Читать книгу Jägerschnitzel - Carsten Bloch - Страница 4
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ОглавлениеEs dämmerte bereits, als Roderich von Dyke die Autobahnabfahrt nahm. Er war fast die ganze Nacht gefahren, weil er einfach weg gemusst hatte. Weg von dieser Ignoranz, die ihn im Filmstudio umgeben hatte.
Er, Roderich von Dyke, war einer der ganz großen deutschen Charakterdarsteller. Er hatte mehr Talent im kleinen Finger als das, was sich heutzutage alles Schauspieler in Hollywood nannte, in ihrem ganzen Körper inklusive silikonverstärkter Körperimitate. Als Engländer hätte man ihn sicher als wunderbaren Shakespeare-Mimen tituliert. Aber in Deutschland spielte man keinen Shakespeare, nur Goethe und so einen Quatsch. Damit konnte man nicht groß rauskommen. Goethe-Mime. Wie das schon klang. Nicht wie große Kunst. Eher wie ein Sahnekuchen. In Deutschland dachte man bei großen Künstlern sowieso höchstens an Essen und nicht an Kunst. An Schiller-Locken. An Mozart-Kugeln. Selbst Kleist war in Deutschland nur der Name eines Plattfisches für den Kochtopf.
Authentischer! Spielen Sie den Tremel doch mal etwas authentischer!
So etwas hatte er sich beim Dreh anhören müssen. Von einem jungen Schnösel von Regisseur, dessen Talente gerade mal ausreichten, Action zu brüllen, und selbst darin war in nicht mal besonders gut. Sein Haupttalent bestand eigentlich nur darin, dass er sich erfolgreich verwandtschaftlicher Beziehungen zum Programmdirektor bezichtigen konnte.
Authentischer!
Wenn es jemanden gab, der seine Rollen authentisch spielte, dann er, Roderich von Dyke. Seit er in einer Vorabendserie den Kommissar Tremel gab, redete ihn der Pförtner mit „Herr Kommissar“ an, in der Mittagspause fragte man ihn über Rheumamittel aus, seit er in einer anderen Serie den Doktor Wiedelhupf spielte, und erst neulich hatte man ihn in eine Talkshow zum Thema Haute Cuisine eingeladen, nur weil er einmal im Fernsehen als Restaurantkritiker aufgetreten war. Wenn er eine Rolle spielte, dann so authentisch, dass die Zuschauer daran glaubten, dass er der Tremel war oder der Wiedelhupf. Man nahm ihm gar nicht mehr ab, dass dies nur eine Rolle war, die er spielte, so gut war er.
Authentischer!
So hatte Roderich sich nach dem Dreh einfach einen Wagen aus dem Bavaria-Filmwagenpark genommen und war losgedüst. War noch kurz zu Hause vorbei, um ein paar Sachen zu packen und dann auf die Autobahn rauf und immer geradeaus. Richtung Norden. Kurz vor Hamburg war er schließlich müde geworden und hatte daher die nächste Abfahrt genommen. Ohne besonderes Ziel eierte er danach über die Landstraße.
Die Sonne bog sich im Osten bereits über den Horizont und klebte lange Schatten auf die Fahrbahn, bevor sie sich schließlich hinter ein Waldstück zurückzog. Als der Wald Feldern Platz machte und schließlich ein paar Häuser auftauchten, kündigte ein Schild am Straßenrand die Ortseinfahrt von Hützel an. Etwas weiter die Straße entlang erkannte Roderich ein weiteres Schild, das bereits das Ortsende von Hützel androhte.
Ein Kaff wie dieses war genau das richtige, dachte er sich. Klein, unscheinbar, einsam, langweilig. Auf den meisten Straßenkarten vermutlich noch nicht einmal vermerkt. Ein Dorf, in dem nichts Aufregendes passierte. Wo jeder Tag so einförmig aussah wie der andere. Wo die Nachrichten-Highlights am Abend in der Dorf-Kneipe verkündeten, dass die Kuh X des Bauern Y gekalbt hatte oder die Rosen von Oma Z vertrocknet waren. Hier würde er sich ausruhen können, zu sich kommen. Die Gleichförmigkeit genießen. Niemand würde ihn hier vermuten oder gar finden. Hier würde er warten können, bis sie sich Sorgen machten und auf Knien um seine Rückkehr bettelten. Bis der Schnösel von Regisseur einsehen würde, wie wenig authentisch seine Serien herüberkommen würden, wenn deren großartiger Star ihnen mit seiner Authentizität nicht so etwas wie Niveau einhauchen würde.
Roderich parkte den BMW am Straßenrand vor einem roten, zweistöckigem Backsteinhaus, dessen mit Neonlampen geformten Buchstaben über dem Eingang das Gasthaus Zur fröhlichen Eiderente verkündeten.
Um sicher zu gehen, dass ihn niemand erkannte, klebte er sich einen Schnurrbart unter die Nase. Er liebte diesen Schnurrbart. Er hatte ihn mal getragen, als er in einer Doku-Serie den Nietzsche gespielt hatte. Danach hatte er den Bart einfach behalten, weil er so wahnsinnig echt ausschaute. Seit dem trug er ihn jedes Mal, wenn er inkognito in München unterwegs sein wollte. Und es hatte ihn tatsächlich noch nie jemand erkannt, wenn er den Bart trug.
Sicherheitshalber setze er sich noch eine dicke Sonnenbrille auf die Nase und warf sich seine schwarze Sporttasche, die er gerade erst am Tag zuvor bei Lidl erworben hatte, über die Schulter. So, wie er jetzt aussah, wäre er problemlos als bärtiger Karl Lagerfeld durchgegangen. Oder als bebrillter Lech Walesa. Je nach Vorlieben.
Roderich betrat das Gästehaus.
Die Einrichtung in der Empfangshalle, wenn man den kleinen Raum hinter der Tür so nennen mochte, war alt. Sie sah aus wie aus den 50er Jahren. Und auch so, als ob sie bereits seit jener Zeit im Gebrauch war. Auf der Fensterseite standen zwei dicke rosa Plüschsessel, zwischen denen sich ein kleiner runder Tisch mit Plastikblumen befand. Der Blick durch das Fenster war durch eine vergilbte Gardine halb verdeckt. Seitlich zu den Sofas gab es einen Tresen aus dunklem Holz, hinter dem Schlüssel an in die Wand gehauenen Nägeln hingen. Neben dieser Rezeption befand sich ein ausgestopftes Tier, das eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Fuchs hatte. Am Ende der Empfangshalle führte eine schmale Holztreppe steil nach oben zu den anderen Stockwerken, neben der Treppe führte eine mit Milchglas versehene Tür in einen Nebenraum.
Roderich betätigte eine angerostete Schelle, die an eine Fahrradklingel erinnerte, und aus einem der Räume hinter dem Tresen kam wenig später ein dicklicher Mann in Anzug und mit Fliege angeschlurft.
„Was kann ich für Sie tun?“ fragte dieser, nachdem er umständlich Platz hinter der Rezeption genommen hatte.
„Ich hätte gern ein Zimmer“, erklärte Roderich und stellte seine Sporttasche neben der Rezeption ab. „Sie haben doch welche, oder?“
Hans-Günther, der Besitzer der Eiderente, sah seinen Gast spöttisch an. Klar gab es hier Zimmer. Mehr als nötig. Als er vor 17 Jahren das Gasthaus eröffnet hatte, hatte er noch geglaubt, Touristen in diese Gegend locken zu können. Immerhin war das Meer nicht weit und auch Hamburg nicht. Also hatte er 8 Fremdenzimmer eingerichtet, doch scheinbar hatte es sich bei den Touristen noch nicht herumgesprochen, dass das Meer nicht so weit war. Und Hamburg auch nicht. Die einzigen Leute, die hier übernachteten, waren Verwandte, wenn mal einer aus dem Dorf oder dem Nachbardorf heiratete oder seinen 60sten Geburtstag feierte. Manchmal gab es auch einen Geschäftsmann, der kein Hotel mehr in Hamburg bekommen hatte und deshalb mit mürrischem Gesicht bei ihm eincheckte. Aber das waren gästetechnisch gesehen schon die Höhepunkte.
Hans-Günther hatte es sogar mal mit Werbung versucht. Hatte in einigen überregionalen Zeitschriften sein Gästehaus als „Hotel mit eigener Sportanlage vor den Toren Hamburgs, Meeresnähe, ideal zur Erholung“ angepriesen. Das mit der Sportanlage stimmte zwar nicht, aber da hätte er sich bei Bedarf schon etwas aus den Fingern gesogen. Der Squashplatz würde gerade renoviert oder der Swimmingpool würde gerade gereinigt werden oder so. Ihm wäre schon etwas eingefallen, warum Sport ausgerechnet in diesen Tagen nicht möglich sein würde. Aber es kam noch nicht mal soweit, dass er sich eine erfolgreiche Lüge ausdenken musste, da sich nie ein Tourist bei ihm gemeldet hatte. Das einzige Ergebnis der Anzeige war, dass er eine telefonische Anfrage erhalten hatte, ob sein Hotel über die technischen Möglichkeiten verfügen würde, dass man dort einen internationalen Kongress zum Thema Der Außerirdische als Freund und Helfer mit 200 Teilnehmern durchführen könnte.
„Natürlich haben wir hier Gästezimmer“ sagte Hans-Günther. „Ich gebe Ihnen am besten unser Bauernzimmer. Da haben Sie Blick auf die Hauptstraße, das ist sehr beliebt. Wie lange wollen Sie denn bleiben?“
„Ein paar Tage“, erwiderte Roderich. „Ich weiß noch nicht.“
„Ein paar Tage“, wiederholte Hans-Günther und kramte das Gästebuch hervor. Die Gäste, die normalerweise kamen, blieben nur eine Nacht, höchstens zwei. Auf jeden Fall wussten sie, wie lange. Dieser Gast war durchaus seltsam. Er trug einen offensichtlich falschen Schnurrbart und wollte eine unbestimmte Zeit hier verbringen. Abgesehen davon hatte er das Gesicht auch schon mal gesehen. Es kam ihm bekannt vor. Er konnte sich nur nicht erinnern, wo das gewesen war.
„Welchen Namen darf ich notieren?“ fragte Hans-Günther.
„Welchen Namen?“ Ja, welchen Namen? Seinen eigenen konnte Roderich schlecht angeben, dann wäre seine ganze Verkleidung zwecklos gewesen. Wenn sich herumsprechen würde, dass der großartige Charakterdarsteller Roderich von Dyke hier untergekommen wäre, würde bereits am nächsten Tag die Presse vor der Tür lauern. Er könnte seinen Geburtsnamen nehmen. Franz Müller. Oder war das Heinz Meier gewesen? Er stellte fest, dass er sich schon gar nicht mehr genau daran erinnern konnte. Irgendwas Banales war es gewesen. So banal, dass nicht mal sein eigenes Gedächtnis ihn festhalten konnte. Ein Name, der den Zuschauer hätte einschlafen lassen, wenn er ihn im Abspann des Filmes gelesen hätte. Deshalb hatte er sich gleich zu Beginn seiner Schauspielkarriere einen glanzvollen Namen zugelegt: Roderich von Dyke. Das klang kraftvoll, elegant, imposant, edel.
Der Name hatte ihm schon als Kind gefallen. Damals hatte der Hund von seinen Nachbarn so geheißen.
In dieser Situation war aber ein Name gefragt, mit dem man nicht auffiel. Einen, der in dieser Gegend so alltäglich war, dass hier alle so hießen.
„Petersen“, sagte er schließlich. „Roderich Petersen.“ Er erinnerte sich, an der Ortseinfahrt an einem Laden das Schild Bäckerei Petersen gesehen zu haben. Das schien ein ganz guter Name zu sein für diese Gegend. Einfach, gewöhnlich. Unauffällig.
„Herr Petersen“, schrieb Hans-Günther in sein Gästebuch. Er nahm einen Schlüssel von der Wand und reichte ihn Roderich. „Zimmer 4. Ihre Tasche werde ich Ihnen gleich aufs Zimmer bringen.“
„Kann ich hier auch etwas zu essen bekommen?“ fragte Roderich.
„Aber klar“, antwortete Hans-Günther. „Ich werde unsere Frau Kock anrufen, die wird Ihnen ein wunderbares Frühstück zaubern. Gehen Sie ruhig schon mal in die Gaststube, sie wird dann in ein paar Minuten bei Ihnen sein.“
Hans-Günther nickte in Richtung der milchverglasten Tür, die neben der Holztreppe in den Nebenraum führte und an die schwarze Buchstaben geklebt waren, von denen nur noch stst zu lesen waren.
„Danke“, erwiderte Roderich und begab sich in die Gaststube, während Hans-Günther nach dem Telefonhörer griff und Lonas Nummer wählte. Während aus dem Hörer das Tuten erklang, starrte er gedankenverloren seine Eiderente neben dem Tresen an. Er hatte sie vor etlichen Jahren einmal selbst geschossen und dann auch selbst ausgestopft. Es war das erste und einzige Mal, dass er ein Tier ausgestopft hatte, und er fand seinen Versuch durchaus gelungen. So gelungen, dass er sein Gasthaus damals sogar nach dieser Ente benannt hatte. Zur fröhlichen Eiderente. Die meisten Leute meinten bei ihrem Anblick zwar, dass sie aussehen würde wie ein zu groß geratener Maulwurf, aber das war natürlich Quatsch.
Er hatte noch nie einen Maulwurf mit drei Beinen gesehen.