Читать книгу Im Banne von Felsen und Geistern: Eine Reise durch Utah - Carola Prigge - Страница 4
22. April
ОглавлениеIn Salt Lake City, am Schreibtisch unseres schönen großen Zimmers
Wenn ich aufblicke, sehe ich in einen großen Spiegel ... und da ich meine schwarze Lesebrille trage, sehe ich ein verschwommenes Bild einer älter werdenden Frau, die ein bisschen traurig aussieht. Sie trägt einen schwarzen Rollkragenpullover und darauf den altmodischen schwarzen Glasperlenschmuck ... vielleicht sieht das Spiegelbild sogar ein bisschen intellektuell aus ... aber vielleicht wünsche ich mir das auch nur. Bestimmt ...
Die Luft in dieser Stadt ist wahnsinnig frisch; das fällt mir wirklich jedes Mal ganz stark auf, wenn ich aus dem Gebäude trete. Und der Blick auf die Berge, viele davon noch schneebedeckt, ist natürlich grandios. Gestern sind wir sozusagen einfach aus der Stadt hinausspaziert und haben eine schöne Wanderung an einem Bach entlang gemacht. Die Wanderung folgte dem Bach hoch zu seinem Ursprung, aber bis dahin sind wir nicht ganz gelangt. Man nennt das Canyon. In diesem Tal eröffneten sich wunderschöne Aussichten auf verschiedene Berggruppen. Es beginnt hier, langsam grün zu werden, aber die meisten Bäume streckten noch grau ihre nackten Zweige aus. Also Frühlingsgrün im Hintergrund vor den Resten des Wintergraus. Flecken von hellgrünen dickblättrigen Pflanzen, ganze Placken davon ...
City Creek Canyon, Salt Lake City, Utah
Es sind sehr viele Leute unterwegs, wie im Frühlingserwachen ... Auf dem ersten Abschnitt unseres Weges, insbesondere in dem parkähnlichen, sehen wir viele Hundebesitzer. Als wir in den Park kommen, macht dort ein sehr schlanker, älterer Mann, ganz in irisches Grün gekleidet, seine Power-Gymnastik. Er hätte Jane Fonda blass aussehen lassen. Eigentlich sieht es ganz gut aus, wie er sich bewegt. Er hat das Gesicht eines Hippies – wieso schreibe ich das und was sagt das? Hat nun jeder, der das liest, eine Ahnung davon, wie dieser Mann aussah? Er hat längere Haare und in meiner Erinnerung trägt er ein irisch-grünes Stirnband, aber das kann meine Phantasie jetzt gerade dazu gedichtet haben, weil er mich einfach an einen Hippie denken lässt. Nein, ich mache nur Spaß, nutze meine Position als Autorin, um meine Wahrheiten zu verdeutlichen ... er träg wirklich dieses Stirnband, daran erinnere ich mich ganz genau ... oder?
In einem Hotel ist es tagsüber nie ruhig. Man hört immerzu die Zimmermädchen. Man hört sie klappern und plappern.
Wir treffen einen älteren Mann mit einem großen, schmutzig-gelben Pudel. Der Pudel verliebt sich in mich und schleckt mir die Hand ab – das ist ja etwas für mich. Wir treffen die beiden etwas später noch einmal wieder, als wir ein Stück zurückgehen, weil mir der Wanderweg auf der anderen Seite vom Bach zu schmal wird. Manche Stellen werden so schmal, dass ich Angst habe abzustürzen, wenn ich weiter gehe. Dass man aber auch wirklich sein Leben lang seine Ängste bekämpfen muss ... well, besser ich akzeptiere es ... sonst wird es noch schwerer.
Bei der zweiten Begegnung hat der Pudel sich dann intensiv an mir gerieben und ist durch meine Beine durch ... super, denke ich, und das ohne Waschmaschine und mit Notausstattung (hatte selten so wenige Klamotten dabei wie dieses Mal ...).
Der Typ mit dem Pudel sieht nicht richtig verwahrlost aus, aber vielleicht ein bisschen ungepflegt.
Die Zimmermädchen plappern übrigens fast nie in der Landessprache.
Also, der ungepflegte Typ ... er trug ein verwaschenes, ausgefranstes T-Shirt, dazu angeschmuddelte, ausgebeulte Shorts sowie ausgelatschte, an den Rändern abgestoßene Segelschuhe und eine Wasserflasche, die ein bisschen klebrig aussieht. Aber wenn ich es mir genau überlege, laufen unsere Freunde Bob oder Dwight manchmal auch nicht viel anders herum ... Lieblings-T-Shirts, die am Hals schon ein bisschen aufribbeln ... ausgebeulte und verknitterte Hosen ... das ist nicht ungewöhnlich ... ein Bügeleisen kennen sie nicht. Die Amerikaner können so unterschiedlich sein ... manche sehen in ihrer Freizeit schon richtig schlunzig aus, besonders Männer. Aber vielleicht denke ich das auch nur, weil ich mich vor ungepflegten Männern mehr ekle als vor ungepflegten Frauen ... na ja ...
Auf dem Weg weiter oben ist weniger los. Etliche Leute joggen auf der parallel zum Wanderweg verlaufenden Straße den Berg hinauf ... und einige machen sich auf dem Fahrrad den Berg hoch ... das sind die sportlichen Amis, die es oft auch ein bisschen übertreiben können. Und dann gibt es die, die sich langsam den Berg hoch schaukeln, weil ihre Körperfülle einen normalen Gang nicht mehr zulässt, und manchmal haben diese Menschen jegliches Empfinden für Körperästhetik verloren und stopfen sich noch die Wasserflasche in den ausladenden Brustausschnitt. Da schaukelt sie dann zwischen den wabernden Brüsten.
Die Luft, auch wenn ich mich wiederhole – die Luft ist einfach wunderbar, so frisch, so frühlingshaft, so klar, so warm ... in der Stadt riecht man Hyazinthen und Kirschbäume ... weiter oben riecht es würziger ... melodische freundliche Vogelstimmen, wie ich sie noch nie gehört habe. Nach unserem langen, dunklen Winter ist das solch eine Wohltat ... irgendetwas in mir wollte sich ausdehnen, immer weiter ausdehnen, sich dieser Wärme, den Sonnenstrahlen, der klaren Luft hingeben, sich darin baden, sich darin auflösen ...
Und dann noch dieser Himmel – der Himmel ist hier blauer als bei uns, und das ist keine Einbildung, wie H mir erklärt. Der Himmel wirkt blauer, er leuchtet stärker, und das Blau ist intensiver, wenn es in den oberen Schichten der Atmosphäre weniger Wassertröpfchen und Staubpartikel gibt, an denen das kurzwellige blaue Licht gestreut wird. Auch dass der Himmel hier immer so transparent wirkt, als ob man wirklich ins All gucken kann, hat etwas mit diesen Verhältnissen zu tun. Angeblich ist der Himmel am blausten über Rio de Janeiro. Blau ist meine Lieblingsfarbe und insbesondere die Farbe des Himmels und des Mittelmeeres. Wenn ich einen strahlend blauen Himmel sehe, fühle ich das in der Mitte meines Körpers. Der Anblick der Farbe und der scheinbaren Unendlichkeit wirft mich auf mich selbst zurück, und gleichzeitig möchte ich mich verströmen. Es hat etwas Beruhigendes und gleichzeitig auch Belebendes. Ich fühle mich lebendig. Ich fühle mich selbst, wenn ich in so einen blauen Himmel schaue. Ich spüre die Tiefe des Universums und die meines Bewusstseins. Das alles kann das Blau mit mir machen. Und ab und zu ziehen dann auch noch ein paar Ansel-Adams-Wolken vorbei ... ach, Augenblick, verweile doch ...
Zwischendurch machen wir eine kleine Rast auf einer Holzbank. Wir haben ein paar Mini-Mangos im Rucksack ... ich habe noch nie solche leckeren Mangos gegessen ... sie sind ganz saftig, ein ganz klein wenig säuerlich und gar kein bisschen mehlig. Es ist wie im Paradies ...
Auf dem Rückweg begegnen wir einem alten Mann mit einem kleinen Hund ... ein großer Mann, mit strahlend-weißem Poloshirt und nicht-verknitterter Hose (das gibt es nämlich auch!), er hat eine leicht gebeugte Haltung, was wahrscheinlich mit seiner Länge zusammenhängt, und er strahlt dabei Festigkeit und Selbstbewusstsein aus, ohne arrogant zu wirken ... er erinnert mich an unseren Zahnarzt. Er spricht uns an, will wissen, woher wir stammen, weil ihm unser „lovely accent“ natürlich sofort verrät, dass wir keine amerikanischen Touristen sind ... ein sympathischer Mann, bestimmt kein Mormone. Ich weiß jetzt schon, dass H über diesen Satz lachen wird und mich fragen, woran ich denn Mormonen erkenne und warum ich denke, dass Mormonen nicht sympathisch sein können ... er kannte nämlich früher in der Arbeitsgruppe in Durham einen sehr netten Mormonen, der auch gar nicht komisch angezogen war. Okay, denke ich. In Durham, in der mormonischen Diaspora mag das ja so sein. Aber hier?
Ich frage mich, ob wir hier schon einmal mit einem Mormonen gesprochen haben, außer am Tempel, wo sie einen in Paaren anquatschen und ganz bedeutsam darauf hinweisen, welche großen Wunder beweisen, dass Gott die Mormonen liebt.
So ist es uns auch geschehen, als wir über das Tempelgelände schlenderten. Zwei junge Frauen sprachen uns an, als wir an dem Monument standen und zu den beiden bronzenen Möwen auf der Spitze des Denkmals hoch blickten. Die beiden Frauen sahen aus wie Erscheinungen aus der Serie Die Waltons oder Unsere kleine Farm, oder wie auf dem Weg ins Mädchenpensionat. Also, ganz so altmodisch waren sie in Wirklichkeit nicht gekleidet, aber irgendwie musste ich an diese alten Serien denken. Sie trugen Röcke und Mäntel, und dazu irgendwie unsichtbare Nonnenhauben. Also, nein, keine Hauben, aber irgendwie hätten sie dazu gepasst ... die jungen Frauen hatten beide sehr lange schwarze Haare, zu Zöpfen geflochten. Sie stellten sich vor, als Schwester Consuela und Schwester Maria, oder so ähnlich. Eine von ihnen kam ursprünglich aus Spanien, die andere aus Bolivien. Sie erzählten uns, wie schön es ist, in dieser Gemeinschaft der Mormonen zu leben. Fast jeder Tourist, der über den Tempelplatz geht, wird von einem Paar solcher Mormonen angesprochen, immer zwei Frauen oder zwei Männer. Überall auf dem großen, weiten Platz sieht man diese Paare herumlaufen, und wenn sie einen erst einmal angesteuert haben, gibt es kein Entkommen. An den Türen zu den Gebäuden, die man besichtigen kann, stehen ältere Frauen in Kostümen und weißen Blusen, die sich ebenfalls als Schwestern vorstellen und einem sagen, dass man sie ruhig ansprechen darf, wenn man Fragen hätte ... und die Männer an den verschiedenen Ein- und Ausgängen tragen schwarze Anzüge und weiße Hemden. Die Bolivierin redete die meiste Zeit allein. Die Spanierin stand eher schüchtern daneben, während ihre Schwester uns zu examinieren begann. Und da man das unangenehme Gefühl hat, dass man sich ja auf ihrem Grundstück befindet, auf ihrem Terrain, das ja auch noch sozusagen irgendwie heilig ist, und da man religiöse Stätten ja immer besonders respektiert, bleibt man stehen und geht auf das Gespräch ein. Ob wir wüssten, was dieses Denkmal darstellen sollte. So weit waren wir noch nicht gekommen, das nachzulesen. Also, nein. Ob wir denn sehen könnten, was da oben auf der Spitze dieses Monuments thronte. Zwei Möwen, sagen wir. Man kann ihnen nicht entgehen, den mormonischen Schwestern. Und ob wir auch sehen könnten, was die Möwen dort in ihren Schnäbeln hätten. Wir mussten passen. Das seien Grillen, antwortet sie. Es handele sich um eine Darstellung des Möwenwunders, an das mit diesem Denkmal erinnert werden soll. Und sie verschont uns auch nicht mit dem Rest der Geschichte: Als die ersten mormonischen Siedler sich hier in Utah niederließen, da drohte ihnen im ersten Frühling, als der Weizen reifte, den sie angebaut hatten, eine furchtbare Plage durch Grillen, die in großen Scharen über die Felder herfielen. Da erschienen rechtzeitig große Schwärme von Möwen, welche die Grillen auffraßen und so die Ernte retteten ... mit diesem „Möwenwunder“ zeigte Gott also, dass er die Mormonen besonders liebt. Seit 1913 steht das Denkmal hier. Dann geht das Examinieren weiter. Ob wir regelmäßig beten würden. Nein, antworten wir. Ich weiß gar nicht, warum wir überhaupt auf solche Fragen antworteten. Dann erklärt uns die bolivianische Schwester noch die heilenden Kräfte des Betens und sagt, wir sollten es doch mal wieder tun. Es ist schon ein bisschen aufdringlich. Zum Schluss fragt sie, ob wir vielleicht noch Fragen hätten. Ich frage, ob wir den Tempel besichtigen könnten. Oh ja, sicher, sagt sie, ich müsste nur Mormonin werden, dann gehörte ich zu den Auserwählten, die in den Tempel dürfen. Und ich habe nicht den Eindruck, dass sie das irgendwie ironisch meint. Jedenfalls verzieht sie keine Miene bei diesen Worten.
Salt-Lake-Tempel, Salt Lake City, Utah
Das erinnerte mich an jene alte Postkarte, die mein Vater letztens hergekramt hatte. Die Karte von 1929, auf welcher der Tempel von Salt Lake City abgebildet ist, der damals schon genauso aussah, wie er heute immer noch aussieht, geschrieben von einer Großcousine meiner Großmutter an dieselbe:
„Liebe Emma, schicke Dir ein kleines Lebenszeichen von mir. Hoffe, dass es Dir gut geht. Mir geht es hier sehr gut. In diesen wundervollen Tempel darf ich nun gehen, so oft ich will. Viele wünschen sich hineinzugehen, haben aber kein Rekomment und kommen nicht hinein, haben kein Zeugnis von der Wahrheit, haben nicht Glauben genug, und der Herr sagt: Ich kenne Euch nicht.
Sei herzlich gegrüßt von Deiner Tante Louise Perrette“
Uns kennt der Herr auch nicht, und er wird uns wohl auch nicht kennen lernen. Und so werde ich nie in den Tempel der Mormonen gelangen.
Wie kam ich jetzt auf diese Begegnung? Ach, ja, die Mormonen, ob man sie in der Öffentlichkeit unbedingt erkennen würde ... tja, wahrscheinlich nicht, aber diese freundliche, ältere Herr mit seinem kleinen süßen Hund war bestimmt kein Mormone ...
Es macht manchmal Spaß, Menschen zu beobachten, eigentlich immer ... aber ob man immer die richtigen Schlüsse zieht? Wer weiß.
Weiter unten sind wieder ganze Horden unterwegs. Frauen bewegen manchmal ihre Hüften auf eine ganz eigenartige Weise, wenn sie gehen. Sie schieben ihre Hüftknochen wechselweise vor, auf eine Art, dass der ganze Unterleib mitsamt Po eine nach vorn und hinten kreisende Bewegung macht ... nicht, dass sie mit dem Hintern wackeln ... es sieht eher so aus, als ob sie ihr Becken vorkämpfen, gewaltsam vorschieben müssen, die Seite dann mit einem Ruck entlasten, bevor die andere dran ist. Es sieht ein bisschen ungesund aus, als ob ein späteres Hüftleiden schon vorprogrammiert ist. Und wenn ein Mann so läuft??? Denkt man dann nicht, dass der andere Mann neben ihm nicht einfach nur sein Kumpel ist?
Utah Sate Capitol, Salt Lake City, Utah
Am State Capitol haben wir großartige Aussichten auf Stadt und Berge ... ein eigenartiger Anblick ... vor unseren Augen erstreckt sich ein weites plattes Land, das ganz karg aussieht, das Salt Lake Valley – keine Bäume, nichts außer vielleicht etwas, das aus der Ferne wie Salzkrusten aussieht – und dann erheben sich in der Ferne wie aus dem Nichts die gewaltigen Berge ...
H fotografiert viel mit unserer neuen Kamera ... es ist fast wie früher ...
Mittlerweile schmerzen meine Füße, und die Beine sind schwer wie lange nicht, wahrscheinlich, weil wir in unserem langen Winter zu wenig Bewegung hatten.
Und dann lernen wir, dass diese Stadt es mit der Sonntagsruhe wirklich ernst meint, was man sonst aus den USA ja nicht so kennt ... wie müssen wir uns unsere schmerzenden Hacken ablatschen, um irgendwo noch ein paar Panini zu bekommen ... fast alle Geschäfte und Restaurants sind geschlossen, die ganze Stadt wirkt noch verschlafener als am Sonnabend.