Читать книгу Ein Jahr ohne dich - Caroline Régnard-Mayer - Страница 6
°Christin°
ОглавлениеDie Narren zogen durch die Stadt und frönten dem Faschingsfest. Die Natur zeigte sich in verschiedenen Farben. Es war ein kalter, regnerischer Aschermittwoch, als sich mein Leben schlagartig und unwiderruflich veränderte. Auch für meine Kinder änderte sich alles. Ich hatte die Diagnose Multiple Sklerose erhalten. Damals hatte ich nicht gewusst, dass es eine unheilbare Erkrankung des Nervensystems ist. Doch schnell habe ich mich mit Fachliteratur eingedeckt und besuchte bereits nach wenigen Wochen eine Selbsthilfegruppe. Meine Tochter war damals neun Jahre alt und hatte eine veränderte, verstörte Mutter zurück bekommen. Peter, im Alter von fünf Jahren, erfasste die Tragweiter meiner Diagnose noch nicht. Oft weinte ich ohne erkennbaren Grund nach außen, denn in mir sah es düster aus. Conny spürte deutlich meine Veränderung.
»Es wird alles gut werden Constanze, mein Mäuschen!«, sagte ich zu ihr und nahm sie in den Arm. Sie kuschelte sich an meine Schulter.
Conny erzählte mir sehr viele Jahre später: Sicher, verunsichert war ich allemal und Peter war erst 5 Jahre alt. Mit ihm konnte ich nicht darüber reden. Du hast versucht mir deine Krankheit schonend beizubringen; dass du sehr krank bist und von nun an etwas ruhiger leben müsstest …
Zur Diagnose hatte ich nun auch noch die Kündigung während meiner Probezeit in einer Klinik bekommen; künftig war ich arbeitslos. Mein geschiedener Mann, Richard, schaffte keine gute finanzielle Basis für uns, somit gingen die Laufereien zu diversen Ämtern los. Ich konnte kaum gehen, leider nicht gerade der Idealfall, wenn man im Dachgeschoss wohnte.
»Mama, soll ich dir etwas helfen?« Oft stand meine kleine Tochter vor mir und hat mich danach gefragt.
»Nein, mein Schatz. Geh ruhig spielen. Ich schaffe das.« Traurig schaute ich Conny hinterher, die ein sensibles Kind war und genau spürte, wann ich keine Kraft mehr für den Haushalt hatte.
»Mama, kann Papa mir etwas einkaufen?« Ich hatte die Nummer meiner Eltern gewählt und sie um Hilfe gebeten. Auch etwas, das ich erst lernen musste.
»Klar Christin, ich schreibe es mir auf und dann kann dein Vater die Sachen gleich besorgen. Ich war zwar heute Morgen im Supermarkt, doch habe ich die Tomaten und die Butter vergessen.«
Nachdem ich telefoniert hatte, legte ich mich auf die Couch.
Mit den Jahren haben sich meine Kinder notgedrungen in die Situation eingefunden, dass manches in unserer kleinen Familie anders war, als bei ihren Freunden. Oft bekam ich Infusionen, die ich anfangs der Erkrankung meist stationär in der Klinik erhalten habe.
In den ersten zwei Jahren nach meiner Diagnose blickte ich öfters zurück. Kein leichtes Leben hatte ich seit der Heirat. Bei meiner kleinen Conny haben die Ärzte bei der Geburt ein schweres Hüftleiden diagnostiziert. Später waren Asthmaanfälle dazu gekommen; viele Klinikaufenthalte folgten. Dann hatten wir den Hausbau in unserer alten Heimat in Angriff genommen und zogen von Bayern wieder zurück nach Lahnfeld. Bei Peter wurde mit neun Monaten ebenfalls eine Hüftdysplasie festgestellt und somit kämpfte ich an zwei Fronten. Richard hielt sich aus allem heraus und forcierte nur seine Karriere. Wir hatten ein schönes Haus mit Garten in einem Vorort. Ein Holzgartenzaun begrenzte unser Grundstück, und liebevoll hatte ich einen Bauerngarten angelegt. Es duftete, je nach Jahreszeit, nach Rosen, Lavendel, Thymian und Jasmin. Er war mein ganzer Stolz und ein Ausgleich zu den anstrengenden Nächte und der Pflege der Kinder. Mittendrin auf dem Rasen haben eine Holzschaukel und ein Sandkasten gestanden, was für meine zwei Kleinen ein Paradies darstellte. Eine wundervolle Idylle, die plötzlich durch die Erkrankung meines damaligen Mannes zerrissen wurde.
Richard erkrankte sehr schwer. Eine Welt stürzte für mich ein.
»Ich muss Ihren Mann sofort auf die Intensivstation verlegen. Auf dem MRT-Bild erkennt man deutlich einen Gehirntumor.« Der junge Assistenzarzt hatte mir die niederschmetternde Diagnose auf dem Krankenhausflur der Notaufnahme übermittelt. Er starrte an mir vorbei.
»Hätte ich Sie nicht zum MRT aufgefordert, nachdem Sie mir die Blutwerte zeigten und der LDL-Wert massiv erhöht ist, wären Sie nie auf die Idee einer MRT-Aufnahme gekommen. Bitte veranlassen Sie den sofortigen Transport nach Karlsruhe oder Mannheim. Hier bleibt mein Mann nicht.« Aufgebracht fuchtelte ich mit den Händen vor seinem Gesicht herum.
»Wie Sie möchten. Es tut mir leid. Ich werde sofort telefonieren, wohin wir Ihren Mann verlegen können.« Mit eingezogenen Schultern wendete sich der junge Arzt ab und ließ die Tür während seines Telefonats offen.
In Windeseile rief ich meine Eltern an, die bei uns zuhause auf die Kinder aufpassten. Mit meinem eigenen Auto und meinem Vater fuhr ich dem Krankenwagen hinterher, der auf dem Weg mit Richard in die Kopfklinik nach Mannheim war.
Am nächsten Tag operierten die Ärzte sofort den Gehirntumor meines Mannes. Anschließend musste er für Wochen in eine Rehabilitationsklinik, aus der er frühzeitig entlassen wurde, um erneut operiert zu werden. Ich besuchte ihn regelmäßig, sprach mit Ärzten und hielt Kontakt mit unseren Freunden, die ebenso in die Reha-Klinik fuhren, um ihn zu besuchen. In dieser Zeit bin ich eindeutig über meine Grenzen gegangen, überlegte ich in diesem Moment meines Rückblicks. Durch enormen Stress und seelische Belastungen kann eine Krankheit, wie die Multiple Sklerose, ausbrechen. Diese Erkenntnis half mir jetzt aber nicht weiter. Denn es kam vor vier Jahren zum Supergau.
Ohne Ankündigung zog Richard aus unserem Haus zu seinen Eltern und verschwand aus unserem Leben.
Ein Familienkrieg zwischen uns und den Eltern meines Vaters entfachte, Richard krank und vom Charakter devot, fügte sich ihren Wünschen. Conny erzählte mir kurz vor ihrer Abreise: Es war kaum auszuhalten und ich flüchtete in meine eigene Welt. Meine ach so netten Großeltern, die ich gerne nur mit Vornamen anspreche, machten dir, Mama und somit auch uns, das Leben zur Hölle. Unser schönes Haus wurde verkauft und wir zogen in diese verhasste Dachwohnung, beengt und ohne Garten. Zum Glück hast du nicht mehr im Hallenbad als Putzhilfe gearbeitet, sondern bekamst zeitgleich eine Halbtagsstelle in deinem Beruf als MTA. Blöd waren nur die Nacht- und Wochenenddienste. Oma und Opa versorgten uns ja, wenn du arbeiten musstest, und wir übernachteten viele Abende bei ihnen. Das fand ich echt toll. Sie verwöhnten uns und waren echt ein Halt in dieser schweren Zeit …
Das Familienleben mit Richard war zerbrochen und nichts war mehr wie vorher.
°Conny°
Der Anflug auf die Ostküste der USA und New York war unbeschreiblich. Auf dieser Seite der Erde war es erst 12:38 Uhr, aber ich gähnte mit den restlichen Passagieren um die Wette. In Frankfurt um 7:35 Uhr losgeflogen, landeten wir um 9:40 Uhr in London. Weiter ging es nach zweistündigem Aufenthalt, dann über den Teich und schon wieder war Mittagsessenszeit. Ich hatte tatsächlich fast den ganzen Flug geschlafen, außer die Momente der Mahlzeiten. Trotzdem fühlte ich mich wie gerädert. Aufgeregt bangte ich um mein Gepäck und das, was ich von meinem Fenster aus sah, entschädigte mich für jede Müdigkeit. Ich hielt den Atem an. Dort unten erblickte ich zum ersten Mal die Freiheitsstatue und die Skyline von Manhattan. »Wow, Constanze, der Anfang ist gemacht. Amerika, ich komme!« sprach ich zu mir selbst.
Der Kapitän machte eine Ansage: »Verehrte Gäste, in circa zehn Minuten landen wir auf dem John F. Kennedy International Airport. Es ist jetzt 12:41 Uhr, bei angenehmen 19°C. Die gesamte Crew bedankt sich bei ihren Passagieren und wir wünschen Ihnen einen unvergesslichen Aufenthalt.«
»Bitte sind sie so nett und legen sie ihre Handtasche unter den Sitz.«
Die Stewardess meinte mich und riss mich aus meinen Tagträumen. Sie lächelte und warte bis ich Gesagtes ausgeführt hatte.
Wir landeten und plötzlich kam ich mir doch recht verloren vor. Schon beim Anblick auf New York grummelte mein Bauch. Ich bekam weiche Beine, als ich die unbeschreiblich großen Hallen und Gänge sah. Allen Kulturen dieser Welt begegnete ich, während ich zur Gepäckausgabe lief. Neben mir wurde französisch gesprochen, dann huschte ein spanisch sprechendes Pärchen an mir vorbei, die Sprachen wechselten mannigfaltig von russisch zu italienisch. Zurzeit verstand ich kaum Deutsch, so verwirrt und verängstigt war ich plötzlich.
»Excuse me!« Es hatte mich jemand angerempelt und schon war dieser Unbekannte in der Menge verschwunden.
Constanze beruhige dich, geh zur Passkontrolle, dann dein Gepäck holen und bring den Zoll hinter dich. Danach ab ins Hotel. Du brauchst dringend eine Dusche und eine Mütze Schlaf.
Mit meinen zwei Koffern stand ich zwei Stunden später vor der Ankunftshalle, nachdem ich die Immigration durchlaufen hatte, um überhaupt in das Land einreisen zu dürfen. Ich kramte meine Notizen aus der Tasche. Zu Hause am PC hatte ich mir die Bus- und Zugverbindungen herausgeschrieben, was jetzt eine große Hilfe war.
»Entschuldigen sie bitte. Ich suche die Haltestelle ´Jamaica` der Air Train.«
Ich sprach ein Ehepaar an, das an einem Taxistand wartete und sich in meiner Sprache unterhielt.
»Sie gehen hier nach rechts, nach circa hundert Metern kommt eine Rolltreppe, die führt sie zur Air Train nach unten. Unten sehen Sie dann das Hinweisschild zur Haltestelle ´Jamaica`.«
»Vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen.«
Ich schnappte mein Hab und Gut und ging in die gezeigte Richtung. Nach etwa fünf Minuten saß ich endlich im Zug nach New York City. Mein Hotel lag im zentralen Bereich von Brooklyn. Unterwegs musste ich nochmals umsteigen, dann traf ich vollkommen erschöpft und müde im "The New York Loft Hostel" ein. Welch hektische Stadt habe ich mir denn hier ausgesucht? Der Lärm dröhnte mir in den Ohren und mit letzter Kraft und gestammeltem Englisch meldete ich mich an der Rezeption an.
»How are you?«, begrüßte mich eine nette Frauenstimme.
»Hello. Mein Name ist Constanze Winterstein. Ich habe ein Einzelzimmer für fünf Tage in ihrem Hostel gebucht. «
»Hier gebe ich Ihnen das Anmeldeformular, das Sie bitte ausfüllen. Ich benötige bitte Ihren Reisepass. Sie haben das Zimmer Nummer 308 im 3. Stock. Der Aufzug befindet sich dort am Ende der Halle.«
»Vielen Dank.« Mehr brachte ich nicht mehr über die Lippen. Zu müde war ich in der Zwischenzeit und wollte nur noch schlafen.
»You are welcome«, wurde ich freundlich verabschiedet.
***
Am nächsten Morgen war ich schon um sechs Uhr wach. Gemütlich ging ich duschen. Das große Badezimmer am Ende des Flurs hatte ich um diese Uhrzeit noch für mich alleine. Schnell waren die Haare geföhnt und ich ging zum Frühstück nach unten.
»Hier ist ja mächtig was los!«, murmelte ich vor mich hin. Der Frühstücksraum war um diese Uhrzeit offensichtlich von den Nachteulen gut besucht. Kleine bunte Tische waren arrangiert direkt neben dem großen Buffet an der hinteren Wand des großen Raums. Große Fenster sorgten für viel Licht und Pflanzen als Abgrenzung zwischen den Tischgruppen für Behaglichkeit. Leise Musik spielte im Hintergrund.
»Hi, ich bin Conny, ist bei euch noch ein Platz frei?«
»Klar, wir gehen jetzt schlafen, waren die ganze Nacht in der City unterwegs.«
»Wow. Und mächtig getankt, was?! Könnt ihr mir noch einen Tipp geben, womit ich heute und um diese Zeit mit dem Besichtigen von New York beginnen könnte?«
Eines der Mädchen antwortete mir: »Ich würde dir empfehlen, nach dem Frühstück gleich zur Freiheitsstatue zu fahren. Dann ist dort noch nicht so viel los. Ach ja, ich bin Peggy«, und schon war sie verschwunden.
Gesagt, getan! Aber zuvor schrieb ich meiner Mutter noch eine kurze Mail an einem PC, der allen Gästen zur Verfügung stand. Sie sollte wissen, dass ich gut angekommen war und in einem netten Hotel wohnte.
Kurze Zeit später gegen 8:00 Uhr lief ich zwei Blocks weiter zur U-Bahn und fuhr bis zur Brooklyn Bridge. Die ersten Sonnenstrahlen zeigten sich zwischen den hohen Häusern. Ein besonderer Großstadtgeruch lag in der Luft. Ich überquerte die Brücke, die mit einer beachtlichen Länge die Stadtteile Manhattan und Brooklyn verbindet. Unter der Brooklyn Bridge fließt dunkel und dominant der East River und der Blick auf die Skyline von Manhattan war spektakulär. Zu Fuß ging ich beschwingt weiter zum New Yorker Hafen und dort bestieg ich die Fähre ´attery Park – Liberty Island´, Richtung New York. Die Fahrt und der Fußweg zur Fähre waren unbeschreiblich aufregend. Fremde Sprachen erreichten mein Ohr. Ich hatte noch nie so eine laute, pulsierende Stadt erlebt. Überall eilende Menschen, Autogehupe, Leuchtreklamen, die auch am Tage leuchteten, und gigantische Werbetafeln. Die Gerüche waren mir so fremd und wieder beschlich mich das mulmige Gefühl, das mich schon beim Landeanflug heimgesucht hatte. Doch ich schritt weiter meines Weges und sprach mir selbst Mut zu. Du hast es so gewollt, nun musst du auch hier durch, mit allen Vor- und Nachteilen.
Von der Fähre aus hatte ich einen sagenhaften Blick auf die Skyline von New York. Es waren Gebäude, die in den Himmel wuchsen, so schien mir. Der Hudson River glitzerte im Morgenlicht. Weiße kleine Schaumkronen zeigten sich im Wasser, und die Gischt spritzte an beiden Seiten des Schiffs bis zur Reling hoch. Die Luft war warm und der Wind strich mir zärtlich um den Kopf, so als ob er mein aufgewühltes Inneres beruhigen wollte. Peggy hatte Recht, es waren erst wenige Touristen unterwegs, und die meisten New Yorker waren offensichtlich schon bei ihrer Arbeit.
Dann sah ich sie, die Freiheitsstatue, genannt ´Statue of Liberty`. Wow. Um mich herum verstummten die Gespräche und ein Raunen ging durch die Menge. Die imposante Statue kam immer näher, und nach etwa einer halben Stunde Fahrzeit legten wir an der Insel an. Ich schlenderte gemütlich zum Sockel, um mir die vielen Gedenktafeln anzusehen. Aber immer wieder schaute ich über den Hudson River zur Stadt oder zum New Yorker Hafen, die mich magisch anzogen. Anschließend begann ich mit dem Aufstieg im Treppensystem, das mich bis zum Kopf der Statue brachte. Ich fühlte mich betrunken vor lauter Glück. Der Aufgang zur Fackel war leider gesperrt. Erstmals genoss ich den grandiosen Ausblick auf die gesamte Stadt und das anstrengende Treppensteigen war vergessen.
Viele Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich schaute Richtung Europa und dachte an meine Mutter und meinen Bruder. Was beide wohl gerade tun würden? Es war dort schon Abend. Ich vermisste sie sehr. Schmerzlich zog sich mein Herz zusammen. Ach hätte ich sie beide jetzt doch an meiner Seite und wir könnten zu dritt diese Reise erleben. Für Mama wäre so eine Reise zu anstrengend - sie würde sicher ständig über ihre Grenzen gehen, um mit uns beiden mitzuhalten. Auch der Jetlag, der nach dem Rückflug nach Deutschland nicht ausbleibt, würde ihre Kräfte übersteigen. Aber sie würde solche Momente wie hier in diesem Augenblick sicher genießen.
Direkt nach dem Abstieg kaufte ich Ansichtskarten. Ich schrieb diese an meine kleine Familie und meine Großeltern, erzählte ihnen von meinen ersten Eindrücken, während ich mir ein verspätetes Mittagessen in einem kleinen Lokal gönnte, das ich auf dem Rückweg zum Hotel in Chinatown entdeckt hatte. Auch in diesem bunten lauten Stadtteil pulsierte das Leben, exotisch und fremd. Satt, zufrieden und auch ein bisschen kaputt nahm ich die U-Bahn und kehrte zur Herberge zurück. Ich gähnte und stellte fest, dass ich inzwischen zu müde war, um mich den anderen im Aufenthaltsraum anzuschließen, nur bei Peggy schaute ich kurz vorbei.
***
»Hi, Peggy. Mensch, bin ich geschafft. Es war echt ein guter Tipp von dir, dass ich so frühzeitig zur Freiheitsstatue gehen sollte.«
»Ja, wir hatten am Montag den Fehler gemacht, erst mittags hinzufahren und da war die Hölle los.«
»Peggy, du sprichst so gut deutsch mit wenig Akzent. Woher kommst du eigentlich, Skandinavien oder so?«
»Danke. Aus Norwegen bin ich, aus einem kleinen Nest in der Nähe von Oslo. Ich hatte vier Jahre Deutsch in der Schule und dieses Jahr machte ich meinen Abschluss. Im Herbst gehe ich nach Oslo, um Medizin zu studieren.«
»Ehrlich? Ich werde hier zwei Semester Englisch studieren und anschließend zuhause auch Medizin!«
»Das ist ja ein Zufall!«
Nachdem wir uns umarmt hatten, verabredeten wir uns zum Frühstück am kommenden Tag. Wir wollten dann zusammen zum Solomon R. Guggenheim Museum und anschließend in den Central Park.
***
Beschwingt starteten Peggy und ich am nächsten Morgen, spazierten nur wenige Straßen über eine Brücke zur U-Bahn 495. Der Himmel zeigte sich wieder von seiner freundlichsten Seite, trotz der frühen Morgenstunde. Nach nur kurzer Fahrzeit nahmen wir den Ausgang ´96th Street` und landeten in der Nähe des Central Parks mitten in Manhattan. Von überall her empfing uns Lärm. Polizisten, die mit gellenden Pfeifen den Verkehr regelten, Hupen, hetzende Menschen, die irgendein Ziel anstrebten. Wie im Irrenhaus! Nichts auf Dauer für mich, dachte ich entnervt. Wir spazierten an riesigen Bäumen entlang, und auf der gegenüber liegenden Seite zeigten sich prachtvolle viktorianische Häuser. Mittlerweile hatten wir sommerliche Temperaturen, kein Wölkchen war am stahlblauen Himmel zu sehen. Wir lachten ausgelassen und erzählten uns die ganze Zeit aus unseren Leben.
»Peggy, lass uns eine Pause machen. Siehst du dort drüber das schöne italienische Eiscafé?«
»Oh ja, dazu hätte ich jetzt auch Lust und zwar auf einen großen Früchtebecher.«
An der nächsten Ampel überquerten wir die Straße und nahmen in dem einladenden Eiscafé Platz.
»Was darf ich den Damen bringen?«
Ein gut aussehender Mann trat an unseren Tisch, dabei lächelte er uns fragend an.
»Ich nehme einen großen Früchtebecher«, sagte Peggy.
»Und ich bitte einen Erdbeerbecher.«
Kaum war er verschwunden, um sich um unsere Bestellung zu kümmern, kicherten wir und erzählten uns unsere bisherigen Begegnungen mit dem anderen Geschlecht. Peggy hatte schon zwei Freunde gehabt, sie war im Frühjahr neunzehn Jahre alt geworden.
»Kurz nach meinem Geburtstag erwischte ich Sören mit meiner besten Freundin. Das tat weh, kann ich dir sagen! Elin kannte ich seit dem Kindergarten und wir waren unzertrennlich - aber nur bis zu diesem Moment! Stell dir vor, in unserem Garten hinter einem großen Kastanienbaum küssten sie sich mehr als nur leidenschaftlich - und das an meinem Geburtstag! Dieses Biest, dieser Idiot! Ich war echt geschockt und schloss mich dann auf meinem Zimmer ein. Die Party war gegessen. Drei Tage später machte ich Schluss - per SMS. Diesem Typ wollte ich nicht noch einmal begegnen und Elin schrieb ich eine saftige Mail. Deswegen bin ich auch hier, um auf andere Gedanken zu kommen. Gleichzeitig etwas Cooles zu erleben.«
Peggy hatte kaum Luft geholt, ich sah, dass sie mit ihrer Fassung rang.
»Das tut mir echt leid, aber so etwas Ähnliches habe ich auch erlebt. Lucas war mein erster Freund. Wir waren fast ein Jahr befreundet, dann traf er sich heimlich mit einer Mitschülerin aus meiner Klasse. Dieser Volltrottel! Ein Sportfreund aus seinem Fußballverein sah die beiden eng umschlungen das Kino verlassen. Ich sprach Lucas direkt an, ich tobte. Er gab es sofort zu und meinte: ´Für mich ist es eh aus. Hatte nur vergessen Schluss zu machen.` Kannst du dir das vorstellen, Peggy? Ich hasse ihn.«
Wir beide redeten noch eine Weile, dann bezahlten wir bei dem gutaussehenden Kellner, der mit viel Charme die Rechnung brachte. Klar, bei den Preisen musste man überfreundlich zu den Kunden sein, um wenigstens etwas Trinkgeld zu erhaschen, denn davon lebten die Bedienungskräfte dort ja hauptsächlich.
Ich hängte mich bei Peggy unter und wir schlenderten zum Guggenheim Museum, das nur wenige hundert Meter um die Ecke lag. Wirklich ein Meisterwerk an moderner Architektur. Der Anblick war atemberaubend und ein krasser Gegensatz zum tobenden Leben ringsherum. Im Innern hatte der Architekt terrassenförmige Etagen angelegt, auf denen die Kunstwerke renommierter Künstler wie Chagall, Kandinsky, Picasso und van Gogh ausgestellt waren. Überall schuf der Bauherr eine Parallele zur Natur und geometrische bauliche Figuren standen im Vordergrund. Der helle Wahnsinn.
Wir fuhren mit dem Aufzug zur höchsten Ebene der spiralförmigen Rampe und liefen an den Kunstwerken vorbei nach unten. Kein Sonnenlicht fiel trotz Glaskuppel auf die Gemälde und trotzdem bekamen sie durch die Bauart des Gebäudes ein ganz besonderes Licht.
Peggy und ich waren sehr beeindruckt von diesem großartigen Monument und den vielen berühmten Gemälden, laut Reiseführer eine der weltweit besten Kunstsammlungen des 20. Jahrhunderts.
»Conny, ich brauche eine Pause und frische Luft. Wir sind jetzt schon fast drei Stunden hier. Ich kann keine Bilder mehr sehen«, sagte Peggy zu mir und schnitt dabei eine Grimasse.
»Habe auch keine Lust mehr. Komm, lass uns wieder in den Central Park gehen und dort etwas in einem gemütlichen Gartenlokal essen.«
In wenigen Minuten spurteten wir zu dem größten, künstlich angelegten See im Park und erwischten noch die letzten zwei Plätze in einer Gaststätte im Freien - bei uns würde man jetzt sagen, Biergarten. Da war es wieder das Gefühl von Sehnsucht und Alleinsein.
Ich fragte: » Hast du auch so Heimweh? Irgendwie habe ich etwas Angst. Ob ich das, was ich vorhabe, auch schaffen werde?«
»Du musst dir etwas Zeit lassen, du bist ja erst kurz hier. Verlangen nach zuhause habe ich nicht. Eher bin ich froh, von diesem Mistkerl Sören tausende von Kilometern entfernt zu sein. Lass uns ein Gläschen Wein bestellen und etwas Leckeres zum Essen, dann wird es dir bald besser gehen.«
»Wenn ich in Zukunft bei jedem Heimweh etwas essen und Alkohol trinken soll, dann kannst du mich in ein paar Wochen rollen und ich muss zum Entzug.« Wir lachten herzlich und ich war von meinen trüben Gedanken abgelenkt.
Peggy und ich verabredeten, dass wir, wenn sie wieder zuhause war, einmal im Monat skypen wollten. Im nächsten Jahr planten wir uns zu besuchen, egal wo die eine oder andere sein sollte. »Wir lassen es einfach auf uns zukommen«, sagte ich zu meiner neugewonnenen Freundin.
***
Am späten Nachmittag, die Hitze ließ endlich nach, traten wir den Rückweg zum Hotel an. Dieses Mal fast komplett mit der U-Bahn, nur die beiden letzten Straßen mussten wir zu Fuß marschieren.
»Conny, ich gehe jetzt erst mal eine Runde schlafen und duschen, dann treffen wir uns unten im Loft zum Abendessen und chillen, ja?«
»Gerne, denn dasselbe werde ich auch tun, schlafen und dann duschen! Spielt nicht heute eine Live-Band?«
»Doch, so eine amerikanische Newcomer Band. Bin gespannt. Bis später!«
Kaum lag ich auf meinem Bett, tauchte ich in einen traumlosen Schlaf ein. Frisch und munter wachte ich zwei Stunden später auf. Überall im Hostel hörte man Stimmen und die Duschen liefen auf Hochtouren. Ein Blick zur Uhr zeigte mir, dass ich mich beeilen musste. Nach dem Duschen zog ich noch schnell eine frische Jeans und eine Kurzarmbluse an und warf mir einen Pulli über die Schultern.
Heute gab es Spaghetti Bolognese und für die Vegetarier kochten sie eine riesige Schüssel mit Tomaten-Gemüse-Soße. Wie das schon duftete!
»Hallo Conny, hier!« Peggy winkte. Sie saß bereits am Tisch bei ihren drei Freundinnen, mit denen sie eigentlich hier in New York zehn Tage verbrachte.
»Hallo, ich bin Conny.« Ich schüttelte allen die Hände und schnell waren wir miteinander bekannt. Nach dem leckeren Essen hörten wir uns noch eine Weile die Band an, wobei Country nicht unserer Musikrichtung entsprach. Einen Absacker nahmen wir im King´s County, einer typisch amerikanischen Bar, mit gemütlichem Hinterhof und guten Preisen, in der Nähe des Hotels. Gegen Mitternacht verabschiedeten wir uns wehmütig von diesem Ort, in dem das Nachtleben von New York nur so pulsierte.
»Gute Nacht, Mädels.« Lachend und etwas zu laut gingen wir auf unsere Zimmer, um uns am nächsten Morgen gegen acht zu treffen. Wir hatten zu fünft einen Ausflug zum Empire State Building geplant.
***
Nach dem Frühstück nahmen wir wieder die U-Bahn 495 und spazierten die letzten zwei Blocks zu Fuß. Unschlüssig wurden einige von uns langsamer und wir liefen prompt ineinander.
»Hey! Was ist?«, fragte ich.
»Da vorne, schaut doch nur!«, rief Manuela und zeigte nach oben.
»Tatsächlich! Das Empire State Building!«, schrie Petra fast hysterisch.
Um uns herum schüttelten die vorbeieilenden Fußgänger nur den Kopf. Wir hielten den Atem an und genossen den grandiosen Anblick dieses Gebäudes. Kein Wunder, dass es sich hierbei um eine der schönsten Attraktionen New Yorks handelte.
»Los, gehen wir, ich kann es kaum erwarten«, trieb ich die anderen zur Eile an. So schnell wir konnten, überquerten wir die Straße, kein leichtes Unterfangen bei dem Verkehr, noch einmal um die Ecke und wenige hundert Meter später standen wir direkt vor dem Empire State Building. Wie auf Kommando legten wir unsere Köpfe nach hinten um die Spitze zu erkennen, was natürlich aus dieser Perspektive unmöglich war.
Ein freundlicher Aufzugpage fuhr uns nach dem Vorzeigen des New York Passes bis zur berühmten Aussichtsplattform, fast vierhundert Meter über der fünften Straße. Welch ein Nervenkitzel!
Schon Meg Ryan im Film „Schlaflos in Seattle“ drehte hier oben und als wir nun auf die Aussichtsplattform traten, wussten wir warum!
Uns bot sich ein atemberaubender Blick über ganz New York und laut Reiseführer bis zu den angrenzenden Bundesstaaten. Der Himmel zeigte sich von seiner schönsten Seite, keine Wolken und die Sicht so klar wie Kristalle. Wir standen über dem 102. Stockwerk und die Menschen und Häuser waren klitzeklein, sahen fast wie Ameisenstraßen aus. Ich bekam eine Gänsehaut!
»Conny, kneif mich mal.« Peggy war neben mich getreten. »Aua, nicht so fest!«
»Man kann es dir wohl nicht recht machen«, lachte ich sie an.
»Habt ihr auch den Film „Schlaflos in Seattle“ gesehen?« Sabine schwärmte und träumte mit verklärtem Gesicht. »Ach wenn doch nur jetzt so ein toller Mann um die Ecke käme.« Wir lachten und umarmten uns glücklich.
»Schaut mal dort!« Petra flüsterte uns zu. »Dein Wunsch geht in Erfüllung, Sabine.« schmunzelte Manuela.
Tatsächlich. Ein gut gekleideter Mann, nur etwas älter als wir, schlenderte über die Aussichtsplattform. Alleine. Gehen Wünsche so schnell in Erfüllung?
Sabine war nun zur Salzsäule erstarrt und konnte nur noch mit offenem Mund staunen.
Er kam direkt auf uns zu!
»Können die Damen mir vielleicht weiterhelfen?«, lächelte er uns charmant an. Er sprach deutsch. Die Erste, die ihre Sprache wieder fand, war ich. »Was wollen sie denn gerne wissen. Ich bin übrigens Constanze und das sind meine Freundinnen aus Norwegen.«
»Ich heiße Thomas, bin nur drei Tage in New York und möchte gerne mit meiner Familie in der Nähe essen gehen. Kennen sie sich hier aus?«
Fünf Gesichter blickten Thomas enttäuscht an.
»Nein, ähm … wir wohnen in Brooklyn und sind heute auch das erste Mal hier in diesem Stadtteil.«
»Okay, aber trotzdem vielen Dank und einen schönen Aufenthalt.«
Hinter Thomas war eine gutaussehende Blondine, mit einem kleinen Kind an der Hand, hervorgetreten. Wie aus dem Ei gepellt, die beiden! Sie verabschiedeten sich und wir umrundeten die Plattform mit etwas gedämpfter Stimmung.
»Wir lassen uns doch jetzt nicht die Laune verderben. Kommt Zeit, kommt ... ähm Mann!«, sprach Manuela und zwinkerte uns zu.
Sie hatte Recht. Wir waren ja nicht in diese Stadt gekommen, um Männer zu finden. Nachdem wir etliche Fotos von New York, einzeln von uns und in der Gruppe gemacht hatten, ging es nach längerer Wartezeit mit dem selben freundlichen Aufzugpagen nach unten auf die fünfte Straße zurück.
Wir hatten noch eine Shoppingtour in die Outlet Mall geplant, denn die Mädels wollten günstige Klamotten mit nach Hause nehmen und ich konnte ´eh einiges gebrauchen. Sehr viel hatte ich für ein Jahr Aufenthalt von zuhause nicht mitnehmen können und was wäre denn New York ohne Shoppen! Da waren wir uns schnell einig geworden und gerade diese Mall war bekannt für günstige Schnäppchen.
Kaum raus aus dem Ausgang des Empire State Buildings fuhren wir von Manhattan mit dem New York Subway zur 42. Straße zum Busbahnhof. Die Linie B brachte uns in nur dreißig Minuten nach New Jersey, dort noch einmal umsteigen in den Bus und dann waren wir an der Jersey Gardens Mall.
»Verspätetes Mittagessen, Mädels?«, fragte Petra, »auf einem Bein kann man nicht stehen und shoppen schon gar nicht.«
Vergnügt steuerten wir den nächsten McDonald´s an und jeder bestellte etwas anderes, um gegenseitig zu probieren. Noch schnell ein Softeis in die Hand und ab ging es zur Shoppingmeile.
***
Drei Stunden später:
»Meine Füße brennen wie der Teufel.« Petra setzte sich auf den nächsten Pfosten, der am Weg stand.
»Und ich bin blank wie eine Kirchenmaus, aber eingedeckt bis zur nächsten Steinzeit«, stöhnte Manuela.
»Peggy und mir geht es nicht anders.«, warf ich dazwischen.
»Wo ist Peggy überhaupt, Conny?«, fragte Sabine und schaue sich suchend um.
»Sie musste noch unbedingt in dieses Wäschegeschäft, aber ich bin platt wie eine Flunder, todmüde und doch so glücklich über meine Schnäppchen.« Ich grinste vor mich hin.
»Huhu, Mädels! Mensch, ich habe einen Deal gemacht mit der Verkäuferin. Zwei BH-Sets zu dreißig Dollar. Ich kann es nicht glauben. Meint ihr, das ist wirklich von Calvin Klein?«
»Peggy, klar, das könnten die sich hier nicht erlauben! Imitate ... du hast Ideen!« Manuela und Petra schüttelten gleichzeitig ihre Köpfe.
»Wollen wir nicht wieder Richtung Hostel? Ich habe genug für heute. Es ist auch bald Abendessenszeit.«, fragte ich in die Runde und stand von der Bank auf, von der ich lieber gar nicht mehr aufstehen wollte. Die Anderen schwangen sich nun ebenfalls auf und wir traten den langen Weg mit Bus, U-Bahn und unseren Füßen an, um ziemlich fertig gegen zwanzig Uhr in der Herberge einzufallen. Jede von uns brachte ihre Tüten auf ihr Zimmer, dann aßen wir in dem kleinen italienischen Restaurant nebenan Pizza, tranken dazu Bier und danach war Feierabend.
Todmüde fiel ich auf mein Bett. Welch wunderschöner Tag heute doch gewesen war. Ich hatte schon viel gesehen in meinen jungen Jahren. Erst zusammen mit den Eltern, später mit Peter und Mama und seit zwei Jahren auch mal alleine nach Norwegen und England auf Sprachreisen. Meine Gedanken schweiften ab. Sie gingen über den Ozean, so als ob sanfte Wellen sie über das Meer trugen. Ich versetzte mich nochmals hinein in mein früheres Leben, als würde es gerade passieren. Ich hörte Mamas Stimme, sie erzählte gleichzeitig mit den Händen, ihre Sprache ist lebendig, der Raum um mich herum verschwamm. Ich fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.