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Allgemeines über die Multiple Sklerose

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Die Multiple Sklerose, kurz MS, ist eine chronisch neurologische Erkrankung des Zentralnervensystems, die meist in Schüben auftritt. Etwa 85-90 % sind vom schubförmigen Verlauf betroffen und etwa 30-40 % gehen nach 10-15 Jahren in den sekundär chronisch progredienten Verlauf über. Die anderen 10-15 % nehmen einen primär chronisch progredienten Verlauf. Aus diesen Gründen nennt man die MS auch die "Krankheit mit 1000 Gesichtern". Sie tritt meist im Alter zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr auf, mehr Frauen als Männer sind betroffen und sie ist nicht vererbbar. In Deutschland leben ca. 200 000 Erkrankte.

Die Multiple Sklerose zeigt sich als Entzündung verstreut über das Gehirn und Rückenmark. Unser Gehirn sendet Signale über das Rückenmark zum Körper oder empfängt welche, z.B. wie muss man seine Tasse halten und zum Mund führen oder wie setze ich einen Fuß vor den anderen. Diese Signale werden von sogenannten Nervenfasern geleitet, die mit einer Schutzhülle ummantelt sind, der sogenannten Myelin. Dieser Übertragungsmechanismus ist sehr gut mit elektrischen Kabeln zu vergleichen, denn diese sind ebenso von einer Isolierschicht umgeben. Wird ein Stromkabel angeschnitten, kann kein Strom mehr durchfließen. So ist es auch mit dieser Myelinschicht in unserem Körper, allerdings werden diese Störungen der Signalübertragung durch Entzündungsherde an der Ummantelung, der Myelinschicht verursacht und Signale bzw. Befehle unvollständig übertragen. Es kommt zu diversen Symptomen, z.B. Blasenschwäche, Missempfindungen in den Armen - man greift daneben oder das Bein knickt ein.

Ein Schub ist die Summe aus einem oder mehreren Entzündungsherden mit entsprechenden Ausfallerscheinungen, d.h. entwickeln sich neue oder erneute Krankheitszeichen über Stunden bis Tage, die länger als 48 Stunden anhalten, spricht man von einem Schub. Es sind neue oder bereits schon frühere Herde, sogen. Plaques aktiv. Nachweisbar sind diese Herde mit einem MRT. Die Behandlung eines MS-Schubes stützt sich in erster Linie auf die Gabe von Kortison, bzw. künstlich hergestellter Kortisonpräparate, sogen. Kortikoide. Kortison ist ein natürliches Hormon, das in der Nebennierenrinde gebildet wird. Da es morgens vom Körper bzw. der Nebennierenrinde ausgeschüttet wird, sollten auch die medikamentös zugeführten Kortikoide morgens verabreicht werden, um die körpereigene Bildung des Kortisons nicht vollständig zu unterdrücken und die Nebenwirkungen soweit wie möglich zu minimieren. Meist werden heute hochdosierte, intravenös zugeführte Kortikoide in der Akutbehandlung eines MS-Schubes bevorzugt. Alternativ werden auch oral, mit Tabletten zugeführte Hochdosisbehandlungen, angewandt.

Ich persönlich vertrage die intravenösen 3- bzw. 5-Tage Stoßtherapien mit je 1 g Kortikoiden täglich besser, als die oralen Hochdosisbehandlungen.

Die intravenöse Gabe erfolgt als Kurzinfusion über 60-120 Minuten und kann ambulant gut durchgeführt werden. Zum Schutz vor Magengeschwüren werden gleichzeitig entsprechende Medikamente verordnet. Ein Ausschleichen bei diesen Gaben ist meist nicht erforderlich.

Insgesamt verkürzt und mildert eine Akutbehandlung mit Kortikoiden die Schübe mit den entsprechenden Beschwerden und beschleunigt die Erholung. Der langfristige Krankheitsverlauf wird aber dadurch nicht beeinflusst. Hierfür stehen Medikamente für eine Langzeitbehandlung und Reduzierung der Schubfrequenz zur Verfügung.

Fazit: Kortikoide führen nur zu einer Verkürzung und Abschwächung einzelner Schübe, nicht aber zu einer Beeinflussung des Krankheitsverlaufs!

Deshalb sollte man bei jedem Schub überlegen, ob die Gabe von Kortikoiden und die damit verbundenen Nebenwirkungen gerechtfertigt sind.

Nach einem Schub kehren die normalen Funktionen zurück (vollständige Remission) oder das entzündete Nervengewebe vernarbt (sklerosiert) und es kommt zur unvollständigen Rückbildung der Symptome (Remission). Vor allem nach den ersten Schüben bilden sich die Beschwerden fast immer vollständig zurück. Je länger eine MS besteht, desto unwahrscheinlicher die Rückbildung der Symptome. Nicht so beim primär chronisch progredienten Verlauf. Hier gehen Beschwerden ineinander über ohne wesentliche Rückbildung allenfalls ein vorübergehender Stillstand, teils mit zusätzlichen Schüben und es kommt zu einer zunehmenden Verschlechterung und Behinderung.

Die Diagnose MS bedeutet zu Beginn Ohnmacht, Nicht begreifen und viele Fragen über die private und berufliche Zukunft, werfen scheinbar die Lebensplanung durcheinander. Es ist ein großer Schock für den Betroffenen und seine Familie. Hier ist viel Feingefühl gefragt und es braucht viel Zeit um dieser Diagnose einen Platz im Leben zu geben. Nichts ist wie vorher und oft müssen berufliche Situationen, der Alltag oder bei jungen Erwachsenen mit MS die schulischen oder beruflichen Pläne neu überdacht werden.

Hier an dieser Stelle möchte ich gerne kurz meine Situation und Gedanken zu meiner MS erzählen, denn heute bin ich nicht mehr der Mensch wie zu Beginn der Diagnose:

Die MS war meine Chance in der Krise, die eine Daseinsberechtigung hatte, um niemals aufzugeben trotz physischer und psychischer Einschränkungen. Jeden Tag entscheide ich aufs Neue, was mir gut tut und wann ich dringend Ruhe brauche. Meine Feldenkrais-Stunden versäume ich fast nie, und vernachlässige kaum meine vollwertige Ernährung. Mit Gottes Hilfe veränderte ich meinen Blick aufs Leben.

Heute kann ich über vieles besser reden und erzählen, was meine Erkrankung angeht und die Wut ist verflogen. Alles braucht eben doch seine Zeit. Sie werden beim Lesen selbst erfahren, dass ich nicht mehr der selbe Mensch bin, der das erste Buch geschrieben hat. Und es ist gut so, wie es ist!

Heute, nach dreizehn Jahren MS-Karriere nach der Diagnose im Februar 2004, blicke ich selten zurück. Ich kenne meinen Weg, der vor mir liegt, nicht. Das Ende ist weiterhin offen. Aber die Strecke, die ich zurückgelegt habe, kenne ich: Frust, Zorn, Enttäuschung, nicht akzeptieren und kämpfen gegen einen Dämon, der nicht zu besiegen ist. Verlorene Jahre, aber hätte ich sie vielleicht nicht so erlebt und durchlebt, wäre ich heute nicht der Mensch, der ich geworden bin. Auch mein Umfeld wäre nicht das gleiche. Lieber sich auf das Wesentliche im Leben und im Alltag beschränken, zufrieden und ausgeglichen. Dabei trennte ich mich auch von Bekannten und Freunden.

Glück ist ein starkes Wort, das ich im Zusammenhang mit meiner Erkrankung nicht in den Mund nehmen kann. Dankbarkeit und Vertrauen in mich, das empfinde ich oft. Wenn der Dämon morgens an meiner Bettkante sitzt und mich einen beschissenen MS-Tag durchstehen lässt, werfe auch ich kurzzeitig alles über Bord. Da geht es rund bei mir wie beim Untergang der Titanic, nur im Stillen. Ich hadere mit meinem Schicksal, bin traurig, aber die Frustration und die Ungerechtigkeit, die ich früher in solchen Gefühlsmomenten verspürte, sind verschwunden.

Ich frage mich schon Jahre nicht mehr: „Warum ich?“, sondern denke: „Warum ich nicht?“, wenn überhaupt. Das Aufbegehren gegen diese Erkrankung kostet nur Kraft und Lebensqualität, ich schickte sie vor langer Zeit in den Kosmos und lernte mit dem Anders-gesund-Sein zu leben.

Ich bin schon immer ein aktiver Mensch gewesen und fragte mich letzte Nacht, was tue ich als nächstes, wenn dieses Buch fertig geschrieben ist? Ich musste nicht lange überlegen ... schreiben, schreiben, schreiben. Es ist mein Lebenselixier.

Worte zu Papier bringen und Monate eintauchen in die PC-Arbeit, das sind die effektivsten Stunden der Verarbeitung, besser als jede Psychotherapiestunde. Wobei ich bei der Wahrheit bleiben muss, ganz ohne meine Psychotherapeutin wäre es in den schwärzesten Krisenstunden nicht gegangen.

Nach jahrelangem schubförmigen Verlauf, zuerst vollständige Remission und später unvollständige Rückbildung der Symptome, die ganze Therapiepalette an Medikamenten rauf und runter, bin ich heute sekundär chronisch progredient.

Bei meinem Verlauf sehe ich auch etwas Positives. Er ist zwar schleichend, aber die Angst vor Schüben, die mir nicht nur bildlich so oft den Boden unter den Füßen weggezogen hat oder das Erwachen am Morgen mit einem Schleier oder Doppelbildern vor den Augen, ist vorbei. Ob dieses Schleichen der MS zum Kriechen oder zum Wettrennen mit der Zeit wird, bleibt mir zum Glück verborgen. Ich werde es noch früh genug „mitbekommen“.

Auch durch die Jahre mit Mitbetroffenen und meiner ehrenamtlichen Tätigkeit bei der DMSG, lernte ich eine andere Sichtweise der Erkrankung kennen und verlor die Angst vor Hilfsmitteln wie meinen Rollator oder Rolli.

In meinem ersten Buch schrieb ich über "mein erstes Mal" mit meinem Stock. Mittlerweile bin ich im Umgang mit dem Rollator und Rollstuhl geübt. Ohne Rollator in Rom mit meinen Kindern wäre undenkbar gewesen, denn nach der Reise war mein Fazit: „Einmal Rom hin und zurück, aber niemals mehr eine Städtereise!“ Die überhöhten italienischen Bordsteine und die Metro brachten mich zur Verzweiflung und ich wünschte nichts sehnlicher, als dass dieser Urlaub schnell abgespult wurde.

Das Rollifahren erlernte ich fachmännisch in der Reha-Klinik „Quellenhof“ und während einem DMSG-Rolli-Training hier in Landau, das ich mit einem Therapeuten aus Bad Wildbad, Sana-Klinik, organisierte. Ich kann das Üben mit einem Profi nur jedem ans Herz legen.

Ich versuche mich in Gelassenheit zu üben, lebe meine alten und neuen Träume, entsorge und verarbeite die alltäglichen Erlebnisse, akzeptiere dort, wo es nicht zu ändern ist und entscheide für mich und mein Seelenheil, damit es mir mit Madame MS und Mademoiselle (Depression) größtenteils gut geht. Nicht immer leicht.

Wir haben MS und keiner sieht es!

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