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Episode 37: Argwöhnisch äugt der Argus
ОглавлениеDie griechische Mythologie ist längere Zeit in unserer kleinen aber feinen Kolumne ein wenig vernachlässigt worden. Dabei hat diese Phantasiewelt mit ihren abgefahrenen Freaks, Jehovas und Chimären immer ein paar Kreaturen parat, die sprichwörtlich geworden sind, da sie es aufgrund ihrer Taten und Begabungen einfach werden mussten. Etwa Sisyphus [siehe Episode 3] oder Pandora [siehe Episode 7] oder Herkules [siehe Episode 8] oder Phönix [siehe Episode 24]. So ebenso das mythologische Überwachungsgenie, welches für die Argusaugen verantwortlich zeichnet.
Wenn man auf eine besonders scharfe Beobachtung hinweisen möchte, die meist durch (berechtigtes) Misstrauen begründet ist oder wird, dann spricht man davon, jemanden oder eine Sache mit Argusaugen zu beobachten, zu bewachen. Das dazugehörige Adjektiv argusäugig bedeutet „scharfäugig“, „sehr wachsam“. Sehr wachsame bis misstrauische Personen, Organisationen und staatliche Stellen haben Argusaugen, mit denen sie aus ihrer subjektiven Sicht auf etwas Suspektes, Auffälliges, Verdächtiges (hinunter)blicken.
Der Eigentümer der angesprochenen Augen ist der Riese und Hirte Argus (unlatinisiert <griech.> Argos), der von der Göttin Hera zum Hüter der in eine Kuh verwandelten Io bestimmt wurde.
Sein vollständiger Name lautete Argus Panoptes – „der Allessehende“ – und dieser Titel war Programm, von einer Aufsehen erregenden anatomischen Ausstattung ist die Rede: Sein ganzer Körper soll mit Augen übersät gewesen sein, wobei sich die meisten Quellen auf hundert Stück festlegen. Die Zaudernden unter den Autoren beschreiben Argus einfach als „vieläugig“.
Die Sagengestalt wird mutmaßlich erstmalig in „Die Schutzflehenden“ des griechischen Tragödiendichters Aischylos (um 525-456 v.Chr.) erwähnt. In diesem Stück wird in der Stadt Argos der „allesschaunde Hüter“ der Kuh Io vorgestellt. Und dieser „allerspähnde Hirte“ trüge (ebenso) den Namen des Fluchtortes.
Im Deutschen ist der Ausdruck „Argusaugen“ Ende des 17. Jahrhunderts erstmalig belegt. Noch Friedrich Schiller (1759-1805) bemüht das Bild des aufmerksamen Hüters allerdings (auch) ohne Augen: In „Kabale und Liebe“ (1784) lässt er den Sekretär Wurm doppelt sagen: „Halten Sie sich deswegen an den Major – an den Major – der mich den ganzen Tag wie ein Argus hütet.“ (III, 6) Und in „Maria Stuart“ (1800) spricht der Graf von Leicester davon, „wie ein Gefangener vom Argusblick der Eifersucht gehütet“ zu sein (II, 8).
Laut Mythologie qualifizierte sich Argus übrigens nicht nur allein wegen seiner Vieläugigkeit und der grandiosen Weit- und Übersicht als Riese für den Hüterjob. Ein ganz besonderer Trick ermöglichte es ihm außerdem, die Überwachungstätigkeit ohne Ablösung und Urlaub permanent zu garantieren: Von seinen zahlreichen Augen schloss er jeweils immer nur ein Augenpaar (oder ein paar Augen?), um zu „schlafen“, kam folglich seinen Arbeitspflichten durchgehend Tag und Nacht ohne Pause nach, eine Arbeitnehmer-Rundum-Einsatzfähigkeit, wie sie sich heute der gemeine Arbeitgeber nur erträumen kann; aber die Gentechnik steht ja erst am Anfang ...
Allerdings nicht nur auf gewisse Arbeitgeber wirken die Fähigkeiten des mythologischen Wächters beeindruckend, sondern sicherlich gleichfalls auf so manchen Innenpolitiker, der sich mehr oder weniger heimlich wünscht, seine Beamtenschergen wären mit solchen Augen für die Totalüberwachung des Volkes ausgestattet. Die biologischen Überwachungskameras könnten sich dann konspirativ unter die viel zu undurchsichtigen Bürger mischen, besonders in ausgemachten „Gefahrenbereichen“ (also in der gesamten Stadt).
Im Interesse freiheitlich gesinnter Bürger (hoffentlich gibt's davon noch ein paar?!) sollten folglich die innenpolitischen Aktivitäten und „Zukunftskonzepte“ gewisser Staatskünstler mit Argusaugen beobachtet werden.
In der griechischen Sagenwelt hat der Hüter mit den vielen Sehorganen aber lediglich EIN Rindvieh über- und bewachen müssen, womit mir eine grandiose Überleitung aus der Realpolitik zurück zur netten Ursprungsgeschichte gelungen ist, die ich ja noch gar nicht näher ausgeführt hatte:
Io war im Hauptberuf hübsch und Priesterin der Göttin Hera sowie nebenberuflich als Geliebte des Zeus tätig, der ja bekanntlich – rein formal – mit Hera eine offizielle Liaison (Ehejoch) hatte. Die amtliche Gattin war zufällig auch Schutzgöttin des ehelichen Lebensbundes, der i.d.R. lediglich höchstens vier Jahre gleichfalls ein Liebesbund ist. Daneben soll Hera obendrein die Schwester des Zeus' gewesen sein, denn verworren-inzestiöse Verwandtschaftsverhältnisse galten in der griechischen Sagenwelt als schick.
Dummerweise ließ sich Zeus – der bekanntlich hinter jeder Eva her war, egal ob göttlich, halbgöttlich oder sterblich – von seiner Gattin/Schwester mit der bildschönen Io in flagranti [siehe Episode 9] erwischen. Hera sagte daraufhin zu der Nebenbuhlerin „Du olle Schlampe!“ (damals galt diese Titulierung noch nicht als Kompliment) und verwandelte die Geschlechtsgenossin kurzerhand in eine weiße Kuh, was höchstwahrscheinlich Ios Anziehungskraft auf die Männerwelt etwas reduzierte, auch wenn die Quellen (sarkastisch?) von einer „schönen Kuh“ berichten.
Interessanterweise gibt's hinsichtlich dieser spontanen Kuhentstehung noch eine alternative Version innerhalb dieser ansonsten geläufigen Dreiecksgeschichte: Danach soll Zeus es gewesen sein, der seine Geliebte – quasi als Tarnung – in die Färse verwandelt hat, um die Gespielin vor der plötzlich auftauchenden rachsüchtigen Alten in letzter Sekunde in Sicherheit zu bringen. Hera war zwar eifersüchtig und aus Männersicht eine Spielverderberin, aber dumm war sie nicht. Sie durchschaute das Spiel und erbat die Kuh als Geschenk. Der erwischte Gatte/Bruder konnte nicht ablehnen, ohne sich verdächtig zu machen, und so kam die mutierte Io in Isolationshaft und Argus wurde von Hera als unüberwindbarer Wächter angestellt, sodass sich nie wieder der liebestolle Gatte/Bruder der jüngeren, attraktiveren Rivalin nähern könne.
Bei der Argus-Fabrikation soll übrigens eine Nymphe den weiblichen Part übernommen haben. Und die Nymphen, die verführerischen, jugendlichen Göttinnen des Lebens in der freien Natur, gelten bekanntlich als Töchter des Zeus; so schließt sich der Kreis und Zeus, wie immer, mit geballter Manneskraft mittendrin statt nur dabei.
Soweit die Beschreibung, wie jener Argus zu seinem Job kam, der für die Erläuterung der Redewendung bedeutsam war.
Nun gab es in der griechischen Mythologie aber nicht nur eine Person, die angelaufen kam, wenn man rief: „Argus, Essen ist fertig!“ Zumal meine Abhandlungen ja für ihre wissenschaftliche Genauigkeit berühmt sind (die mancher Kleingeist als sophistisch diskreditiert), muss ich noch kurz die restlichen erwähnen:
Da wäre zum einen bzw. schon wieder der Potenzprotz Zeus. Einen seiner unzähligen Söhne hatte er gemeinsam mit der Königin Niobe – der Frau, die allzu sehr und einmal zu oft mit ihrer Gebärfreudigkeit prahlte und dafür abgestraft wurde. Ihr Zeus-Sprössling brachte es immerhin zum Namensgeber und Held der peloponnesischen Landschaft Argolis und war Gründer der dazugehörigen Hauptstadt Argos (s.o.). In Argos befand sich übrigens der Hauptsitz der schon charakterisierten Göttin Hera. Zumindest behauptet dies der örtliche Fremdenverkehrsverband; die Ruinen des Tempels können noch heute besichtigt werden.
Auch der mythologische Phrixos, der oft zusammen mit seiner baden gegangenen Schwester Helle erwähnt wird, hatte mit einer Dame namens Chalkiope einen Sohn, der Argos gerufen wurde. Dieser war der Erbauer und Namensvetter des Schiffes „Argo“, des plaudernden Vehikels der Argonauten, einer Gruppe von griechischen Helden, die sich unter der Führung von Iason für den Reimport des Goldenen Vlieses einsetzten. Manche Quellen kennen sogar noch einen zusätzlichen Argonauten namens Argos.
Dieser drei- bis vierfach vorkommende Argos/Argus führt des Öfteren zu Verwechslungen, insbesondere was Verwandtschaftsverhältnisse und Herkunft betrifft, vielleicht auch in diesem Beitrag!?
Zumindest können Sie nun, falls das Stichwort „Argus“ fällt, über die fingierte Frage „Welcher Argus?“ rabulistisch von Ihrer jüngst erworbenen Bildung Gebrauch machen. Die beiläufige Ergänzung, dass wohl Argus Panoptes gemeint sein muss, wenn's um optische Leistungsfähigkeit bzw. die bekannte Redewendung geht, lässt den Durchschnittsbürger demütig verstummen, und Sie können mit obiger Geschichte beginnen (und vergessen Sie nicht, auf die zwei Theorien der Kuhentstehung hinzuweisen!).
Wenn nach dieser Lektion noch jemand außer Ihnen im Raum ist, dann können Sie mit der Klugscheißerei erst richtig loslegen, denn auch auf die Zoologie hat Argus Panoptes abgefärbt:
Die Familie der Argusfische (Scatophagidae) besteht aus den beiden Gattungen Scatophagus und Selenotoca und nur wenigen Arten. Die Fische werden ca. 30 cm lang und weisen einen seitlich stark zusammengedrückten Körper mit zwei Rückenflossen auf, wobei die vordere mit Giftstacheln versehen ist. Der Gemeine Argusfisch (Scatophagus argus) ist mit vielen runden schwarzen Flecken übersät.
Argusfische sind vor allem an tropischen Meeresküsten und in Brackgewässern des Indischen und Pazifischen Ozeans beheimatet. Sie ernähren sich vorwiegend von organischen Abfällen und sind deshalb oft in Hafennähe und Abwasserzonen anzutreffen. Der Gattungsname Scatophagus, der „Kotfresser“ bedeutet, weist auf diese Exkrementen-Präferenz hin. Argusfische sind beliebte Speisefische; bei der Zubereitung sollte man auf die Stacheln achtgeben.
Nach Argus Panoptes ist aber fernerhin ein Hühnervogel benannt, der zur Familie der Fasanenartigen (Phasianidae) gehört und vor allem in den Wäldern Sumatras, Malakkas und Borneos beheimatet ist: Der Argusfasan (Argusianus argus), auch bekannt unter dem Pseudonym Arguspfau, was missverständlich ist, denn es handelt sich nicht um einen Pfau, sondern um einen Fasan (Phasianinae), sogar um einen Pfaufasan (Argusianinae); aber das hätte ich gar nicht erwähnt, wenn ich kein Rabulist wäre.
Das unspektakuläre Weibchen tut (nicht nur) bei Fasanen nichts zur Sache, aber das hübsche, farbenprächtige Männchen: Kopf und Hals sind leuchtend blau, die beiden mittleren Schwanzfedern erreichen eine Länge von bis zu zwei Metern und die stark verlängerten Oberschwanzdecken sind mit schillernden farbigen reflektierenden Augenflecken verziert. Aber diese Gefiederpracht zeigt sich erst bei der eigentümlichen Balz des Argusfasans: Dann entfaltet der Hahn seine großen, breiten Armschwingen und die schillernden Augenflecken werden sichtbar. Ferner stellt er die Schwingen derart nach vorne, dass diese quasi einen Federschild bilden. Durch das verbleibende kleine Loch in der Mitte schaut er dann nach der angebeteten Henne. Darüber hinaus stellt der balzende Hahn noch seine beiden überlangen mittleren Schwanzfedern hoch auf, sodass sie den großen Flügelfächer überragen.
Dieses oder ein ähnliches Schauspiel haben wir alle schon einmal im Tierknast (beschönigend „Zoo“ genannt) als besondere Attraktion begafft. Oft wird dort ein naher Verwandter des Argusfasans ausgestellt, der Blaue Pfau (Pavo cristatus), der ebenfalls zur Familie der Fasanenartigen gehört und an dessen Gehege alle stundenlang gewartet haben, bis er endlich sein Pfauenrad schlug oder der Zoo zumachte.
Die Augen auf dem Pfauenschweif sollen wahrhaftig die Original-Argus-Augen sein – behaupten die Griechen! Wie das geschehen konnte, berichte ich Ihnen vermutlich das nächste Mal. Dann werde ich gleichfalls das äußerst tragische Karriereende unseres Überwachungsgenies erläutern. Diesbezüglich sei nur soviel schon verraten: Er wurde quasi von einem passionierten Dieb, Kaufmann und Betrüger mit komischem Hut und Flügelsandalen totgeflötet und -gelabert. Besonders kluge Leser (also wieder mal ALLE) können den Argustöter auch prompt benennen; aber wenn Sie jetzt spekulieren, der hätte etwas mit der Kunst des absolut dichten Verschließens zu tun, dann liegen Sie nicht völlig aber ziemlich falsch. Über die landläufige Verwechslung des Argus-Killers mit einem Namensvetter kläre ich Sie besserwisserisch in der nächsten Folge auf.
cboth 02 03ep37v0