach oben an einer besonderen Vorrichtung ihrer Zimmertür aufgehängt hatte, tanzten und klimperten zu der düsteren Melodie des Windes. Das Mädchen zitterte unter der Bettdecke, die es noch immer über den Kopf gezogen hatte. Linny hatte fürchterliche Angst vor Gewitter, und hier, in dem kleinen Haus am Rande des düsteren Waldes, erschienen ihr die entfesselten Elemente noch bedrohlicher zu sein.

Dem gebieterischen Zucken des Blitzes folgte in kurzem Abstand ein unbarmherziges Donnern, das wie ein Gewehrschuß das kleine Häuschen erschütterte. Es war ein Unwetter, als hätten die Pforten der Hölle sich aufgetan.

»Mir wird nichts geschehen«, sprach Linny sich selbst Mut zu. Auch das hatte sie von ihrer Mutter gelernt. »Es ist nur ein Gewitter. Es kann mir nichts anhaben. Mir wird ganz sicher nichts geschehen.« Das Mädchen versuchte angestrengt, sich an unbeschwerte Zeiten zu erinnern. Doch in diesem Augenblick fühlte Linny sich entsetzlich klein und einsam. Eine Sekunde lang dachte sie daran, Tante Verula aufzuwecken. Doch im selben Moment verwarf sie den Gedanken wieder. Wenn ihre Tante Alkohol getrunken hatte, schlief sie wie eine Tote. Jeder Versuch, sie aus ihrer Besinnungslosigkeit aufzuwecken, wäre sinnlos. Also versuchte Linny, die Angst zu verscheuchen. Sie konzentrierte sich. In Windeseile schickte sie ihre Gedanken zurück nach Indien, wo sie sich so unglaublich behaglich und geborgen gefühlt hatte, als sie mit ihrer Mama auf einem wunderschön geschmückten Elefanten reiten durfte. Dieser Tag war wahrhaftig der schönste Tag ihres Lebens gewesen! An jenem Tag hatten sie gelacht und gescherzt, und ihre Mama hatte sie »meine kleine Elefantenprinzessin« genannt.

Wieder prallte der Fensterladen mit lautem Scheppern gegen das zerbrochene Fenster. Der Regen prasselte in wütenden Salven ins Zimmer. Mit sich brachte er einen eisigen Hauch, der bald wie ein dunkel aufziehendes Unbehagen den Raum vereinnahmte.

Linny erschauerte. Sie wußte, sie würde sich überwinden und aufstehen müssen, um die Fensterläden zu schließen. Sonst würde der hereinströmende Regen die alten Holzdielen unter Wasser setzen. Wieder ein kurzes Zucken des Blitzes, wieder ein lauter Knall, der Linny den Atem stocken ließ.

»Jetzt«, dachte sie, »ich muß sofort aufstehen, sonst traue ich mich niemals mehr unter dieser Decke hervor!«

Mit einem Ruck warf sie die Bettdecke beiseite und sprang auf die Beine. Es war stockdunkel im Zimmer, doch Linnys Augen hatten sich bald an die Finsternis gewöhnt. Unter dem Fenster lag die Kerze, die sie für ihre Mutter angezündet hatte. Eine Windbö hatte sie zu Boden geworfen und ihr Licht verlöschen lassen. Das Gesicht zum Fenster gewandt, fuhr Linny der nächste Schreck in die Knochen. Über dem Fensterbrett erblickte das Mädchen die Silhouette eines schwebenden Schattens. Es war, als bewege er sich mit großen Schwingen auf und nieder. Linny konnte nicht glauben, was sie vor sich sah. Sie schloß die Augen und betete, daß ihre Phantasie ihr einen Streich gespielt hatte. Gleich darauf blinzelte sie ängstlich. Gleichzeitig hoffte sie, daß der Schatten verschwinden möge. Er konnte nicht real sein, nicht bedrohlich, nein, ganz sicher war er nichts als ein Hirngespinst.

Als sie ihre Augen vorsichtig öffnete, erstarrte sie. Da! Für den Bruchteil einer Sekunde erhellte die nächste Himmelsentladung den winzigen Raum. Geblendet vom Blitz und vor Schreck erstarrt fiel Linny rücklings aufs Bett. Da saß sie nun und rieb sich die Augen, als könne sie das Gesehene mit einer bloßen Handbewegung wegwischen. In diesem Augenblick begann die Erscheinung, die sich auf dem Fensterbrett niedergelassen hatte, zu sprechen:

»Hier wohnst du also, hm?« krächzte der Schatten. »Nicht gerade ein Luxushotel, was?!« Ein heiseres Lachen vermischte sich mit dem Wüten des Windes. »Hey, was ist nun? Begrüßt du so deine Gäste? Willst du nicht das Fenster schließen, damit wir uns gepflegt unterhalten können?«

Als der nächste Blitz den Raum durchzuckte wie ein von Strom gereizter Muskel, riß Linny die Augen weit auf. Träumte sie? Nein, das konnte nicht wahr sein! So ein Unsinn! Sie bildete sich das alles nur ein. Es war ihre Furcht, die dieses Trugbild hervorgebracht hatte. Ja, die Angst konnte Dinge erscheinen lassen, die gar nicht vorhanden waren! Vollkommen reglos blieb Linny auf ihrem Bett sitzen und starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Dunkel.

»Was denn, hat es dir etwa die Sprache verschlagen?« krächzte die Stimme.

Nein, nein und nochmals nein! Dieser sprechende Schatten war nichts als Einbildung! Sie würde ihn ganz einfach ignorieren, dann würde er ganz sicher von selbst wieder verschwinden! Die Angst vor dem Gewitter hatte ihren Verstand vernebelt! Der Schatten war ein Trug, ein Traum, eine Sinnestäuschung! Aber gab es denn Trugbilder, die sprechen konnten? Ein wenig seltsam war das schon.

»Heda, hallo! Ich rede mit dir, kleine Dame! Wo sind deine Manieren geblieben? Hast du sie unterm Bett versteckt?«

Wieder erfüllte ein heiseres, krächzendes Gelächter den Raum. Linny war sich vollkommen sicher, daß ihre Phantasie mit ihr durchging, daran bestand kein Zweifel! Sie würde jetzt aufstehen, zum Fenster hinübergehen und diesen krächzenden Schatten verscheuchen! Und mit ihm würde sie all ihre Ängste und die traurigen Gedanken gleich mit zum Fenster hinausjagen. Anschließend würde sie sich in ihr Bett legen, von fernen Stränden und großen Abenteuern träumen und bald eingeschlafen sein. Und morgen früh wäre das Gewitter mit all seinen dunklen Schatten vergessen.

»Heda! Wie lange soll ich noch auf deinem Fensterbrett herumlungern, Linny Witt!?«

Verflixt! Woher kannte diese freche Schattengestalt ihren Spitznamen? Linny hieß mit vollem Namen Lalinda von Wittenberg, doch als sie ein kleines Mädchen war, fanden ihre Freunde und Schulkameraden, daß ihr Name viel zu lang und zu kompliziert sei. Daher nannten sie sie schlicht: »Linny Witt«.

»Nun, kleine Lady, ich bin schon ein wenig enttäuscht von dir, das kann ich nicht verhehlen! Aber ich werde versuchen, dir dein unhöfliches Schweigen nicht zu verübeln und mich dir vorstellen: Gestatten, mein Name ist Hunibald Georgius Roderich Karl Eduard, der Dreiunddreißigste von Schattenstein zu Flüstertal!«

Eben zerriß der Donner die vor Spannung knisternde Finsternis, als wolle er den Worten des Fremdlings Gewicht verleihen.

»Besser ein krächzender Schatten als gar keine Gesellschaft«, dachte sie bei sich. Endlich fand sie ihre Sprache wieder und sagte:

»Und was verschafft mir die Ehre deines späten Besuches, werter Hunibald Georgius Roderich ähm-« Linny stockte, denn leider hatte sie sich nicht den vollen Namen ihres ungebetenen Besuchers merken können.

»…Karl Eduard, der Dreiunddreißigste von Schattenstein zu Flüstertal!« vervollständigte der späte Gast. »Freut mich zu hören, daß du des Sprechens mächtig bist«, fügte er hinzu. »Nun also gut, Hunibald mit dem komplizierten Namen, was machst du zu so später Stunde hier auf meinem Fensterbrett? Kannst du nicht zur Eingangstür hereinkommen wie jeder normale, ähm-« Linny zögerte, weil sie nicht recht wußte, wen oder was sie eigentlich vor sich hatte. Nach kurzem Innehalten fügte sie ihren Worten »-Geselle?« hinzu.

Der seltsame Eindringling räusperte sich verächtlich. Da schleuderte der Sturm den lockeren Fensterladen ein weiteres Mal gegen den Fensterrahmen und schubste Hunibald, den Dreiunddreißigsten, mitten ins Zimmer hinein. Dabei ließ der schattenhafte Geselle ein glitzerndes Ding aus seinen Klauen gleiten, das, begleitet vom nächsten Aufblitzen des Sturmes, pfeilschnell durch die Luft sauste und mit einem magischen Lodern in Linnys Zimmertür steckenblieb, wo im selben Augenblick ein goldener Funkenregen zu Boden rieselte.

»Was war denn das?« rief Linny aus und sprang vom Bett.

Sie lief hinüber zur Tür, wo ihre Lieblingsgürtel sorgsam aufgereiht an den dafür vorgesehenen Haken hingen. Doch im Halbdunkel war nicht genau zu erkennen, was da in ihrer Tür steckte. Sie nahm die kleine Streichholzschachtel von der Kommode und öffnete die oberste Schublade, wo sie Kerzen und Teelichte aufbewahrte. Sie nahm ein kleines Sturmlicht heraus und versuchte, es zu entzünden.

Der Wind fegte in kurzem Abstand Regensalven durch das sperrangelweit geöffnete Fenster. Linny verbrauchte sechs Streichhölzer, bis es ihr endlich gelang, die kleine Kerze zu entfachen. Sie hielt das Licht hoch und suchte nach der Stelle, wo sie das glitzernde Geschoß hatte einschlagen sehen.

Da war es: Es war ein goldener Dolch, der sich ausgerechnet in die Öffnung der Schnalle ihres Lieblingsgürtels gebohrt hatte!

»Oh, nein!« rief Linny aus. »Den Gürtel hat Mama mir zu meinem achten Geburtstag geschenkt!«

»Da siehst du, wie klug der Dolch ist! Er wurde nicht nur aus einer geheimen Stahllegierung geschmiedet und mit reinem Gold veredelt, nein, noch dazu ist er sehr intelligent und findet immer den Weg zu seinem Ursprung!«

»Was soll das heißen: den Weg zu seinem Ursprung?« sagte Linny bissig. »Herrje! Wehe, wenn dieses dumme Ding meinen Lieblingsgürtel beschädigt hat! Wenn du schon in fremde Häuser eindringst, ohne dich anzumelden, kannst du wenigstens deinen Kram bei dir behalten!« Linny war wütend. Und das war gut so. Während sie im Eifer ihres Zorns den Dolch aus der Tür zog und ihren Gürtel befreite, vergaß sie ihre Angst vor dem Unwetter.

»Aber, aber, junge Dame! Etwas mehr Contenance, wenn ich bitten darf!« erwiderte der Schatten.

»Von wegen, Contenance! Sag mir auf der Stelle, was du von mir willst, du komischer Vogel!« sagte Linny aufgebracht.

»Nun werde mal nicht frech! Ich bin nicht bei Wind und Wetter den weiten Weg zu dir geflogen, um mich von dir anzicken zu lassen, du kleine Hexe!«

»Nun, warum bist du dann hergekommen, wenn nicht deshalb?« fauchte Linny.

»Wenn du dich tunlichst beruhigen würdest, mein Kind, könnte ich dir den Grund meines Kommens erklären! Aber nun sei bitte so freundlich und schließe endlich das Fenster, damit wir nicht unentwegt gegen den Wind anschreien müssen«, entgegnete Hunibald.

Linny funkelte den schattenhaften Eindringling wortlos an, fügte sich aber. Sie versuchte, den gelockerten Fensterflügel in sein Scharnier zurückzuschieben, was ihr nicht recht gelingen wollte. Also schloß sie das Fenster so gut es ihr möglich war, bevor sie sich wieder ihrem ungebetenen Gast zuwandte.

»So ist es besser!« kommentierte Hunibald. »Und nun sei so gut und entzünde noch ein paar von den kleinen Lichtern.«

Mit mürrischem Blick ging Linny, die noch immer ihren Lieblingsgürtel in der Hand hielt, zurück zur Kommode, holte ein paar Teelichte hervor und entzündete sie. Nach und nach wurde es heller und behaglicher in dem kleinen Zimmer. Es war noch immer recht düster im Raum, aber der Schein der kleinen Flammen tauchte die Konturen des Raumes schon bald in ein sanftes, goldgelbes Licht. Auch der schattenhafte Hunibald war nun für Linnys Augen deutlicher sichtbar. Als er sich auf dem Kissen des kleinen Schaukelstuhles gleich neben ihrem Bett niederließ, begriff Linny, daß sie sich geirrt hatte. Es war ganz und gar nicht ihre lebhafte Phantasie, von der sie glaubte, sie habe sie um ihren Verstand gebracht! Was sich da auf ihrem Schaukelstuhl niedergelassen hatte, war kein Phantom! Tatsächlich und ohne jeden Zweifel saß dort ein leibhaftiger, sprechender, mit einem schneeweißen und viel zu großen, völlig durchnäßten Herrenhemd verhüllter Papagei!

Als das regennasse Hemd zu Boden glitt, schüttelte der Papagei sein prächtiges Gefieder.

»Ein kleiner Nachttrunk wäre mir jetzt äußerst genehm«, sagte Hunibald, der Dreiunddreißigste. »Einen Wodka hätte ich gern, mit heißer Milch, wenn ich bitten darf. Der wird mir wohl die Zunge lösen, hahaha!« krächzte und gluckste er amüsiert.

»Bist du etwa betrunken?« fragte Linny mit strengem Blick. Seit sie bei ihrer Tante wohnte, wußte sie nur allzu gut, was Alkohol aus einem Menschen oder einem »Wesen« machen konnte.

»Aber nicht doch, mein Liebchen, nicht doch!« gab Hunibald zurück. »Ich bin Seefahrer, ich vertrage Hochprozentiges! Jawohl, das will ich meinen!«

»Seefahrer? So, so! Unter Münchhausens Flagge, nehme ich an! Also, na meinetwegen!« murmelte Linny und runzelte die Stirn. Waren Seeleute nicht etwa bekannt für ihre Saufgelage? Doch nein, sie würde Hunibald nicht nach seinen Trinkgewohnheiten fragen. Sie mußte herausfinden, was der Papagei von ihr wollte. In diesem Augenblick hatte sie nur einen einzigen Gedanken: Linny mußte in Erfahrung bringen, was ihn hierhergeführt hatte und wieso er ihren Namen wußte. Was wollte dieser komische Vogel ausgerechnet von ihr?

»Warte einen Moment, ich gehe in die Küche und hole dir deinen Nachttrunk«, sagte sie. Im selben Augenblick machte sie auf dem Absatz kehrt, um gleich darauf mit einem schelmischen Grübchen über der Nasenwurzel das Zimmer zu verlassen.

»Gib nicht zu viel Milch hinein«, rief Hunibald ihr nach. »Ich bin schließlich kein Säuglingsara!« Sein krächzendes Gelächter erfüllte den kleinen Raum und schallte bis ins Treppenhaus hinein; Linny aber dachte sich: »Na, warte! Dir werde ich einen feinen Nachttrunk mixen!«

Auf Zehenspitzen schlich das Mädchen die Treppe hinab. Linny kannte jede einzelne der morschen Treppenstufen ganz genau, und sie wußte noch besser, welche der Stufen am lautesten knarrte, wenn man darauf trat. Sie achtete darauf, keinen unnötigen Lärm zu machen. Auf keinen Fall wollte sie Tante Verula aufwecken. Es war zwar nicht sonderlich wahrscheinlich, daß die Tante aus ihrem Rausch erwachte, aber hin und wieder geschah es, daß sie während der Nacht zu sich kam, aufstand und im Haus umherwanderte. Falls sie ihre Nichte beim Brauen eines Nachttrunks erwischte, würde sie ihr sicher eine Menge Fragen stellen. Und Linny log ihre Tante nur sehr ungern an. Tante Verula war aufgrund ihrer Alkoholkrankheit nicht besonders verläßlich, aber sie sorgte sich rührend um ihre Nichte. Falls ihre Tante urplötzlich erwachte, würde sie ganz sicher wissen wollen, wer der nächtliche Gast war und was er zu dieser späten Stunde hier wollte.

Unbemerkt gelangte Linny in die Küche, wo sie geschwind etwas Milch auf dem Herd erhitzte. Mit hinein in den Topf gab sie eine saubere Keramikscherbe. Die Scherbe diente dazu, die Milch vom Überkochen abzuhalten. Diesen Trick hatte sie von ihrer Mutter gelernt, wie so viele andere nützliche Dinge. Sodann schnappte sie sich ein Fläschchen Valeriana-Tinktur aus dem Kräuterschrank. Mit einem magischen Schmunzeln um die Mundwinkel entleerte sie den Inhalt des Fläschchens in ein frisches Glas, tat flugs ein paar exotische Gewürze hinzu, um das Gemisch schlußendlich mit der heißen Milch zu einem bläulich-dampfenden Gebräu aufzugießen. Den Wodka allerdings ließ sie unberührt im Giftschrank stehen.

»Diesem Hunibald werde ich eine hübsche Lektion erteilen!« dachte Linny, als sie das kleine, silberne Tablett die Treppen zu ihrem Zimmer hinaufbalancierte.

»Bitte sehr, der Herr!« sagte sie betont höflich, als sie das Tablett vor Hunibald auf den Nachttisch stellte. Der Papagei war ganz aufgeregt von seinem Sitzkissen gehüpft. Nun flatterte er über seinem Nachttrunk, während er begierig daran zu riechen begann.

»Hmhmhm«, krächzte er. »Das duftet aber streng!«

»Ist ein Spezialrezept des Hauses«, antwortete Linny verschmitzt. »Je strenger es riecht, desto intensiver wirkt es!«

Derweil hatte sich Hunibald den kleinen gelben Strohhalm geschnappt, den Linny für ihn bereitgelegt hatte, und ihn in das Glas getaucht. Schon begann er mit geschlossenen Augen genüßlich an dem Gebräu zu nippen. Doch kaum hatte er davon gekostet, ließ er mit angewidertem Gesichtsausdruck davon ab. Er warf Linny einen vorwurfsvollen Blick zu, als er sagte:

»Schmecken tut es auch ganz komisch! Bist du sicher, daß du echten, russischen Wodka genommen hast?«

»Oh, laß mal probieren?« sagte Linny und tat so, als nähme sie einen Schluck aus dem Glas. »Na ja«, sagte sie nach einer kleinen Pause mit prüfender Miene, »womöglich ist der Wodka ranzig.«

»Waaas?« rief Hunibald entsetzt und flatterte hektisch im Zimmer umher. »Ranziger Wodka?! Du willst mich wohl zum besten halten, kleine Dame!«

Der Papagei zog ein beleidigtes Gesicht.

»Mach nur weiter so, Lalinda von Wittenberg! Dann wirst du den Grund meines Hierseins nie erfahren! Ja, ja, dann kannst du dir einen anderen Paten für deine Hexentaufe suchen!«

»Was für eine Hexentaufe?«

Linny horchte auf.

»Sage mir erst, was du in den Trunk gemischt hast, sonst kündige ich dir auf der Stelle die Gefolgschaft!« lamentierte Hunibald und verschränkte die Flügel vor der Brust.

»Schon gut, schon gut, beruhige dich! Ich gebe es ja zu: Ich habe dir ein Quentchen Valeriana in den Trunk gemischt. Aber höchstens einen Fingerhut voll, ehrlich!« gestand Linny.

»Das gibt es doch nicht! Du wolltest mich wohl umbringen!« rief Hunibald empört aus. »Valeriana in meinem Nachttrunk! So was! Und was, wenn ich das Gebräu nun getrunken hätte, hm? Und was, wenn ich dann auf dem Heimflug eingeschlafen und vor einen Baum geprallt wäre, oder vor ein Straßenschild, hm?« Hunibald zog empört eine Augenbraue empor.

»Aber nun rege dich doch nicht so auf! Es war doch nur ein winziges bißchen Baldrian!« meinte Linny.

»Ein winziges bißchen, sagst du? Umbringen hättest du mich können, jawohl!« Der Papagei wedelte empört mit den Flügeln.

»Nun beruhige dich schon! Es war doch nur ein kleiner Scherz!« Linny wußte nicht, wie sie den aufgewühlten Hunibald beschwichtigen sollte.

»Unglaublich! Da mache ich mir den weiten Weg über den Kanal, um dir das kostbarste Erbstück deiner Familie zu bringen, damit du, wie alle magischen Mitglieder deiner Familie, am Vorabend deines Geburtstages zur Hexe geweiht werden kannst, und das ist nun der Dank! Spott und Hohn hast du für mich übrig! Und das ist alles! So ein Undank! Wahrlich, wahrlich, daß ich das noch erleben muß! Da müht man sich Jahr um Jahr ab, poliert den goldenen Dolch Tag für Tag mit größter Sorgfalt, damit er in der Stunde der Wahrheit seine Sache gut machen möge, und dann das: Baldrian! Schnöder Baldrian! Jammervolles Katzenlabsal! Sehe ich etwa aus wie ein pelziges Raubtier? Meine Wurzeln gehen über Generationen zurück bis ins Zeitalter der Dinosaurier! Jawohl, schon in den guten alten Zeiten von Macht und Größe bevölkerten meine Urahnen die Welt! Und nun muß ich mir von einem Naseweis wie dir, und einem ungetauften dazu, Valeriana in den Nachttrunk mischen lassen!«

Hunibald schimpfte in einem fort vor sich hin, ohne Luft zu holen. Als er einmal kurz innehalten mußte, um einen tiefen Atemzug zu tun, unterbrach ihn Linny: »Moment mal! Was hast du da gerade von Hexentaufe und Einweihung erzählt? Du sprichst doch nicht etwa von mir? In meiner Familie gibt es keine Hexen, das versichere ich dir!«

»Und was war mit deiner Mutter?« wandte Hunibald dagegen. »Wenn sie nicht die größte und klügste Hexe diesseits des magischen Äquators gewesen ist, dann fresse ich auf der Stelle einen Blumentopf!«

»Wie war das? Willst du damit sagen, daß du meine Mutter gekannt hast?« Linny war verblüfft. Das hätte sie nicht erwartet. Falls der Papagei die Wahrheit sprach, würde das bedeuten, daß ihre Mutter ein großes Geheimnis vor ihr verborgen hatte.

»Selbstverständlich kannte ich deine Mutter, junge Dame! Ich kannte sie besser als jedes andere in diesen stürmischen Sphären dahinzaubernde Wesen überhaupt. Ich habe deine Mutter an ihrem dreizehnten Geburtstag zur Hexentaufe geleitet, und ich war ihr bis zu ihrem tragischen Tod ein loyaler Pate und treuer Freund, jawohl! Noch im Angesicht des Schicksals, das ihr drohte, hielt ich ihr wacker und unbeirrbar die Treue, und so mußte ich mit ansehen wie ihre unsterbliche Seele sich von ihrem Körper trennte und-«

Er hielt einen Moment inne, während eine dicke Träne an seinem Schnabel hinunterkugelte.

»Mutig wie keine andere hat sie das Böse in der Welt bekämpft! Doch letztlich mußte sie unterliegen. Es war ihr vorherbestimmt, von der Hand des größten Schwarzmagiers zu sterben, den die Welt je gekannt hat! Du solltest stolz auf sie sein! Durch ihren Tod hat sie den Unsrigen Zeit verschafft. Deine Mutter hat Tausende von Weißmagiern vor einem grausamen Tod bewahrt.«

»Was in aller Welt redest du denn da von Zauberei und Magie? Meine Mutter ist beim Absturz der Concorde im Jahre 2000 ums Leben gekommen! Mit Magie hatte das gar nichts zu tun! Allenfalls mit technischem Versagen.«

»Ha, denkst du! Deine Mutter war als Spionin unterwegs. Sie gab vor, als Übersetzerin zu einem Kongreß mitzureisen. Tatsächlich waren die Passagiere des abgestürzten Flugzeuges allesamt schwarze Magier auf dem Weg zur WSK, der Weltkonferenz der Schwarzen Künste. Deiner Mutter allein ist es zu verdanken, daß diese Teufel nie ihr Ziel erreicht haben. Sie belegte die Maschine mit einem Latenzzauber, damit sie noch Zeit haben würde, die Concorde zu verlassen und auf ihrem Besen zu entkommen. Unseligerweise wurde sie noch in der Luft enttarnt! Der Anführer der schwarzen Sekte, Fürst Samuel Slaughtermain, ein Jünger des keltischen Totengottes Samhain, hielt sie davon ab, das Flugzeug rechtzeitig vor der Explosion zu verlassen, ja, das tat er! Annabella wurde mit der Maschine in den Tod gerissen. So geschah es am Freitag, dem dreizehnten Flaggelon des Jahres zwölf nach Wodan! Es war ein Unglück, ein schrecklicher Schicksalsschlag, oh ja! Ein kleines Unglück für sie selbst, denn ihre Zeit war gekommen, doch ein großes Unglück für die magische Mitwelt!«

Linny war nicht in der Stimmung, mit einem wildfremden Papagei, der noch dazu behauptete, ihr Taufpate zu sein, über den Tod ihrer Mutter zu sprechen. Daher wechselte sie rasch das Thema:

»Was in aller Welt ist ein Flaggelon?« erkundigte sich das Mädchen.

»Meine Güte, lernt ihr Kinder denn gar nichts Vernünftiges in der Schule?« Hunibald schüttelte verständnislos den Kopf. »Nach der Rechnung des wodanischen Kalenders ist der Flaggelon ein Zeitabschnitt. Allerdings gibt es von den wodanischen Monaten nicht zwölf, sondern dreizehn. Der Flaggelon ist ein Frühlingsmonat, etwa wie der März. Der dreizehnte Monat, Aldomerat, ist der Monat der Transparenz. Alle Hexen und Zauberer, die es geschafft haben, im scheidenden Jahr mindestens einen Schwarzmagier zu vernichten, genießen zur Belohnung ihrer Verdienste einen ganzen Monat lang das Privileg der Unsichtbarkeit.«

»Hm«, überlegte Linny mit skeptischer Miene, »mir scheint Unsichtbarkeit ein ziemlicher Unfug zu sein! Wer wäre schon froh darüber, die eigenen Hände und Füße nicht mehr sehen zu können? Ich könnte mir vorstellen, daß man sogar schwere Koordinationsstörungen bekommt, wenn man sich selbst nicht mehr sehen kann. Wahrscheinlich ist die Unsichtbarkeit eher eine Strafe als ein Privileg!«

»Wahrlich, wahrlich, junge Dame«, beschwerte sich Hunibald, »woher hast du nur diese pragmatische Einstellung? Etwas mehr Vertrauen in die Möglichkeiten der Magie täte dir gut!«

»Ich bin bislang auch ohne Magie sehr gut zurechtgekommen!« konterte Linny frech.

»Wir haben jetzt keine Zeit für solche Diskussionen, mein Kind! Es sind nur noch dreizehn Tage bis All Hallows Eve!« Linny blickte den Papagei fragend an.

»Halloween!« Hunibald zuckte bedeutungsvoll mit einer Augenbraue. »Halloweeheen! Na, klingelt’s?«

»Ja, schon«, sagte Linny gedehnt. »Das ist die Sache mit den ausgehöhlten Kürbissen. Und weiter?«

»Und weiter?!« Der Papagei verdrehte die Augen. »Hast du denn gar keine Ahnung, was es mit Halloween auf sich hat?«

»Nein, eigentlich nicht. Halloween ist ein traditionelles Fest, das bei den Amerikanern sehr beliebt ist. Aber vielleicht ist es für Tante Verula und mich ein wenig zu amerikanisch. Jedenfalls habe ich es noch nie gefeiert. Aber immerhin habe ich am darauffolgenden Tag Geburtstag. Und Tante Verula meint, daß es zu teuer wäre, an gleich zwei aufeinanderfolgenden Tagen ein Fest zu feiern. Deshalb stellt sie mich jedes Jahr vor die Wahl, ob ich meinen Geburtstag feiern oder mich an Halloween verkleiden möchte. Und bisher habe ich mich immer für meine Geburtstagsfeier entschieden. Ich mache mir nichts aus Kostümfesten!«

Linny zuckte teilnahmslos die Schultern, damit der Papagei nicht merkte, daß sie nicht ganz die Wahrheit sprach. Sie wußte, daß die finanziellen Möglichkeiten ihrer Tante sehr begrenzt waren. Nur mit Mühe konnte Tante Verula das Haus halten. Extraausgaben wie etwa ein Halloween-Kostüm für Linny waren in dem schmalen Haushaltsetat nicht vorgesehen. Da sie um die Nöte ihrer Tante wußte, hatte Linny Jahr für Jahr vorgegeben, an Halloween nicht das geringste Interesse zu haben.

»Oh je! Was habe ich mir mit dir nur aufgebürdet!« rief Hunibald aus. »Weißt du denn nicht, welche Bedeutung All Hallows Eve für die magische Gemeinde hat?! Mein liebes Kind, Halloween ist der Vorabend des ersten November, der nicht nur dein Geburtstag, sondern auch der erste Tag des Blutmonats ist. All Hallows Eve ist traditionell die Nacht der großen Einweihung! In dieser Nacht erhalten alle Taufhexen und -magier, gleich ob in ihren Familien die schwarze oder die weiße Magie gepflegt wird, den Schlüssel zu ihrer Macht. Wie sich diese Macht im Verlauf ihres weiteren Lebens entwickeln wird und was eine jede Hexe und ein jeder Zauberer daraus machen, kann nur die Zeit bringen. Es ist sogar schon vorgekommen, daß ein schwarzer Magier, der Zeit seines Lebens die dunklen Künste ausübte, an Halloween die Seiten gewechselt hat. Die Halloween-Nacht übt eine ganz besondere, ja einzigartige Magie aus. Alle guten und schlechten Energien werden in dieser Nacht freigesetzt. Sie können entweichen, sich vermischen oder zu einem anderen Magier wechseln. Alles kann geschehen. An Halloween ist alles möglich!« Während Hundibalds Vortrag hatten Linnys Augen vor aufflammendem Interesse zu leuchten begonnen.

»Ist es schon vorgekommen, daß ein weißer Magier zu den dunklen Mächten übergelaufen ist?« wollte sie wissen.

»Oh ja!« bekannte Hunibald. »Leider ist das gar nicht so selten! Die Versuchungen des Bösen lauern überall!«

»Und was hat das alles nun mit mir zu tun? Ich meine, selbst wenn es stimmt, was du sagst, und wenn meine Mutter wirklich eine Hexe war, dann muß das doch nicht notwendigerweise auch für mich gelten, oder?« Bei aller aufkommenden Begeisterung bewahrte Linny sich ihre Zweifel.

»Mein Kind, mit trockener Kehle kann ich dir heute gar nichts mehr sagen. Dabei wäre es äußerst wichtig, daß du alle Zusammenhänge möglichst genau durchschaust. Die weiße Magie braucht die Macht deiner Familie mehr denn je!« Hunibald zog ein Gesicht. Er war ganz offensichtlich immer noch beleidigt, weil Linny ihm statt Wodka Baldrian in den Nachttrunk gemischt hatte.

»Nun entschuldige schon!« sagte Linny ungeduldig. »Aber du kommst hier mitten in der Nacht hereingeflattert und erwartest, daß ich Alkohol im Haus habe!«

»Oh bitte, Kind! Nun echauffiere dich mal nicht so! Jeder weiß doch, daß deine Tante Verula eine erbärmliche Schnapsdrossel ist!« erwiderte Hunibald barsch.

»Also gut, meine Tante trinkt. Aber sie hat auch allen Grund dazu. Sie hat Mamas Tod noch nicht verkraftet«, verteidigte Linny ihre Tante. »Meine Tante Verula hing sehr an ihrer Schwester. Ihr Tod war ein schmerzlicher Verlust für sie. Aber damit nicht genug! Der Verlobte meiner Tante ist ebenfalls bei einem Unfall ums Leben gekommen. Tante Verula hat zwei der wichtigsten Menschen verloren. Und das in ganz kurzer Zeit! Mag sein, daß sie trinkt, weil sie mit der Realität nicht fertig wird, aber das ist doch verständlich. Man kann es ihr nicht verübeln, daß sie im Alkohol einen Trost sucht. Aber das ist noch lange kein Grund, sie als ›Schnapsdrossel‹ zu beschimpfen! Sie trinkt, weil sie all die Schicksalsschläge nicht verkraftet hat.«

»Tse! Nicht verkraftet?! Und was war es, das sie vor Annabellas Tod nicht verkraftet hat? Das Wetter in Deutschland?«

»Nun werde mal nicht sarkastisch! Sie ist ein sensibler Mensch«, behauptete Linny.

»Pah! Ein schwacher Charakter ist sie! Nichts weiter! Und du, Hexenanwärterin!? Kennst nicht einmal den Unterschied zwischen Sarkasmus und Zynismus!«

»Also gut, denk meinethalben von Tante Verula, was du willst! Oh! Da fällt mir ein: Ich habe da etwas für dich-« Linny war vom Bett aufgestanden. Sie ging zur Kommode, öffnete eine Schublade und kramte darin. Eine Staubwolke stieg auf.

»Aha, soso. Das wird ja immer besser! Ich sehe, Sauberkeit ist auch nicht gerade deine Stärke!« höhnte Hunibald.

»Na und?« Linny zuckte die Achseln. »So ein bißchen Staub und Schmutz sind doch nicht weiter schädlich. Im Gegenteil: Schmutz hält das Immunsystem auf Trab! Sagt jedenfalls Tante Verula.«

»Also, bitte! Das ist mir ja eine schöne Erziehung!« Hunibald schüttelte den Kopf.

Nach einer kleinen Weile hatte Linny endlich gefunden, was sie gesucht hatte. Sie holte eine Schachtel mit Cognacbohnen aus der Schublade hervor, strich den Staub vom Deckel, öffnete sie und bot Hunibald eine Praline an.

»Pah! Süßigkeiten! Ein magerer Ersatz für meinen Nachttrunk! Wie lange liegen die da schon? Sind die überhaupt noch frisch? Oder ist die Packung etwa abgelaufen?«

Hunibald rümpfte den Schnabel. Linny zog die Stirn in Falten und warf einen Blick auf das Haltbarkeitsdatum der Pralinen.

»Keine Sorge, alles im grünen Bereich!« sagte sie. »Aber selbst wenn sie abgelaufen wären, da ist so viel Alkohol drin, der desinfiziert von innen!« Linny grinste schelmisch.

»Da kennst du meinen empfindlichen Magen aber schlecht!« Der Papagei ließ den Kopf von einer Seite zur anderen pendeln.

»Nun rede schon, Hunibald, wieso ist dir meine Hexentaufe so wichtig? Und wieso glaubst du, daß die weiße Magie ausgerechnet mich in ihrer Gefolgschaft braucht?« wollte Linny wissen. »Immerhin glaube ich gar nicht an Übersinnliches!«

»Da haben wir ’s! Die Jugend von heute glaubt nicht an Magie! Das ist erschütternd! Was ist nur aus der Welt geworden?!«

Hunibald schüttelte mit einem leidenden Gesichtsausdruck das Haupt. Bevor er weitersprach, tat er einen tiefen Seufzer: »Gerade jetzt wäre es wichtiger denn je, den magischen Nachwuchs von der Macht der dunklen Bedrohung und von der Dringlichkeit des Problems zu überzeugen! Also höre und schaudere, Linny Witt! Es kursiert das Gerücht, daß Lady Tyrannice van Slaughtermain, die Schwester des Schwarzen Fürsten, die dunkle Seele ihres Bruders zu nie dagewesener Stärke heraufbeschworen hat! Mit Hilfe der Bruderschaft des Schwarzen Blutes sucht sie nach einem neuen Gefäß, einem neuen Körper für ihren Bruder, der in eine Zwischenebene verbannt wurde. Seine Reinkarnation zu verhindern, ist das dringlichste Ziel der Anhängerschaft der Weißen Göttin.

Es heißt, die Hohepriesterin selbst habe unlängst den Ritterorden der Wanhannaee-Acht rekrutiert, um das Schlimmste zu verhindern. Doch werden die acht Ritter allein und ohne unsere Unterstützung nicht viel gegen die dunkle Übermacht ausrichten können, sobald an Halloween die Hölle aufbricht und ihre schwarze Schar freigibt.

Einzig die Macht des Kaskadenringes wäre imstande, das Aufbrechen der dunklen Kräfte aufzuhalten. Am Finger des Königs von Wanhannaee könnte der Ring den Zusammenhalt der weißen Gemeinde stärken und damit uns alle retten-«

»Also, ich weiß nicht«, meinte Linny skeptisch, während Hunibald seinen Schnabel in die Pralinenschachtel steckte. »Für mich klingt das alles ein wenig-«

»Gruselig?« vervollständigte der Papagei, der von den Cognacbohnen aufstoßen mußte.

»-unwahrscheinlich«, sagte Linny vorsichtig. Sie glaubte nicht recht an Gespenster, Hexen und Dämonen. Ihr Leben war auch ohne Magie kompliziert genug. Sie vermißte ihre Mutter jeden Tag auf so bitterliche Weise, daß sie zuweilen glaubte, nie wieder glücklich sein zu können. Linny bemühte sie sich mehr denn je, in der Schule gute Noten zu bekommen. Sie wollte das Abitur bestehen und studieren. Ihre Mutter hatte ihr stets versichert, wie wichtig eine solide Schulbildung sei. Außerdem wurde Linny von großen Zukunftsängsten geplagt, seit ihre Mutter ums Leben gekommen war. Nein, sie würde sich von einem hergeflogenen Papagei, der von dunklen Kräften und schwarzer Magie faselte, auf keinen Fall von ihren Zielen abbringen lassen. Sie, Linny Witt, war keine Träumerin! Trotzdem, ihre Neugier war geweckt: Irgend etwas in Hunibalds Worten übte eine starke Faszination auf das Mädchen aus.

»Du glaubst mir nicht!« stellte Hunibald fest und hob die Flügel. »Na, schön! Ich habe lediglich versucht, dir den Einstieg in die Hexenschaft zu erleichtern. Aber wenn du unbedingt die harte Tour einschlagen willst, bitte, meinetwegen!«

»Sagen wir: ich bin skeptisch. Einen Skeptiker könnte man überzeugen«, lenkte Linny ein. Sie mußte sich selbst eingestehen, daß die Erzählungen des Papageis ihr Interesse geweckt hatten. Selbstverständlich würde sie ihm kein Wort glauben, aber trotz aller Vorbehalte war seine Geschichte doch so spannend, daß Linny unbedingt wissen wollte, was es mit der Auferstehung des Schwarzen Fürsten auf sich hatte. Außerdem freute sie sich darauf, ihrem besten Freund Contardo morgen nach der Schule die spannende Geschichte von dem nächtlichen Besucher und seinen magischen Botschaften zu erzählen.

»Woran erkennt man nun diesen besonderen Ring? Und wer besitzt ihn?« erkundigte sich Linny.

»Ich hoffte, du könntest mir diese Frage beantworten!« seufzte Hunibald.

»Ich? Du machst wohl Witze!« entgegnete das Mädchen.

»Niemals würde ich mir erlauben, in einer so heiklen Frage zu scherzen, das darfst du mir glauben, Lalinda!« sprach Hunibald mit theatralischer Stimme. »Doch, um deine Frage zu beantworten, meine Liebe, mit dem Kaskadenring verhält es sich so: Meinen Informationen zufolge, befand er sich zuletzt im Besitz deiner seligen Mutter. Und nun hoffte ich, du wüßtest, wo er zu finden sei. Selbst wenn du persönlich nicht an magische Zusammenhänge glaubst, so mußt du doch einsehen, daß es angesichts der drohenden Gefahr äußerst ratsam wäre, den Ring vor dem Zugriff der finsteren Mächte zu bewahren. Das leuchtet dir doch ein, hm? Doch um den Ring in Sicherheit zu bringen oder ihn zumindest mit einem magischen Schutzbann versehen zu können, müßten wir zuallererst einmal wissen, wo er sich befindet.«

»Wer ist wir?« fragte Linny, die den Worten des Papageis aufmerksam gefolgt war.

»Ähm, nun ja, ich, wollte ich gesagt haben«, stammelte der Papagei. »Ich bin schließlich dein Taufpate und der langjährige Freund und Begleiter deiner lieben Mama!«

»Das sagst du! Woher weiß ich, daß du mir keine Märchen erzählst? Meine Mutter hat dich jedenfalls zu ihren Lebzeiten mit keinem Wort erwähnt. Und sie hat noch weniger verfügt, daß ihr Ring die Familie verlassen soll«, stellte Linny abwehrend fest.

»Aber das soll er ja gar nicht!« berichtigte sich der Papagei hektisch flatternd. »Das soll er ganz und gar nicht! Nur für den Fall, daß du, meine liebe Linny, dich entscheidest, einen anderen als den magischen Weg einzuschlagen, wäre es hilfreich, den Kaskadenring in die Obhut der Hohepriesterin zu geben, damit die hohe Frau die Kraft des Ringes zu unser aller Schutz einsetzen kann. So versteh doch, meine Kleine, es sind nur noch wenige Tage bis Halloween! Es bleibt uns keine Zeit mehr!«

»Und was, wenn an Halloween gar nichts geschieht? Ehrlich gesagt habe ich all die Jahre zuvor nichts von der Auferstehung böser Geister in der Halloween-Nacht bemerkt! Wieso sollte es dieses Jahr anders sein?« sagte Linny mit skeptischer Miene.

»Aber laß es dir doch erklären, Kind: Deine Mutter hat dich lange Zeit von der Magie ferngehalten, um dir eine unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen. Der dreizehnte Geburtstag ist für alle angehenden Hexen und Magier ein entscheidendes Datum. Bis zu diesem Tag werden sie von den älteren Eingeweihten, zumeist von ihren Familien, beschützt und gegen äußere Einflüsse abgeschirmt. Doch mit der Entscheidung eines jungen Zaubereianwärters für seine magische Laufbahn setzt er sich automatisch der Gefahr aus, mit den dunklen Kräften konfrontiert zu werden. Und diese Entscheidung, meine liebe Linny, nämlich die Entscheidung für oder gegen die Magie, steht auch dir an Halloween bevor. Wir alle wissen nicht, wie du, mein Kind, dich entscheiden wirst. Noch weniger wissen wir, wie stark die dunklen Mächte tatsächlich geworden sind. Falls es zu einer Auseinandersetzung mit dem Bösen kommen sollte, so muß der Kaskadenring rechtzeitig an den Finger des Wanhannaee-Oberhauptes gelangen, damit seine schützende Macht das Blatt zu unseren Gunsten wenden kann!« Hunibald tat einen tiefen Seufzer. Das Mädchen war schwerer zu überzeugen, als er angenommen hatte.

»Also, schön. Mag sein, daß du recht hast. Wenn man die Existenz von Magie grundsätzlich für möglich hält, hören sich deine Ausführungen plausibel an. Allerdings sind das nur Behauptungen. Es fehlen dir die Beweise! Woher weiß ich, daß du mir die Wahrheit sagst? Ebensogut könnte es sein, daß du bloß irgendeine diebische Elster bist!« sagte Linny provozierend.

»Wie bitte? Ich habe mich wohl verhört! Diebische Elster?! Nimm das zurück!« empörte sich Hunibald.

»Schon gut, schon gut, beruhige dich! Du wirst doch aber einsehen, daß ich mich absichern muß, bevor ich dir unseren Familienschmuck aushändige. Das verstehst du doch!« versuchte Linny ihren Taufpaten zu beschwichtigen. Doch der Papagei war tief getroffen und sichtlich beleidigt.

»Pah! Nichts verstehe ich!« entgegnete er gekränkt. »Ich habe ja schon einiges erlebt, aber als ›diebische Elster‹ bin ich noch nie zuvor beschimpft worden!«

»Also gut, tut mir leid! Ich nehme die ›diebische Elster‹ zurück. Bitte, nun komm schon, Hunibald, nimm noch ein Cognacböhnchen, bitte! Und dann erzähle mir noch mehr über die Hintergründe der dunklen Bedrohung«, bat Linny in versöhnlichem Ton.

»Nichts werde ich dir mehr erzählen, Lalinda von Wittenberg! Und deine Böhnchen kannst du getrost an deine trinkfeste Tante verfüttern, falls sie je wieder aufwacht!« Hunibald war in der Tat tief gekränkt. Schmollend verschränkte er die Flügel vor der Brust.

»Ach, komm schon, werter Hunibald! Erzähle mir mehr von Halloween und von dem Fürst der Dunkelheit«, bat Linny.

»Ha, Halloween! Du wirst früh genug erfahren, welche Bedeutung diese Nacht für uns alle haben wird. Denn in eben dieser Nacht kehren die Toten aus dem Jenseits zurück! Und falls es stimmt, was der Sicherheitsrat der Vereinten Magischen Emirate befürchtet, so wird das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse schon sehr bald empfindlich gestört werden, denn in der Nacht darauf, zwischen Allerheiligen und Allerseelen, beginnt der Widerstreit zwischen Licht und Schatten. In diesem Jahr wird der dunkle Fürst aus der schwarzen Flamme des Lodoun auferstehen, und seine Seele wird vom Körper eines Unschuldigen Besitz ergreifen.«

»Das klingt nicht gut.« Linny lief ein Schauer den Rücken hinunter.

»Nicht gut? Pah! Das dürfte die Untertreibung des Jahrtausends sein!« Mit diesen Worten flog Hunibald von seinem Stuhl auf. »Und nun überlasse ich dich deinem Zweifel, mein Kind!«

Der Papagei hatte kaum zu Ende gesprochen, da drängte ein orkanartiger Windstoß durch das Fenster, das Linny vor wenigen Minuten mühsam geschlossen hatte, und öffnete es mit lautem Getöse. Der Wind wirbelte nasses Laub und Regentropfen wie kleine Eispfeile durch das Fenster hindurch in den Raum hinein. Hunibalds Hemd wurde aufgewirbelt und durch das kleine Zimmer gefegt.

»Ach komm schon, Hunibald, bleib noch etwas! Es wird ja gerade erst richtig spannend!« rief Linny aus.

Doch Hunibald ließ sich nicht umstimmen.

»Warte auf ein Zeichen«, krächzte er Linny verheißungsvoll zu, bevor er sich von den tobenden Elementen zum Fenster hinaustragen ließ.

»Hunibald! Hunibald! So warte doch, du hast dein Hemd vergessen!«

Linny war zum Fenster gestürzt und schrie ihre Worte in die Nacht hinaus, doch der tosende Wind verschlang begierig ihre Stimme.

Während der Nacht wälzte Linny sich unruhig in ihrem Bett hin und her. Die Ereignisse des Abends kreisten in ihrem Kopf und ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Linny fragte sich, ob ihre Mutter tatsächlich im Kampf gegen den Schwarzmagier Samuel Slaughtermain ums Leben gekommen war? Hatte sie wirklich und wahrhaftig übersinnliche Fähigkeiten besessen? War es möglich, daß es neben der wirklichen Welt noch eine andere, eine magische Welt voller Hexen und Zauberer gab? Nein, welch ein Unsinn! Sicher hatte sie das alles nur geträumt! Hexen und Zauberer gab es nur im Märchen. Und Magie gab es so wenig wie fliegende Untertassen und sprechende Papageien! Mit diesem Gedanken schlief Linny ein.

Die Abenteuer der Linny Witt

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