Читать книгу Ein Jahr ohne dich - Caroline Régnard-Mayer - Страница 5

°Conny°

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Es war an einem Donnerstag im August, der Himmel leuchtete azurblau, ab und zu zog eine kleine Wolke vorüber. Ein strahlender Sommertag. Es war der Tag, an dem ich mich erwachsen fühlte, gleichwohl ich im Juni erst neunzehn Jahre alt geworden war. Ich saß mutterseelenallein in einem Flieger in die USA und flog in ein neues Leben.

»Conny, pass auf dich auf, mein Mädchen. Hast du alles? Pass? Geld?«

»Mama, nerv mich doch nicht. Klar, habe ich alles. Ich bin doch bald wieder zurück.«

Ich rollte mit den Augen und hob meinen schweren Koffer auf das Förderband am Eincheckschalter der Lufthansa Linie.

»Wenn es möglich wäre, möchte ich bitte einen Fensterplatz«, sagte ich zur Stewardess, die gerade eine Banderole um mein Gepäck klebte.

»A 1 ist sogar noch frei.« Die Frau schaute mich fragend an.

»Den nehme ich. Danke.«

Nachdem ich meine Papiere und die Boarding-Karte in meiner Handtasche verstaut hatte, drehte ich mich zu meiner Mutter um und zog sie vom Schalter weg. Ihr trauriges Gesicht sprach Bände.

»Bald ist relativ, Kind. Ein Jahr ohne dich – noch kann ich es mir überhaupt nicht vorstellen.«

Ihre Augen glänzten verdächtig. Oma war etwas gefasster und machte ihre Späße, wie es ihre Art war.

»Kommt, Mama und Omi, lasst uns noch einen Kaffee trinken, damit du«, Conny kniff ihrer Mutter in die Wange, »mir nicht auf dem Heimweg einschläfst.«

Arm in Arm schlenderten wir ins nächstbeste Café. Am Fenster, mit Blick zum Rollfeld, ließen wir uns für das letzte Gespräch vor meinem Abflug nieder.

***

Nach einem tränenreichen Abschied von meiner Familie befand ich mich nun in der Economyklasse eines Fliegers der Lufthansa mit Ziel London, einem Zwischenstopp auf meiner Reise nach New York. Ich hatte gemischte Gefühle, aber wollte mir meinen großen Traum, in Amerika zwei Auslandssemester zu studieren, erfüllen. Trotzdem nagte das schlechte Gewissen an mir, hatte ich doch meine Mutter und meinen Bruder in Deutschland zurückgelassen.

Meine Eltern waren schon lange geschieden und mein Vater verstarb vor zwei Jahren. Die endlosen Streitigkeiten bei Gericht und mit dem Ergänzungspfleger, einem unsympathischen, sich selbst gerne reden hörenden Mann, der mein Vermögen verwaltete, hatten mich zermürbt. Dann gab es die Großeltern väterlicherseits, die uns ständig unser Erbe streitig machten. Sie nutzten jede noch so kleine Gelegenheit, um an das Geld meines Vaters zu kommen, ob gerichtlich oder per Anwalt. Mittlerweile war mir diese ganze Erbschaft eh egal. Sollten sie doch alles bekommen. Hauptsache, ich hatte wieder Frieden und es würde Ruhe in das Leben meiner kleinen Familie einkehren.

Diese war dringend notwendig, denn meine Mutter erkrankte vor vielen Jahren an der Autoimmunkrankheit Multiple Sklerose und war inzwischen nervlich vollkommen am Ende. Hätte ich sie einpacken können, ich hätte sogar meine Kleider zurückgelassen. Aber selbst wenn es ihr besser gegangen wäre, hätte es nicht geklappt. Da gab es ja noch meinen jüngeren Bruder, der noch zur Schule ging und in vier Jahren sein Abitur machen wollte. Ich hatte sie alle lieb, aber auf diese Reise konnte ich sie nicht mitnehmen. Wenn ich ehrlich zu mir war, ich wollte es auch nicht. Es war mein Traum! Es war meine Reise, die ich alleine antreten musste, fern von allen Streitigkeiten und der Familie meines Vaters, auch weg von seinem Schatten und dem Schmerz in meiner Brust.

Als ich damals durch meine Mutter die Nachricht von seinem Tod erhalten habe, erstarrte ich innerlich, und in dieser Starre befand ich mich noch immer. Mein Bruder Peter und ich hatten den psychischen und körperlichen Zerfall unseres Vaters über zehn Jahre hinweg erlebt. Die letzten Wochen waren mehr als grausam. Er lag nur noch in seinem Bett, konnte sich kaum bewegen, und seine Sprache war ihm unwiderruflich verloren gegangen. Ich konnte den Anblick kaum ertragen, aber seine Eltern versuchten, uns bei jedem Besuch in sein Zimmer zu drängen. Meine Mutter hatte mit uns geweint und uns getröstet, wann immer sie konnte. Diese Besuche hatte sie nur zweimal zuge-lassen. Wir sollten uns an die guten, besseren Zeiten mit ihm erinnern, wobei Peter ihn nur krank kannten. Zu Beginn seines Tumorleidens sahen und hörten wir nichts von seinen Symptomen, dafür waren wir einfach noch zu klein. Nachdem er verstorben war, besuchte ich mit Peter und Mama nur einmal sein Grab. Ich hatte einfach die Vorstellung nicht ertragen können, dass er nun unter der Erde lag. Am liebsten würde ich das Erlebte in meinem Kopf löschen …

Die Stewardess riss mich aus meinen Gedanken und fragte: »Wollen Sie einen Kaffee oder Tee? Was darf ich Ihnen von den Kaltgetränken servieren?«

»Ich nehme bitte einen Tee mit Zucker und einen Orangensaft.«

»Bitte sehr, und ein Sandwich servieren wir auch gleich.«

Ich fühlte mich sehr wohl mit meinem Sitzplatz direkt am Fenster, somit konnte ich die bizarren Wolkenformationen oder den späteren Landeanflug beobachten. Neben mir befand sich ein freier Platz, daneben saß eine ältere Dame. Sie las schon die ganze Zeit und außer einer Begrüßung kamen wir nicht ins Gespräch. Ich freute mich auf mein Studium in Boston. New York war nur ein kleiner Urlaubsabstecher, den ich mir von meinem Erbe gönnte. In Manhattan hatte ich mir ein Hotel gebucht und wollte auf eigene Faust fünf Tage lang diese riesige Stadt der USA kennenlernen. Viele Sehenswürdigkeiten hatte ich eingeplant.

Ich schaute hinaus über die Tragefläche und die letzten Wolken zogen vorbei. Das Sonnenlicht blendete mich kurz. Dann erblickte ich Englands Hauptstadt. Der Flugkapitän sprach durch die Sprechanlage: »Meine Damen und Herren, wir haben gerade unsere Reiseflughöhe verlassen und befinden uns im Landeanflug auf London. Wenn sie aus dem Fenster blicken, sehen sie auf der rechten Seite den Buckingham Palast. Es scheint die Sonne, bei einer Außentemperatur von 21°C. In circa fünfzehn Minuten landen wir auf dem Heathrow Airport. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Vielen Dank und auf Wiedersehen.«

Da ich in einer Linienmaschine saß, klatschte keiner Applaus für den Flugkapitän, wie bei diesen Pauschalreisefliegern. Mein Herz pochte ganz schnell, als ich die Themse unter uns erblickte. Sie glitzerte im Morgenlicht und die Häuser und Autos konnte man immer deutlicher erkennen. Neues Leben, ich komme!

Ein Jahr ohne dich

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