Читать книгу Grüne Soße, Tote Hose (XXL Leseprobe) - Carola van Daxx - Страница 4

Nur kein Stress!

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Nebenan hörte man jemanden kräftig niesen, was um diese Jahreszeit kein Wunder war. Grippezeit in Deutschland, die Krankenstände auf Rekordzahl – und das vermutlich nur, weil die Krankenkassen an der Impfung sparen wollten und einen wichtigen Virenstamm „gespart“ hatten. Jan war jedoch nicht wegen eines profanen Schnupfens bei Dr. Siegerland im Wartezimmer gelandet. Er hatte auch nicht die klassische Männergrippe, wie sie jeder Mann mehrfach im Jahr nur knapp überlebte, nein, mit solchen Kleinigkeiten gab er sich schon seit Langem nicht mehr ab. Vielmehr trieben ihn Ohrenschmerzen und komische Töne, die anscheinend nur er hörte, in die Praxis des berühmten HNO-Papstes, der auf der belebten Kaiserstraße, mitten im Rotlichtviertel, der sündigen Meile nahe des Frankfurter Hauptbahnhofes seiner ärztlichen Kunst nachging. Ihn konsultierten gerne und regelmäßig die Künstler der Städtischen Bühnen, die Ballerinas, die Chorsänger aus der ersten, zweiten und letzten Reihe, die Startenöre und Operndiven genauso wie die zahlreichen Gastmusiker und Sänger, die in der Mainmetropole gastierten und plötzlich von unerträglichen Halsschmerzen oder anderen existenzgefährdenden Symptomen überfallen wurden und dringend auf eine Art Wunderheiler angewiesen waren, wenn am Abend der große Auftritt stattfinden sollte.

Irgendetwas hatte der Herr Doktor an sich, eine geheimnisvolle Aura, eine Art Magie. Jedenfalls vertrauten ihm die meisten Kreativen blind, was wohl einen Großteil der Heilerfolge ausmachte. Davon sprach die halbe Kunstwelt! Vermutlich kochte der auf Hals, Nasen und Ohren spezialisierte Schulmediziner jedoch auch nur mit Wasser, verschrieb vermutlich nichts anderes als seine geschätzten Kollegen. Trotzdem wirkten seine Mittel anders, warum, das wusste niemand so recht. Aber es wirkte anscheinend! Zudem hatte er das Talent, die hochsensiblen Künstler mit entsprechendem Respekt zu behandeln, sie hier und da zu hofieren – und ihnen selbstverständlich das Gefühl zu geben, dass sie genau HIER richtig waren. Es schmeichelte ihnen, wenn sie vom „Onkel Doktor“, wie er sich selbst manchmal bezeichnete, wertgeschätzt und gebauchpinselt wurden. Echte Diven brauchen so etwas.

Jan Johannsen, dessen Ohr vor fast sechs Jahren auf ungefähres Niki-Lauda-Format verkohlt und geschrumpft war, begab sich auch genau deshalb immer wieder in die Hände von Dr. Siegerland, der offensichtlich der einzige Mediziner war, der wirklich verstehen konnte, was in einem Mann vor sich ging, der direkt nach dem Überleben einer Naturkatastrophe auch noch eine große Karriere als Maler gemacht hatte. Eine Art moderner Vincent unserer Zeit war er durch diesen Schicksalsschlag geworden, der „Van Gogh vom Keltenberg“. Er hatte im wahrsten Sinne des Wortes Glück im Unglück gehabt – die Kasse klingelte bis heute kräftig. Allerdings, man konnte es schwerlich leugnen: Er war auch von seiner nervlichen Konstitution nah an dem Genie, das ihm den berühmten Namen knapp 130 Jahre nach seinem mysteriösen Tod vererbt hatte. Mit anderen Worten, ein durchgeknallter Typ, Künstler halt! Übersensibel, aber hochbegabt. Jan fühlte sich nicht nur deshalb seinem verstorbenen Malerkollegen eng verbunden. Zufällig sah er ihm auch noch ähnlich, fast wie Vincent auf seinen Selbstportraits - zumindest, wenn er unrasiert war und sein Haupthaar schon länger keinen Kontakt mit einer Friseurschere gehabt hatte. Nicht zu vergessen, sein altes Flanellhemd, das Karierte – es hätte auch aus vergangener Zeit stammen können.

Vor seinem geistigen Auge sah er noch einmal die Schlagzeilen aus dem Jahr 2012:

GETROFFEN! Maler, der aussieht wie Van Gogh persönlich, überlebt Blitzschlag. – UNGLAUBLICH!

Sein rechtes Ohr ist verbrannt. – UNHEIMLICH!

Vincent lebt!

Der Van Gogh vom Keltenberg!

Meine Güte, die Zeit war so schnell vergangen, dachte Jan. Und er war älter geworden, nicht nur auf dem Papier. Aber das war heute sein geringstes Problem. Bilder von damals stiegen in ihm auf, die ganze Szene auf dem berühmten Glauberg in der Wetterau, vor den Toren Frankfurts und am Fuße des hessischen Vulkans, dem Vogelsberg. Und immer wieder musste er an Lina denken. Seine Lina… Komisch, was einem beim Warten so alles in den Sinn kam, dachte Jan. Zuhause kam er überhaupt nicht mehr zum Nachdenken oder zum Tagträumen. Der Trubel im „Café Klatsch und Tratsch“ und sein kleiner Sohn Bastian, den er liebevoll Basti nannte, hielten ihn stets auf Trab. Da musste er tatsächlich in das große, laute Frankfurt fahren und darauf warten, dass er aufgerufen wurde, um sich einmal wieder in innerer Stille mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Ein Hamsterrad war sein Leben geworden, erkannte er. Kein Wunder, dass sein Ohr nie zur Ruhe kam. Und nicht nur sein Ohr.

Nach dem zweiten Cappuccino aus der zischenden Maschine, die im modern eingerichteten Wartezimmer zur Selbstbedienung stand, erschien eine der blutjungen Arzthelferinnen standesgemäß im weißen Kittel und geleitete ihn charmant in die heiligen Hallen zum Meister aller Hälse, Nasen und Ohren.

„Herr Johannsen, oder sollte ich lieber „Vincent“ sagen? Alles, alles Gute im neuen Jahr noch, auch wenn es schon ein paar Tage her ist. Das darf man doch noch Mitte Januar sagen, oder?“ Er drückte ihm fest die Hand – sein Handschlag war zum Glück nicht so ein lascher, wo man glaubt, ein toter Fisch gäbe einem die letzte Flosse. Jan mochte Menschen, die zupacken konnten und einen ordentlichen Händedruck hatten. Alles andere vermieste ihm schon die Lust auf sein Gegenüber. Das war mit zunehmendem Alter nicht anders geworden.

„Wo drückt der Schuh, mein Lieber? Macht sich der gute alte Van Gogh wieder einmal bemerkbar?“ Das war seine verspielte Umschreibung für Jans Ohrbeschwerden.

„Ja, Herr Dr. Siegerland, Ihnen auch noch ein Frohes Neues nachträglich. Und, wie Sie schon vermuteten: Mein Ohr spinnt mal wieder. Kaum, dass die Silvesterknallerei vorbei war, brummte es, klingelte es, pfiff es unaufhörlich. Außerdem tut es wieder einmal weh. So, als wäre ich ganz schlimm erkältet…“

„Sind Sie aber nicht, wie man unschwer erkennt…“, der Doktor schaute ihn wohl wissend mit seinen gütigen braunen Augen an. Alt war der gute Mann geworden, fand Jan, und fühlte sich selbst gleich viel jünger durch die immer grauer werdenden Haare, die erheblich tiefer gewordenen Falten des sonst recht fitten Arztes, und ertappte sich doch tatsächlich in Sekundenschnelle dabei, wie er darüber nachdachte, ob und wie lange er in Zukunft noch auf seinen Lieblings-HNO zählen konnte. Er wollte den Gedanken ad hoc wieder abschütteln, erinnerte es ihn doch daran, dass alles endlich war im Leben, eine grauenhafte Vorstellung – in den meisten Fällen. Und ausgerechnet daran wollte er überhaupt nicht erinnert werden…

Es war ihm ein Graus, über Dinge wie Alter oder gar Gevatter Tod nachzudenken, Wer wollte das schon? Aber immer häufiger wurde ihm bewusst, dass die Zeit anscheinend schneller und schneller verging, und er der ganzen Misere doch machtlos gegenüberstand, wenn man es realistisch betrachtete.

Nach kurzer Untersuchung nickte Dr. Siegerland zufrieden.

Was sollte das nun wieder bedeuten? Jan hatte Schmerzen und Töne, aber der Doktor sah aus, als hätte er gerade die 100.000-Euro-Frage bei Günter Jauch im Säckel!

„Alles in bester Ordnung, nichts Krankhaftes, nichts Beunruhigendes zu finden, mein lieber Malerfürst!“ Jan hörte den Begriff nicht gerne, wurde er doch gerne für die erfolgreichsten und teuersten Maler aller Zeiten benutzt – auch heute noch. Doch er wollte kein zweiter Lüpertz, Immendorf oder Richter sein. Und ihnen auch keinesfalls nachfolgen. Er sah sich, trotz allen wirtschaftlichen Erfolges, noch immer mehr auf der Seite der zu Lebzeiten überwiegend arm gebliebenen Impressionisten rund um die Wende zum 20. Jahrhundert. Und auch sein erfreulicher Kontostand konnte nichts an der Tatsache ändern, dass er sich noch immer erfolglos fühlte, innerlich. Auch wenn er nach außen ein ganz anderes Bild abgab und es nur unter Androhung von lebenslangem Whisky-Entzug laut zugegeben hätte.

Er wiederholte ungläubig: „Also, im Prinzip ist mit mir und meinen Ohren alles in Ordnung?“

„Ja, nichts Organisches.“ Zufrieden war Jan damit aber keineswegs.

„Nichts Organisches, aber was ist es dann?“, fragte er nach.

„Die Geißel unserer Zeit, mein teurer Freund. Und die heißt Stress! Sie sind unter Druck, die Muskeln verspannen, die Nerven reagieren, schon sind sie da: Töne und Schmerzen. Fühlt sich an wie Ohrenschmerz, ist im Grunde genommen auch Ohrenschmerz, hat aber eigentlich gar nichts mit den Ohren zu tun. Sie müssen zur Ruhe kommen, entspannen. Haben Sie nicht mal erzählt, dass Sie da oben im Vogelsberg auch Bäume umarmt haben? Gab es da nicht mal so eine Story von Wunderheilung unerträglicher Rückenschmerzen?“ Da musste Jan lachen. Er hatte es schon fast vergessen, genau, damals, als er das erste Mal bei Tonja Naumann, der Schottener Heilpraktikerin, gewesen ist und mit ihr zusammen viele Runden auf dem Hoherodskopf gedreht hatte. Immer endend mit einer ordentlichen Baum-Umarmung. Damals war von „Waldbaden“, wie es die Japaner nennen und es auf einmal auch hier der Weisheit letzter Schluss sein soll, noch keine Rede. Es war Tonjas ganz spezieller Therapieansatz gewesen, die Natur mit auf die Reise der Heilung zu nehmen – oder besser gesagt, den Menschen endlich wieder in die Natur und hin zu seinen Mit-Lebewesen zu bringen. Back to the roots sozusagen. Und was damals geholfen hatte, konnte doch heute nicht so verkehrt sein?

„Sie haben ein sehr gutes Gedächtnis, Herr Doktor Siegerland! Das war einst eine super Sache, das mit den Bäumen. Vielleicht hätte ich nicht so lange pausieren sollen. Aber so ist das halt, wenn man keine Schmerzen mehr hat, dann lässt man die Dinge gern schleifen, nich‘?“

„Noch immer ganz der Hanseat! Am Satzende sagt der echte Hesse aber nicht „NICH“, sondern immer noch „GELLE“, gelle?“ Der Doc lachte herzlich, Jan auch. Und auf einmal waren die Töne in seinem Ohr verschwunden. Was für ein Zauber, wie ging denn sowas vonstatten? Schon wieder eine Art Wunderheilung? Das traute er sich aber nicht zu sagen und behielt es erst einmal für sich.

„Sie haben recht, am Satzende immer „GELLE“…“

„Dann sind wir für heute schon fertig, Herr Johannsen. Versuchen Sie möglichst, sich abzulenken von den Tönen im Ohr, überdecken Sie die Qualen am besten mit Alltagsgeräuschen und lauten Aktivitäten, vermeiden sie sozusagen die Totenstille. Und: Am besten, nicht immer darauf achten, was in den Ohren so zu hören ist. Das ist die beste Strategie, gelle?“

Sein Wort in Gottes Ohr, mehr fiel Jan dazu nicht ein.

Grüne Soße, Tote Hose (XXL Leseprobe)

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