Читать книгу Die Abenteuer der Linny Witt - Carola Hipper - Страница 7
Оглавление2. Kapitel Die große Stille
Am anderen Morgen erwachte Linny mit der festen Überzeugung, daß sie sich den nächtlichen Besucher und seine magisch-düstere Geschichte von einer dunklen Bedrohung nur eingebildet hatte. Ihre Phantasie hatte ihr einen Streich gespielt, dessen war sich Linny ganz sicher. Trotz alledem konnte sie es kaum erwarten, ihrem besten Freund von ihrem Traumerlebnis zu erzählen. Sie mußte unbedingt in Erfahrung bringen, was Contardo über Magie und Hexerei wußte und was er davon hielt. Linny war in Gedanken so sehr mit den Ereignissen der vergangenen Nacht beschäftigt, daß sie ganz und gar vergaß, nach ihrer Tante zu sehen. Sie verließ das Haus, ohne zu frühstücken. Bereits auf dem Weg zur Schule wurde Linny klar, daß etwas nicht stimmte. Einige der Häuser, an denen sie vorbeikam, waren zerstört, Türen aus den Angeln gehoben, Fensterglas lag in tausend Splittern auf den Straßen und Bürgersteigen, Autos standen verlassen und ausgebrannt am Straßenrand, einzelne Bäume waren entwurzelt, Straßenlaternen umgestürzt. Kurzum: es war ein Bild der Verwüstung! Linny war entsetzt. Überall schien das Chaos gewütet zu haben. Die Straßen waren wie leergefegt. Keine Menschenseele war zu sehen, kein Lüftchen rührte sich. Es herrschte Totenstille über der Stadt. Das Mädchen erschauerte. War das das Werk des Sturmes? Und wo waren all die Leute geblieben, die an diesem Morgen hätten zur Arbeit gehen müssen? Auf der Straße fuhren keine Autos, kein Mensch und kein Tier war zu sehen, die Stille war erdrückend. Es war, als habe jemand mit unsichtbarer Hand eine Momentaufnahme der Zeit auf Leinwand gebannt. Alles war so unwirklich. Die Welt schien wie erstarrt.
Als Linny das Schulgebäude erreicht hatte, bot sich ihr auch dort das Abbild einer gespenstischen Stille. Das Gebäude war menschenleer. Da waren keine Schüler, die geschäftig auf dem Schulhof umherliefen und wild durcheinanderschwatzten, da waren keine Lehrer, die die Schüler mahnend zur Ordnung riefen, und kein Hausmeister, der über das Gebäude wachte. Wie war das möglich? Wo waren sie alle geblieben? Es schien, als sei Linny der letzte Mensch inmitten einer Geisterstadt. Es war wie verhext!
Das einzig Vernünftige, das ihr in dieser Situation einfiel, war, zum Haus ihres besten Freundes Contardo zu gehen und nachzusehen, ob er wohlauf war.
Contardo bewohnte gemeinsam mit seinem Ziehvater eine winzige Souterrainwohnung in der Via lactissima, die nur drei Straßen von Linnys Haus entfernt lag. Herr Nonymos war der Hausmeister eines großen Mietshauses. Nachdem seine Frau gestorben war, hatte er sich furchtbar einsam gefühlt, und so hatte er Contardo vor drei Jahren adoptiert. Es war ihm egal gewesen, daß der Junge keine Papiere hatte und niemand so recht wußte, wer seine Eltern eigentlich gewesen waren. Wichtig war nur, daß die beiden sich auf Anhieb verstanden hatten.
Die Wohnung der Familie Nonymos war klein, aber sauber und gemütlich, und sie kostete nicht viel. Ein weiterer Vorteil war, daß Herr Nonymos beinahe das gesamte Kellergeschoß der Wohnanlage für sich allein nutzen durfte. Und das war auch notwendig, denn Contardos Ziehvater war fest davon überzeugt, in seinem früheren Leben Atomphysiker gewesen zu sein. Aus diesem Grund hatte er in der ehemaligen Waschküche des Mietshauses, die den größten Platz im Kellergeschoß bot, sein Laboratorium mit allerlei komplizierten Apparaturen eingerichtet. Seine Arbeit als Hausmeister erledigte er zuverlässig und gewissenhaft. Doch in jeder freien Minute fand man ihn in seinem Labor, wo er unermüdlich grübelte und tüftelte, immer auf der Suche nach den unentdeckten Geheimnissen des Universums.
Linny rannte so schnell sie konnte zu Contardos Haus. Als sie endlich dort eintraf, war sie vor lauter Aufregung ganz außer Atem. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie die Türklingel betätigte. Was, wenn sie tatsächlich der letzte Mensch auf dieser Welt war? Was, wenn das Universum aus den Fugen geraten war und alle anderen Menschen mit sich gerissen hatte? Was, wenn sie allein das große Ereignis verschlafen hatte? Und was, wenn sie nun für den Rest ihres Lebens auf einem leergefegten Planeten darauf warten müßte, daß Außerirdische auf der Erde landeten, um sie zu retten? Konnte das möglich sein? Nein, vermutlich war ihre Situation nicht ganz so aussichtslos. Fast mußte Linny bei diesem Gedanken ein wenig schmunzeln. Nein, so schlimm konnte ihre Lage nun wirklich nicht sein, daß sie anfing, an UFOs zu glauben! Sie klingelte noch einmal. Dieses Mal nahm sie den Finger gar nicht mehr vom Klingelknopf und läutete Sturm.
»Was denn, was denn? Ich komme ja schon!« rief eine ihr wohlbekannte Stimme, als die Tür plötzlich aufgerissen wurde. »Hey, Linny! Komm herein, ich habe dich schon erwartet!«
»Was? Wieso erwartet?« Linny war über alle Maßen erleichtert, Contardo zu sehen. Obwohl eine solche Begrüßung normalerweise nicht ihre Art war, umarmte sie ihn stürmisch.
»Na, na, komm doch erst einmal herein!« sagte er verlegen. Das Mädchen folgte Contardo auf sein Zimmer. Der Computer war eingeschaltet. Offensichtlich hatte Contardo gerade im Internet gesurft, als Linny an der Tür geläutet hatte.
»Es scheint, als wären wir zwei die einzigen, die es nicht erwischt hat.« Contardo kam gleich zur Sache, als er Linnys fragenden Blick auffing. »Warst du in der Schule?«
»Ja! Aber denk dir-« Linnys Stimme überschlug sich, doch Contardo unterbrach sie: »Laß mich raten: keine Menschenseele war dort, hm?« Linny nickte stumm. »Ja, das dachte ich mir schon. Es hat sie alle erwischt, alle bis auf-«
»Aber, was in aller Welt bedeutet denn das?« unterbrach Linny und schüttelte verständnislos ihren Kopf. »Und wieso sind wir zwei noch da? Ich verstehe gar nichts mehr!«
»Heute morgen um halb sieben, als mein Vater nicht zum Frühstück kam, hatte ich sofort den Verdacht, daß etwas nicht stimmt. Immerhin ist er der Frühaufsteher in der Familie. Außerdem ist er berüchtigt für seine preußische Pünktlichkeit, wie du ja weißt. Merkwürdig schien mir auch, daß der lokale Radiosender nicht ausstrahlte. Keine Nachrichten, kein Morgenmagazin, nichts! Totale Sendepause! Und das, obwohl der Strom wieder funktioniert. Daran konnte es also nicht liegen«, stellte Contardo fest.
»Aber was, um Himmels willen, ist denn dann hier los? Wo ist dein Vater? Wo sind all die anderen Leute? Wohin sind alle verschwunden?« Die Situation war seltsam genug, und Linny war froh und erleichtert, wenigstens einen Menschen gefunden zu haben, mit dem sie würde reden können.
»Nur keine Sorge, die Leute sind gar nicht wirklich verschwunden«, sagte Contardo.
»Aber sie sind nicht mehr da!« rief Linny aus.
»Das stimmt nicht ganz. Es sieht nur so aus«, versuchte der Junge sie zu beruhigen. »Komm mal mit, Linny, ich zeige dir etwas.«
Bevor Linny protestieren konnte, packte Contardo sie am Arm und führte sie zum Nebenzimmer. Es war das Schlafzimmer seines Vaters.
»Was willst du mir zeigen? Wohin gehen wir?« wollte Linny wissen.
»Scht«, machte Contardo und bedeutete ihr, still zu sein.
Mit einer vielsagenden Handbewegung öffnete er die Tür zum Schlafzimmer seines Vaters und spähte durch den Türspalt. Herr Nonymos lag noch immer in derselben, unnatürlich erstarrten Position da, in der Contardo ihn vorgefunden hatte, als er seinen Vater zum Frühstück rufen wollte.
»Schau her!«
Der Junge schob Linny vorsichtig in den Raum hinein. Beim Anblick von Contardos Vater begann das Mädchen zu begreifen. Und doch wollte Linny ihren Augen nicht ganz trauen, zu unwirklich erschien ihr die Szenerie.
»Schläft er?«
Linny blinzelte ungläubig. Dort drüben auf dem Bett lag Contardos Vater in einer denkbar unnatürlichen Haltung. Halb lag er auf der Seite, den Oberkörper leicht nach vorn geneigt. Ein Arm ragte ausgestreckt unter der Decke hervor, gerade so, als habe Herr Nonymos die Hand nach dem Glas Wasser ausgestreckt, das seitlich neben dem Bett auf einem kleinen Tisch stand. So lag er da, ohne sich zu rühren, erstarrt in dieser eigenartigen Pose, bewegungslos und: ohne zu atmen, so schien es.
»Sein Körper ist wie versteinert«, erklärte Contardo. »Aber wenn du genau hinschaust, dann bemerkst du, daß sich sein Brustkorb ganz leicht hebt und senkt. Er ist tatsächlich in eine Art Trance gefallen. Und er ist nicht der einzige. Auch alle anderen Menschen scheinen in dieser hypnotischen Erstarrung zu ›schlafen‹. Deshalb sind die Straßen leer, und deshalb ist niemand ist zur Arbeit gekommen. Sie alle sind in der vergangenen Nacht, irgendwann während des Sturms, eingeschlafen, und wie mir scheint, kann es ein Weilchen dauern, bis sie wieder aufwachen.«
»Wie meinst du das? Wenn sie bloß eingeschlafen sind, dann könnten sie doch ganz einfach wieder aufwachen, wie jeden anderen Morgen auch!« entgegnete Linny.
»Ich fürchte, das wird in diesem Fall nicht so einfach sein.«
Contardo seufzte tief, während er Linny sanft zur Tür hinaus auf den Korridor schob.
»In der letzten Nacht ist etwas Seltsames geschehen. Vollständig erklären kann ich es bislang nicht. Dafür fehlen mir noch einige Informationen. Aber es sieht so aus, als habe mein Vater mit seiner Theorie, daß sich das Magnetfeld der Erde langsam umzukehren beginnt, tatsächlich recht behalten.«
Der Junge führte Linny zurück in sein Zimmer, und sie setzten sich an seinen Schreibtisch.
»Schön und gut. Aber was hat das alles mit dem Magnetfeld der Erde zu tun? Und warum sind wir beide nicht in diesen Dornröschenschlaf gefallen?« wollte Linny wissen.
»Das sind berechtigte Fragen. Leider habe ich noch nicht alle Antworten parat. Ich bin noch bei der Analyse«, räumte Contardo ein. »Lediglich eine Arbeitshypothese hätte ich anzubieten. Aber es ist nichts weiter als eine Theorie! Erinnerst du dich an das Gewitter in der letzten Nacht?«
»Natürlich erinnere ich mich!« gab Linny zurück. »Der Sturm war ja nicht zu überhören!«
»Richtig. Aber das war kein gewöhnlicher Sturm«, bemerkte Contardo.
»Schön. Dann war es eben ein ungewöhnlicher Sturm!« Linny ließ ihren Stuhl ungeduldig hin und her kippen.
»Das kann man wohl sagen!« Contardo zog die Stirn in Falten. »Sag mal, hast du in der letzten Nacht irgend etwas Ungewöhnliches bemerkt, ich meine, vom Sturm abgesehen?«
»Abgesehen vom Sturm? Na ja-« druckste Linny und überlegte, ob Contardo sie für verrückt halten würde, wenn sie ihm von Hunibald, dem sprechenden Papagei, erzählte. Mit einem Mal hatte sie es gar nicht mehr eilig, ihm von dem nächtlichen Traumerlebnis zu berichten. Nach einer zögerlichen Pause sagte sie:
»Also, ich konnte unheimlich schlecht einschlafen. Und als ich endlich eingeschlafen war, habe ich lauter verrückter Sachen geträumt!«
»Hm«, sagte Contardo, »das ist wohl ganz normal in einer so stürmischen Nacht. Und sonst ist nichts geschehen?«
»Ach, ich weiß nicht mehr«, lenkte Linny ab. »Aber nun erzähl doch erst einmal, was du über die Sache in Erfahrung gebracht hast!« fügte sie rasch hinzu.
»Schau her, dann ich zeige dir, was ich herausgefunden habe«, sagte Contardo und rückte den Monitor in die rechte Position, damit sie gemeinsam Einblick in seine Computerdaten nehmen konnten. »Es ist aber nur eine vage Theorie«, gab er zu bedenken.
»Schon gut«, sagte Linny. »Sag schon, spann mich nicht länger auf die Folter!«
»Was weißt du über die Harpyien?« begann Contardo.
»Über die Harpy- was?« Linny blickte ihren Freund verständnislos an.
»Nichts also«, dachte der Junge laut. »Harpyien sind Sturmgöttinnen: halb Mensch, halb Vogel, mit wunderschönen Flügeln und prächtigem Haar.«
»Das ist nicht dein Ernst, oder?« erwiderte Linny ungläubig.
Doch Contardo setzte seinen Vortrag unbeirrbar fort: »In der klassischen Mythologie galten sie als Räuberinnen und Plünderinnen. Sie waren sehr gefürchtet, denn sie kamen mit dem Sturm, und sie tobten durch die Lande wie auf Kriegszügen, und sie raubten und plünderten schamlos. Mit ihrer Räuberei kamen sie unbehelligt davon, weil sie während ihrer Beutezüge einen dreizehntägigen Schlaf über alle Menschen und Tiere brachten, die sich im Umfeld des Sturmes aufhielten.«
»Prima! Eine wirklich schöne Erklärung! Aber wenn tatsächlich diese Harpyien über die Stadt hinweggefegt sind, wieso liegen dann wir zwei nicht auch in süßen Träumen?« wunderte sich Linny.
»Der Schlafzauber der Harpyien hat keine Wirkung auf Hexen und andere magische Wesen«, stellte Contardo nüchtern fest. Es entstand eine lange Pause, in der Linny ihren Freund fassungslos anstarrte. Endlich sagte sie:
»Du willst doch nicht etwa andeuten, daß du mich für eine Hexe hältst?!«
Bei Contardos Worten war Linny das Blut in den Kopf geschossen. Was wußte er wirklich über sie? Ahnte er am Ende mehr, als sie selbst über sich zu wissen glaubte? Sollte sie ihm vielleicht doch von dem nächtlichen Besuch des Papageis erzählen? Nein, besser nicht. Sie glaubte ja selbst kaum mehr, was sie in der vergangenen Nacht erlebt hatte. Plötzlich brach Contardo das Schweigen, indem er unverblümt feststellte: »Selbstverständlich halte ich dich für eine Hexe! Bist du etwa keine?«
»Erlaube mal! Das ist ja sehr schmeichelhaft! Oder willst du etwa andeuten, daß du an Hexen und Zauberei glaubst?« Linny zog die Stirn in Falten.
»Du etwa nicht?« Contardo sah ihr fest in die Augen. Sie aber wich seinem Blick aus und antwortete:
»Nein! Selbstverständlich glaube ich nicht an solchen Unsinn! Aber nun mal Scherz beiseite. Was ist mit dir? Wenn ich angeblich eine Hexe bin, gut, das ist eine Erklärung dafür, daß ich heute morgen hellwach bin. Aber wieso bist du nicht in eine tiefe Erstarrung gefallen? Bist du ein großer Magier, der gegen das Phänomen, das offenbar die gesamte Stadt eingeschläfert hat, immun ist?« In Linnys Stimme lag eine Spur von Spott.
»Nein, das bin ich nicht.« Contardo räusperte sich. »Ein Magier, meine ich. Aber immun muß ich wohl sein. Sonst würden wir in dieser Sekunde nicht miteinander sprechen.«
Contardo kannte Linny nun schon seit drei Jahren, doch ausgerechnet heute war nicht der rechte Tag, ihr sein Geheimnis anzuvertrauen. Sie war einfach noch nicht bereit für die Wahrheit, so glaubte er.
»Vermutlich bin ich verschont geblieben, weil mich vor zwei Jahren im Urlaub diese verdammte Fledermaus gebissen hat. Dabei muß mich der keine Vampir mit einem Virus oder irgendeinem anderen Mikroorganismus infiziert haben, und wahrscheinlich habe ich als Folge dieser Infektion Antikörper entwickelt, die mir quasi Immunität gegen magische Kräfte verleihen«, fügte er abwiegelnd hinzu.
»Sicher! Das wird ja immer besser!« frotzelte Linny. »Ich bin eine Hexe, und du bist ein Vampir! Prima, dann wissen wir ja endlich, wieso wir uns so gut verstehen!« Linny versuchte, die Situation mittels Ironie zu verharmlosen. Doch tatsächlich war sie irritiert, und auch ein wenig beunruhigt. Gewöhnlich war es Herr Nonymos, der seine abenteuerlichen Theorien zum besten gab. Aus Contardos Munde hatte sie solch einen Unsinn noch nie gehört. Das Mädchen wußte wahrhaftig nicht, was es von der ganzen Sache halten sollte.
»Bist du sicher, daß du in der letzten Nacht nichts Ungewöhnliches bemerkt hast?« wiederholte Contardo mit eindringlicher Miene, als wisse er mehr als er zugeben wollte.
»Ich bin mir über gar nichts mehr sicher!« antwortete Linny ausweichend. »Und was ist das für eine Theorie über das Magnetfeld der Erde? Was hat denn das mit dem stürmischen Wetter zu tun?« Linny beeilte sich, das Thema zu wechseln. Sie wollte über alles reden, nur nicht über die Möglichkeit, daß sie tatsächlich eine Hexe oder irgendein anderes magisches Wesen sein könnte.
»Ich denke, daß es einen Zusammenhang gibt zwischen den physikalischen Phänomenen, die mit dem Sturm einher gingen, und dem seltsamen Erstarrungsschlaf, der über die Stadt gekommen ist«, meinte Contardo.
»Eben sagtest du noch, daß diese seltsamen Harpyien dran schuld seien«, unterbrach Linny naseweis.
»Ja, schon. Aber es gibt eine Verbindung. Alles hängt zusammen«, sprach Contardo weiter. »Laß mich doch bitte erst einmal ausreden. Nach meiner Theorie kann es sich bei dem Gewitter der gestrigen Nacht nicht um ein gewöhnliches Gewitter gehandelt haben. Ich glaube, daß tatsächlich ein Magnetsturm über die Stadt hinweggefegt ist.«
»Magnetsturm? Was ist das nun wieder?« Linny gähnte. Sie war wohl die einzige Person in der Stadt, die in der vergangenen Nacht zu wenig Schlaf bekommen hatte.
»Ein Magnetsturm ist eine plötzliche, kräftige Störung des Magnetfeldes der Erde. Ausgelöst werden Magnetstürme durch das Eindringen von Sonnenwind in die Erdatmosphäre.«
»Sonnenwind?« Linny hob die Augenbrauen.
»Ja, richtig«, bekräftigte der Junge, »Sonnenwind! Normalerweise können Sonnenwinde nicht in die Erdatmosphäre eindringen, weil das Magnetfeld der Erde einen natürlichen ›Schutzschild‹ gegen die Teilchenstrahlung der Sonne bildet. Falls es nun stimmt, was Klimaforscher schon seit Jahren beobachten und befürchten, dann ist dieser Schutzschild im Begriff, sich langsam aufzulösen.«
»Aber wie kommst du überhaupt auf die Idee, daß das Gewitter gestern ein Magnetsturm war? Könnte es nicht ein ganz normaler Sturm gewesen sein?« meinte Linny und stützte die Ellenbogen auf den Tisch.
»Nun, das Gewitter hatte wohl gar nichts mit dem Sturm zu tun«, vermutete Contardo. »Es hat im Gegenteil eher von der eigentlichen Ursache des Sturms abgelenkt.«
»Ich verstehe gar nichts mehr.« Linny unterdrückte ein weiteres Gähnen.
»Deshalb habe ich dich ja gefragt, ob dir letzte Nacht nichts aufgefallen ist. Mir ist nämlich etwas aufgefallen.« Contardo machte eine bedeutungsvolle Pause. Dabei blickte er Linny aufmerksam an.
»Nun sag schon!« drängte sie, denn Geduld war nicht ihre Stärke.
»Tanzende Lichter!« sagte Contardo triumphierend.
»Tanzende Lichter?« wiederholte Linny. »Du meinst nicht zufällig das Licht des Blitzes, der gewöhnlich von einem Donner gefolgt wird, ganz so, wie es für ein handelsübliches Gewitter typisch ist?«
»Du machst dich lustig über mich«, gab Contardo ein wenig gekränkt zurück.
»Entschuldige bitte«, lenkte das Mädchen ein. »Ich frage mich ja nur, was an Lichtblitzen so besonderes ist. Es sind elektrische Entladungen, die für ein Gewitter nun mal charakteristisch sind.«
»Davon spreche ich nicht«, sagte Contardo. »Was ich gestern Nacht beobachtet habe, waren rote und grünliche Lichterscheinungen am Himmel.«
»Na schön, dann war es eben ein besonders farbenfrohes Gewitter. Das ist mir auch aufgefallen-«
Linny ließ den Kopf auf die Hände fallen.
»Also doch! Dann hast du sie auch bemerkt!« rief Contardo aufgeregt aus.
»Tut mir leid, Contardo, aber ich verstehe noch immer nicht-«
»Die Polarlichter! Es sind typische Begleiterscheinungen von Sonnenstürmen! Und gestern habe ich diese Lichter am Himmel beobachtet!« Contardo lächelte mit Siegermiene.
»Aber woher weißt du so genau, daß es nicht bloße Erscheinungen eines ganz normalen Gewitters waren?«
»Weil ein ganz normales Gewitter keine bunten Blitze erzeugt!« triumphierte Contardo. »Nein, Linny, es waren Polarlichter, da bin ich mir sicher! Hundertprozentig! Das Gewitter der gestrigen Nacht trat nur zufällig zur selben Zeit auf.«
»Zufälle gibt es überhaupt nicht«, warf Linny ein. »Das hat Mama jedenfalls immer gesagt.« Sie seufzte. Dann fügte sie rasch hinzu: »Wieso heißen diese Lichter überhaupt ›Polarlichter‹?«
»Weil sie früher ausschließlich nahe der Pole, also an Nord- und Südpol aufgetreten sind. Nun aber, da wir unaufhaltsam auf eine Umpolung des Erdmagnetfeldes zusteuern, wird der Schutzschild der Erde immer schwächer und schwächer«, fachsimpelte der Junge, während er gedankenverloren einen Bleistift in der Hand jonglierte. »Und deshalb können die geladenen Teilchen der Sonnenwinde ungehindert in unsere Atmosphäre eindringen – und das überall, nicht bloß an den Polen, wie zuvor. Aus diesem Grund sind Polarlichter inzwischen überall auf der Erde zu beobachten.«
»So langsam geht mir ein Licht auf«, sagte Linny halb scherzend, halb ernsthaft. Insgeheim bewunderte sie Contardos naturwissenschaftlichen Verstand. Sie selbst interessierte sich mehr für Sprachen und Geschichte. Contardo aber war ein wahres Physikgenie. Glücklicherweise sah er nicht aus wie einer dieser verstaubten Tüftler. Der Junge war ungewöhnlich groß für seine beinahe fünfzehn Jahre. Dabei war er schlank, ein wenig zu schlank vielleicht, aber das würde sich gewiß ändern, wenn er einmal älter wäre. Außerdem hatte er besonders schöne Hände. Sie waren kräftig, aber nicht grob. Die starken Venen, die unter der Haut hervortraten, gaben ihnen ein männliches Aussehen, das Linny besonders gefiel. Sie empfand, daß seine Hände viel erwachsener und reifer wirkten als Contardo selbst, der in diesem Moment mit seinem wildgewachsenen Haarschopf herumwirbelte, seine schmale Brille abnahm und vom Bildschirm des Computers aufblickte. Es sah aus, als hätten sich die vielen, kleinen, ungeordneten Gedankenteilchen, die in seinem Kopf umherzukreisen schienen, just in dieser Sekunde geordnet und zu einem Geistesblitz formiert.
»Und gerade ist dir eingefallen, was diese seltsamen Harpyien damit zu tun haben!« lächelte Linny.
»Ganz genau!« Contardos Augen blitzten auf wie die eines Raubtiers, das im Begriff war, sich auf seine Beute zu stürzen.
»Laß mich zusammenfassen: Wir wissen, daß die Sturmgöttinnen sich vom Wind durch die Lüfte tragen lassen, bevor sie das Land verwüsten. Der Sturm ist nicht nur Vorbote ihrer Taten, sondern auch ein Gehilfe der Harpyien. Magnetstürme treten aber gewöhnlich nur alle elf Jahre auf. In diesem Jahr scheinen wir auf einen sogenannten Kumulus zuzusteuern, auf ein Zusammentreffen mehrerer Phänomene also, die das Wirken der dunklen Kräfte begünstigen. Darüber hinaus sind es nur noch wenige Tage bis zur Halloween-Nacht, der Nacht, in der die Toten zur Erde zurückkehren, um ihr Unwesen zu treiben. Es würde mich nicht wundern, wenn die gesamte Stadt bis Halloween im ›Traumland‹ gefangen bliebe, damit die Menschen nicht unfreiwillig zu Zeugen der Wiederauferstehung des Bösen werden. Die dunklen Kräfte könnten sich die Magnetstürme zunutze machen, um das Gute gewissermaßen umzupolen und auf die andere Seite zu ziehen. Besonders junge Magier und Hexen, die ihren Weg noch nicht gefunden haben, dürften an Halloween anfällig sein für den Einfluß des Bösen. Ich verfolge seit einigen Wochen die Manifeste und Prophezeiungen auf den Internetseiten der Gothikgemeinde. Dort heißt es, daß der Fürst der Finsternis im Jahre des Windes zur Erde zurückkehren wird, um das Erbe des Samhain anzutreten.«
»Nun fang du nicht auch davon an!« entfuhr es Linny unwillkürlich.
Contardo stutzte. Er kniff die Augen zusammen und fixierte Linny mit strengem Blick, als er sagte:
»Was weißt du darüber? Nun aber raus mit der Sprache, sonst werde ich ungemütlich!«
Linny schreckte zusammen. Solchermaßen entschlossen hatte sie Contardo selten erlebt. Gewöhnlich verhielt er sich ihr gegenüber ausgesprochen höflich und zuvorkommend.
»Also, weißt du-«, druckste sie, »möglicherweise habe ich in der letzten Nacht von diesem ›Fürst der Finsternis‹ geträumt-« Linny lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, als erwarte sie ein Donnerwetter.
»Was genau hast du geträumt?« Contardo warf ihr einen festen Blick zu, der keine weiteren Ausflüchte zu dulden schien. Linny faßte sich ein Herz und erzählte ihrem Freund die ganze Geschichte. Sie erzählte von Hunibald, dem Dreiunddreißigsten und von seiner seltsamen Prophezeiung über die anstehende Hexentaufe und von den Mächten der Dunkelheit.
Während Linny ihre Geschichte erzählte, nickte Contardo immer wieder wissend mit dem Kopf, als habe er alles, was Linny berichtete, vorausgesehen. Als sie geendet hatte, sagte er: »So etwas wie das habe ich mir beinahe gedacht. Es war nicht klug von dir, Linny, deinen Taufpaten zu verärgern und ihn einfach davonfliegen zu lassen.«
»Du meine Güte, was hätte ich denn tun sollen?« erwiderte Linny. »Mich auf den nächstbesten Besen schwingen und ihm hinterherfliegen?«
»Keine schlechte Idee!« Contardo verzog die Mundwinkel zu einem spitzbübischen Lächeln.
»Also ehrlich, jetzt habe ich aber genug!« Linny verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich verstehe nicht, wie du an diesen Zauberkram überhaupt glauben kannst! Sehr viel wahrscheinlicher ist doch, daß ich den sprechenden Vogel und seine magische Botschaft von meiner Hexentaufe und einer dunklen Bedrohung nur geträumt habe!«
»Nüchtern betrachtet spricht einiges dagegen, daß es bloß ein Traum war«, erwiderte Contardo langsam und konzentriert.
»Und was machen wir jetzt?« wollte Linny wissen.
»Wenn ich das richtig sehe, haben wir dreizehn Tage Zeit, um genügend Informationen zu sammeln. Wenn es soweit ist, nämlich an Halloween, bekommen wir vielleicht die Chance, die Auferstehung der dunklen Mächte zu verhindern.«
»Vielleicht?!« wiederholte Linny. »Na, das sind ja großartige Aussichten!«
»Wir sollten in jedem Fall die Zeit, die uns bleibt, nutzen, um alles herausfinden, was wir über unsere jetzige Situation, über deine Hexentaufe und über diesen dubiosen Samuel Slaughtermain in Erfahrung bringen können.«
»Wäre es nicht klüger, nach einem Weg zu suchen, all die erstarrten Menschen aus ihrem Schlaf zu erwecken?« wandte Linny dagegen. »Es könnte ja immerhin sein, daß sie nach dreizehn Tagen nicht wieder aufwachen.«
»Du hast recht: das wäre nicht gut. Wir brauchen mehr Informationen über Mythen, Zauberrituale, Mondphasen und Atomphysik!« sagte Contardo.
»Mondphasen und Atomphysik – wenn du das in einem Atemzug sagst, klingt es ganz selbstverständlich. So, als hätte das eine etwas mit dem anderen zu tun.« Linny seufzte leise.
»So ist es ja auch. Alles hat mit allem zu tun, alles hängt zusammen. Leider sind unsere Wissenschaftler allzu selten in der Lage, über die üblichen Grenzen hinauszudenken und außergewöhnliche Lösungen in Erwägung zu ziehen. Nichtsdestoweniger existiert ein innerer Zusammenhang zwischen den objektivierbaren Naturphänomenen und jenen Phänomenen, deren Ursprung wir noch nicht auf wissenschaftlichem Wege erklären können.«
Nun tat Linny einen tiefen Seufzer und sagte: »Mußt du dich immer so kompliziert ausdrücken?« Dann sagte sie: »Jedenfalls müssen wir die erstarrten Leute wieder aufwecken, und zwar schnell! Was machen wir denn, wenn sie wirklich erst nach dreizehn Tagen aufwachen und womöglich nicht mehr wissen, was in dieser Zeit geschehen ist? Willst du ihnen dann erklären, daß eine böse Fee einen Schlafzauber über die Stadt verhängt hat und nun alle Bewohner der Stadt gleichzeitig an Gedächtnisschwund leiden? Das kauft uns doch kein Mensch ab! Am wenigsten Tante Verula! Die Leute werden das Ganze für ein Märchen halten oder für eine Halluzination, und uns zum bestenfalls Psychiater schicken!«
»Denk positiv!« Contardo machte plötzlich ein vergnügtes Gesicht. »Ja, ja, wer weiß, womöglich irre ich mich, und der ganze Hokuspokus ist nichts als das Produkt unserer Phantasie. Dann verkleiden wir uns hübsch an Halloween und lachen darüber. Und wenn nicht, ich meine, wenn das alles keine Phantasterei ist, dann haben wir immerhin dreizehn herrliche Tage lang sturmfreie Bude! So oder so sollten wir uns der Herausforderung stellen, und etwas unternehmen!«
»Gut, also, mehr Informationen müssen her! Woher bekommen wir die?« Linny deutete auf den Monitor.
»Aus dem World-Wide-Web, richtig. Dort habe ich bereits recherchiert, und genau dort machen wir weiter«, entschied der Junge und drehte sich in seinem Sessel. Er wandte sich dem Monitor zu und rief mit wenigen Mausklicks eine Suchmaschine auf.
»Was gibst du dort ein?« Linny schaute ihm neugierig über die Schulter.
Sie selbst besaß keinen Computer. Tante Verula hielt nichts von diesen »Teufelskisten«, wie sie sie nannte. Doch Linny wußte sehr genau, daß ihre Tante für Anschaffungen dieser Art kein Geld übrig hatte.
»Den Namen unserer Stadt und das Stichwort ›Zauberer‹ gebe ich ein«, erklärte Contardo, »vielleicht spuckt er dann eine Liste mit ortsansässigen Magiern aus.« Der Junge lächelte verschmitzt, so als glaubte er selbst nicht daran, daß die Suche Aussicht auf Erfolg haben könnte. Zu seiner Verwunderung erschien nach kurzer Ladezeit tatsächlich eine ganze Liste von Einträgen auf dem Monitor. Leider enthielten die ersten Websites entweder nur die Stadt selbst, oder allein die jeweiligen Zauberer, nicht aber beide zugleich. Nachdem sie fast zwei Dutzend Seiten ohne Erfolg durchsucht hatten, stießen sie auf die Homepage des selbsternannten Zauberers Zenobius, der, wenn man den Angaben auf seiner Website glauben durfte, im alten Dom im Zentrum der Stadt sein magisches Quartier bezogen hatte.
»Endlich!« rief Contardo aus und ballte siegessicher die Faust. »Da haben wir einen!«
»Falls deine Theorie stimmt, müßte er wie wir hellwach sein«, vermutete Linny. »Aber wird er sich nicht wundern, wenn wir einfach so bei ihm hineinschneien? Ich meine, dann wird er ja gleich vermuten, wir wären auch-«
»-magische Geschöpfe?« vervollständigte Contardo Linnys Gedanken. »Sicher, er wird sofort wissen, wen er vor sich hat. Aber, was macht das schon? Aus meiner Sicht haben wir keine andere Wahl! Wir müssen ihn aufsuchen, um zu erfahren, was er weiß. Alternativ könnten wir weiter im Netz surfen. Aber die wirklich interessanten Dinge kann uns vermutlich nur ein Eingeweihter erzählen. Was wir brauchen, sind Informationen aus erster Hand.«
»Dieser Zenobius, ist er gut oder böse?« wollte Linny wissen.
»Darüber steht nichts im Netz. Lassen wir uns überraschen!«
Contardo zwinkerte Linny aufmunternd zu, als er aufstand, sich seine Jacke griff, die am Türhaken hing, und mit einer angedeuteten Verbeugung die Tür öffnete, wobei er Linny bedeutete, ihr den Vortritt lassen zu wollen.
»Laß den Quatsch«, brummte Linny und drängte sich an ihm vorbei in den Flur. Sie haßte es, wenn er sich so übertrieben höflich aufführte. In solchen Situationen hatte sie das Gefühl, er mache sich über sie lustig.