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Vorwort

Es freut den Lüneburger Initiator natürlich sehr, dass die von ihm 1986 mit einer biographischen Skizze über den Reformpädagogen und Schulgründer Kurt Martin Hahn (1986 – 1974) begründete Schriftenreihe „Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik“ nach zehnjähriger Unterbrechung ihre Fortsetzung findet. Zwar wird eine bereits bekannte Protagonistin vorgestellt, deren Dissertation, die sie unter der Leitung ihres Doktorvaters, Prof. Dr. Herman Nohl (Universität Göttingen), 1925 vorgelegt und erfolgreich verteidigt hatte, bereits 1990 in Lüneburg der pädagogischen Öffentlichkeit erneut zugänglich gemacht worden war. Der damalige Nachdruck in Lüneburg basierte auf jener Ausgabe, die 1932 in dritter Auflage in der Reihe „Göttinger Studien zur Pädagogik“, Band 3, im Vandenhoeck & Ruprecht Verlag erschienen war. Insofern wird die Dissertation von Waltraut Neubert (1894– 1947) durch die biographische Skizze von Carolina Dahle aktualisiert und durch Hintergrunddaten – insbesondere auch durch die Auswertung der Korrespondenz mit Herman Nohl und dessen damaligem Assistenten und des späteren Professors, Erich Weniger, – wesentlich angereichert.

Der Veröffentlichung der Dissertation „Das Erlebnis in der Pädagogik“ wurde 1990 ein Vorwort von Prof. Dr Karl Sauer (1925 – 1999) vorangestellt, in dem der Lüneburger Erziehungswissenschaftler betonte, dass die Studie von Waltraut Neubert „eine schulpädagogische Arbeit (ist). Sie sichert den Ertrag der reformpädagogischen Bewegung in ihrer produktivsten Phase. Es ist insbesondere der Diltheysche Erlebnisbegriff, der die kategoriale Basis ihrer Erörterungen darstellt. Der Zusammenhang zwischen Erlebnis – Ausdruck – Verstehen liegt zugrunde, wenn die Verfasserin von ‘Ausdrucksfächern‘ spricht. Wenn sie die Schule nicht mehr im Sinne der Herbartschen Theorie als vom Leben getrennt sieht, sondern als eine Lebenssphäre besonderer Art, dann ist das für sie ein Ergebnis der Umformung der Schule durch das Erlebnis.

Die gegenwärtig in so vielen verschiedenen Wendungen geäußerte Kritik an der ‘verkopften‘, ‘entsinnlichten‘ Schule in Verbindung zu bringen mit der Argumentation Waltraut Neuberts, bringt über die Erinnerung an eine verwandte Konstellation der 1920-er Jahre hinaus einen Gewinn, der eine zusammenfassende Sicht gegenwärtiger Schulkritik erlaubt.“

Damit wurde einerseits der Blick auf notwendige Schulreformen allgemein gerichtet, andererseits wurden aber auch die Triebfedern sichtbar, die damals zur reformpädagogischen Aufbruchsstimmung veranlassten und wesentlich beitrugen.

Ich vertiefte seinerzeit den historischen Rückblick und schrieb:

„Wer sich mit Fragen der Gestaltung des Schullebens auseinandersetzt, wird ohne Rückbezüge auf die Reformpädagogik wohl kaum Antworten finden. Damals – zu Beginn jenes Zeitraums, der zum „Jahrhundert des Kindes“ (E. Key) werden sollte, – wuchs die Überzeugung, dass Wissensvermittlung und Wissenserwerb nicht mehr allein zu den Hauptaufgaben der Schule zählen dürften. W. Rein stellte 1912 fest:

„Unsere Schulen bieten viele Möglichkeiten zum Wissenserwerb, aber wenig Gelegenheiten zum Handeln. Deshalb sind sie einseitige Anstalten und wenig wirksam im Dienste der Charakterbildung. Aber es ist die Frage, ob es so bleiben soll; es ist eine noch zu lösende Aufgabe, dass unsere Schulen zu Erziehungsanstalten umgewandelt werden, nicht nur dadurch, dass der Unterricht zu einem erziehenden organisiert wird, worauf die Didaktik abzielt, sondern so, dass außer dem Unterricht Veranstaltungen getroffen werden, die mit demselben Gewicht, wie die Unterweisung in den Schulstunden, in die Entwicklung der Jugend eingreifen.““

Entsprechend dieser Schulkritik stand dann in den Landerziehungsheimen (von H. Lietz, M. Luserke, K. Hahn u.a.) das gemeinsame Leben und Arbeiten im Vordergrund; der Unterricht bekam subsidiäre Bedeutung. So strebte man in der „Freien Schulgemeinde Wickersdorf“ (G. Wyneken) Selbstverwaltung in der Entwicklung einer Eigenkultur der Jugend an, während in der „Odenwaldschule“ (P. Geheeb) das Zusammenleben mit Erwachsenen, die aus der Arbeitswelt kamen, und die Einbeziehung von Handwerkern in das Kollegium im Vordergrund der Reformbemühungen standen.

Eine weitere Quelle für die Forderungen nach einem reicheren Schulleben bildete die Lebensphilosophie W. Diltheys (1833 – 1911). Leben und Erleben in seiner ganzen Fülle waren bei ihm zentrale Ausgangspunkte seiner Philosophie, und alles geistige menschliche Leben war für ihn eingespannt in den Dreischritt von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen. Viele Reformpädagogen wurden durch die Philosophie Diltheys geprägt. Es gab eine eigene Richtung, die sich Erlebnispädagogik nannte. Hieran knüpft die Studie von W. Neubert an:

„Neben der Arbeit ist das Erlebnis der methodische Grundbegriff der modernen Pädagogik. Die Schule soll, wie das Haus, ein Erlebnisfeld des Kindes sein. Sie soll so gestaltet werden, dass es in ihr wesentliche Lebensbezüge erfahren kann: zunächst die menschlichen, wie Freundschaft, Führertum, Gemeinschaft. Dann die sachlichen zu Religion, Kunst und Wissenschaft. Hier soll es wieder die einzelnen Fächer erleben, von Geschichte und Deutsch bis zu Grammatik und Rechnen.

„Jede Unterrichtsstunde soll zum Erlebnis werden“ (E. Weber, 1907). Und schließlich soll es aus dem Erlebnis heraus schöpferisch sein. Alles, was es selbst gestaltet, in Aufsatz und Zeichnen·, Musik und Tanz, soll aus dieser Quelle gespeist werden.“ [Einleitung]

Die Erlebnispädagogik erhält gegenwärtig kräftige Anstöße. Die aktuelle Schulkritik stellt als besonderen Nachteil der „verschulten Gesellschaft“ die Monopolisierung des Lernens in der öffentlichen Schule heraus, durch die auch das Lernen selbst verdorben würde. Das meiste Wissen werde ohnehin außerhalb der Schule erworben; es wird zudem Falsches gelernt, was man schnell vergisst und nie wieder benötigt. Wie man lebt, lernt man jedenfalls primär außerhalb der Schule. Die sterile, weltferne schulische Umgebung trennt die Kinder von ihren Erfahrungen, wodurch Separation sowohl vom Leben als auch von der Erwachsenenwelt erfolgt. Einer der schärfsten Schulkritiker nennt die Schule eine „Enklave“, die „primitiv, magisch-gebunden und von tödlichem Ernst“ geprägt ist (l. lllich). Durch die Verbannung des Lebens aus der Schule und durch die Konzentration auf objektiv überprüfbaren Unterricht werden die Schüler zur Anpassung gezwungen; sie müssen Langeweile aushalten, Unverständliches und Widersprüchliches lernen. Dadurch bleiben wichtige Tugenden auf der Strecke: u.a Unabhängigkeit, Initiative, rücksichtslose Aufrichtigkeit, Ernsthaftigkeit. Gefordert werden deshalb z.B.: stärkere Berücksichtigung der Kinder, des Lebens, Freiräume für Eigeninitiative und Erfahrung, mehr Mitbestimmung von Eltern und Kindern und durch alles die Entfaltung eines eigenen Lebensbereiches innerhalb der Schule.

Die Wiederentdeckung der Erlebnispädagogik basiert also auf der sich verschärfenden Schulkritik; aber auch andere Institutionen öffentlicher Erziehung sind in das Kreuzfeuer der Kritik geraten (Heime, Strafvollzug u.a.). So erhielt die Suche nach Alternativen Nahrung. Und wer vorausdenken will, muss zunächst die gegenwärtige Situation bedenken und über die Entwicklung nachdenken.“

Diesem sachlichen Rückbezug dienen die von Waltraut Neubert getroffenen Aussagen, indem frühe Erkenntnisse zusammengefasst wurden, die auch für heutige Überlegungen nicht unwichtig erscheinen.

In der Dissertation von Waltraut Neubert kommt das Wort „Erlebnispädagogik“ nur ein einziges Mal vor; ansonsten arbeitet sie weitgehend mit den Termini Erleben und Erlebnis. Sie also als „Erlebnis-Pädagogin“ auszuzeichnen, erübrigt sich. Wohl aber hat sie den Humus angereichert, auf dem ich dann Anfang der 1980-er Jahre den Begriff „Moderne Erlebnispädagogik“ aus der Taufe hob, prägte und damit gleichzeitig den Grundstein für eine wissenschaftliche Fundierung legte.

Dass die Erlebnispädagogik inzwischen als eine Teildisziplin der Erziehungswissenschaft gilt und allgemein akzeptiert wird, ist der Verdienst meiner jahrzehntelanger Bemühungen im Rahmen des von mir begründeten und geleiteten „Instituts für Erlebnispädagogik“ an der Leuphana Universität Lüneburg, wobei insbesondere mein damaliger Mitarbeiter und späterer Hochschulkollege, Prof. Dr. Torsten Fischer, für theoretische Vertiefungen und empirische Belege sorgte.

Die Begründung der Schriftenreihe „Wegbereiter der Erlebnispädagogik“ hatte in diesem Forschungszusammenhang eine wichtige Funktion, wurde das Fragezeichen doch explizit betont und nach herausragenden Pädagoginnen und Pädagogen gesucht, denen möglicherweise eine Wegbereiterrolle zugebilligt werden konnte. Oftmals wurden wir fündig, manchmal auch nicht. Der pädagogische Teppich ist und bleibt bunt.

Lüneburg, im Sommer 2020Jörg W. Ziegenspeck
Waltraut Neubert

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