Читать книгу Mrs. Livarot hatte etwas von einem Pinguin oder Kreuzfahrt am Ende der Zeit - Carsten Bloch - Страница 4

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Noch vor Einbruch der morgentlichen Dämmerung kam ein Sturm auf, der zwei Tage andauerte. Er türmte das Meer zu meterhohen Wellen und versteckte den Himmel hinter einem Vorhang dunkler Wolken. Regentropfen fielen dicht wie aufgezogene Perlen und die Windböen zerschmetterten die Tropfen an der Bordwand wie Fliegen an der Windschutzscheibe eines Rennwagens.

Die Jafet warf sich trotz ihrer Größe von einer Seite auf die andere, und viele Passagiere lagen mit grünen Gesichtern und entleerten Mägen in ihren Betten und hofften auf eine ruhigere See. Oder wenigstens auf kürzere Wege zwischen ihren Kissen und ihren Toilettenschüsseln. Der Regen spülte über das Deck, und als der Himmel endlich aufklarte, fehlten erneut drei Passagiere des Touristendecks, die vermutlich der Sturm in die See gefegt hatte.

Es herrschte noch immer eine kabbelige See, als das Schiff schließlich vor einer Insel ankerte. Der Kapitän hatte sicherheitshalber den Katt-Anker auswerfen und ihn mit einer kurzen Kette mit dem eigentlichen Anker verbinden lassen. Ein Teil der Besatzung begab sich an Land, um dort Holz zu sammeln. Denn um den knappen Treibstoff zu sparen, hatte Schiffsingenieur Reblochon die Idee gehabt, die Dieselmotoren so umzubauen, dass die Stromversorgung des Schiffs in einem getrennt arbeitenden System durch das Verfeuern von Holz gewährleistet werden konnte. Zumindest so lange, bis die fast leeren Tanks der Jafet wieder mit frischem Dieseltreibstoff gefüllt wären.

Am Abend dieses Tages, als die Matrosen gerade zur Insel übersetzten, um eine zweite Ladung Holz an Bord zu holen, erwachte die gerettete Marie endgültig. Sie schlug die Augen auf, zog die Bettdecke bis unter die Nase, starrte aus dem Fenster, in dem der Horizont die Welt zerteilte, und schwieg. Schabziger kam und fütterte sie mit Tee, Zwieback und Vitaminpillen. Sie aß und trank schweigend und starrte aus dem Fenster.

Erst zwei Tage später, als wieder ein Blassrosa ihre Wangen überzog und ihre Augen die Ruhe eines Sternenhimmels bargen, begann Marie zu reden.

Sie war die Tochter eines Fischers. Ihre Mutter war gestorben, noch ehe die kleine Marie ihr Gesicht erkennen konnte, und als sie noch ein kleines Kind gewesen war, war ihr Vater vom Meer nicht mehr heimgekehrt. So wuchs sie bei ihrem Großvater auf, einem alten Fischer, dem die salzige Meeresluft die Haut gegerbt und die Haare gebleicht hatte. Zusammen bewohnten sie ein kleines, bescheidenes Haus an der Steilküste, und weil der Großvater schon seit vielen Jahren allein lebte, übernahm Marie die anfallenden Hausarbeiten. Sie wusch die Wäsche, schrubbte den Boden, sie setzte ihrem Großvater das Essen vor, wenn dieser nach sturmgetränkten Nächten heimkehrte, nass und ausgekühlt, wortkarg und müde. Sie lief die zwei Stunden ins nächste Dorf, um die notwendigen Einkäufe zu erledigen.

Als Marie älter wurde, nahm ihr Großvater sie mit hinaus aufs Meer. Er lehrte sie, wo die Netze und Angeln auszuwerfen waren, wie sie sich von der Flut in den Hafen treiben lassen konnte und wie sie die Gesichter des Himmels zu deuten hatte.

Als ihrem Großvater die Haare ausfielen, und seine Augen schwach wurden, als seine taube Zunge nicht mehr zwischen Brot und Spielen unterscheiden konnte, als er von Visionen geplagt wurde, abwechselnd schrie und wimmerte, wirres Zeug redete und ohne Grund um sich schlug, da fuhr Marie allein zum Fischen hinaus. Sie verkaufte ihren Fang an Großhändler und versorgte anschließend ihren Großvater. Sie wusch ihn, sie fütterte ihn, sie beruhigte ihn, sobald er zu wimmern anfing, und wenn sie am Abend erschöpft in ihr Bett fiel, blieb ihr nicht einmal die Zeit, von einem anderen Leben zu träumen.

Dann, eines Nachts, hatte der Tod beschlossen, die Seele ihres Großvaters einzufordern. Am Morgen lag er mit weit aufgerissenen Augen und eiskalten Wangen im Bett, und seine Glieder waren steif wie Holzbalken. Mit einem Schlag hatte Marie alles verloren, was sie bisher mit dem Leben verbunden hatte. Ihr Großvater, das Haus, die Fischerei, alles machte in diesem Augenblick keinen Sinn mehr.

Sie kehrte an jenem Morgen dem Haus den Rücken und ließ den toten Großvater im Bett zurück, um niemals wiederzukommen. Sie begab sich mit nichts als der Kleidung, die sie nach dem Aufstehen für den Wohnungsputz übergestreift hatte, zum morschen Bootssteg, lehnte sich an einen der Holzpfähle und überlegte, was das Leben von ihr verlangte, ob es überhaupt noch etwas verlangte. Vielleicht würde es sie aufs Festland treiben, das sie nie betreten hatte, das sie nur vom Hörensagen kannte, dort würde sie sich einen Job in einer Fabrik oder in einer verrauchten Spelunke suchen können. Oder sie könnte über das Land ziehen, bis sich jemand fand, dem ihre bescheidenen Talente genügen würden, als Magd, als Wäscherin, als Kindermädchen. Doch hinaus zum Fischen wollte sie niemals wieder. Dafür gab es keinen Grund mehr.

So in sich versunken, vergessen wie ein weggeworfenes Taschentuch, fand sie der Tag, als diese furchtbar dumme Katastrophe in Gestalt von grollenden, schwarzen Wolken über die Insel herfiel. In Marie erwachte angesichts des zürnenden Himmels unerwarteterweise doch ein Lebenswille. Sie hatte zwar mit dem Dasein bereits abgeschlossen, doch so schnell wollte sie sich nicht geschlagen geben, wollte sich nicht von einem nach Tod riechenden Firmament einfach hinwegfegen lassen. Sie rannte davon, als der Sturm losbrach, flüchtete auf ihr Fischerboot und ließ sich von dem aufkommenden Orkan auf die offene See hinausschwemmen.

Eine Woche behielt der Sturm seine verheerende Kraft. Er füllte die Kajüte mit Wasser und blies Marie gegen die Planken, sobald sie sich an Deck wagte. Mehr als einmal glaubte sie, der Moment sei gekommen, der das Boot hinab auf den Meeresgrund ziehen würde. Doch am Ende war der Kahn zäh genug zum Überleben, wenn auch nur mit ruiniertem Motor, zerschmetterten Planken und einer völlig zerstörten Kajüte.

Aus den Seilen und Holzteilen, die der Sturm nicht als Erinnerungsstücke mit sich genommen hatte, baute Marie einen Unterschlupf als Schutz gegen die Sonne bei Tag, als Zuflucht gegen die Kälte bei Nacht. Sie aß die Fische, die zu fangen ihr gelang. Roh, da sie nichts hatte, mit dem sie hätte ein Feuer machen können. Sie trank, was der Himmel in ihre kleinen Sammelgefäße regnen ließ. Viele Tage hielt Marie vergeblich Ausschau nach einem Zipfel Land am Horizont, bis sie schließlich ausgedörrt und geschwächt zusammenbrach und erst wieder in der Kabine der Jafet zu Bewusstsein kam.

Dies war Maries Geschichte. Angesichts dieses erschütternden und höchst erbarmungswürdigen Schicksals kämpften die Passagiere vor Mitleid mit den Tränen, sobald von Marie die Rede war. Livarot versprach, dass sie stets für Marie sorgen würde und diese niemals wieder schwere Arbeiten zu verrichten hätte. Manchego, der Chefsteward, versicherte, sich fortan bevorzugt um ihr Wohlergehen zu kümmern. Und Caciocavello gelobte, dass er trotz seiner angeschlagenen Gesundheit jeden verprügeln würde, der ihr etwas anzuhaben gedachte.

Es dauerte noch fünf Tage, bis Schiffsarzt Schabziger Marie erstmals erlaubte, ihre Kabine zu verlassen, auch wenn die abendlichen Gespräche bei Tisch sie längst an den verschiedensten Örtlichkeiten hatten auftauchen lassen. Caerphilly hatte sich bereit erklärt, Marie bei ihrem ersten Spaziergang an Bord der Jafet herumzuführen. Es war zwar nicht üblich, dass der Kapitän die Passagiere persönlich mit dem Schiff bekannt machte, doch Marie hatte selbst ein Schiff besessen, sie würde der Jafet den nötigen Respekt entgegenbringen, glaubte Caerphilly. Und vielleicht würde er mit ihr ein wenig fachsimpeln können, von Kapitän zu Kapitän, zu so etwas hatte sich für ihn seit Jahren keine Gelegenheit mehr ergeben.

Caerphilly liebte die Jafet. Es hieß immer, des Seemanns Braut ist die See, doch das war absoluter Unsinn. Die See war eine unberechenbare, herrschsüchtige Furie, launisch und mit einem Hang dazu, das Geschirr zu zertrümmern, wenn man sich nicht regelmäßig bei ihr einschleimte. Man ging ihr am besten aus dem Weg. Ein Seemann, der die See als seine Braut ansah, brauchte einen guten Psychologen. Oder zumindest einen guten Scheidungsanwalt. Nein, des Seemanns Braut war sein Schiff, das ihn beherbergte und ihm zu essen gab, das ihn beschützte und wärmte. Nur ein Schiff konnte ein Gefühl von Geborgenheit wecken. Und wenn es sich dazu noch um so ein majestätisches wie die Jafet handelte, dann war es die große Liebe, die ewig währen würde.

Caerphilly hatte zuvor schon auf anderen Schiffen gedient, vor allem auf kleineren Handelsschiffen. Er hatte Sympathie empfunden, Zuneigung, doch im Gegensatz zur Jafet waren es letztendlich alles nur Affären und Liebschaften gewesen. Zur Jafet hatte er eine intensive Beziehung, eine fast erotische sogar. Hätte man ihn gefragt, was eine Frau anziehend machte, so hätte er spontan ein gewienertes Heck und einen ausgeprägten Wulstbug genannt. Glücklicherweise fragte ihn nie jemand danach.

So gesehen hatte diese furchtbar dumme Katastrophe für Caerphilly auch eine gute Seite gehabt. Denn diese Fahrt hätte seine letzte werden sollen. Man hatte ihn in Rente schicken, ihn auf einem Landsitz verwelken lassen wollen, fernab der Jafet. Das Kommando über das Schiff hatte ein anderer bekommen sollen, ein Jüngerer, unerfahren mit der See und ohne Liebe für das Schiff. Zum Glück war es nun anders gekommen. Zum Glück für ihn. Zum Glück für die Jafet.

Caerphilly verließ an diesem Tag vorzeitig die nachmittägliche Teegesellschaft und begab sich ins Oberdeck zur Kabine von Marie, in der das Mädchen bereits zusammen mit Livarot auf ihn wartete. Die Amerikanerin hatte sich freundlicherweise als Begleitung für die noch schwache Marie bei diesem Schiffsgang angeboten. Auch wenn es Livarot eigentlich nur darum ging, im Kielwasser Maries den klugen Erklärungen des Kapitäns lauschen zu können.

Förmlichkeiten von sich gebend betrachtete Caerphilly seinen neuen Passagier im matten Kabinenlicht wie ein Großvater seinen frisch geborenen Enkel. Er hatte Marie zuvor nur ein einziges Mal in ihrer Kabine besucht und sich dabei auf Fachsimpeleien mit dem anwesenden Arzt beschränkt, ohne dem Patienten im Bett besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen. Von diesem Besuch war ihm nur ein hässlicher, handgroßer Glasfisch auf dem Nachttisch im Gedächtnis geblieben und weniger das bleiche Gesicht in den Kissen. Wenn er die vor ihm stehende Marie nun mit einem vagen Bild aus seiner Erinnerung in Einklang zu bringen versuchte, erschien ihm dieses Gesicht schrecklich neu. Marie wirkte mager, zierlich und zerbrechlich. Sie war einen halben Kopf kleiner als Livarot, genau genommen sogar einen halben Kopf und eine hochtoupierte Haarpracht kleiner, die Caerphilly am Tag zuvor noch nicht bei ihr bemerkt hatte. Das schwarz-weiße Kostüm, das Marie trug und das Livarot ihr tags zuvor in den Schrank gehängt hatte, war ihr noch entschieden zu groß, ihr krauses, schmutzig blondes Haar leuchtete rötlich, wenn man es gegen das Licht betrachtete. Marie hatte blasse, schmale Lippen, die dem Gesicht weniger Kontur gaben als die dunklen Augenbrauen. Der Blick ihrer grünen Augen war unruhig, ihre Stimme rau und leise, wenn sie auf Caerphillys Fragen antwortete. Sie bewegte sich sparsam, im Gegensatz zu Livarot, die sich mit ausladenden Gesten immer wieder in das Gespräch zwischen dem Kapitän und Marie mischte.

Schließlich führte Caerphilly seine beiden Gäste durch den mit Lithografien und dunkelroten Teppichen geschmückten Kabinengang hinaus auf das Deck. Er erzählte währenddessen vom Bau des Luxusliners, von seinen großen Fahrten, von seinem Aufkauf durch einen jüdischen Großreeder, der dem Schiff den biblischen Namen Jafet gegeben hatte, von den berühmten Gästen, die in seinen Kabinen genächtigt hatten.

An Deck führte der Kapitän seine Gäste an einer Putzkolonne vorbei Richtung Brücke. Er sprach dabei von den 210 Metern Länge und 27 Metern Breite des Schiffes, von seinen 55.000 Bruttoregistertonnen und von seiner Höchstgeschwindigkeit von 27 Knoten. Der Himmel war mit kleinen Schäfchenwolken geschmückt. Die in Sichtweite befindliche Küste, an der die Jafet westwärts zog, warf das Grollen der an den Felsen zerschellenden Wellen zu ihnen hinüber.

Marie, die zum ersten Mal seit Langem wieder die Sonne sah, folgte dem Kapitän mit unsicheren Schritten, gestützt auf Livarots Arm, und staunte. Sie hatte zwar ihr halbes Leben auf dem Meer verbracht, aber auf einem so gewaltigen Schiff hatte sie sich noch nie befunden. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie je ein solches Schiff gesehen hatte. Die weißen Wände mit den runden Fenstern zog sich endlos hin. Das Deck überredete das Auge, als Horizont wahrgenommen zu werden. Der Schornstein, der gerade rot übertüncht wurde, ragte bis in den Himmel und blies seinen Rauch der Sonne entgegen. Das Schiff versuchte, seinen Besuchern einzureden, dass es jenseits der Reling kein Meer gab.

Angekommen auf der Brücke, die die Ausmaße eines mittleren Ballsaals hatte, erklärte Caerphilly seinen Gästen die vielen Knöpfe an einem Pult, das sich unterhalb einer nach außen geneigten Fensterfront befand; die Computerbildschirme, auf denen unverständliche Zahlenkolonnen und Grafiken tanzten, die Ziffernblätter mit wackelnden Zeigern; die Drehschalter mit kleinen, leuchtenden Lämpchen. Er erzählte, wie die Dieselgeneratoren in Betrieb gesetzt wurden, die Schmierölpumpen, die Ventilatoren der Fahrmotoren und die Konverteranlagen. Wie die Propellerdrehzahl auf bis zu 128 Umdrehungen pro Minute erhöht werden konnte, auch wenn das Schiff derzeit mit einer geringeren Geschwindigkeit fahren würde, um Treibstoff zu sparen. Das Radargerät, die Funkanlage.

Livarot durfte einen grünen Knopf drücken, mit dem die Klimaanlage im Restaurant in Gang gesetzt wurde. Darüber hinaus verstand sie nichts von dem, was der Kapitän über all die Knöpfe und Anzeigen erzählte, aber ihre Bewunderung für ihn wuchs ins Unermessliche.

Caerphilly erklärte, dass man im Maschinenraum, der zu laut und zu dreckig für eine Besichtigung sei, die 90.000 PS starken Motoren sehen könnte sowie einen Vakuum-Verdampfer, mit dem theoretisch 800 Tonnen Frischwasser täglich erzeugt werden könnten. Denn immerhin könnten auf der Jafet mehr als 1.400 Menschen Unterkunft finden, auch wenn zur Zeit lediglich 300 Passagiere und 100 Besatzungsmitglieder den Bauch des Schiffes füllten.

Caerphilly hatte ein wunderbares Gedächtnis für Zahlen. Gesichter vergaß er binnen Minuten und oft genug versäumte er es, seine dritten Zähne einzusetzen, aber eine Zahl vergaß er niemals. Auch wenn seine Zeit an der Schifffahrtsakademie 35 Jahre zurücklag, konnte er sich noch an die Telefonnummern sämtlicher Dozenten von damals erinnern.

Zahlen, das wusste Caerphilly, waren die Grundbausteine der Zivilisation. Einzig die Zahlen. Nicht der menschliche Geist formte die Welt, es waren die Zahlen, die die chaotische Natur zähmten. Sie ordneten, berechneten, schützten vor Unwägbarkeiten. Ließen nicht zu, dass man von nicht messbaren Ahnungen oder Gefühlen überrascht wurde. Das Dasein ließ sich durch eine einfache Aneinanderreihung von Daten und Zahlen beschreiben und immer wieder neu zusammensetzen. Ereignisse wurden an Zahlen festgemacht, nicht an Bildern oder Gefühlen. Das Datum der Abschlussprüfung, der Preis für das Häuschen im Grünen, die Zimmernummer im Krankenhaus, in dem einem die Gallensteine herausgenommen wurden. Stets blieben die Daten und Zahlen in der Erinnerung, während die Bilder schnell verblassten und wie Blätter im Herbst von den Bäumen fielen.

Nach der Brücke führte Caerphilly seine Gäste in die Küche, die sich unterhalb der Restaurants im Mittelschiff befand. Sie bestand aus einem etwa 30 Schritte langen Raum, in dem mehr als zwei Dutzend Kochmützen zwischen Töpfen herumliefen, die groß genug für einen ausgewachsenen Menschen gewesen wären. Das Küchenpersonal füllte Spülmaschinen in der Größe von Doppelbetten, bediente mannshohe Kartoffelschälmaschinen und reparierte die Bänder von meterlangen Fritteusen.

Caerphilly pries zahlreiche Kreationen der Küche an und erklärte einige der Maschinen. Oder tat zumindest so, da er selbst keine Ahnung hatte, wie diese Maschinen funktionierten. Marie schüttelte die Hand von Sbrinz, dem Chefkoch.

Die Besichtigung des Schiffes endete schließlich auf dem Deck an der Lido-Bar neben dem Pool mit einigen Ausführungen zu den Vergnügungen, die das Schiff zu bieten hatte. Zwei Swimmingpools, die sich bei schlechtem Wetter auf Knopfdruck überdachen und in Hallenbäder umfunktionieren ließen. Ein Kino. Ein Fitnesspark. Ein Spielcasino. Eine Bibliothek. Selbst einen Golfplatz oder vielmehr eine vollautomatische Golfanlage: ein fest verankerter Golfball auf einem Stück Kunstrasen mit einer Leinwand, bei der die Schläge anhand der Geschwindigkeit, des Winkels und der Richtung im Vergleich zur Leinwand elektronisch gemessen und ausgewertet wurden. Nach jedem Schlag konnte man dort weiterspielen, wo der Ball auf dem tatsächlichen Golfplatz von wahlweise Spyglass Hill oder dem der Insel Man aufgetroffen wäre.

Die Jafet war ein Schiff, das machte Caerphilly klar, auf dem es unmöglich war, sich zu langweilen. Dieses Schiff wusste sich um seine Gäste zu kümmern.

Schließlich verabschiedete sich der Kapitän mit einem Hinweis auf unabdingbare Verpflichtungen. Er überließ seine beiden Gäste dem Schiff und jeweils einem Gin-Tonic an der Lido-Bar auf Kosten des Schiffs. Nachdem sich der Kapitän zurückgezogen hatte, verlor auch Livarot das Interesse, zusammen mit ihrem Schützling nach weiteren Sympathiepunkten für die Jafet zu suchen. Es drängte sie vielmehr in den zwischenzeitig erwähnten Fitnessraum, um der dort wartenden Mrs. Chester über ihre intensive Begegnung mit dem Kapitän zu berichten. Daher leerte sie ihr Glas in einem Zug und erklärte Marie kurz, wie sie zurück in ihre Kabine finden würde. Dann verschwand sie in einem der Gänge, die ins Innere des Schiffs führten.

Marie, allein zurückgeblieben, konnte sich weder für den Geschmack ihres Longdrinks begeistern, noch wollte sie sich auf den Weg zurück in ihre Kabine begeben. Zu lange hatte der Himmel für sie aus einer weiß getünchten, mit Stuck verzierten Zimmerdecke und die Sonne aus einem überdimensionalen Kronleuchter bestanden. So ließ sie ihr nur zur Hälfte konsumiertes Getränk zurück und spazierte an den Aufbauten der Jafet entlang Richtung Bug. Abseits der von den Passagieren üblicherweise in Anspruch genommenen Örtlichkeiten beugte sie sich über die Reling, um ihre Lungen mit dem Duft des Meeres zu füllen. Sie betrachtete die entfernte felsige Küste mit ihren blassgrünen Flecken auf ockerfarbenem Untergrund, betrachtete das Meer, das seine weiße Gischt wie ein Werfer an den felsigen Schlagmännern vorbeizuwerfen versuchte. Das Wasser war von tiefem Blau, doch wenn man sich anstrengte und senkrecht hinabschaute, war es glasklar und man konnte den bewohnten Untergrund sehen. Die Fische, die nach einem harten Arbeitstag nach Hause kamen, und die Krebse, die Nachtschicht hatten und sich gerade ihre schlaftrunkenen Fühler putzten. Das Schiff zerteilte mühelos die Wellen, die auf seinem Weg lagen.

Die Welt lag in Trümmern, hatte man ihr erzählt. Vielleicht war dieses Schiff mit seinen Bewohnern alles, was geblieben war. Und ein Gott oder ein Zufall hatte sie zu einem Teil der Schiffsbewohner werden lassen. Ihr war ein neues Leben geschenkt worden, nachdem sie in den letzten Wochen durstig und hungrig auf ihrem halb zerstörten Kutter längst mit dem alten Leben abgeschlossen hatte. War ein Wunder geschehen? Hatte ein mitleidiger Gott seine Macht genutzt und das Meer gegen seine Gewohnheiten gezwungen, ein bereits geschenktes Leben zurückzugeben? Ein Gott, der mit den Menschen fühlte, weil vielleicht auch er, als er noch klein war, manchmal ohne Abendessen ins Bett geschickt worden war?

Nein, an so etwas wie übernatürliche Wunder mochte Marie nicht glauben. Ihr Großvater hatte ihr erzählt, dass es keine Wunder gab. Alles war die Folge von logischen Zusammenhängen: die Strömungen der Meere, die Züge der Fischschwärme, das Wetter. Auch wenn man manches nicht verstand, folgte alles bestimmten Regeln, den Naturgesetzen. Und wieso sollte ein Gott ein Wunder geschehen lassen und den Naturgesetzen widersprechen? Er selbst hatte diese Naturgesetze geschaffen, damit alle sich daran hielten, und wenn er sich das Recht herausnahm, seine eigenen Gesetze zu übertreten, dann war er kein guter Gott, sondern ein böser Tyrann. Nur Tyrannen brachen die eigenen Gesetze.

Marie glaubte lieber an einen guten Gott, der bodenständig genug war zu wissen, dass selbst Göttlichkeit etwas Vergängliches war. Es war also kein Wunder, sondern ein Zufall gewesen, der ihr das Leben gerettet hatte, ein ganz simpler Zufall. In der Gestalt von Livarot. Ein kleiner Zufall hatte ihr ein Leben geschenkt, während zur gleichen Zeit vielen anderen das Leben genommen worden war. Marie wusste nicht, ob sie über die Lage der Dinge glücklich oder traurig sein sollte. Oder beides zugleich.

„Es ist selten, dass jemand hier an Bord auf das Meer hinausschaut“, unterbrach eine Stimme ihre Gedanken.

Marie wandte sich erschrocken um und sah einen jungen Mann, eher klein und hager, leicht lockiges kastanienfarbenes Haar, große, dunkle Augen, Haut mit einem leichten Gelbstich. Seine Kleidung war abgewetzt und so unpassend zusammengestellt, dass er unmöglich ein Passagier der Jafet sein konnte. Er lächelte sie mit seinem breiten Mund an.

„Die meisten Passagiere stellen ihre Liegestühle so, dass sie auf den Tennisplatz oder den Pool blicken können“, sagte der Mann und stellte sich neben Marie an die Reling. „Sie mögen das Meer nicht.“

„Mrs. Livarot hat auf das Meer geschaut, als sie mich entdeckt hat“, wandte Marie ein.

„Das ist wahr. Sie macht das jedes Mal, wenn sie ungestört Kekse essen will“, erwiderte der Mann. „Sie fühlt sich unbeobachtet, wenn sie sich an die Reling stellt.“

Marie empfand diesen Blickwinkel auf ihre Lebensretterin als ungerecht, doch sie erwiderte nichts. Sie betrachtete die Wellen, die singend ihre Gischt gegen den Rumpf des Schiffes warfen.

„Ich bin auf dem Meer zu Hause. Vermutlich mag ich es deshalb“, sagte sie stattdessen. „Mrs. Livarot und die anderen sind vom Festland. Ansonsten würden sie das Meer sicher auch lieben.“

„Ich liebe das Meer, seit ich es das erste Mal gesehen habe“, sagte der Mann, ohne Marie anzublicken. Zwischen den Wolken tropften die Strahlen der tief stehenden Sonne wie Honig. Der Wind tanzte auf den Kronen der Wellen.

„Sind die von dir?“, fragte Marie unvermittelt und zeigte auf ein paar provisorische Angeln, die mehrere Schritte von ihr entfernt an die Reling gebunden waren und deren Schnüre ins Wasser hingen und neben dem Schiff durch die Wellen gezogen wurden.

Der Mann nickte.

„Was benutzt du als Köder?“

„Stücke von einem Fisch, der so ungeschickt war, sich fangen zu lassen“, erwiderte der Mann.

„Wie viel fängst du auf diese Weise?“

„Nicht viel. Zwei oder drei Fische am Tag. Es reicht für Fischsuppe einmal pro Woche.“

Marie betrachtete belustigt die Angelruten, die scheinbar aus zusammengesteckten Gardinenstangen bestanden, an deren Enden Wollfäden gebunden waren. Sie glaubte, dass der Mann maßlos übertrieb. Wenn er mit diesen Angeln einen Fisch am Tag fing, dann war er gut.

„Du solltest es mit Netzen versuchen, wenn du mehr fangen willst“, sagte sie. Sie selbst hatte zwar keine Netze mehr benutzt, seit sie allein aufs Meer hinausgefahren war, weil die Handhabung für eine einzelne Person zu schwierig war. Sie hatte in dieser Zeit lange Leinen ausgeworfen, an denen in regelmäßigen Abständen Dutzende von Ködern angebracht waren. Auf diese Weise hatte sie zwar weniger gefangen, doch dieser Nachteil wurde durch die höheren Preise ausgeglichen, die in den Markthallen für diese Fische bezahlt wurden. Netze beschädigten die Haut der Fische, und in den Nobelrestaurants in den Städten bevorzugte man Fische mit gesunder Farbe und unbeschadeter Haut, und das ließ man sich etwas kosten. Dennoch waren Netze allemal effektiver als diese Angeln im Heck der Jafet.

„Ich glaube, wir haben keine Netze“, erwiderte der Mann.

„Wenn du dickes Garn an Bord findest, kann ich dir daraus Netze knüpfen, wenn du willst. Ich weiß, wie das geht.“

„Falls ich so etwas finde, komme ich gern darauf zurück. Vielen Dank für das Angebot.“

Eine der in letzter Zeit selten gewordenen Möwen flog vor ihnen her und schwebte in der Luft und dachte sich ihren Teil, was auch immer Möwen denken mochten beim Anblick zweier sinnlos umherstehender Menschen.

„Wohin fahren wir eigentlich?“, fragte Marie nach einiger Zeit.

„Wir folgen der Küste“, erwiderte der Mann. „Wenn wir Glück haben, treffen wir auf einen Hafen, der die Katastrophe überstanden hat, und können dort auftanken. Es scheint, dass wir nicht mehr viel Treibstoff haben.“

Im Westen senkte sich die Sonne über den Horizont und küsste das Meer, ohne ein Wort zu sagen. Die Dämmerung begann, sacht wie ein Schleier vom Himmel zu schweben.

„Ich habe dich schon mal gesehen“, sagte Marie. „Unten in der Küche, glaube ich.“

„Ja, das kann sein“, meinte der Mann. „Ich bin James Grieve, ich arbeite in der Küche als Essensdekorateur.“

„Angenehm. Ich bin Ingrid Marie“, erwiderte Marie und reichte ihrem Gegenüber die Hand.

Grieve schüttelte diese lächelnd.

„Wie bist du Essensdekorateur geworden?“, fragte Marie und betrachtete die Wellen, die sich auf dem Meer herumtrieben. „Hat dein Vater das auch schon gemacht: Essen dekorieren?“

„Nein, früher bin ich einmal Zauberer gewesen. Auf Jahrmärkten“, erwiderte Grieve.

Er wühlte eine Münze aus seiner Hosentasche.

„Schau!“, sagte er und hielt die Münze zwischen Daumen und Zeigefinger vor Maries Gesicht. „Achte genau auf die Münze. Lass sie nicht aus den Augen.“

Er griff mit der anderen Hand die Münze, vollzog mit dieser einige geheimnisvolle Bewegungen und öffnete dann beide Hände. Die Münze war verschwunden.

„Wie hast du das gemacht?“, fragte Marie erstaunt. Sie tastete Grieves Ärmel ab, betrachtete seine Hände von allen Seiten, doch die Münze kam nicht mehr zum Vorschein.

„So etwas habe ich damals auf Jahrmärkten vorgeführt“, sagte Grieve.

Marie nickte.

„Und wieso dekorierst du heute Essen?“, fragte sie dann.

„War nicht so einträglich, das Zaubern. Als ich eines Tages bei einem Volksfest Kunststückchen vorführte, ankerte gerade die Jafet vor der Insel.“

„Vor welcher Insel?“

„Ferdinandea.“

„Du kommst von Ferdinandea?“

„Zumindest bin ich dort geboren. Du kennst die Insel?“

„Nein, noch nie gehört, den Namen.“

„Ein Offizier der Jafet sah damals die Vorführung“, fuhr Grieve fort. „Und weil am Tag zuvor ihr Essensdekorateur gestorben war, brauchten sie schnell einen neuen, bevor das Schiff aufs Meer zurückkehren würde. Der Offizier fragte mich, ob ich das nicht machen wolle, weil Essen hübsch aussehen zu lassen auch nicht schwerer sein könnte als Zauberkunststückchen vorzuführen. Seitdem bin ich auf der Jafet.“

Eine der Angeln zuckte und wand sich, doch dann wurde sie wieder still.

„Wahrscheinlich hat ein Fisch sich den Köder geholt“, sagte Grieve, „ohne sich für den Haken zu interessieren.“

Er zog die Angel aus dem Wasser, indem er die Schnur um seine Hand wickelte. Tatsächlich hing am Ende nur ein nackter Haken, dessen Aussehen Marie an eine verbogene Gabel erinnerte. Grieve warf die Angel einfach wieder aus, ohne sie mit einem neuen Köder zu bestücken. Der Haken verschwand im Meer, das langsam schwarz wie der Himmel wurde.

Mrs. Livarot hatte etwas von einem Pinguin oder Kreuzfahrt am Ende der Zeit

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