Читать книгу Frauenpower trotz MS Teil 1 - Caroline Régnard-Mayer - Страница 6
„Der Diagnose-Schock“
ОглавлениеAm 17.02.04 kam ich nun mit zwiespältigen Gefühlen, mit einer großen Angst vor der Wahrheit, auf der anderen Seite mit positivem Denken - mich wird es schon nicht treffen - im Klinikum Ludwigshafen Neuro 1 an. Mein Vater fuhr mich in die Klinik. Von nun ab war ich auf mich alleine gestellt.
Es folgten endlose Untersuchungen von EEG, Blutentnahme, SEP, AEP und vieles mehr. Nichts verstand ich von all dem — heute bin ich fast Weltmeister im Verstehen! Ausführliche Gespräche über meine Symptome der letzten Jahre folgten.
Am zweiten Tag erfolgte dann die Lumbalpunktion. Einmal und nie mehr!!!
Ich hatte solch eine Angst und dann das Gefühl der Nadel in meinem Rückenmark, nicht in Worten zu beschreiben. Die Assistenzärztin musste noch sehr unerfahren sein nach dieser Folterprozedur, ihren Schweißperlen auf der Stirn und ihrem plötzlichen Verschwinden zu urteilen. Anschließend befolgte ich den Rat der Ärzte, 12 Stunden zu liegen und viel zu trinken, aber aus den wenigen Stunden wurden noch fünf Tage Bettruhe. Denn ich bekam nach der Punktion solche unerträglichen Kopfschmerzen, die nicht an meine schlimmsten Migräneanfällen herankamen. Zum Glück ging es meiner Bettnachbarin Katja auch so, sonst hätte ich an mir gezweifelt.
Die kommenden fünf Tage verbrachten wir im Liegen mit Essen, Erzählen und Hoffen.
Mit Katja, die am selben Tag die Diagnose erhielt, verbindet mich heute eine Freundschaft mit allen Höhen und Tiefen. Bei meinen schlimmsten Schüben steht sie immer an meinem Klinikbett.
Nun hieß es abwarten, und die Ergebnisse ließen auf sich warten, da es das Faschings-wochenende war. Helau!
Eigentlich habe ich es ja geahnt, aber als der Oberarzt mit drei Assistenzärzten am 21.02.04 vor meinem Bett stand, war es doch ein unbegreiflicher SCHOCK.
Ich hatte MS.
Vor den Ärzten behielt ich die Fassung, beruhigte sie noch, weil sie so anteilnehmend waren. Ich dachte, die reden über jemand anderen, aber doch nicht über mich!! Aber dann ...
Katja und ich weinten zusammen, jeder für sich und doch auch um die andere.
Was man in solch einem Moment empfindet, wenn man über eine unheilbare Erkrankung erfährt, ist fast unmöglich in Worte zu fassen. Schock, Lähmung, Zukunftsangst, tausende von Fragen, nicht begreifen, nichts Greifbares, ein Nebel umgibt einem. Es trifft dann doch nicht immer nur die Anderen!
Eine halbe Stunde später kam mein Vater. Er versuchte die Fassung zu wahren, da er eine starke Persönlichkeit ist. Die nächsten Tränen liefen mir über das Gesicht. Ich nahm meine Tasche und fuhr mit ihm nach Hause zu meiner Mutter und meinen Kindern.
Ich sah alles nur durch einen Schleier, versuchte gefasst meinen Kindern gegenüberzutreten, da sie mich nur als starke Mama kennen und sehr klein waren. Meine Mutter versuchte auch die Fassung zu bewahren. Wie es in ihr aussah, kann man sich vorstellen.
Das Mittagessen habe ich überstanden, die Wochen und Monate danach auch. Ich saß an diesem „ersten“ Abend alleine auf der Couch, die Kinder schliefen. Mein Blick war ausdruckslos, mein Körper erstarrt. Ich fühlte mich wie in einer leeren Hülle. Regungslos und absolut unfähig, überhaupt zu begreifen.
Nach den vielen Jahren der Suche meiner Symptome hatte das Ganze endlich einen Namen. Aber welch einen Namen: Multiple Sklerose.
Wie in Trance verstand ich auch irgendwie, dass ich damit endlich etwas anfangen konnte und entsprechend handeln.
Am nächsten Tag kaufte ich mein erstes Buch über das Thema MS. Ich wollte alles über diese miese Erkrankung wissen. Was wird sie aus mir machen? Gibt es Medikamente? Welche Therapie? Wie geht es beruflich weiter?
Denn schon montags fing ich eine neue Arbeitsstelle als MTA halbtags mit Wochenend- und Nachtdiensten in der Asklepiusklinik Germersheim an. Irgendwie habe ich es bis zu diesem Montag geschafft, zu funktionieren.
Viele Freunde haben angerufen und mir ihre Hilfe oder Gespräche angeboten. Leider haben sich einige mit Verschlimmerung meiner Erkrankung aus dem Staub gemacht. Aber ich habe noch einige wertvolle Freundinnen mit Anhang, die bis heute zu mir halten. Sie sehen in mir den Menschen, der ich immer noch bin und nicht die MS, die mich seelisch und körperlich verändert hat.
Auch meine Eltern und mein Bruder waren im Schockzustand. Besonders meine Eltern unter-stützten mich sehr.
Mit dem Krankheitsschock musste ich alleine fertig werden. Immer wieder starrte ich stundenlang vor mich hin.
Mein erster Arbeitstag verlief gut, ich war abgelenkt. Leider hatte ich Ende März meinen nächsten Schub. Mir fiel ständig etwas aus der Hand. In den Armen hatte ich Taubheitsgefühle, und ich hatte Konzentrationsprobleme. Mein Neurologe verschrieb mir orales Cortison, damit ich weiterarbeiten konnte. Begriffen hatte ich damals nicht, warum ich es nehmen soll und habe auch zu spät die Symptome bemerkt, die sich vor einem Schub ankündigen. Denn immer noch glaubte ich nicht an meine unheilbare Erkrankung, die mich ein Leben lang begleiten sollte.
Im Labor für meine Kollegen hatte ich eine Nervenentzündung, da mein Mondgesicht am Morgen nicht zu übersehen war. Ich konnte mit der Krankheit noch nicht umgehen, hasste sie. Die ersten Anzeichen eines Schubs übersah ich damals noch.
Da ich trotz allem sehr schnell eingearbeitet war, selbst im Röntgen und im neu erlernten EKG-Bereich, wurde ich umgehend für Nacht- und Wochenenddienste eingesetzt.
Ich wollte unter allen Umständen im Beruf bleiben und versuchte vier Monate das „Normale“ aufrecht zu erhalten.
Mein nächster Schub im Juni kostete mich meine Arbeitsstelle, da ich noch in der Probezeit war. Hätte ich doch damals schon einen Schwerbehindertenausweis gehabt!
Ich hatte Gleichgewichts- und Sensibilitätsstörungen, Sehprobleme, Gangunsicherheit, Missempfindungen in den Beinen und Armen, konnte kaum die Treppe in unsere Dachwohnung laufen. Ich wurde krankgeschrieben, bekam 5x1000mg Cortison und zur Krönung des Ganzen die Kündigung.
Ich verstand zwar auch meinen Arbeitgeber, aber trotzdem kam ich mir wie weggeworfener Müll vor, als Mensch entwertet, der vielleicht nur vorübergehend keine Leistung bringen konnte, überflüssig, und ich verfluchte meine MS. Noch in dieser Zeit hoffte ich, dass das Klinikum anrufen würde und mir mitteilen, dass sie die Blut- und Liquorproben vertauscht hätten. Ich weiß, dass es irrational und befremdend für den Leser ist, aber die Hoffnung stirbt zuletzt.
Ich verstand die Welt nicht mehr, mich am wenigstens, bemitleidete mich, war unausstehlich.
Außer mich schonen und das Cortison wirken zulassen, konnte ich nicht viel tun. Ich wartete auf eine Rehabilitationsmaßnahme. Während dieser Zeit suchte ich mir mit den Kindern eine neue Wohnung im Erdgeschoß, durchstöberte das Internet nach allem, das mit MS zu tun hatte und kaufte Bücher darüber.
Ende Juli fing ich an, Betaferon zu spritzen. Die ersten drei Monate hatte ich jeden zweiten Tag leichtes Fieber, Gliederschmerzen und Schüttelfrost. Bei jeder Spritze dachte ich ans Aufhören. Aber ich hoffte so auf ein schubfreies Leben und kämpfte mich irgendwie durch.
Ich versuchte auf der einen Seite positiv zu denken, auf der anderen Seite fragte ich mich ständig, warum ich?! Dann verschwanden allmählich die Nebenwirkungen. Leider hatte ich noch viele Restsymptome vom Schub und war froh, Mitte September in die Reha nach Bad Buchau/ Schwäb. Alb fahren zu dürfen.
Die neue Wohnung hatte ich ab 1.10. gemietet. Über Umzug und Packen machte ich mir noch keine Gedanken, nur eine neue Küche bestellte ich noch vorrausschauend. Dann machte ich mich auf den Weg nach Bad Buchau!
Ich wollte und konnte es zum damaligen Zeitpunkt nicht begreifen, akzeptieren schon gar nicht. Ich lebe mit ihr oder sie mit mir, aber akzeptieren – Nein! Ich kämpfe gegen sie, jeden Tag auf ein Neues, mal mehr, mal weniger. Ich kann sie nicht bezwingen, und bei jedem Überlisten bekomme ich die Quittung. Aber wir beide versuchen, miteinander auszukommen, mal mehr, mal weniger.
Die MS war ein Schock für mich,
aber auch ein zweites Leben.
Nicht besser und schon gar nicht schöner,
aber anders, teils interessanter.
Ich habe zu vielen Dingen einen anderen Bezug
bekommen,
Unwichtiges tritt in den Hintergrund,
habe in der Religion viel Trost und Antworten
gefunden,
nehme das Leben intensiver wahr,
habe auch viel einstecken müssen - manchmal zu viel.
Mit der MS kam auch die Einsamkeit, das Verlassenwerden und das Anderssein.
Nach dem Schock kam das Begreifen. Danach käme vielleicht das Akzeptieren, das will ich nicht. Ich hätte das Gefühl mich aufzugeben. Ich weiß auch, dass ich meine Erkrankung nicht besiegen kann, aber ich werde niemals aufgeben, zu kämpfen!
(Anmerkung: Stand 03/2011)
„Man soll nie, nie sagen! Nach Jahren habe ich akzeptiert und es ist gut, so wie es jetzt ist.