Читать книгу Mrs. Livarot hatte etwas von einem Pinguin oder Kreuzfahrt am Ende der Zeit - Carsten Bloch - Страница 3
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ОглавлениеMrs. Livarot hatte etwas von einem Pinguin. Ob es das Watschelhafte ihres Ganges war, ihre hüftlose Statur, ihr schnattriger Sopran, wenn sie Mozart zu intonieren versuchte, oder einfach nur ihre Vorliebe für schwarz-weiße Mode, ließ sich nicht genau sagen. Doch früher oder später ertappte sich jeder an Bord im Angesicht ihrer Körperfülle bei der Frage, wie es wohl den Pinguinen weit unten im Süden gehen mochte.
Wäre ein Pinguin zugegen gewesen, so hätte er vermutlich darauf hingewiesen, dass Mrs. Livarots Lachen eher dem einer Hyäne glich, ihr gepudertes Gesicht eher dem eines Mandrills und ihre Hochsteckfrisuren eher einem Wiedehopf, ihr Auftreten folglich alles andere als pinguinisch war. Denn mit Mrs. Livarot verglichen zu werden, war keinesfalls ein Kompliment. Sie galt als streitsüchtig und taktlos, und die Empfänge, die sie in ihrer Suite gab, zählten zu den langweiligsten im gesamten Oberdeck.
Dass trotz dieser geringschätzigen Beurteilung bezüglich ihres Charakters niemand widersprach, als sie die Schiffbrüchige in der leer gewordenen Kabine neben der ihren einquartieren ließ, lag daran, dass immerhin sie es gewesen war, die das winzige Fischerboot am Horizont entdeckt hatte. Sie war es gewesen, die sich eines Morgens gedankenschwer über die Reling geneigt hatte, eine Packung Butterkekse in der Handtasche, die sie tags zuvor am Kiosk erstanden hatte. Sie war es gewesen, die kurze Blicke nach rechts und links geworfen und sich in unbeobachteten Augenblicken einen Keks in den Mund gestopft hatte. Unbeobachtete Augenblicke deshalb, weil Kapitän Caerphilly erst neulich eine unfreundliche Bemerkung bezüglich ihrer Figur gemacht hatte. Bei jedem anderen hätte es sie nicht weiter gestört, doch der Kapitän, nein, ihm durfte man nicht missfallen. Seine zurückgekämmten weißen Haaren und die dunkelgrauen Schläfen, sein stets zusammengekniffener Mund, der ihr jeden Tag, wenn sie sich beim Frühstücksbüfett über den Weg liefen, sein „Guddenmorgen“ entgegenbrachte, in all dem lag so viel Ausdruck, so viel respekteinflößende Autorität, dass sie gar nicht anders konnte, als ihn zu verehren. Denn auch wenn sie es sich nie eingestanden hätte, Mrs. Livarot brachte Uniformen von jeher eine ehrfürchtige Begeisterung entgegen. Auch ihr inzwischen jenseitiger Gatte hatte die Uniform eines Marines getragen, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte im Supermarkt an ihrer Kasse angestanden. Sie hatte ihn angestarrt und gewusst: Der ist es. Der schnittige Gang, der selbstbewusste Ausdruck in den Augen, die sparsamen Bewegungen. Der oder keiner, das war ihr sofort klar gewesen.
So hatte sie sich geweigert, ihm sein Wechselgeld herauszugeben, wenn er sie nicht zum Tanzen einladen würde. Sie verlor daraufhin ihren Job, da dieses Verhalten in den Augen ihres Vorgesetzten die freundliche Atmosphäre eines frisch geschruppten Supermarkts beeinträchtigte. Doch es hatte auch etwas Gutes, denn Mr. Livarot lud sie aus Mitleid tatsächlich zum Tanzen ein.
Wenn Caerphilly nun in seiner geschmackvollen Kapitänsuniform mit den unauffälligen Mustern in Gold und Dunkelblau, dieser zu Stoff gewordenen Macht, wenn dieser Caerphilly Livarot für zu dick hielt, dann würde sie eben Diät halten. Es war nur so, dass ihr Magen manchmal nach Butterkeksen schrie, und ihrem Magen durfte man nicht widersprechen. Er konnte brüllen und jammern und um sich schlagen, wenn er nicht bekam, was er wollte. Da war es besser, Kekse in sich hineinzuschieben und niemanden sehen zu lassen, dass es mit ihrer Diät nicht so weit her war. Und es war nicht schwierig, ungesehen zu naschen, hatten doch alle Passagiere ihre Liegestühle längst um den Swimmingpool oder den Tennisplatz gruppiert, anstatt auf das Meer hinauszublicken. In der Sonne zu liegen und das Meer zu betrachten, das konnte zwei Wochen lang interessant sein, vielleicht drei oder vier, aber länger nicht. Denn im Grunde gab es nichts, was weniger zusammenpasste als das seichte Hellblau eines sonnenbeschienenen Himmels, dieses Babywäsche-Blau, dieses Geschenkband-Blau, das einen einzulullen versuchte mit seinem kitschigen Grinsen, und das tiefe, dunkle Blau des Meeres, als hätte jemand ein Tintenfass darin ausgegossen, so dunkel, als würde die Tinte noch immer nach Worten suchen, die sie niederzuschreiben hoffte. Es war unpassend und irgendwie langweilig, und deshalb saßen die Passagiere lieber um den Tennisplatz und betrachteten die schwitzenden Körper, die einen gelben Ball verprügelten. Das war das Leben. Nicht eine gelangweilte Welle, die an all die Jahre dachte, die sie noch durch das Meer kriechen müsste, ehe sie jemals einen Strand erreichen würde.
Mrs. Livarot hatte also an ihren Keksen geknabbert und uninteressiert auf das Meer hinausgeblickt, als sie plötzlich einen heiseren, Kekskrümel sprühenden Schrei ausgestoßen hatte, weil der Wind am Horizont nicht mehr nur mit den Wellen, sondern mit einer Nussschale gespielt hatte. Wenig später stellte sich heraus, dass es sich um das gerade noch aus dem Wasser ragende Wrack eines Fischerbootes handelte, aus dem eine halbverdurstete junge Frau geborgen werden konnte.
So war es also nur Mrs. Livarot zu verdanken, dass das arme Mädchen dem Tode entrissen werden konnte und – noch bedeutender – dass die Plaudereien bei Tisch, denen bereits vor Wochen der Gesprächsstoff ausgegangen war, neu belebt, ja sogar gerettet wurden.
An dem Nachmittag nach der wundersamen Rettung, als der Schiffsarzt Schabziger noch die Wunden der Geborgenen pflegte und ihr Infusionen einflößte, bewiesen die Passagiere beim Tee viel Fantasie, was die Herkunft der Unbekannten betraf. Mrs. Chester, eine Frau mit aufgedunsenem Gesicht und billiger Dauerwelle, hielt sie für eine Prinzessin, die vor den Anschlägen ihrer sie hassenden Schwiegermutter geflohen war. Caciocavello, ein einst viel geliebter, doch inzwischen ausrangierter Showmaster, sah in der Fremden ein Bauernmädchen, das davongelaufen war, nachdem ihr Vater es für einen Sack Gold an einen arabischen Pferdehändler hatte verkaufen wollen.
Livarot genoss bei diesen Tischgesprächen die neidischen Blicke, die auf ihr ruhten. Der Kapitän hatte veranlasst, dass kein Passagier die Kabine der Schiffbrüchigen betreten durfte. Lediglich bei Livarot als Mieterin der Kabine hatte er eine Ausnahme gemacht. Die Theorien über die Vergangenheit der jungen Frau bedachte die Amerikanerin nur mit einem abschätzigen Lächeln. Und mit einigen wenig Interesse weckenden Auskünften über ihre Gemäldesammlung und ihren ehemals angetrauten Gatten.
Als erfolgreicher Werbemanager hatte er Mrs. Livarot einst ins Rampenlicht der Öffentlichkeit katapultiert und sie nach der Scheidung mit einem mehr als üppigen Vermögen zurückgelassen. In dieser Situation wäre Livarot in der Lage gewesen, sich ihren Traum von einem ruhigen Landsitz in Florida zu erfüllen, der zuvor die Abende ihres tristen Kassiererinnendaseins jenseits des siebten Glases billigen Gins bevölkert hatte. Eigentlich hätte sie in diesen schon längst vergangenen Tagen auch nur von einer teureren Gin-Marke träumen können, das wäre bodenständiger und ebenso unerreichbar gewesen, doch Bodenständigkeit und Träume passten einfach nicht zusammen. Aber nachdem sie nun einmal am Kelch des dolce vita genippt hatte, wollte sie sich mit banalen Träumereien wie diesen nicht mehr zufriedengeben. Ihre Zeit als Gattin eines Managers des Jahres im Scheinwerferlicht des öffentlichen Interesses, verfolgt von schnarrenden Fotoapparaten und abgebildet in bunten Frauenmagazinen, täglich nach Lieblingsrezepten und Haushaltstipps befragt, diese kurze Zeit hatte sie süchtig werden lassen nach Aufmerksamkeit, nach der Bedeutung, die eine auf sie gerichtete Fernsehkamera ihr gab. Sie wollte niemals wieder in der anonymen Masse der Mittelmäßigkeit untergehen, und sie hatte unschöne Qualen erlitten, als nach dem mehrere Monate nach der Trennung bekannt gewordenen Tod von Mr. Livarot das Interesse an ihr endgültig zerging wie ein Eiswürfel in der Sonne. Die Presse hatte längst andere Frauen entdeckt, die ebenso reich und schillernd waren wie Livarot, dafür aber noch jung und schön.
Livarot hatte versucht, mit rauschenden Festen und mit spektakulären Millionen-Dollar-Projekten die öffentliche Aufmerksamkeit dazu zu bringen, sich mit ihr unter vier Augen zu verabreden. Sie hatte sich sogar vielversprechende, aber mittellose Künstler als Liebhaber gehalten. Es hatte alles nicht geholfen. Schließlich hatte sie es aufgegeben. Sie wusste, dass ihr Reichtum genügte, um zumindest bei einigen Kleingeistern Eindruck zu hinterlassen, und damit hatte sie sich zufriedengegeben. Sie hatte darauf gesetzt, reich auszusehen, reich zu klingen, sich reich zu benehmen, und hatte die Spuren genossen, die sie damit wenigstens in den Köpfen einiger Mitmenschen hinterlassen konnte.
Daher hatte sie an diesem Nachmittag einiges nachzuholen. Noch während das Teegeschirr abgeräumt wurde, fütterte Livarot die Anwesenden ohne jeden Zusammenhang mit den in ihren Hirnwindungen herumlungernden Gedanken, die hinaus ans Tageslicht wollten, selbst wenn sie für ein intellektuelles Kräftemessen noch nicht in Form waren. Und die Zuhörenden wagten nicht, das Weite zu suchen, aus Angst, sie könnten eine entscheidende Äußerung bezüglich des neuen Passagiers verpassen.
Alles in allem war es ein fantastischer Nachmittag.
Für Mrs. Livarot.
Zwei Tage später öffnete die Aufgenommene zum ersten Mal die Augen. Regungslos lag sie in ihrem Bett und betrachtete staunend den Kronleuchter, der direkt über ihr hing. Die zwei Dutzend aus Glas nachgeformten Kerzen und die geschliffenen Kristalle, die wie in einer umgewendeten dreistöckigen Torte darunter baumelten, glitzerten im Licht, das durch das Bullauge fiel.
„Haben alle Zimmer im Himmel so kitschige Kronleuchter?“, fragte sie mit schwacher Stimme. Die Frage galt Livarot, die zufällig zugegen war und gerade die Kabine mit dem von ihr nicht mehr benötigten Ramsch nach ihrem Geschmack einrichtete.
Zunächst war Livarot ein wenig verwirrt über die Frage. Sie blickte die Schiffbrüchige zweifelnd an, doch dann lachte sie, während sie einen handgroßen Glasfisch auf dem Nachttisch deponierte. „Nein, nein, du bist hier nicht im Himmel, du bist hier auf einem Kreuzfahrtschiff. Auf der Jafet.“
„Aha“, erwiderte die Schiffbrüchige. „Aber warum bin ich nicht in den Himmel gekommen?“
Ohne den Kopf zu bewegen, schaute sie sich den Tropf an, dessen Schläuche in ihrem rechten Handrücken endeten. Dann fiel sie erneut in Ohnmacht, doch von nun an war ihr Schlaf ruhig und erholsam, und ihr Atem ging so gleichmäßig wie das Ticken einer Uhr.
An diesem Abend war Livarot geladen, am Tisch von Kapitän Caerphilly zu dinieren. Ein Gefühl von Glückseligkeit stieg aus ihrem Herzen auf bis zu ihren Wangen, deren aufgeregte Röte nur mit viel Puder maskiert werden konnte. Sie hatte bereits vier neue Kleider in der Schiffsboutique gekauft, dreimal ihre Frisur und einmal die Haarfarbe geändert, seit sie an Bord war, nur um die Aufmerksamkeit des Kapitäns zu erhaschen. Doch es war vergeblich gewesen. Ihr Wunsch, Vertraulichkeiten mit ihm auszutauschen, wurde vom stets distanzierten Kapitän beiseitegefegt. Doch nun hatte er sich die Mühe gemacht, sie auf ihrem Trimmrad im Fitnessraum aufzusuchen, auf dem sie nachmittags gerne ein paar Stunden träge herumsaß, um sich mit Mrs. Chester über Kuchenrezepte und alte Seifenopern zu unterhalten, und er hatte sie persönlich und mit Nachdruck an seinen Tisch gebeten. Das war eine erhebende Wendung der Umstände. Am Horizont ließ sich das Glimmen besserer Zeiten erahnen, was den sofortigen Kauf eines neuen Kleides notwendig gemacht hatte.
Das Princess-Restaurant beherbergte etwa dreißig runde Tische in verschiedenen Größen, die auf zwei durch eine breite Treppe verbundenen Ebenen verteilt waren. Teppiche und Polster waren in Burgunderrot gehalten, ebenso wie die innenseitig mit Leder beschlagenen Eingangstüren. Zwischen den Tischen erhoben sich kindsgroße Marmorstatuen, die wenig sittsam bekleidete junge Frauen darstellten, umgeben von haufenweise Farnen und anderem Grünzeug. Der Eingangsbereich war von zwei marmornen Springbrunnen mit glubschäugigen, wasserspeienden Fischen umsäumt. Am Ende des Saals gab eine große Fensterfront den Blick auf das Meer frei, zumindest bei Tag; nun war sie nichts weiter als eine schwarze Wand, in der sich die Tische spiegelten. In der Mitte des Saals befand sich eine Tanzfläche mit elfenbeinfarbenem Untergrund, der jedoch farblich zum Konformismus überredet wurde, indem er noch vor Beginn der Mahlzeit von rot getönte Lampen ausgeleuchtet wurde. Auf einem Podest nahe der Tanzfläche warteten zahlreiche Musikinstrumente auf ihre Besitzer.
Das Dinner begannen an diesem Abend mit Wachteln gefüllt mit Morcheln und Trüffeln in einer Tomaten-Koriander-Soße. Die Füllung aus Zwiebeln, Mandeln und mit Mehl angerührten Gewürzen ergab eine vorzügliche Kruste für die Wachteln, die mit frischem Koriander garniert waren. Dazu wurde ein Portwein gereicht.
Die erste Hälfte der Wachteln verging bei einer lustlosen Diskussion über die New Yorker Börse, die der Besonderheit des Abends keinesfalls gerecht wurde. Livarot hockte nervös auf ihrem burgunderroten Polsterstuhl. Dann veranlasste die Neugierde den Kapitän endlich dazu, sich an den Schiffsarzt Schabziger zu wenden und sich nach dem Befinden der Schiffbrüchigen zu erkundigen.
Der Arzt erklärte lapidar, dass ihre Genesung voranschreite und man sie schon bald als neues Mitglied der Gesellschaft begrüßen könne. Aus Angst, das Thema könnte damit beendet sein, mischte sich Livarot ein und erzählte dem Kapitän, dass die junge Frau in ihrer Gegenwart kurz aufgewacht sei und berichtet habe, sie sei mit ihrem Boot von einem Sturm überrascht und abgetrieben worden. Dies sei schon so lange her, dass sie nicht einmal von dieser furchtbar dummen Katastrophe gewusst habe, die nun schon mehreren Wochen zurücklag. All die Zeit habe die junge Frau sich von selbst gefangenen Fischen und Regenwasser ernähren müssen, bis ihr Hunger und Schwäche das Bewusstsein geraubt hätten.
Dies war zugegebenermaßen gelogen. Die Schiffbrüchige hatte nichts von alledem erzählt. Mit Ausnahme der kurzen Frage nach dem Kronleuchter hatte Livarot kein Wort mit ihr wechseln können, doch die Amerikanerin war immerhin bodenständig genug, um den Fantasien von Töchter aufkaufenden Pferdehändlern oder mordenden Schwiegermüttern etwas Handfestes entgegenzusetzen, und so tat die Äußerung ihre Wirkung. Caerphilly nickte interessiert, fragte sogar nach. So erhielt Livarot die Gelegenheit, nochmals in aller Ausführlichkeit zu erzählen, wie sie zur Reling gegangen war, wie sie sich dem Meer zugewandt und wie sie plötzlich etwas gesehen hatte, das wie ein kleines Boot aussah.
Ihre Butterkekse erwähnte sie nicht.
„Das arme Ding“, sagte die ebenfalls am Tisch sitzende Mrs. Chester mitleidsvoll, und alle Gäste der Tafelrunde stimmten ihr zu. Die ganze Zeit von Fischen leben zu müssen, war schon eine traurige Angelegenheit, aber Regenwasser zu trinken, solange es noch Champagner auf dieser Erde gab, das war furchtbar.
„Wovon wird das Mädschen ’ier leben?“, fragte Mme de Saint-Paulin, eine Dame von echtem französischem Adel, und nippte mit abgespreiztem kleinen Finger an ihrem Sherry. „‘ier an Bord wird sie Geld benötigen.“
Saint-Paulin sprach stets mit einem französischen Akzent, auch wenn sie ihn nicht nötig hatte, da sie den größten Teil ihres Lebens in Deutschland zugebracht hatte. Ihre Nase war krumm wie ein Enterhaken, und das brünette, zum Zopf gebundene Haar reichte ihr fast bis zur Hüfte. Letzteres zeugte weniger von einer betonten Weiblichkeit als vielmehr von einer äußerst traumatisierenden Begegnung mit einem Friseur in ihrer Kindheit. Eine Geschichte mit schief geschnittenem Pony, vielen Tränen und einem angebissenen Friseurenfinger, an deren Einzelheiten sie sich längst nicht mehr erinnern konnte.
„Nicht doch“, meinte Livarot großmütig und lächelte den Kapitän an. „Das ist alles kein Problem. Ich werde natürlich für die Unkosten des Mädchens aufkommen. Das mit der Kabine ist ja bereits geregelt.“
Sie schob sich eine halbe Wachtel am Stück in den Mund.
Geld hatte keine Bedeutung für Livarot. Sie hätte noch ein Dutzend weiterer Passagiere durchfüttern können, wenn sie denn gewollt hätte. Doch die Schiffbrüchige, das war etwas anderes, das war ein Geschenk des Himmels. Eine Gelegenheit, die man sich unbedingt zum Gefährten machen musste. Jeder an Bord war neugierig auf dieses Mädchen und wollte in ihre Nähe gelangen, doch dafür würden sie alle erst einmal an ihr, Livarot, vorbeikommen müssen. Und an ihr, Livarot, würde nur vorbeikommen, wer zuvor ihre, Livarots, Gunst erworben hatte.
„Vor allem um Kleidung und solche Dinge werde ich mich natürlich kümmern müssen“, fuhr sie kauend fort. „So, wie sie von dem Boot geholt wurde, kann sie nicht herumlaufen.“
„Ich fürchte, in unseren Boutiquen werden Sie nicht mehr viel finden“, warf Kapitän Caerphilly ein.
„Vielleicht könnte jemand einige meiner Kleider umnähen, damit sie diesem Mädchen passen“, schlug Livarot vor.
„Das ist eine gute Idee“, fand Schabziger, ein großgewachsener Mann von besonnener Art und mit viel Gel im blonden Haar. Seine schmalen Lippen waren etwas vorgewölbt, was ihm das Aussehen eines Fisches gegeben hätte, wäre da nicht die große, spitze Nase gewesen, die gnadenlos wie ein knochiger Finger auf jeden zeigte, dem er das Gesicht zuwandte. „Ich habe gehört, Fontina, eine Kellnerin vom Touristendeck, soll eine hervorragende Schneiderin sein.“
„Ich werde Fontina fragen, was sie da machen kann“, sagte Caerphilly. „Die Schiffbrüchige muss schließlich in der Lage sein, sich ordentlich einzukleiden.“
Das Hauptgericht wurde serviert: panierter und mit Knoblauch und Weißwein scharf angebratener Seeteufel mit Kartoffeln und einem Weißkraut-Salat, vom Essensdekorateur liebevoll mit aufgeschnittenen Zitronen, gemusterten Tomaten und Petersilie garniert. Dazu eine Weißwein-Kerbel-Soße und ein 2012er Rosé ohne besonderen Namen, aber weich, kurz und duftig im Geschmack. Die Anwesenden machten sich über das Essen her, auch wenn die Begeisterung in ihren Gesichtern fehlte, da es sich bei dem Seeteufel lediglich um die Reste des Vortags handelte.
„Wie heißt die Schiffbrüchige eigentlich?“, fragte Mrs. Chester.
„Wir haben Papiere auf dem Boot gefunden“, erwiderte Caerphilly. „Oder auf dem, was davon übrig geblieben ist. Demnach handelt es sich um eine gewisse Ingrid Marie.“
„Ingrid Marie?“, sagte Livarot. „Ein komischer Name.“
„Wirklisch komisch“, stimmte Saint-Paulin zu. „Klingt wie saures Obst.“
„Diese Ingrid Marie tut bestimmt schick aussehen in den Kleidern von Mrs. Livarot“, sinnierte Mrs. Chester. „Wo sie eine so zarte Figur hat. Meine Nichte, wissen Sie, die hat auch eine so zarte Figur, und die sieht wunderschön aus, wenn sie Kleider trägt. Na ja, sie hat nie was zum Essen, das lässt sie dünn bleiben. Nicht wahr, Chad, sie hat doch eine zarte Figur?“
Sie nannte ihren Gatten stets Chad, obwohl sein eigentlicher Vorname Rarebit lautete. Anfangs hatte er sich darüber geärgert, da er sich über die Herkunft des neuen Rufnamens im Unklaren war und dahinter einen ehemaligen Geliebten seiner Frau vermutete. Doch im Laufe der Jahre hatte er sich so an diesen Namen gewöhnt, dass sein Fehlen ihm das Blut in den Adern hätte gerinnen lassen.
„Ja, ja, eine zarte Figur“, sagte Mr. Chester betonungslos.
„Und ihrer Mutter, die meine Schwester ist“, fuhr Mrs. Chester fort, „schenkt sie ständig die schönsten Kleider und den schönsten Schmuck aus Paris. Nicht wahr, Chad?“
„Ja, ja, den schönsten Schmuck“, sagte Mr. Chester und zerlegte seinen Seeteufel auf der Suche nach Gräten in winzige Stücke. Wenn seine Frau nicht stets gedrängt hätte, im Speisesaal inmitten der vielen gut gekleideten Leute zu speisen, hätte er in seiner Kabine zu Abend gegessen. Dort fühlte er sich wohler als in diesem Saal voller vornehm redender Menschen. Ihm lag so etwas nicht. Ihm hätte es mehr gefallen, jetzt mit seinen Kumpels in einer Kneipe in Wells/Summerset bei einem lauwarmen Bier zu sitzen, laut grölend seine Meinung über die britische Regierung oder das letzte Spiel von Cardiff City kundzutun und zwischendurch einmal mit der Faust auf den Tisch zu hauen. Doch wie er die Meldungen des Kapitäns nach dieser furchtbar dummen Katastrophe verstanden hatte, gab es wohl keine Kneipe mehr in Wells/Summerset und auch keine britische Regierung und keine Fußballmannschaft aus Cardiff. Vor allem um die Kneipe und die Fußballmannschaft war es schade.
„Mir schenkt sie auch manchmal was“, erzählte Mrs. Chester. Sie ließ dabei ihre Gabel, mit der sie einen mundgerechten Teil ihrer Mahlzeit erlegt hatte, eine Zeit lang durch die Luft gleiten, ehe sie zwischen ihren Zahnprothesen verschwand. Ihre Bewegungen hatten etwas Fahriges, wie ein zu dünn gekochter Pudding, den man in Form zu gießen versucht. „Dieses Kleid hat sie mir aus Paris geschickt. Es ist hübsch, nicht wahr?“
Stolz betrachtete sie das sie umhängende Baumwollkleid, das sich aus unterschiedlich großen Quadraten mit variierenden Grüntönen zusammensetzte, die ineinander übergingen und nur an den Schultern weiße Flecken frei ließen. Die Ärmel waren halblang, der Rock reichte bis zu den Waden, und um die Hüfte war es so geschnitten, dass es nicht einmal versuchte, die missliche Figur seiner Trägerin zu verstecken. Livarot fand es abscheulich.
„Ich habe gehört, Muna-Juusto hat eine neue Erfindung gemacht?“, wandte sie sich an den Kapitän.
„Das soll ein neuer Klebstoff sein“, sagte Mrs. Chester. „Er soll schnellklebend, säurefest und hautfreundlich sein. Habe ich gehört.“
„So sind die Japaner“, sagte Livarot. „Stets fleißig und voller Ideen.“
„Ich hoffe nur, das wird nicht wieder ein Reinfall“, meinte Caerphilly. Er brachte den Ideen von Muna-Juusto nicht viel Sympathie entgegen. Muna-Juusto war nach einer Herzattacke von seiner Firma zur Erholung auf dieses Schiff geschickt worden. Nicht unbedingt zu seinem Vergnügen, er war kein Mensch, für den die Erholung ein Vergnügen war. Meist hatte er mit schlechter Laune am Pool gesessen, eingehüllt in dicke Decken, selbst dann, wenn es so heiß war, dass die anderen Passagiere überlegten, ob sie sich nicht vom Kellner ein paar Eiswürfel bringen lassen sollten, während sie im Pool ihre Runden drehten. Erst diese furchtbar dumme Katastrophe hatte aus ihm einen anderen Menschen gemacht. Seitdem glaubte er, den Leuten helfen zu können, indem er sein Wissen über die Chemie nutzte, um alles Mögliche zu erfinden.
„Nicht so ein Reinfall wie beim letzten Mal, als er glaubte, eine feuerfeste Wandverkleidung erfunden zu haben“, fuhr Caerphilly fort. „Bei der Vorführung sind drei Kabinen im Touristendeck abgebrannt.“
„So schlecht sind seine Erfindungen gar nicht“, fand hingegen Mrs. Chester. „Der Farbstoff, der das Meer so schön blau aussehen hat lassen wie auf den Postkarten, das hat mir gut gefallen.“
„Ein ekeliges Blau“, meinte Livarot. Wenn dem Kapitän das Zeug von Muna-Juusto missfiel, dann musste es schlecht sein. Einem Mann wie Caerphilly missfielen Dinge nicht ohne einen ernsthaften Grund.
Eine Fliege, die sich schon vor Wochen auf das Schiff verirrt haben musste, kreiste über dem Tisch und setzte sich ausgerechnet neben den Teller von Romadur, Livarots Neffen. Er war um die zwanzig, mittelgroß und seine in Locken frisierten Haare waren hellblond. Die blauen, tief liegenden Augen wurden von dicken Brillengläsern vergrößert. Sein Nacken war übermäßig kräftig, und unter einem zu engen weißen T-Shirt trat sein Bauch hervor, der von dünnen Beinen getragen wurde.
Romadur fixierte die Fliege neben seinem Teller mit einem Blick, als wollte er sie hypnotisieren. Er legte langsam seine Gabel beiseite, um dann mit einer Schnelligkeit, die man seinem müden Gesicht kaum zugetraut hätte, den Arm nach der Fliege zu strecken und sie mit der Hand einzufangen. Aus der Hosentasche wühlte er eine leere Streichholzschachtel, in die er die gefangene Fliege sperrte und die er dann wieder in der Hosentasche verschwinden ließ. Später würde er sie zu den anderen Fliegen in das Aquarium setzen, das er in seine Kabine hatte stellen lassen.
„Was machst du denn schon wieder?“, tadelte Livarot ihren Neffen.
„Nichts, Tantchen, nichts“, beschwichtigte Romadur. Er nahm beidhändig einen Schluck aus seinem Weinglas und grinste, ohne dabei jemand Spezielles anzuschauen.
Als der Seeteufel abgeräumt wurde, nahm ein nicht unbedeutender Teil des Fisches den Weg zurück in die Küche. Mit ausdruckslosen Gesichtern bahnten sich die Kellner ihren Weg zwischen den Tischen, stapelten nicht mehr benötigte Teller und Besteck auf silberne Rollwagen und versuchten dabei, so unauffällig zu bleiben wie die Schatten, die ihnen folgten.
Zum Abschluss der Mahlzeit wurde Kaffee gereicht. Eine Sechs-Mann-Kapelle begann zu spielen, und einige Paare nutzten einen langsamen Walzer, um die gerade angefutterten Kalorien runterzutanzen.
„Warum gibt es immer nur Fisch zu essen?“, klagte Saint-Paulin, den Kellnern nachblickend, die mit den abgeräumten Tellern in einem Nebenraum verschwanden, der über einen Fahrstuhl mit der Küche verbunden war. „Das kann doch keinen Menschen bei Kräften ‘alten.“
„Was sollen wir machen?“, entschuldigte sich Caerphilly. „Unsere Speisekammern sind leer, vor allem das Fleisch muss rationiert werden. Ich würde auch lieber jeden Tag Steak essen. Doch dies ist erst möglich, wenn unsere Vorräte wieder aufgefüllt sind.“
„Aber so ganz ohne Fleisch“, fand Saint-Paulin. „Das geht doch nischt.“ Geistesabwesend hob sie ihr Hündchen auf ihren Schoß, eine Mischrasse mit hauptsächlich pekinesischem Einschlag und dem unerklärlichen Namen Nicolas Sarkozy, und schob ihm eine Praline in sein Schnäuzchen. Weinbrandpralinen mochte er am liebsten.
„Mme de Saint-Paulin, es gibt mindestens einmal die Woche Fleisch zu essen“, meinte Caerphilly und schüttelte tadelnd den Kopf. „Und etwas vegetarische Kost, das ist gar nicht so schlecht für die Gesundheit. Das wird Ihnen Dr. Schabziger gern bestätigen.“
„Man sollte die Hunde in die Pfanne hauen, die sind jetzt gut gemästet“, sagte Romadur und lachte laut. „Ich habe gehört, Pekinesen sollen gut schmecken. Vielleicht nicht so gut wie Chow-Chow, aber besser als Terrier oder Deutscher Schäferhund.“
„Das ist doch die ’ö’e!“, empörte sich Saint-Paulin. „So etwas muss isch mir nischt bieten lassen!“
„Man muss ihn allerdings rösten“, fuhr Romadur fort. „Das ist besser für das Aroma. Wenn man ihn kocht, verdirbt man ihn. Hat mir ein Chinese erzählt.“
„Du musst nicht alles glauben, was man dir erzählt“, wies Livarot ihren Neffen zurecht.
„Mir gefällt es, dass ein Hund ein wenig Abwechslung an Bord bringt“, meinte Caerphilly, um die Gemüter zu beruhigen. „Ich habe auch mal einen Hund gehabt, hier auf dem Schiff. Und er hat mir sehr viel Freude bereitet.“
„Mein Nicolas Sarkozy ist ein braver ‘und“, sagte Saint-Paulin trotzig. „Er kann keiner Fliege etwas zuleide tun.“
„Hunde sind etwas Feines“, fand auch Mrs. Chester. „Ein Vetter von mir hatte einen Hund, nicht wahr? So einen kleinen mit zotteligen Haaren. Er hat ihm beigebracht, sich auf Befehl auf dem Boden zu wälzen und anschließend in eine Plastikwanne mit Wasser zu springen. Auf diese Weise hat mein Vetter immer seinen Küchenfußboden gewischt. Nicht wahr, Chad?“
Ein Kellner kam an ihren Tisch und reichte Cognac an die, deren Mägen nach dem Essen anstelle des Kaffees etwas Hochprozentiges verlangten. Livarot bestellte sich einen Gin.
„Manchego hat mir erzählt, auf dem Touristendeck soll jemand nach einer Schlägerei über Bord gegangen und ertrunken sein“, sagte sie, sich halb an den Kapitän wendend, und leerte ihr Ginglas in einem Zug.
„Tatsächlich?“, fragte Mrs. Chester.
„Ich habe gehört, es soll um irgendeine blöde Wette gegangen sein“, meinte Romadur.
„Pöbel, alles Pöbel auf dem Touristendeck“, fand Saint-Paulin. „Dort geschieht ständig so ein ’umbug.“
„Sie sollten nicht einfach jedes Gerücht glauben, das im Umlauf ist“, warf Caerphilly ein. „Es hat in der letzten Zeit keine besonderen Vorkommnisse auf dem Touristendeck gegeben.“
„Bei uns auf dem Oberdeck wissen sich die Leute zu benehmen“, meinte Livarot. „Bei uns wäre so etwas nicht möglich.“
„Auf dem Touristendeck gibt es sicher auch anständige Leute“, sagte Mrs. Chester. „Ich meine, das sind Leute wie wir. Nicht wahr, Chad?“
„Ja, ja“, sagte Mr. Chester.
„Isch würde nischt auf dem Touristendeck wohnen wollen“, meinte Saint-Paulin.
„Das liegt daran, dass Sie jeden Unsinn glauben, den man Ihnen von dort erzählt“, fand Caerphilly.
„Natürlich sind die Leute dort auch anständig“, sagte Schabziger. „Mrs. Chester hat recht, wir sitzen alle in einem Boot.“
Livarot bestellte sich einen weiteren Gin, und die Gespräche begannen, sich in bekannten, seichten Gewässern zu bewegen wie ein Fährschiff, das zum x-ten Male eine Furt fernab jeglicher intellektueller Klippen überquert. Abgesehen davon, dass Livarot immer mal wieder die von ihr gerettete Marie erwähnte, waren in den nächsten zweieinhalb Stunden zu hören: eine Anekdote von Caerphilly, wie er als junger Offizier bei seiner ersten Äquatorüberquerung die Feuertaufe hatte erleben müssen und anschließend nie wieder hatte zur See fahren wollen; ein Schwank aus dem Leben von Saint-Paulins Großvaters, der eines Tages irgendeinem Grafen ein Fass Sherry abschwatzen konnte und bei der anschließenden Zechtour fast darin ertrunken wäre; sowie eine Geschichte von Livarots An- und Abgetrautem, wie er einst ein Konkurrenzunternehmen beim Pokern gewonnen hatte.
Wenn man sich auf der Jafet amüsieren wollte, war es günstig, ein kurzes Gedächtnis zu haben, denn die wenigsten der Anekdoten, die man in dieser Nacht zu hören bekam, waren unverbraucht. Und trotzdem fand das Schiff erst spät seinen Schlaf. Man trank, lachte und erzählte und ging erst zu Bett, als der gelbe Mond schon längst im Meer versunken war.