Читать книгу Grüne Soße, Tote Hose (XXL Leseprobe) - Carola van Daxx - Страница 3
Das Ohr des Allmächtigen
ОглавлениеIm Pub „Zur Alten Linde“ herrschte schlechte Sicht – dicke Rauchschwaden waberten durch den Raum, doch keiner der Gäste schien sich daran zu stören. In der Schottener Altstadtkneipe war schon seit Ewigkeiten nicht mehr renoviert worden, und auf den rustikalen Holztischen konnte man kaum noch die unzähligen Sprüche erkennen, die Generationen von Vogelsbergern hier eingeritzt hatten. Auf dem Tresen brannten lediglich ein paar Funzeln – armselige Kerzenstummel, die nicht gerade weihnachtlich aussahen und auch schon bessere Nächte hinter sich hatten als diese. Ja, an diesem Heiligen Abend waren hier nur die einsamsten aller Vogelsberger Herzen gestrandet.
Die Stimmung war, gelinde gesagt, eher im Keller. Frustrierte Männergesichter, wohin man auch blickte, von Weihnachtsfreude und Halleluja keine Spur. Ein sentimentales, gälisches Weihnachtslied dudelte vor sich hin, und der Wirt machte ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Dabei würde diese Nacht doch einen warmen Geldregen in seine marode Kasse spülen, was mittlerweile nicht mehr allzu häufig vorkam. Unter all den finsteren Gestalten fiel einer der Gäste auf, denn er war entschieden besser gelaunt und wesentlich gesprächiger als alle anderen, die meist nicht mehr als ein grummeliges „Hm“, „Jo“ oder „Ich nehm‘ noch eins!“ herausbrachten. Doch dieser eine Mann schüttete sein Herz geradezu auf der Theke aus, frei nach dem Motto: „Wess Herz ist voll, des‘ Mund läuft über“. Dabei war bei ihm nicht nur das Herz voll, sondern auch die Zunge schwer – was dann ungefähr so klang:
„Mit Lina und mir, der aller-aller-schönsten Frau von ganz Oberhessen, ach, was sag‘ ich, der besten Frau auf der ganzen großen weiten Welt, also genau genommen heißt sie ja Angelina. Ähm, Angelina Siebenborn, aber jeder nennt sie nur Lina. Oder Linchen, das sag‘ ich manchmal, aber nur ich. Aber egal, oder? Und, was ich noch sagen wollte: Also die Lina, die Dame hat ein eigenes Café in Bad Salzhausen, und das ist auch das Allerbeste in mindestens ganz Deutschland – also, nur noch ganz kurz, denn das ist echt wichtig, hört jetzt zu, gelle? Das mit uns beiden, mit mir und mit ihr – das wird wieder was! Voll die große Liebe, könnt Ihr mir echt glauben jetzt … Ich nehm‘ noch einen, Herr Ober!“ Sprach’s und hielt sein leeres Whiskyglas in die verräucherte Luft.
Der Mann, den es am Weihnachtsabend in den urigen Pub am Fuße des erloschenen Vulkans getrieben hatte, war ziemlich schlecht rasiert, roch nicht mehr ganz taufrisch und hatte – nüchtern betrachtet – zweifellos einen im Tee. Ja, er war wieder einmal betrunken, was gewohnheitsmäßig nicht nur am Heiligen Abend in seinem Leben stattfand, aber dieses Mal war es nicht aus Kummer oder Verzweiflung passiert, sondern schlicht und ergreifend, weil er sein Glück kaum fassen konnte. Sein großes, großes Glück. Und wer konnte das schon von sich behaupten? Voll vor Glück…
Dabei hatte Lina, die Dame seines Herzens, ihm lediglich eine SMS geschickt. Ja, sie wollte ihn wiedersehen. Mehr nicht. Eigentlich ganz harmlos. Doch hätte er ein schöneres Weihnachtsgeschenk bekommen können, nach allem, was passiert war? Hätte irgendeinem Mann an irgendeinem Flecken der Welt überhaupt etwas Schöneres passieren können?
Ganz sicher sollte diese kleine Nachricht der Startschuss ins Glück sein – für ihn, den erfolgreichen Maler Jan Johannsen. Denn Lina war alles, was ihm gefehlt hatte. Wieso konnte er auch nur einen Tag ohne sie leben? Oder besser gesagt: überleben. Doch nun bekam er eine neue Chance. Im Grunde bereits die dritte… Denn die berühmte zweite Chance hatte er auch schon komplett vermasselt.
Nur eine klitzekleine, aber nicht weniger beunruhigende Frage schwirrte ihm gefährlich nervend im Kopf herum, oder konnte man am Ende schon von einem Damoklesschwert reden, das über ihm schwebte? Wie sollte er die hochwohlgeborene Dame namens Sophie von Rohdenfeld samt ihrer neugeborenen Tochter Janina wieder loswerden? Immerhin hatte sie sich nach dem Rauswurf von ihrem Göttergatten Theodor, einem rechtskonservativen Politiker mit Gutsherrenhintergrund, hemmungslos bei ihm eingenistet und sein ganzes, eingefleischtes Junggesellen-Künstler-System durcheinandergebracht. Noch zu erwähnen: Das Kind sollte laut Kindsmutter tatsächlich von Jan sein. Dieses Schreikind! Nie und nimmer stammte das nervige Ding von einem waschechten, stilvollen Hanseaten wie ihm ab. Ein einziger Blick seiner Mutter Gisela in die Wiege dieses brüllenden Etwas‘ hätte zweifellos genügt, seine Vaterschaft ein für alle Mal auszuschließen. Eine Hamburger Deern würde niemals wie am Spieß schreien, nicht mal als Baby. So viel war klar. Auch mit gehöriger Promillezahl intus konnte er diese Tatsache nicht leugnen. Wer konnte schon wissen, mit wem die stets unglückliche Schönheit aus dem hohen Norden noch das Schlafgemach geteilt hatte? Er war mit Sicherheit nicht der Einzige, dem sie ihre Gunst zur günstigsten Empfangsbereitschaft erwiesen hatte. Und jetzt wollte sie ihm das jäh schreiende Kind anhängen, kein Wunder – bei ihm war einfach am meisten zu holen. Er war reich, was nahezu jeder Mensch von Flensburg bis Füssen und vermutlich sogar von Frankfurt an der Oder bis Aachen und Saarbrücken wusste, sofern er des Lesens mächtig war, die Fernbedienung des Fernsehers betätigen konnte und sich auch nur ein bisschen für Kunst interessierte. Jan Johannsen, den sie den Van Gogh vom Keltenberg nannten, war schließlich bekannt wie ein bunter Hund.
Doch dann begann der Alptraum schlechthin. Sophie von Rohdenfeld verfolgte ihn, wohin er auch ging. Nirgendwo war er vor ihr sicher – und immer hatte sie dieses brüllende Baby mit dabei, es raubte ihm den letzten Nerv. Von der gellenden Stimme, die sich fast überschlug, ganz zu schweigen.
„Jan Johannsen, sieh‘ her! Sie ist Deine Tochter, das Kind hier ist von Dir!“, tönte es in seinen Ohren. Er lief ihnen davon, er fuhr um sein Leben um die halbe Welt, am Ende hob er sogar ab und flog in Windeseile in den Himmel, nur um alldem zu entkommen, doch Sophie blieb ihm stur auf den Fersen. Unerbittlich verfolgte sie ihn und ihr Ziel! Er wurde sie einfach nicht los, so sehr er sich bemühte, so schnell er auch zu fliehen versuchte. Eine Endlosschleife! Nur, dass hier nicht täglich das berühmte Murmeltier grüßte, sondern eine verlassene Dame mit Balg und Adelstitel Familienanschluss suchte.
Was sollte er nur tun? Sie kam näher und näher und er war am Ende seiner Kräfte. „Jan! Hier ist sie, Deine Tochter Janina! Wir gehören doch zu Dir!!!“ Wie mit Pattex klebten seine Füße am Boden fest, seine Beine konnte er keinen Millimeter mehr bewegen. Er kam einfach nicht von der Stelle, hatte keine Kraft mehr. Panische Angst überfiel ihn, dann warf Sophie ihm auch noch die Kleine entgegen, und natürlich konnte er nicht anders, als das Kind aufzufangen. Der Sabber lief an seinem karierten Malerhemd herunter, das Geschrei wurde unerträglich und sein Kopf drohte zu zerplatzen. Der fürchterliche Lärm kam näher und näher, aber es war kein Kindergeschrei mehr, doch irgendjemand rief seinen Namen. Von ganz weit her hörte er es rufen:
„Jaaaaaaaaan!!! Du alte Schlafmütze, jetzt steh‘ endlich auf, Du sollst Dich doch schon längst um Basti kümmern, ich muss jetzt weg, Mädelstreffen, Vollversammlung, ich hab’s Dir zigmal gesagt. Aber der Herr hört ja nix – dabei ist doch nur ein Ohr verbrannt, aber egal. Das bereden wir ein anderes Mal. Jetzt komm endlich runter! Auf, auf!!!“, hallte es in sein gesundes Ohr. Das verbrannte Ohr hatte sich nach dem Blitzschlag nie mehr so recht erholt – es war fast taub. Und sah, ganz nebenbei bemerkt, recht unappetitlich aus, um es klar beim Namen zu nennen.
Er schaute sich um und realisierte nach und nach, dass er wohl nur geträumt hatte. Zum Glück! Ein Alptraum zwar, aber immerhin. Es war nur ein Traum gewesen – vom Heiligabend 2015, als er – mit den Nerven völlig am Ende – Trost in der „Alten Linde“ gesucht hatte. Immer und immer wieder träumte er von diesem Abend und war gottfroh, dass er in Wirklichkeit kein sabberndes Baby auf dem Arm hielt und keine Sophie von Rohdenfeld ihn stalkte. Das war schon einmal von Vorteil! Boris Becker würde sagen: Advantage Johannsen…
Dann fiel es ihm wieder ein: Der alte Spruch von Linas Oma, der guten alten „Omma Hermine“ die immer gesagt hat: „Packvolk schlägt sich, Packvolk verträgt sich!“ Will sagen, kurz nach dem legendären Heiligabend, als die Sache mit Lina sich wieder einmal von auf Off auf On gewendet hatte, stand Theodor von Rohdenfeld, der Gatte der holden Sophie, in Schotten auf der Matte. Nachdem er sie erst mit Schimpf und Schande aus seinem Jagdschloss im Hohen Vogelsberg gejagt hatte. Seine Parteifreunde bestanden jedoch auf geordneten Verhältnissen. Schließlich war die intakte, deutsche Familie oberstes Parteiprinzip – da musste jeglicher Skandal aus der Öffentlichkeit herausgehalten werden. Immerhin war er ein Schwergewicht in der neu gegründeten Partei „Nordisch Deutsch Konservativ“, die in Rekordzeit einen rasanten Aufstieg hingelegt hatte.
Doch kaum, dass sie sich bei ihm eingenistet hatten, waren Sophie und Klein-Janina auch schon wieder abgedampft. Eine Ehe ist eben auch nur ein Geschäft, wie so vieles im Leben. So kam es Jan manchmal vor. Es gab nur noch „Deals“, so wie bei Donald Trump, aber der machte halt richtig große Geschäfte. Und die Ehe war irgendwie doch auch ein Geschäft – oder warum blieb Melania nach all seinen Eskapaden noch immer bei ihm? Ehen wie diese gab es überall, auch in Mecklenburg-Vorpommern, wo die Rohdenfelds ihren Stammsitz hatten.
Wahrscheinlich waren sie inzwischen wieder auf ihr jahrhundertealtes Hofgut zurückgekehrt und hatten alles, was auf dem Vulkan passiert war, einfach ausgeblendet. So, als wäre nichts gewesen. Menschen können so etwas. Kurzer Neustart – und man lebt einfach weiter wie vorher. Kein Ton mehr, weder von Theo, noch von ihr selbst zu dem, was vorgefallen war.
Jan hatte zum Glück nie mehr etwas von Sophie gehört. Aber manchmal fragte er sich schon, ob Janina vielleicht wirklich seine Tochter war. Doch wann immer der Gedanke in ihm aufkam, verdrängte er ihn so schnell es ging. Und seit er im Wartezimmer eine dieser kitschigen Homestorys der Familie von Rohdenfeld auf ihrem mecklenburgischen Hofgut Gustavsburg gelesen hatte und die Rede von einer deutschen Bilderbuchfamilie war, machte er sich immer weniger Gedanken um seinen Ausrutscher mit der äußerlich so schönen Sophie. Wie gesagt: Oma Hermines Sprüche haben noch immer die Wahrheit gesagt. Packvolk schlägt sich, Packvolk verträgt sich… Nur dass in diesem Fall das Packvolk einen Adelstitel trug.
Ein durchdringender Schrei ließ Jan hochschrecken, das war Wachwerden auf Holzhammerart pur:
„Jan Jooooo-hannsen! Du faule Socke vor dem Herrn, jetzt mach‘ mal hinne, ich muss gleich weg!“ Das Ende von Linas Geduldsfaden war wohl erreicht, der Ton entschieden verschärft. Nach und nach fiel es ihm wieder ein, wo er überhaupt war. Manchmal kam er durcheinander, das Pendeln zwischen zwei Wohnungen barg Verwirrung. Offensichtlich befand er sich aber in Linas Schlafzimmer im beschaulichen Bad Salzhausen und nicht in seinem Schottener Fachwerkhaus. Sein Sohn Bastian wartete vermutlich schon sehnsüchtig auf seinen „Babba“ – zum Entsetzen des hanseatischen Vaters sprach das Kind nämlich schon jetzt schlimmstes Oberhessisch – und Lina war ganz aus dem Häuschen, was Jan in wenigen Momenten schon wörtlich nehmen durfte: Sturmfreie Bude für die beiden Männer!
Der Grund: Das langersehnte Treffen der „Flaggenmädels“, einer Truppe von vier Frauen in den besten Jahren – oder besser gesagt, einer Selbsthilfegruppe von Damen mit Wechseljahrshintergrund. Auf alle Fälle handelte es sich um ein Ereignis, das man nicht unterschätzen sollte. Die „Vollversammlung“ bestand aus Lina Siebenborn, ihres Zeichens Kaffeehausbesitzerin, Susi Lustig, rasende Reporterin, Marie-Anne Bender, ehemalige Friseuse, mittlerweile im Ruhestand auf Fuerteventura, und Ines Gerlach, Assistentin aus Frankfurt, die Linas Job bei der HansaFra „geerbt“ hatte. Diese eingeschworenen Vier hatten es schon immer faustdick hinter den gepflegten Öhrchen, und heute war nach langer Zeit ein Wiedersehen geplant.
Jan Johannsen war alles recht, Hauptsache, diese Sophie, sein unrühmliches Verhältnis aus vergangenen Tagen, machte keinen Stress mehr – und tauchte möglichst auch nicht mehr in seinen Alpträumen auf. Püh! Doch nun musste er sich wirklich sputen und sein warmes Bettchen verlassen. Er war wirklich mehr als erleichtert, dass der Horror, aus dem er gerade aufgewacht war, doch nur ein Traum gewesen ist. Alles andere wäre auch ein Fall für steile Klippen...
„Ja, ich komme gleich!“, rief er so laut er konnte. Ein herrlicher Kaffeeduft wehte ihm direkt in die Nase. Ein echtes Argument fürs Aufstehen, fand Jan. Es gab wahrlich Schlimmeres im Leben als über einem Café zu nächtigen und den Tag mit einem Hauch von Wiener Kaffeehaus zu beginnen – das musste er wohl zugeben. Und dieser eine Tag ohne seine geliebte Lina würde auch vergehen, er war ja schließlich kein Teenie mehr – auch wenn er sich manchmal noch immer so benahm. Im Grunde genommen freute er sich sogar darauf, ein bisschen Zeit mit Bastian, dem süßen blonden Fratz, der ihm wirklich ähnlichsah, verbringen zu können. Zumindest am Vormittag, denn dann musste er zu einem Termin nach Frankfurt und die „Perlen“, allen voran die liebreizende Amelie und die noch nettere Anette, die immerzu wie fleißige Bienchen in Haushalt und Café zugange waren, würden „Nanny“ spielen, bis er wieder zurück war. Sicher würde Bastian das gefallen, einmal wieder ohne die Übermutter zu sein, zu der sich Lina im Laufe der Zeit entwickelt hatte. Wenn Jan sie ärgern wollte, brauchte er nur den Zeigefinger rotieren zu lassen. Das war das Stichwort zum Abheben für Lina: Hubschrauber-Mutti! Und schon ging Lina in die Luft wie ein HB-Frauchen aus der Werbung der Siebziger. Na, wer wird denn gleich in die Luft gehen??? Greif‘ lieber zu HB. So der alte Reklamespruch. Aber der Slogan wirkte immer noch, besonders beim Vergleich mit den Helikopter-Müttern. Manche dieser neumodischen Wortschöpfungen hatten doch ihren Sinn, fand Jan. Und grinste in sich hinein. Dabei war er in Wirklichkeit derjenige, der übervorsichtig und überängstlich reagierte, bei allem, was seinen Stammhalter betraf. Nur, wer denkt schon gerne über seine eigenen Marotten nach? Er am wenigsten. Dann hörte er Lina schon wieder rufen, diesmal in weitaus schärferem Ton.
„Ich zähle jetzt genau bis drei, dann setzt’s was, Jan Johannsen!“, tönte es von unten aus dem Flur. Mit einem Satz sprang er aus dem Bett. Der frühe Vogel hatte gewonnen, so ein Mist! Er musste es ehrlich zugeben: Für Bastian hatte Vater Jan so manche schlechte Angewohnheit sausen lassen. So auch durchzechte Nächte und lange Vormittage im Bett. Am Ende würde er noch seriös werden, befürchtete der charismatische Maler, der Künstlertyp mit Hang zur Hypochondrie. Was er natürlich vehement bestreiten würde. Oder besser gesagt. Er würde in die Luft gehen wie ein HB-Männchen, wenn auch nur eine Person ihm dieses böse H-Wort an den Kopf werfen sollte. Er und ein Hypochonder!!! Das wäre ja noch schöner… Hypochonder, das war ja noch schlimmer als Hubschrauber-Mutti.
Gerade mal Mitte Januar, Anno Domini 2018, und Deutschland war nahezu lahmgelegt. Und wer hat’s geschafft? Eine gewisse Friederike! Wer, bitteschön? Also, um es kurz zu machen: Es war kein neuer, tückischer Computervirus, auch keine plötzlich aus dem Nichts aufgetauchte, frische Kanzlerin – sondern der Name eines winterlichen Sturms, der mit Orkanböen von über 200 Stundenkilometern über Mitteleuropa zog.
Ausgerechnet an diesem sturmgebeutelten Tag musste Jan Johannsen mit dem Zug nach Frankfurt fahren. Ausnahmsweise! Sonst nahm er immer seinen herzallerliebsten ollen Kombi, ein Auto, das ihn nun schon seit vielen Jahren sicher durchs Leben begleitet hatte. Mittlerweile standen jedoch schon über 200.000 km auf dem Tacho, und täglich rechnete Jan damit, dass sein Treuer endgültig den Geist aufgeben würde – die Katastrophe schlechthin... Die Horrorvorstellung, mitten auf dem viel befahrenen Frankfurter Innenstadtring just aus diesem Grund liegen zu bleiben, hatte ihn zum Zugfahren gebracht. Eine schöne Gelegenheit für einen kleinen Spaziergang zum malerisch am Waldrand gelegenen Bahnhof von Bad Salzhausen, um dann ganz gemütlich mit der Bummelbahn nach Friedberg zu tuckern und anschließend mit der S-Bahn in die „große, weite Welt“, sprich nach Mainhatten, der amerikanisch anmutenden Stadt am schönen Main, weiterzufahren. Hier hatte er früher einmal gewohnt. Zusammen mit Lina. Im quirligen Bornheim, wo immer etwas los war, eine schöne Zeit – bis es dann zur Katastrophe kam. Eine lange Geschichte, aber dann hatte es erst ihn und dann Lina Richtung Vogelsberg verschlagen. Aber trotzdem war ihm Frankfurt noch immer nahe, kein Wunder, vom Vogelsberg aus konnte man bei guter Sicht sogar die Skyline sehen. Nun war er unterwegs in seine alte, zweite Heimat. Allen Warnungen zum Trotz. Die Themen „Megasturm, Wintergewitter, Gefahren für Leib und Leben“ hatte er einfach ignoriert, oft genug schon war er auf die immer dramatischer klingenden Wetterwarnungen hereingefallen – um dann festzustellen, dass alles nur heiße Luft gewesen ist. Oder auch mal kalte, je nach Jahreszeit. Auf jeden Fall übertrieben diese Wetterfrösche immer maßlos. Heute wurde seiner Meinung nach überhaupt mit allem übertrieben, die ganze Gesellschaft war eine personifizierte Übertreibung, gepaart mit einer dauerhaften Empörung. Im Grunde genommen fand Jan schon seit Längerem, dass die Welt komplett GAGA war. Und er war mittendrin und vermutlich keinen Deut besser…
Ein Termin beim Hals-Nasen-Ohrenarzt stand an, bei Dr. Siegerland auf der Kaiserstraße, seinem angestammten Kiez, mitten in der sündigen Bahnhofsgegend, wo er früher schon zum Inventar gehörte. Damals, als er beim kleinsten Heimweh nach der Hansestadt, genauer gesagt nach der Reeperbahn, direkt die U4 von Bornheim über die Hauptwache Richtung Hauptbahnhof genommen hatte. Nur um sich wieder einmal so richtig heimisch fühlen zu können - inmitten all der roten Laternen, die im Grunde nicht vorhanden waren, aber gefühlt jeden Meter der Kaiserstraße säumten. Keine Lilli Marleen zu seh’n, aber zumindest die eine oder andere Dame, die wie eine neuere Ausgabe von ihr daherkam.
Alles befand sich im Wandel, die Dinge veränderten sich in rasantem Tempo, dachte Jan während der Zugfahrt, als er die Landschaft so rasch an sich vorbeiziehen sah. Kein Mensch konnte mehr Schritt halten mit der Zeit, die immer schneller davonzurasen schien – gerade so wie ein Zug, der mit jedem Meter mehr an Fahrt gewann. Nur das älteste Gewerbe der Menschheit blieb bestehen.
Würde sich daran je etwas ändern?