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2. Wechselspiel der Generationen

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Bis zuletzt pfiffen die regelmäßigen Brisen in arktischer Manier um die Kehrwiederinsel und damit auch über die roten Dachziegel unseres Backsteinhauses. Doch wie auf Kommando endete dieser letzte winterliche Ansturm. Nun schien der Wind, der „quirlige Freund des Seemanns“ ein verspätetes Nachsehen mit allen Zuhausegebliebenen zu haben, die den wahrhaftigen Frühling herbeisehnten und dem unbeständigen Wetter ihre Kehrseiten zeigen wollten. In einem Moment der Stille schaute ich aus dem Dachfenster unseres Hauses hoch über den Landestegen, um das emsige Treiben im Binnenhafen am ersten Frühlingstag zu verfolgen.

Die Kinder und ich waren heraufgekommen, um nochmals meine Reisen über den Atlantik gemeinsam zu durchleben. Sie hatten inzwischen Durchhaltevermögen gewonnen und ich brauchte so etwas wie eine Eigenbehandlung gegen die nächtlichen Angstzustände, die meine Frau Lisa und mir schwer zu schaffen machten. Nicht, dass uns nach ebenjener Nacht der Schlaf früh morgens fehlte. Gelegentlich hatte Lisa meine geballte Faust gespürt, weil ich in meiner Fantasie gegen sämtliche amerikanische Feinde gleichzeitig kämpfte. Ich musste mich dem Problem stellen. So konnte das nicht weitergehen. Sonst würde womöglich Lisa bald mit einem blauen Auge aufstehen müssen.

Meine erste Geschichte hatten die Kinder bereits geduldig ertragen, ja sogar mit Begeisterung vernommen, ohne dass ich hier übertreiben wollte. Ich hatte mich gewiss nicht als Held verkauft. Von meinen nächtlichen Störungen wollte ich sie allerdings nicht in Kenntnis setzen.

Als junger Kerl trieb es mich damals zum Walfang, voll von quälendem Fernweh, tugendhaften Idealen, dem Wunsch nach Anerkennung und mit den dazugehörigen Hummeln im Hintern. Dann die Ernüchterung auf See, der qualvolle Tod der Tiere, das viele Blut durch die Zerstückelung und meine vorsichtige Abkehr von diesem einträglichen Gewerbe, dessen Wert zweifelsohne für die Entwicklung der Menschen nicht geschmälert werden sollte, doch ich wollte nie wieder etwas damit zu tun haben.

Nun hatte ich selbst einen neugierigen Sohn in diesem Alter, der die Welt in ihrer Unermesslichkeit kennenlernen wollte. Mit den gleichen jugendlichen Hummeln? Ich war mir nicht sicher.

Leider blieb der Blutzoll der Völker in Form von Kriegen der Welt damals wie heute erhalten. Der 1775 begonnene und fortwährend andauernde Unabhängigkeitskampf der Amerikaner, die mit der englischen Krone gebrochen und sich bereits eigenen Gesetzen verschrieben hatten, sorgte wieder für Kriegszustände, die die Seeleute der neutralen Staaten nicht unberührt ließen. Nun also sollte mein Sohn Cornelius auf verantwortlichem Posten auf das Meer hinaus, wo gleichzeitig dieser weitreichende Konflikt ausgetragen wurde, dessen Ende nach zwei Jahren in keiner Weise absehbar war.

Derweil meinte ich, meinen Eltern heute mehr Verständnis für ihre Entscheidungen bezüglich meiner Erziehung entgegenzubringen. Anders allerdings vor zweiundzwanzig Jahren, als ich selbst um einen Platz als Seemann auf dem Walfänger kämpfen musste und meinte, meine eigenen Entscheidungen treffen zu dürfen. Damals hatten sie mir die Fahrt zunächst verboten und ich durfte überhaupt nur wegen Hinrichs Unfall an der ersten Walfangfahrt des Familienunternehmens teilnehmen. Deshalb sollte mein Sohn diesen Kampf mit den Eltern nicht ausfechten müssen. Aus Cornelius war ein kluger ansehnlicher junger Mann mit Begeisterung für die Handelsschifffahrt geworden – manchmal in seiner Art noch vorsichtig, zögerlich und nachdenklich, statt kühn und entschlossen. Oder möglicherweise auch behäbig, aber was er tat, hatte Hand und Fuß. Darauf kam es schließlich an, wenn man als Offizier eines Schiffes Verantwortung übernehmen wollte.

Meine Schwester Josephine hatte ich leider schon vor langer Zeit aus den Augen verloren. Doch ich wusste, dass ich sie irgendwann wiedersehen würde. Meine Tochter Caroline, Cornelius` ältere Schwester, hatte einige Talente mit ihrer Tante Josephine gemeinsam, ohne das Erbe ihrer Eltern in den Schatten stellen zu wollen. Sie beherrschte wie diese die Rechenkunst, die Josephine damals im Kontor von Kock & Konsorten idealerweise ausgelebt hatte. Äußerlich hingegen ähnelte Caroline mehr und mehr ihrer Mutter, mit den täuschend sanften grünen Augen und dem langen dunkelblonden Haar, das sie seit ihrer Jugend genauso hochsteckte, wie Lisa es gern tat, seitdem sie die Modejournale aus Paris las, die Tante Nathalie nimmermüde mitbrachte. Ja, manchmal dachte ich für einen Augenblick, Caroline statt Lisa lächelte mich an. In einem Punkt unterschied sich Lisa jedoch von allen anderen: Sie hatte eine ausnahmslos feinfühlige Intelligenz. Sie konnte mit Hirn und Bauch zugleich denken. Unsichtbare Signale verarbeitete sie mit magischen Schwingungen, die ihre Sinne aus der Umgebung einfingen. Wer weiß das schon genau, wenn es nicht greifbar ist! Zeitgenossen sollten sich davor hüten, in ihrer Nähe zu flunkern. Allein der Versuch löste kleine, rötliche gekräuselte Fältchen auf ihrer Stirn aus. Dadurch las sich allerhand aus ihrem ebenmäßigen zarten Gesicht ab, bevor es in Worte gefasst oder gar gröberes Unterfangen seinen Lauf nahm. Doch das passierte selten, denn eigentlich hatte sie immer ein nach Harmonie strebendes Wesen und Lisa fühlte sich durch ihre Religion allemal verpflichtet, mit ihren Mitmenschen friedlich auszukommen.

C. Hamburger Hafenviertel um 1755

Entgegen der üblichen Bauweise hiesiger Kaufmannshäuser fertigten wir den Speicher unterm Dach, auf dem wir uns gerade befanden, zum Wohnraum für besondere Anlässe um. Der himmlische Ausblick auf Elbe, Stadt und Hafen belohnte für die fantasievolle Mühe, die Lisa für die Planung des Objekts aufbrachte. Der dadurch fehlende Lagerraum war deshalb zu verschmerzen. Hier kamen wir nur mit der Familie zusammen. Die Dienste des Personals endeten auf den Lagerböden darunter, die mit erlesenen Waren aus aller Welt gefüllt waren, während die eigentlichen Wohn- und Geschäftsräume zu ebener Erde lagen. Wenn man die Stufen des Hauses betrat, vereinigte sich der ferne Wohlgeruch der Welt im Treppenhaus. Kakao-, Kaffee-, Muskat- und Vanillearomen, als nur einige von vielen anderen, rangen sackweise um duftende Dominanz auf den Lagerböden. Ich putzte die Augengläser mit meinem Taschentuch und war froh, den steten Druck der Kopf umklammernden Metallbügel einen Augenblick nicht spüren zu müssen.

Es war, wie sich später noch herausstellte, ein bedeutungsvoller freudiger Tag, der einen völlig anderen Durchblick erforderte. Nicht weil sich der Lenz nach vielen Fehlversuchen reichlich Mühe gab, den Winter endgültig zu vertreiben. Nicht weil heute die Christen der Himmelfahrt des Gotteskindes Jesus gedachten oder wir auf dem Dachboden waren und nicht wie gewöhnlich im Kontor arbeiteten, bis der Tag zur Nacht werde. Nein, wohlige Wärme umgab mich und ich atmete tief und tiefer ein, als ob mein Bewusstsein die Anker der Erinnerungen auf ewig festzurren wollte. Ein Kribbeln kroch unter meine alternde Haut, die bald das 44. Lebensjahr erreichen sollte. Berauschende Leichtigkeit steuerte jetzt meine Gedanken, die wie Quellen eines Jungbrunnens in mir sprudelten und mir das hier und jetzt bewusst machten.

Bedeutungsvolle Anzeichen des Generationswechsels waren zu erkennen und ich setzte meine Brille wieder auf, die mit ziemlicher Sicherheit ein Folterknecht erster Güte erfunden haben musste. Ein Stück Verantwortung übertrug sich wie von Geisterhand auf unsere Kinder Caroline und Cornelius. Sie waren jetzt innerlich bereit. Eigentlich nichts Außergewöhnliches, alles nahm seinen Lauf, wie in anderen Familien auch. Dennoch war es für mich kaum zu glauben und schließlich doch gleichermaßen beruhigend wie normal! Die Kinder positionierten sich unscheinbar wie von selbst und traten ihr unabdingliches Erbe gemächlich an, obwohl sie gestern noch Windelleinen gebraucht hatten. Oder war es etwa vorgestern gewesen?

Keines meiner Kinder sah heute irgendwie müde oder gelangweilt aus. Sie hatten noch immer das gleiche Leuchten in ihren Augen wie zuvor, als ich ihnen von den dramatischen Ereignissen des Jahres 1755 erzählt hatte. Erstaunlicherweise lauschten sie die ganze Zeit, ohne auch nur einen Mucks von sich zu geben. Wenn nur diese Brillenbügel weniger drückten!

Inzwischen war Lisa vom Besuch bei Nathalie, Simons Frau, wieder heimgekehrt – nicht zu verwechseln mit Tante Nathalie aus La Rochelle, die sie nicht einmal eben aufgrund der Entfernung besuchen konnte, wenn ihr danach beliebte. Lisa hatte sich kurz hier oben am luftigen Ende des Hauses sehen lassen. Sie horchte eine Weile meinen Erzählungen und war anschließend mit zufriedenem Lächeln nach unten in die Küche gegangen, um das festliche Mahl am Himmelfahrtstag zusammen mit unserer Köchin Kati zuzubereiten, wie sie es die letzten Jahre meistens getan hatte.

„Erzähl weiter, Vater!“, forderte mich Cornelius eindringlich auf, während er an seinem vollen dunkelblonden Zopf spielte, der für gewöhnlich seinen breiten Rücken zierte. Auch Carolines Gesten signalisierten Zustimmung und ich spürte nochmals kurz in kleinen Gesten ihre kindlichen Freuden, obwohl beide längst erwachsen waren.

„Könnt ihr denn überhaupt noch zuhören?“, fragte ich nachdenklich und zugleich provozierend, so wie sie es von mir gewohnt waren.

„Nun wollen wir auch noch wissen, wann der Walfänger Konstanze aus Amerika zurückkam“, sagte Caroline fordernd und Cornelius ergänzte: „Und wie es Onkel Jacob in Neufrankreich erging und den vielen anderen, von denen du eben erzähltest!“

„Caspar, Caro, Cornelius! Das Essen ist fertig. Kommt runter, ihr könnt nachher wieder mit Vater heraufgehen“, schallte es aus dem hölzernen Treppenhaus.

Lisa rief uns genau zur richtigen Zeit. Nicht nur mein leerer Magen, sondern auch meine heisere Stimme brauchte diese Unterbrechung. Noch nie hatten Caro und Cornelius so viel Interesse und Ausdauer für alte Familiengeschichten gezeigt, die allerdings wegweisend waren und bis heute noch sind. An diesen Tagen musste ich mir die Zeit nehmen, die Ereignisse meiner ersten Walfangfahrt und die Folgen der nächsten Generation der Kocks zu schildern. Es war eben ein besonderer Tag!

Schon bald saßen die Kinder und ich wieder auf dem Dachboden. Lisa hatte eine Armenspeisung nach der Abendmesse in St. Katharinen zu organisieren. Der Anteil der Armen in der Stadt hatte einen neuen Höchststand erreicht, genauso wie die Bevölkerungszahl insgesamt, die annähernd 100.000 Menschen ausmachte. Seit vielen Jahren setzte sie sich für die Bedürftigen des Sankt-Katharinen-Kirchspiels ehrenhalber ein. Sie tat es bestimmt nicht, weil ihr zuhause langweilig war. Lisa hatte ihre Arbeiten für die Kompanie und für die Familie genauso zu erledigen, wie wir alle unseren Teil zum Familienunternehmen beitrugen. Voraussetzung waren ohne Frage Neigung und Vorlieben - selbstverständlich. Wer wird schon Kapitän, wenn die Wasserscheu in einem wühlt? Mit Lisas Rückkehr aus Sankt Katharinen war am späten Abend zu rechnen. Sie diente dort Gott, wie sie sagte, und das tat sie gern und zum Wohle der Allgemeinheit. Wir hatten dementsprechend Zeit, unser Vorhaben auf dem Dachboden fortzuführen. Ich legte neues Holz in den Kamin und wir nahmen unsere Plätze unter dem Dach wieder ein. Wohl gestärkt legte ich los:

Knapp drei Wochen nach meiner Heimkehr feierten wir mehr oder weniger Weihnachten. Eure Großmutter, Charlotte Kock, erholte sich leider nie wieder von ihrer mysteriösen Krankheit, die ausbrach, während ich auf der Konstanze auf Walfang war. Im Gegenteil, ihr Zustand hatte sich weiter verschlechtert. Die Ärzte waren ratlos. Sie konnte nur stundenweise aufstehen und selbst von ihrem geliebten Gänsebraten rührte sie nichts an. Sie war inzwischen ziemlich kraftlos und wollte meistens nur schlafen, bis sie eines Morgens zu Beginn des Jahres 1756 nicht wieder aufwachte. Ihre unerklärliche Schwäche und der nagende Kummer, der sie zusätzlich durch das Fernbleiben des Walfängers quälte, zerrten an Mutters Lebensmut. Den letzten Kampf gegen die eingenisteten plagenden Geister hatte eure nie klagende Großmutter bald verloren.

Meine Schwester Josephine machte sich schwere Vorwürfe. Allerdings nicht gerechtfertigt, denn sie nahm Mutter bereits im Vorfeld ihrer Schwäche weitestgehend alle Arbeiten ab.

Zu allem Übel gab mir später mein großer Bruder Hinrich die Schuld für die Folgen seines Unfalls auf der Schiffswerft, der bekanntermaßen den Verlauf der Dinge auf den Kopf stellte. Er sagte es nie direkt zu mir. Jedoch kam mir zu Ohren, dass der Unfall, kurz vor der Jungfernfahrt unseres Wallfängers Konstanze, von mir verursacht worden sein soll. Das war unfassbar und ungeheuerlich! Die Kopfverletzung, die Hinrich durch den Werftunfall davon trug, führte erst zu meiner Teilnahme statt seiner. Was ihm als Motivation zu dieser fahrlässigen Unterstellung reichte. Ihr wisst es, Onkel Hinrich sollte nach dem Willen unserer Eltern an der ersten Walfangfahrt von unserem Familienunternehmen Kock & Konsorten teilnehmen. Seine Kopfverletzung und seine große Enttäuschung nicht zum Walfang fahren zu können, muss ihm damals die Seele vernebelt haben. Jedenfalls, mich hielten eure Großeltern für zu jung und unerfahren. Zeitlebens blieb ich für Charlotte und Johann-Ludwig Kock der kleinste Spross, der allenfalls behütet werden musste.

Einen Moment stockte ich. Immer noch wühlten die Ereignisse tief vergrabene Emotionen in mir auf, obwohl Hinrich und ich uns vor langer Zeit ausgesprochen hatten und zudem ein inzwischen sehr gutes Verhältnis pflegten. Cornelius nutzte die kleine Unterbrechung und legte Brennholz nach, denn der arktische Wind pfiff erneut über das Dach und machte alle aufgekommenen Frühlingsfreuden des Maimonats zunichte.

„Welche Gründe nannte Onkel Hinrich für seine unhaltbaren Vorwürfe, Vater?“, wollte Caroline unbedingt wissen, die selbstverständlich wusste, dass wir über den Schnee von gestern sprachen.

„Er meinte, da ich kurz vor dem Unglück noch auf dem Schiff zur Besichtigung gewesen war und er damals keine Zeit für mich hatte, wäre es möglich gewesen, die Befestigungen der Rampe zu lockern, auf dem der Rumpf des Schiffes ruhte.“

„Warst du denn wirklich auf dem Schiff?“, fragte Cornelius.

„Ja, ich musste Hinrich die Schiffspläne bringen, die er in der Katharinenstraße bei Großvater vergaß.“

„Er ist also nur aufgrund der Gelegenheit, die du gehabt hattest, einer Vermutung aufgesessen!“, fügte sie erleichtert an.

„Ja, so ist es! Ich hörte später, dass er daraufhin sämtliche Schiffshandwerker befragte, die damals auf der Werft dabei gewesen waren. Allerdings ohne belastendes Ergebnis, so wie es aus meiner Sicht zu erwarten war. Niemals hätte ich das Leben meines Bruders oder das der anderen Beteiligten aufs Spiel gesetzt, um doch noch mitfahren zu können. Obwohl ich zugegebenermaßen, einen sehr starken Willen hatte und hart kämpfte, um mit an Bord des Walfängers zu gehen. Ich sah es absolut nicht ein, warum ich als Zweiundzwanzigjähriger dafür ungeeignet sein sollte. Denn das war, ich sagte es bereits, die damalige Meinung eurer Großeltern, die sie aber später grundlegend änderten. Übrigens auch Onkel Hinrich! Nur die Fortschrittlichsten der Familie, Tante Nathalie und Onkel Clemens, trauten mir damals sofort die Walfangfahrt zu. Sonst hätten sie wohl auch ihren einzigen Sohn Jacob nicht mit auf die Fahrt gelassen, oder?“

„Deshalb lässt du mich schon eher zur See fahren, stimmt es?“

„Ja, und es hat dir bisher nicht geschadet!“

„Im Gegenteil“, mischte sich Caroline mit spitzer Zunge ein, „es tut ausgesprochen gut, wenn er weg ist!“

„Das sehe ich ausnahmsweise auch so, Caro. Zumindest was dich betrifft!“

„Schluss mit dem Gezänk! Hoffentlich werdet ihr irgendwann nicht mehr so garstig zueinander sein“, beendete ich knapp das kleine Intermezzo unter Geschwistern, denn der Hafen verschaffte rasche Abwechslung, die uns für einen Moment vom Thema ablenken sollte.

Im Binnenhafen bugsierte ein Lotse mit lauten Kommandos einen großen Segler durch das Labyrinth des Hafenbeckens. Bald würden die Schiffe dieser Größenordnung nicht mehr in das Hafenbecken gelassen, denn die Unfälle und Karambolagen nahmen stetig zu. Die Hochseeschiffe wurden in ihren Ausmaßen größer, doch der Binnenhafen eben nicht. Der Gedanke war noch in meinem Kopf, da hörten wir ein lautes Knirschen. Ein verdächtiges Geräusch, das nur aus dem Hafen kommen konnte. Cornelius und Caroline hatten genauso wie ich das gemütliche Kanapee verlassen, um die Angelegenheit aus dem Dachfenster zu betrachten. Aufgeregt liefen die beteiligten Stauer- und Seeleute durcheinander. Der Dreimaster hatte einen vertäuten kleinen Frachtewer erwischt. Letzterer ist ein vielseitig nutzbares Schiff für die kleinen Transporte der kurzen Wege. Mit nur einem beweglichen Mast ausgestattet, war der Ewer auch in den bebrückten Fleeten einsetzbar. Er wurde gerade entladen, als es zur knirschend durch Mark und Bein gehenden Kollision kam. Ein paar Dutzend Hühner flatterten nun durch den Binnenhafen, weil die Verschläge sich verselbstständigten. Wir konnten uns kaum vor Lachen halten, obwohl ich mich meiner Schadenfreude vor den Kindern sehr bald schämte.

„Viel besser sind die Komödien auf dem Hamburger Berg auch nicht“, pustete Caro und klopfte ihrem Bruder in gespielter Eintracht auf die Schulter.

„Wartet ab, bis sie versuchen die Federviecher einzufangen, ereiferte sich Cornelius, in nichts seiner Schwester nachstehend.

„Vielleicht wird diese Havarie die Ratsherrn zum Handeln bewegen?“, sagte ich mit nunmehr gefestigter Stimme.

Nachdem wir das für und wider der dicken Frachtschiffe im Binnenhafen eingehend diskutierten, nahmen wir unsere alten Sitzplätze wieder ein. Ein Vorschlag von Cornelius, der nun richtig aufdrehte, geisterte mir allerdings noch ein wenig im Kopf herum. Seine Vision verriet Fantasie, aber auch beispiellose Rücksichtslosigkeit. Er wollte das große Fleet zur Nikolaikirche verbreitern und fernerhin Häuserzeilen einfach abreißen lassen, um es seeschifftauglich zu machen. Wenn wir noch weiter diskutiert hätten, käme bestimmt noch ein Durchbruch zur Alster dazu. Infolgedessen hätte man beispielsweise Hochseeschiffe im kleinen verträumten Eppendorf beladen können. Doch dazu kam es zum Glück nicht mehr und alles blieb erst mal so, wie es war.

Im Übrigen diskutierten wir in der Kaufmannschaft mit ernstem Hintergrund das allgegenwärtige wichtige Thema der Hafenerweiterung, dass wohl nie den Zustand der Vollendung erreichen wird. Die meisten Herren vertraten allerdings die Ansicht, dass die Schiffsgrößen aus technischen Gründen nicht beliebig erweitert werden konnten, die Hafenflächen allerdings schon. Doch es entstand schnell Uneinigkeit darüber, ob die Größe der Schiffe für Walfänger genauso gelten sollte, wie für Handelsschiffe oder Kriegsschiffe.

Zum Thema Schiffsgrößen und Ladung sagte mein Vater immer gerne Finger erhebend, um die Wichtigkeit seines Satzes zu unterstreichen:

„Die gefühlvolle, meist durch Erfahrungswerte genährte Risikoabwägung des Eigners bestimmt den Erfolg maßgeblich, sowie selbstverständlich das Glück des Tüchtigen.“

Doch dieser Rempler hatte nichts mit Risikoabwägung zu tun. Der Binnenhafen war einfach zu vollgestopft. Es wurde im Hafen langsam wieder ruhiger und wir erinnerten uns flugs, warum wir hier oben versammelt waren.

Die ersten Monate des Jahres 1756 wurden durch Trauer, Streit, Neid und Missgunst geprägt. Der Tod eurer Großmutter, Charlotte Kock, hatte die Familie schlagartig verändert. Euer Großvater zog sich aus privaten Streitigkeiten zurück, anders als im Geschäftsleben, wo er noch immer seine Tätigkeiten hatte. Sein Verhalten bei Familienangelegenheiten kannten wir bereits, nur dass eure Großmutter sonst intervenierte, und allen Hindernissen trotzte. Josephine zog nicht mehr mit ihren Freunden über den Reesendamm, wie sie es noch im letzten Sommer tat, sondern sie unterstützte eure Mutter in der Kirche und nahm wieder regelmäßig am Gottesdienst teil. Zunächst wohnten wir noch alle unter einem Dach in der Katharinenstraße. Die missliche Lage spitzte sich unaufhörlich zu und die Neuordnung der Familie, sowie des Unternehmens Kock & Konsorten in Hamburg war unausweichlich geworden.

Während der Ostertage des Jahres setzten wir uns zusammen, damit wir über die Neuverteilung der Arbeit sprechen konnten. Obwohl wir uns in den Wochen in vielen persönlichen Dingen nicht einig waren, erreichte die Familie eine für alle einvernehmliche Lösung für das Familienunternehmen.

Hinrich und Konstanze hatten Großvater viel Arbeit abgenommen, als es Großmutter so schlecht ging und ich mich auf einem wackligen Postschiff am Mississippi befand. Dessen ungeachtet verstarb gerade erst Onkel Benjamin, der Zeit seines Lebens eine Apotheke am Neuen Wall betrieb, wo Konstanze zuvor ihr zuhause und Arbeit hatte. Konstanze musste ihr alleiniges Erbe antreten und die Apotheke samt Anliegerwohnung verkaufen. Sie verzichtete auf ihr schmuckes Heim und der Apotheke am Neuen Wall, in der sie Onkel Benjamin, ihr letzter lebender Verwandte, bis zu seinem Tod zur Hand ging. Konstanze war inzwischen befähigt die Apotheke allein fortzuführen, doch sie entschied sich, Hinrich und den Schwiegereltern zu helfen, indem sie im Kontor in der Katharinenstraße mitarbeitete. Konstanze arrangierte sich mit den übrigen Kocks in dem großen Haus. Josephine übernahm Mutters Arbeit, ohne dass sie gefragt werden musste. Sie organisierte das Familienleben, sowohl den großen Haushalt. Darüber hinaus erledigte sie ihre Kontoraufgaben und vielerlei Weihnachtsverpflichtungen gegenüber der Stadt und dem Handel.

Große Anerkennung und den Stolz meiner Eltern erfuhr ich, als ich im Dezember 1755 von der vermeintlichen Walfangfahrt heimkam. Obwohl ich ohne Mannschaft und Schiff dastand, allerdings mit einem kleinen Vermögen aus dem Erlös des Walfangs. Gerade die Anerkennung meiner Eltern vermisste ich in den Jahren meiner Jugend so sehr, dass ich mich schon lange danach gesehnt hatte, endlich als vollwertiger Mensch angesehen zu werden und nicht als jüngster Spross der Familie mit der Narrenfreiheit eines Harlekins gesegnet zu sein. Die Einzelheiten erzählte ich bereits ausführlich.

Doch nun zum Ergebnis unseres Familientreffens Ostern 1756. Großvater wollte weiter für das Kerngeschäft, den Handel zuständig sein, Hinrich kümmerte sich um die Reederei, während ich für alle überseeischen Unternehmungen zuständig wurde - sozusagen Ressort übergreifend. Insbesondere für die Waren unserer europäischen Nachbarn aus ihren Kolonien, die einen immer größeren Stellenwert bekamen. Ob Kock & Konsorten den Walfang fortführen wollte, stand zu diesem Zeitpunkt noch nicht fest. Vater hatte sich mit Onkel Clemens aus La Rochelle per Schriftwechsel verständigt. Denn Onkel Clemens redete als Miteigentümer des Konsortiums selbstverständlich mit und zudem war seine Meinung von großem Gewicht. Damals wie heute wurden die Schiffsverbindungen zwischen La Rochelle und Hamburg während des Winters unterbrochen, wenn die Witterungsverhältnisse entsprechend ausfielen. Deshalb bekam euer Großvater, Johann Ludwig Kock, erst kurz vor Ostern die Antwort aus Frankreich, indem Onkel Clemens meinem Vater freie Hand ließ und die Sache nicht weiter verkomplizierte. Onkel Clemens war bekanntermaßen schon viel früher von den Fähigkeiten meiner Geschwister und mir überzeugt gewesen. Somit bedeutete seine Antwort kein großes Wagnis und auch keine Überraschung. Es war eine schwierige Zeit und ein Lernprozess für alle. Für mich war es entscheidend, gleichberechtigt arbeiten zu können und so hatte jeder von uns eine bedeutende wichtige Aufgabe innerhalb von Kock & Konsorten zu erfüllen. Heute bin ich froh, dass wir diesen Teil der Familienchroniken hinter uns haben und in ruhigeres Fahrwasser steuerten und ich mich nicht mehr ständig beweisen musste.

„Vater, wie wirkte sich Neid und Missgunst unter euch aus“, fragte Caroline und erwischte den Punkt, den ich ungern näher ansprechen wollte, weil es bei diesem Thema nur Verlierer gab.

„Nun gut, ich hatte es erwähnt. Also muss ich es euch auch erklären. Nach meiner Rückkehr fühlte ich mich von Vater akzeptiert, wenngleich das Los des Erstgeborenen an mir haftete. Er behandelte Hinrich und mich gleichermaßen, so wie es nie vorher der Fall gewesen war. Hinrich empfand es als Herabsetzung und sah seine Vorrechte als Erstgeborener beschädigt. Seinen Bruder als gleichwertiges Familienmitglied zu sehen, fiel ihm damals ziemlich schwer. Er war mit dem Ergebnis der Walfangfahrt gar nicht einverstanden. Hinrich sagte jedem, dass er nicht mit der Mannschaft und dem Walfänger in Quebec bei den Franzosen überwintert hätte, sondern mit dem Fang nach Hamburg gesegelt wäre und die Briten in die Flucht geschlagen hätte. Schließlich brauchte man den Waltran in Hamburg. Meinen umständlichen Heimweg, auf dem Ohio und den Mississippi nach Neu Orléans, fand er idiotisch und zudem hätte ich den Erlös des Walfangs aufs Spiel gesetzt. Außerdem warf er mir vor, unsere Mannschaft und das Schiff allein gelassen zu haben. Allerdings war er der Einzige, der diese Ansichten vertrat. Doch mein Zorn wurde deswegen immer wieder durch seine Beschuldigungen genährt. Schließlich wurde die Situation für alle unerträglich und Lisa und ich beschlossen ohne Brimborium kurzerhand zu heiraten. Vor allem aber, ein eigenes Heim zu beziehen. Es ging auch ohne pompöse Feier im Baumhaus, wie sie ursprünglich einmal geplant war. Ihr wisst vielleicht, dass gleich nach der Walfangfahrt im Oktober die Verlobungsfeier im Baumhaus gefeiert werden sollte, die eure Mutter vorbereitet hatte. Ihre Enttäuschung meines Fernbleibens war der Anfang des zermürbenden Wartens. Im Sommer heirateten wir schnörkellos, natürlich in der Katharinenkirche und mieteten die kleine Wohnung, drei Hauseingänge neben unserem heutigen Haus in unserer geliebten Kehrwiederstraße. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir von der Konstanze noch nichts gehört. Frühestens im September rechneten wir mit ihrer Ankunft. Erst in der zweiten Hälfte des Aprils war überhaupt mit dem Aufbrechen des Eises auf dem Sankt-Lorenz-Strom in Kanada zu rechnen. Vorab bedeutete dies, eine wiederum verkürzte Walsaison für die Konstanze und damit ein vielleicht spätes Eintreffen in Hamburg. Der Krieg der Franzosen und Briten in Amerika anno 1756 verstärkte sich indes. Wie eine heimtückische Seuche breitete sich auch in Europa der Krieg weiter aus. Seeblockaden, Kaperfahrer und Handelsbeschränkungen, bis hin zu weitreichenden Handelsverboten machten unsere Arbeit schwierig. Es brodelte in den Königshäusern Europas und die Herrscher überlegten, ob sie die richtigen Verbündeten hatten. Nun zählte auch ich zu den Wartenden und erfuhr die tägliche Qual des Durchlesens der Schiffsregister, die unter anderem die ankommenden Schiffe im Hafen aufführte. Damals könnte man meinen, dass sich die Heimfahrt der Konstanze nicht weniger risikoreich entwickelte, als das was ich zuvor in Neufrankreich erlebte. Im September bilanzierte Großvater die Neuaufteilung der Arbeit bei Kock & Konsorten mit einem zufriedenstellenden Ergebnis. Segensreich! Wir schlossen uns ihm in seinen Ausführungen an. In der Tat entspannte sich die Situation, sodass langsam die privaten Kontakte wieder zunahmen. Konstanze, Josephine und eure Mutter hatten hingegen diese Probleme nie gehabt. Die drei klugen Frauen versuchten sich, von Anfang an, aus allen Streitigkeiten herauszuhalten. Was der prekären Lage ohne Zweifel dienlich war.

„Wieso bist du damals ausgezogen und nicht Hinrich?“, wollte Cornelius wissen.

„Und warum wirst du immer so böse, wenn ich mich mit Cornelius streite?“, ergänzte Caroline mit dem gleichen unwiderstehlichen Lächeln ihrer Mutter und der ganzen Wonne ihrer Spitzbübigkeit. Inzwischen regnete es heftig und der erhellende Anblick des Frühlings verflüchtigte sich zusehends. Unterdessen hörten wir vom Hafen wiederholt laute männliche Stimmen, die unsere Neugier nochmals beflügelte. Caroline sprang in atemberaubender Geschwindigkeit aus ihrer Chaiselongue. Ihr aufwendiges Kleid verdankte nun wegen der verlängerten Liegefläche des Möbelstückes viele ungewollte Falten, die einer jungen Dame nicht stadthaft waren. Doch wir waren unter uns. Sie überschlug sich fast:

„Der Ewer sinkt! Das Heck ist schon nicht mehr zu sehen.“ Nun liefen auch Cornelius und ich zum Fenster, um dem zweiten Akt des Schauspiels beizuwohnen. Fast ertrunkene Hühner wurden mit Netzen mühselig wieder eingefangen. Das vorherrschende Niedrigwasser nützte dem Schiff nichts. Der Ewer konnte komplett, bis auf den Mast natürlich, versinken. Die Männer arbeiteten hart, um dies noch zu verhindern. Denn dort war ausgerechnet das Hafenbecken erst vor einiger Zeit notdürftig vertieft worden. Der aufkommende böige Wind peitschte den Regen gegen das Glas unserer Fenster. Vom Lenz keine Spur mehr, stattdessen Hagelkörner. Bald erlahmte unsere Sensationslust und die nunmehr schlechte Sicht beschleunigte den Gang zurück zu unseren Plätzen, weg von der Misere am nahen Hafenrand. Zurück ins Jahr 1756, das noch eine Menge Scheußlichkeiten ganz anderer Art parat hatte.

Ende August 1756 hatte Friedrich II. von Preußen das Kurfürstentum Sachsen blitzartig überfallen und löste damit einen gewaltigen Krieg aus, der sieben Jahre andauern sollte. Ich nehme es gleich vorweg. Die Rückkehr zur Barbarei verschob das Machtgefüge in Europa wenig, wenn man von der Eroberung Schlesiens, dem wahrscheinlich angestrebten Ziel des preußischen Königs, absieht. Doch es half den verbündeten Briten in den Kolonien, die Frankreich personell in der Alten Welt einbanden und somit in Amerika und Indien schwächte. Ich werde später noch darauf eingehen. Zunächst aber erzähle ich euch von unserem Walfänger, der Konstanze. Sie hatte ich samt Mannschaft in Quebec zurückgelassen, um nicht dort selbst überwintern zu müssen. Schließlich war die Verlobung mit eurer Mutter geplant, und ich wollte schnell nachhause zu ihr fahren und nicht in Quebec monatelang einschneien.

„Gut so, Vater! Nur eines muss ich sofort wissen. Warum hat Friedrich II. die Sachsen angegriffen? Es ging doch um Schlesien, wie du sagtest“, fragte Cornelius, während uns Caroline unter erschwerten Bedingungen neuen Tee einschenkte. Ihre dunkelblonden hochgesteckten Haare hatten sich inzwischen in den Kissen des Kanapees verselbstständigt, sodass Carolines Korkenzieherlocken die Sicht stark einschränkten und der Tee nicht nur die Tassen flutete, sondern auch den Tisch. Cornelius grinste dazu anerkennend, während er auf meine Antwort wartete. Caroline ignorierte vornehm den verschütteten Tee, wie ihres Bruders schamlosen Grimassen.

„Weil Friedrich II. eine Verschwörung und sogar eine Zerschlagung Preußens erwartete. Das Versailler Bündnis enthielt einen Angriffsplan gegen Preußen. Friedrich hatte durch seine zahlreichen Spione sehr wohl davon erfahren. Er kam seinen Feinden zuvor und konnte später nach dem Einmarsch in Sachsen in den Schubladen des kurfürstlichen Schlosses in Dresden genau ebenjene Angriffspläne auffinden. Später entlastete das Ereignis den preußischen König Friedrich II., der von seinen Gegnern zunächst als Aggressor der Auseinandersetzung hingestellt wurde.

Nachdem wir unseren Tee getrunken hatten und der kalte Wind von peitschendem Regen abgelöst wurde, schauten mich die Kinder erwartungsvoll mit ihren großen Augen an, als ob der Zauberer vom Hopfenmarkt gleich vorbei kommen wollte.

Es klingelte im Treppenhaus. Das bedeutete, Herminchen kam mit neuem Tee und Gebäck. Ich haderte mit mir, wegen des Verlusts von Josephine, die ich so lange nicht gesehen hatte und nach der ich mich sehnte. Ihre Gesellschaft bereitete stets größtes Vergnügen. In unserer Familie hinterließ sie eine Riesenlücke, die niemand zu füllen vermochte.

„Herr Kooock!“ Herminchen wartete wie immer vor der Tür und Cornelius sprang erwartungsvoll auf und kam ihr entgegen, damit er das verheißungsvolle Tablett abnehmen konnte. Sie füllte sich hier oben immer unwohl. Besonders dann, wenn man ihr etwas Gefälliges sagte, witterte sie Argwohn und ihr zerknautschtes Gesicht verwandelte sich wie ein Akkordeon in Spiellaune.

„Ihr Vater schickt nach Ihnen. Sie möchten in das Kontor der Katharinenstraße kommen. Was wünschen sie dem Boten mitteilen zulassen, Herr Kock?“, rief sie an Cornelius vorbei.

„Hat er möglicherweise einen Grund genannt, nach mir jetzt sofort zuschicken, Herminchen?“

„Hat er, Herr Kock.“ - Stille! - Ich beneidete die eichene Turmuhr neben dem Türeingang, die sich nicht aus ihrem fortwährenden Takt bringen ließ. Da konnte kommen, was wolle oder eben gar nichts passieren. Wiederum Stille! Tack, Tack, Tack.

„Hermine! Und welchen?“

„Er sucht Unterlagen über eine Schiffsladung aus Laroschelle! Oder wie die Franzmännischen es sagen würden, jedenfalls wo ihr Onkel Clemens wohnt. Und Mademoiselle Antoinette und Madame Nathalie.“

„Sage bitte dem Boten, ich komme heute Abend. Ich bin jetzt sehr beschäftigt“, antwortete ich und fragte mich, was wohl manchmal in Herminchens Kopf vorging. Weil sie gelegentlich so abwesend schien, hatten wir Herminchen letztes Jahr zur Erholung nach Billwerder in Vaters Haus geschickt. Die frische Luft dort sollte sie auf andere Gedanken bringen. Herminchen bekam nach 2 Tagen großes Heimweh und bettelte nachhause gehen zu dürfen. Der scheinbare Stillstand im ländlichen Idyll, ihr Nichtstun und die fremde Umgebung hatten ihr arg zugesetzt.

„Ihr seht euch doch sowieso morgen früh, Vater“, meinte Caroline im vorwurfsvollen Ton.

Als ob ich das nicht selber wüsste, dachte ich. Er würde heute Nacht kein Auge zu tun, bis sein Problem, wenn es denn überhaupt eins gab, gelöst sei.

„Es wird Zeit, dass euer Großvater wieder in sein Sommerhaus nach Billwerder geht. Da kann er sich von Witwe Ambrosius verwöhnen lassen, und kommt auf andere Gedanken. Er ist an Tagen, wie diesen, einfach zu viel alleine. Er steht sich selbst im Weg“, sagte ich stattdessen.

Inzwischen hatte Cornelius das Gebäck für sich vereinnahmt. Als er es bemerkte, griff er verlegen zur leeren Schüssel und machte sich eilig auf den Weg zur Küche.

Während Caroline des Gebäckes betreffend darauf bedacht war, auch später noch in die Korsetts zu passen, die ihre Tante Antoinette aus La Rochelle mitbrachte, verachtete Cornelius niemals das Essen. Schon gar nicht die köstlichen Plätzchen, die Hermine zu den Festtagen buk. Caroline tröstete sich damit, ihren Bruder für seinen hemmungslosen Appetit zu maßregeln, wenn er dabei gewöhnlich ungehobelte Manieren zeigte. Durch Cornelius flinken Gang in die Küche war er diesmal seiner Schwester zuvor gekommen.

„Wollt ihr die Geschichte um die Ankunft der Konstanze noch hören oder soll ich sie ein anderes Mal erzählen?“, fragte ich, nachdem wir wieder samt neuem Gebäck komplett waren. Mir wurde nun bewusst, wie viel ich noch zu erzählen hatte - wenn, ja wenn die Kinder überhaupt solange durchhalten würden. Den tiefen Seufzer konnte ich nicht verbergen, der wohlweislich seine erschreckende Intensität wie im Tunnel auszubreiten gewillt war.

„Aber Vater, du erwägst wohl nicht zufällig jetzt zur Katharinenstraße eilen zu wollen?“, entgegnete Cornelius ebenfalls entsetzt und rollte übertrieben seine grünen Augen, die er scheinbar im Ganzen von seiner Mutter ohne mein Zutun geerbt hatte.

„Gehorsam gegenüber dem Vater würde so manchen anderen auch gut zu Gesicht stehen!“, kommentierte ich.

„Kommt gar nicht infrage, wer weiß, wann wir uns wieder so zusammenfinden werden!“, beschloss Caroline resolut und lächelte in ihrer unnachahmlichen Art meine Anmerkung weg.

„Ich dachte, Dein Bruder ist satt und müde geworden …“

„Bitte mach` weiter, und wenn er jetzt einschläft, weil er die ganzen Kekse gegessen hat, dann ist es sein eigenes Pech!“

„Die paar lächerlichen Plätzchen machen doch nicht satt!“, triumphierte Cornelius in männlicher Attitüde, der gleichwohl ein wenig Neid seiner Schwester vermutete. Ja, sie waren ohne jeglichen Zweifel eine eingespielte Truppe und aus dem Flegelalter noch nicht ganz heraus. Dann ging es weiter:

Schwerer Nebel lag über der Elbe, als am Morgen des 15. September 1756 ein dreimastiger Walfänger am Lotsenhaus die Hafeneinfahrt passierte. Die schwimmenden Stämme, als Barrieren gegen Eindringlinge gedacht, waren kurz zuvor am Niederbaum entfernt worden, wie es jeden Tag nach Sonnenaufgang geschah. Ich war gerade auf dem Weg in Vaters Kontor. Mitten auf dem hohen Bogen der Malerbrücke bemerkte ich das vermeintlich fremde Schiff, während eines kurzen Blickes quer über den Binnenhafen. Der unheimliche Morgendunst, der über dem Becken lag, lockte schon frühzeitig einen Maler hierher. Die oberen Enden der Segelmasten guckten wie Stachel aus dem Nebel, der sich darunter, wie ein klumpiger Leib verdichtete. Gebannt starrte ich nochmals auf des Malers Bild, um Zeit zu gewinnen, wie mir mein inneres Gefühl vermittelte. Nochmals schaute ich quer zur Hafeneinfahrt auf die andere Seite des Binnenhafens. Der Walfänger schob sich langsam durch den Dunst. Die vertrauten Umrisse des näher kommenden Schiffskörpers ließen nun keinen Zweifel mehr.

„Die Konstanze ist zurück!“, krakeelte ich dem vermummten Maler ins Ohr, der mich darauf irritiert anschaute. Übergröße Freude und Glücksgefühle stiegen in mir auf. Es war neben der großen Begeisterung auch eine Freisprechung von Schuld, die zentnerschwer von meinen Schultern fiel. Nicht zuletzt, die quälenden Vorwürfe meines Bruders, der das Schiff nie wieder zu sehen glaubte, und nun eines Besseren belehrt werden würde. Wie oft träumte ich von diesem Moment, der nun endlich Wirklichkeit wurde. Was war bloß mit meiner Brille los? Waren meine Augen wieder besser geworden? Nun grinste der Maler mitleidig. Ich lief zurück, so schnell ich konnte, die Kehrwiederstraße hinunter, trommelte ungestüm an unsere Haustür, um Lisa kurzer Hand zu benachrichtigen. Ich rief in das Haus hinein. Ungeduldig und nicht auf Lisa wartend, rannte ich der Konstanze entgegen und erkannte zunächst nur Einar Hartwig, den Unhold von Lotsen als Ersten, der auf dem Walfänger befindlichen Menschen. Egal. Würden alle gesund sein? War Cousin Jacob Kock dabei? Hatte er Julie Leroux, seine spontane Liebe aus Quebec mitgebracht? Wo war der Kommandeur Georg Broder?

„Caspar Kock, du Wahnsinniger!“, brüllte Bootsmann Jan mit schallender Stimme durch den noch schlafenden Hafen. Ich brachte kein Wort heraus, bis ich alle gesehen hatte, die mit dem Schiff ankamen. Sie waren alle um ein paar Jahre gealtert und deutlich grauer geworden, stellte ich erschrocken fest. Dabei hatte ich sie nur ein Jahr nicht gesehen! Kapitän Georg Broder lächelte, als er mich sah. Neben ihm stand Schiffsarzt Dr. Emanuel Voigt, dessen Gesicht nur noch aus Falten bestand. Er quälte sich ein müdes Lächeln heraus, dass ich ihm nicht abnahm. Schiffszimmermann Hein Grote sah auch nicht glaubhaft begeistert aus. Der 2. Steuermann Jaspar hatte hinter mir seine Liebste entdeckt und stürmte sogleich auf sie zu. Ich erblickte die Speckschneider und Harpuniere, sowie unseren Koch Knut, den Meisterangler von Labrador. Er hatte damals während unseres Jagdausfluges einen Lachs nach dem anderen aus dem Wasser geholt und damit unseren kargen Speiseplan wohltuend ergänzt. Der Walfänger Konstanze war merkwürdig grau angemalt worden, als hätten die Möwen ganze Arbeit geleistet. Die Anzahl der Matrosen erschien mir sehr gering. Wo war Jacob? Hatten sie ihn zuhause in La Rochelle abgeliefert? Die Hafenbewohner kamen voller Neugier aus ihren Häusern oder guckten zumindest aus den Fenstern. Die Seeleute, Fuhr- und Schauerleute füllten flugs die mit Kopfsteinpflaster versehene Kehrwiederstraße. Jeder wollte das längst abgeschriebene Schiff und die tot geglaubte Mannschaft begrüßen. Innerhalb kürzester Zeit zeigte sich am Hafenrand das Schönste an der Seefahrt, wie ich finde: die Rückkehr der Seefahrer ins heimatliche Leben.

Nach beinahe einem Jahr Trennung lagen wir uns in den Armen. Die Wiedersehensfreude war für das Schiffsvolk diesmal erstaunlich groß. Plötzlich schoss es mir pfeilschnell durch den Kopf: Wenn ich nicht die abenteuerliche Reise über den Sankt Lorenz, Ohio und Mississippi nach Neu Orléans gewagt hätte, wäre ich auch erst jetzt angekommen! Was war inzwischen alles passiert! Lisa wäre ein nervliches Wrack gewesen, ganz zu schweigen vom Rest der Familie.

Oh, Mutter, liebe Mutter …! Vater vermisst dich so! In Frieden sollst du ruhen und mir verzeihen, dir in deinen letzten Tagen großen Kummer bereitet zu haben.

Nun wie gut, dass wir nach meiner Ankunft einen Boten nach Sylt geschickt hatten, um die Familien der Mannschaft über den Verbleib des Walfängers zu informieren. Ich blickte leicht verstohlen über die Schultern der Ankömmlinge, doch Jacob war nicht zu sehen! War er in Kanada geblieben?

„Deine suchenden Blicke bleiben nicht im Verborgenen, Caspar. Dein Cousin ist leider nicht an Bord. Wir hätten ihn gerne mitgebracht. Ich will nicht lange drum herum reden. Er ist mit zwei Matrosen und drei Französinnen nach einem Ausflug zum Südufer des Sankt Lorenz nicht zurückgekommen. Alle Sechs sind verschollen“, sagte der Kapitän Broder mit krächzender Stimme, der nach dem Gesagten tief Luft holen musste.

„Oh Herrgott! Habt ihr sie gesucht?“

„Selbstverständlich haben wir sie gesucht. Wir konnten ihre Spuren auf dem vereisten Strom im Schnee gut erkennen. An den Hängen des Südufers, westlich von Quebec, verloren wir allerdings ihre Spuren, als überraschend ein gewaltiger Schneesturm über uns hereinbrach. Auf dem Rückweg sahen wir viele Spuren von Schneeschuhen, die aus westlicher Richtung unseren Weg kreuzten. Sie müssen also auf andere Menschen gestoßen sein! Wir mussten die Suche leider abbrechen und warteten auf besseres Wetter. Doch es schneite unentwegt. Bald lag der Schnee so hoch, dass wir nicht einmal mit Schneeschuhen vorankamen. Erst als der Schnee im April zu tauen begann, war eine erneute Suche wieder möglich. Wir konnten die beiden Soldaten, die dich nach Neu Orléans brachten, Maurice Martier und Jean-Claude Aimauld für das Unternehmen gewinnen. Sie nahmen indianische Spurensucher mit. Unter ihnen war Elchblitz, den du von deiner Reise noch gut in Erinnerung haben müsstest. Zusätzlich kam Monsieur Leroux, Julies Vater, und Monsieur Farrelli mit. Er ist der Onkel von Ivonne, eine der vermissten Frauen. Von der Mannschaft verschwanden Zven, der Speckschneider und Matrose Peter, der noch vor Weihnachten mit seiner Frau Irina von Abramovic’ Insel zurückkam.

„Donnerwetter! Peter! Sagten sie seiner Frau?“

„Gott ist mein Zeuge, ja! Fünf Wochen verbrachte er mit Irina Abramovic im Fort Frontenac, bis es ihr besser ging und sie transportfähig wurde. Du erinnerst dich, Irina traf ein Pfeil bei dem Angriff der grausamen Indianer. Alexei Abramovic überredete seine Tochter Irina, mit Peter fortzugehen. Zwei seiner Kinder hatte er zuvor nach Virginia geschickt. Dort lebten befreundete Kolonisten der Abramovics aus Schweden und Deutschland, glaube ich, mit denen er Handel betrieb.“

„Ich erinnere mich daran, dass Alexei mir damals seine Sorgen über die Sicherheit seiner Kinder anvertraute. Besonders nach dem Überfall der Irokesen auf Alexeis Insel im Sankt Lorenz überlegte er, wie die Zukunft seiner Kinder aussehen könnte.“

„Schließlich wurde vor dem schmerzlichen Abschied eine traditionell russische Hochzeit gefeiert. Alex, wie ihn alle nannten, ließ extra einen christlich-orthodoxen Priester von weither kommen. Viele Russen gab es in der Gegend nicht. Nach vielen Tränen, doch mit der Einsicht der noch nicht vernarbten Wunden des Überfalls, reisten Peter und Irina als Mann und Frau stromabwärts nach Quebec. Dort wurden sie von der Mannschaft des Walfängers herzlich begrüßt. Sie erzählten alles, was währenddessen vorgefallen war. Monsieur Leroux, also Julies Vater, nahm sie in seinem Gasthaus auf, bis sie selbst ein kleines Quartier in der Unterstadt gefunden hatten, und nun sind sie, wie dein Cousin und die anderen, vom Erdboden verschwunden.“

Beizeiten hatte sich Lisa eingefunden, und hörte dem Kapitän bei seinen Ausführungen über Neufrankreich zu. Kleine Tränen kullerten Lisas Wangen hinab, als sie von Jacobs Schicksal hörte. Meine unbändige Freude hatte sich bereits schlagartig in ohnmächtige Verzweiflung gewandelt. Wie sollten sie den Schneesturm nur überlebt haben? Die Winter in Neufrankreich waren um einiges härter, als hier bei uns. Monsieur Leroux erzählte mir damals, als ich in seinem Gasthaus in Quebec wohnte, vom vorletzten Winter dort. Der Schnee lag so hoch, dass erst die Fenster im 1. Stock seines Hauses sichtbar waren und der Schnee drohte die unteren Fenster einzudrücken.

„Mit diesem unseligen Schicksal gebe ich mich nicht zufrieden, ohne dass wir Gewissheit über Jacobs Verbleib haben, Lisa!“ Ich schaute in ihre feuchten Augen, die unruhig hin und her tanzten. Leichte Fältchen bildeten sich auf ihrer Stirn, wie immer, wenn sich Sorgen ankündigten. Ich nahm sie in den Arm und spürte das Zittern ihres ganzen Körpers. Lisa hätte Caspars Cousin auch sehr gerne geholfen, wenn es einen unproblematischen gefahrlosen Weg gäbe. Den gab es aber nicht, wie es auf den ersten Blick aussah.

Kapitän Broder drehte sich gereizt um, weil unser „Lieblingslotse“ Einar Hartwig ihm unentwegt auf die Schulter klopfte. Es war zu befürchten, dass der eigentlich friedliche Broder ihm gleich eine hinter die Ohren geben würde. Recht so! Doch er riss sich sichtbar zusammen und besprach mit dem hinzugekommenen Hafenmeister Cornelius die formellen Angelegenheiten, die mit dem Eintreffen des Walfängers verbunden waren. Die aufgeregten Möwen witterten den Geruch der Wale, die in hunderttausend Teilen unter Deck in Fässern lagerten und nicht im Geringsten daran erinnerten, dass sie einstmals majestätisch durch die Weltmeere pflügten. Die Maserungen im Holz des Decks verrieten Unmengen von Blut, die über die Planken geflossen sein mussten. Bootsmann Jan, der immer noch neben mir stand, bemerkte meine suchend kreisenden Augen, die meine Neugierde erkennen ließen, bevor er nunmehr stolz meinte:

„Drei Grönland- und einen riesigen Finnwal! Wir haben auch gute Nachrichten, Caspar Kock.“

„Schön, dieser Erfolg! Dann könnt ihr jetzt alle, wenn auch verspätet, aber wenigstens nicht mittellos nachhause gehen.“ Ich hasste es, nicht meine Meinung über Walfang sagen zu können. Doch ich musste mich hier der Unternehmensraison anpassen. Auch wenn es mir sehr schwer fiel.

„Zwei Mann sind in Amerika geblieben“, schob er kleinlaut hinterher, „der Matrose Broer und der Küchenjunge Erick. Soweit wir wissen, haben die beiden hier niemanden, den wir benachrichtigen müssten.“

„Oh - doch!“, erwiderte ich, „meinen Vater! Er übernahm die Vormundschaft für Erick, als er ihn aus dem Waisenhaus holte. Er war nicht der Erste, der auf diese Art eine Chance auf unseren Schiffen erhielt. Johann Ludwig Kock wird ohne richtige Verabschiedung von Erick sehr enttäuscht sein.“

„Das wusste ich nicht! Glaube ich aber aufs Wort. Ich werde deinem Vater alles erzählen, Caspar. Jedenfalls wollten Broer und Erick sich den Fischern des Sankt Lorenz anschließen. Erick hatte sich spontan und nicht vorsätzlich entschieden, dort zu bleiben. Der Matrose Dierck ist an einer fiebrigen Erkrankung gleich nach Neujahr gestorben. Im Hospital des Ursulinenklosters wurde alles für ihn getan. Ich konnte ihm in Quebec nur sehr begrenzt helfen“, sagte der erstaunlich gealterte Schiffsarzt Dr. Voigt mit gesenktem Blick, als würden wir ihn für den Tod des Seemanns mitverantwortlich machen. Unserem Doktor hatte die Reise überhaupt nicht gut getan. Er kränkelte schon auf der Hinfahrt. Da war vom Kriegsgeschrei der Briten noch nichts zu hören gewesen. Doch schon bald nach seiner Ankunft in Hamburg erholte er sich und schwor nie wieder ein Schiff zu betreten.

„Dann habt ihr mit nur 26 Mann Besatzung das geschafft, wofür wir vorher 38 Seeleute beschäftigten. Alle Achtung, meine Herren, meinen Respekt!“ Während ich anerkennend fortfuhr, kam ein mit hoher Geschwindigkeit rasender Einspänner auf uns zugefahren. Ein nobler Herr mit übergroßem dunkelgrünem Dreispitz saß kerzengerade auf dem Kutschbock und verzog trotz aufkommender steifer Brise keine Miene. Die Leute sprangen panisch zur Seite, um nicht Opfer des rücksichtslosen Kutschers zu werden. Im Angesicht einer großen Menschenmenge musste der unbeirrte Herr im allerletzten Moment die Bremse seines Vehikels ziehen, um nicht Menschenleben zu riskieren. Niemand sonst, außer Johann Ludwig Kock, fuhr in diesem Tempo über den Kehrwieder. Wenn man meinen Vater darauf ansprach, entschuldigte er sich immer mit dem Hinweis, noch nie einen Unfall gehabt zu haben. „Wie gut, dass stets ein Schutzengel zugegen war“, hörte man meist darauf. Die potenziellen Opfer, die nochmals verschont blieben, schauten dann leidig in den Himmel, um den Herrgott zu preisen, weil er ihnen eine Prüfung auferlegte, die sie bestanden hatten.

„Kapitän Broder! Nicht weglaufen“, rief Johann Ludwig Kock. Der schlaue Fuchs mit Kapitänspatent wusste, warum er das Weite suchte, als er den Alten mit dem exorbitanten Hut sah. Kapitän Broder durfte nun seinem Auftraggeber alles noch einmal erzählen, nachdem Vater sein schwitzend nasses Pferd beruhigt hatte, was ihm einzig allein höchst merkwürdig vorkam und er gleich eine Krankheit des Tieres vermutete, statt an die Rennstrecke zu denken, die das Tier zurücklegen musste.

„Warum habt ihr den Walfänger mit dieser scheußlichen Farbe neu bemalt?“, fragte ich den Bootsmann Jan abseits des Kapitäns, der, wie ich hörte, auf der Rückfahrt auch einige bedeutende Arbeiten des 2. Steuermannes mit übernommen hatte. Jaspar war selbstredend zum Ersten aufgerückt, als der bisherige Steuermann Jan Behrens mit mir nach Neu Orléans aufbrach. Über des Bootsmanns Schulter sah ich, wie Vater und der Kapitän auf der Konstanze verschwanden. Doch natürlich nicht ohne das Entladen des Walfängers maßgeblich zu behindern.

„Die Frage nach der Farbe ist berechtigt und ganz einfach zu beantworten. Weil wir damit unsere Chancen erhöhten, vor den Briten unerkannt zu bleiben. Schließlich hatten wir auf der Hinfahrt fast einen Segler von ihnen versenkt.“

„Verstehe, Jan. Eine schlaue Maßnahme. Habt ihr dennoch Kontakt mit ihnen gehabt?“

„Zum Glück nicht, obwohl wir nach dem Walfang die viel befahrene Nordroute über den Atlantik wählten, weil sie eben die Kürzeste ist, und wir ganz normale Walfänger mit der hamburgischen Flagge sein wollten. Broders Plan sah vorher folgendermaßen aus: Sobald das unheimliche Knacken des Eises auf dem tauenden Sankt Lorenz zu vernehmen war, bereiteten wir uns auf die Abfahrt vor. Der Kapitän kam den Briten zuvor, indem wir die Ersten auf dem mit dicken Eisschollen beladenen Strom waren. Seiner Zeit hatte die Konstanze einen eisernen Steven erhalten, um den Eisschollen etwas entgegensetzen zu können. Und wir blieben stromabwärts 1000 Kilometer bis Labrador unentdeckt und unbehelligt. Mit der hamburgischen Flagge segelten wir in die Fanggebiete der Davisstraße und die Briten sahen uns als Walfänger, der wir nun mal waren - bis auf die neue graue Farbe - die uns einige respektlose Bemerkungen der anderen Walfänger einbrachte. Ziemlich gerissen vom Kapitän, was? Und nun sind wir zurück, Caspar!“

„Ja und wir haben einen Bootsmann, der nun auch navigieren kann!“

Ich klopfte ihm als Zeichen meiner Wertschätzung auf die Schulter und mir wurde in diesem Moment klar, dass wir verdammt gute Leute auf der Konstanze hatten. Alsdann richtete Jan sein Augenmerk auf die Waltranfässer, die unbedingt noch am gleichen Tag die Tranbrennereien an der Elbe erreichen sollten.

„Was meinst du mit „dem Schicksal von Jacob nicht abfinden“, Caspar?“, fragte Lisa mit leiser Stimme. Selbstverständlich wusste sie, dass ich nicht tatenlos zusehen werde, wenn es noch eine Chance für Jacob gäbe.

„Ich bin mir nicht sicher, was zu tun ist. Doch wir müssen Nachforschungen anstellen, Lisa. Schon für Jacobs Familie, Tante Nathalie, Antoinette und Onkel Clemens. Bedenke, Antoinette hat ihren Bruder noch nie gesehen. Auch von uns hat es in diesem Jahr niemand geschafft, nach La Rochelle zu fahren und dabei hatten wir mit Tante Nathalie und Onkel Clemens doch unseren Besuch so überschwänglich besprochen.“

„Da war deine Mutter noch nicht tot und es gab auch keinen Streit in der Familie, Caspar!“, antwortete Lisa mit fester Stimme. Natürlich hatte ich falsch argumentiert und sie wieder Recht gehabt.

„Das ist wahr. Doch dafür kann die kleine Antoinette nichts!“

Auch Konstanze und Hinrich eilten aus der Katharinenstraße herbei. Es ging auch ohne Rennkutsche und ohne kollabierendes Ross. Jacobs Schicksal betrübte sie ebenso wie uns alle.

Langsam löste sich die Ansammlung am Kehrwieder auf. Bald würde es die ganze Stadt wissen. Die verschollene Konstanze der Kocks war zurück! Vater fuhr mit Kapitän Broder und Steuermann Jaspar in seiner fliegenden Kalesche gemäßigt davon. Die letzten Waltranfässer wurden im atemberaubenden Tempo auf Fuhrwerke verladen, die in geordneten Kolonnen auf die Beladung warteten. Schnell hatte man die Apparatur in Gang gesetzt, die für die Weiterverarbeitung des Waltrans notwendig wurde, und in Hamburg immer noch eine Menge Leute beschäftigte. Die Letzten am Ort des Geschehens waren die allgegenwärtigen schreienden Möwen und ein übler stechender Geruch, der sich auch ohne Walfänger über dem Binnenhafen verteilte. Die Fleete der Stadt hatten wieder durch Versandung an Fließgeschwindigkeit eingebüßt. Die Kloaken der Stadt, die die zunehmende Bevölkerung schufen, missbrauchten das langsam fließende Alsterwasser als Transportmittel – bis zur Elbe. Entgegengesetzt fluten die Gezeiten der Nordsee die Elbe und befreien uns von Abwasser und Gestank. Wann werden die Ratsherren endlich die Gelder freimachen, die zur Entsandung der Fleete dringend notwendig waren?

Hinrich kümmerte sich schließlich um das graue hässliche Schiff, das den Namen seiner schönen Frau trug, und auch den Möwen nicht mehr genügte, nachdem die blutigen Spuren des Walfangs und mancher Happen ins Hafenbecken gespült worden waren, und längst neue Fischer mit ihren Fängen im Hafen auftauchten.

Ich wischte Lisa die letzten Tränen ab, und wir gingen wortlos heim. Sie zitterte noch immer. Nun gab es sehr viel zu überdenken. Lisa hatte wohl schon angefangen. Ich legte meinen weiten Rock um ihre schmalen Schultern. Auch ich bewegte mich auf wackligen Beinen. Eigene Gedanken, die uns die schockierenden Neuigkeiten von der Konstanze abverlangten, hielten uns noch eine Weile gefangen.

Der Maler an der Malerbrücke, die offiziell eigentlich Brooksbrücke hieß, hatte seine Arbeit beendet. Jeder Hamburger sagte wie selbstverständlich Malerbrücke, schließlich sah man meistens Künstler mit ihren Staffeleien von der malenden Zunft oder solche, die es werden wollten, wenn man sie überquerte. Der Maler jedenfalls, dem ich an jenem Morgen begegnete, saß wahrscheinlich in einem Hafenlokal und berichtete blumig von einem Verrückten, den er früh morgens auf der Brücke getroffen hatte. Wohl in der listigen Hoffnung, sein mit einer übertriebenen Geschichte angereichertes Bild zu einem höheren Preis verkaufen zu können.

Caspar rund das Meer spricht Englisch

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