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Kapitel VII

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Bergen sehen und sterben

Die wunderschönen Bilder der alten Stadt Bergen versöhnten Thorsten Büthe mit den Erlebnissen des Tages. Endlich konnte er abschalten und sich wieder auf die Reise konzentrieren. Manchmal war es besser, Dinge einfach hinzunehmen, die man nicht ändern konnte. Gedanklich ließ er sich von den Erzählungen des Lektors treiben. Er verfolgte die Geschichte der Stadt und bewunderte die bunten Holzhäuser von Bryggen, die einmal Handelseinrichtungen der Hanse gewesen waren. Nicht nur Thorsten staunte über die traumhafte Aussicht vom Fløyen aus, die Teile von Bergen sowie den Byfjord zeigte. Auch seine Kollegen waren fasziniert.

Im Anschluss an die Vorstellung der Attraktionen in und um Bergen entschloss sich das gesamte Team für eine Fahrt mit der Fløibahn. Sie führte zur Aussichtsplattform und dem Aufenthalt auf einem der sieben Berge der Stadt. Nach der Abfahrt ins Tal würden sie dann genug Zeit haben, sich die Flaniermeile Bergens anzuschauen und ihren Ausflug mit einem Einkaufsbummel sowie dem Besuch des Fischmarktes zu verbinden. Die Profiler wollten die Zeit von der Ankunft um 8 Uhr bis zum Auslaufen um 18 Uhr komplett nutzen. Thorsten Büthe freute sich schon auf einen frühen, aber fototechnisch interessanten Morgen mit einem heißen Kaffee an Deck, währenddessen er das Einlaufen in den Hafen von Bergen in Ruhe genießen wollte. Für Nina hingegen war 8 Uhr noch mitten in der Nacht. Sie bat um rechtzeitiges Wecken, aber erst wenn sie angelegt hatten und wirklich nur kurz vor Beginn des Ausflugs.

Während des Fotografierens beobachtete Thorsten das Anlegemanöver und schoss einige Bilder vom Treiben an der Pier mit seinem Telezoom. Nachdem die Gangway freigegeben worden war, verließen die beiden Politibetjents als Erste das Schiff, um ihre Mordermittlungen in Oslo fortzusetzen. Sie hofften, dass sie dabei erfolgreicher sein würden.

Als Thorsten im Frühstücksrestaurant eintraf, saß sein Team fast vollzählig am gedeckten Tisch und genoss die Leckereien vom Buffet. Nina hatte sich noch nicht aufraffen können mit dabei zu sein, wobei Kristin versicherte, dass sie ins Bad gegangen sei, als sie die Kabine verlassen hatte.

Wegen des geplanten Ausflugs standen sie nicht unter Druck. Die Fløibahn fuhr in den Sommermonaten ganztägig von 7:30 bis 23 Uhr, Reservierungen waren nicht erforderlich.

Sie hatten sich über ihre Bord-App in die Liste des Neun-Uhr-Shuttles eingetragen und waren endlich als Team komplett, als Nina mit einem Croissant und einem coffee to go dazustieß. Bei strahlendem Sonnenschein konnten sie schon vom Anleger aus den Gipfel des Fløybergs sehen. Sie wurden in den Shuttlebus sechs eingewiesen, der sie nach kurzer Fahrt im Zentrum Bergens direkt an der Bahnstation in Sichtweite des Fischmarktes absetzte.

So früh gehörten sie zu den wenigen, die den Panoramablick auf die Stadt, die reizvolle Umgebung und die „Norwave“ bei milden Temperaturen erleben wollten. Gut gelaunt erreichte das Team die Talstation der Bahn. Die Schlange vor dem alten, weißen Gebäude, das 1918 erbaut worden war, blieb überschaubar. Ihre Tickets hatten sie bereits an Bord gebucht. Das war ein toller Service des Schiffs und verhinderte Wartezeiten. Daher dauerte es auch nicht lange, bis sie die Gondel erreicht hatten. Trotzdem wurde Thorsten Büthe beim Einsteigen mehrfach unsanft angerempelt. Er schüttelte den Kopf. Manche Menschen benahmen sich so, als ob sie allein auf der Welt wären. Samt Kollegen stand er nun in einer Gondel, die sie mit weiteren Ausflüglern in nur sechs Minuten über eine Streckenlänge von 850 Metern und 300 Höhenmetern zur Bergstation bringen würde.

Der Fløyen liegt nur 320 Meter oberhalb des Meeresspiegels, wobei die Aussicht auf die Stadt, die Hafeneinfahrt, die Fjorde und die umliegenden Berge tatsächlich faszinierend ist. Thorsten hatte seinen Fotorucksack umgeschnallt. Hier war neben seiner riesigen Nikon auch seine Fujiausrüstung untergebracht, um für alle interessanten Motive gewappnet zu sein. Er ließ die Fujikamera, die er mit einem extremen Weitwinkelzoom bestückt hatte, glühen und nutzte das klare Morgenlicht.

Das Team war sportlich gekleidet und hatte sich als Ausgleich zu den üppigen kulinarischen Verführungen an Bord vorgenommen, die Proportionen des Körpers durch gemäßigte Bewegung nicht völlig entgleiten zu lassen.

Sie starteten ihre Wanderung auf dem etwa drei Kilometer langen Rundweg, der touristengerecht an einem Restaurant, Café und mehreren Souvenirläden samt Spielplätzen vorbeiführte.

Thorsten Büthe steckte den Objektivschutzdeckel in seine Jackentasche und bemerkte dann, dass sich darin ein Stück Papier befand, das er dort nicht hineingesteckt hatte. Es handelte sich um ein mehrfach geknicktes DIN-A4-Blatt mit einer Zeichnung. Sie zeigte eine große Trollfigur über einem darunter liegenden Strichmännchen, um dessen gelbe Haare rote Tropfen gemalt waren. Rundherum waren Bäume und Felsen skizziert.

„Wollt ihr mich zu einer Schnitzeljagd animieren?“, fragte Thorsten sein Team und hielt das Papierstück hoch.

Er blickte in irritierte Gesichter.

„Jemand hat mir diesen Zettel in die Jackentasche gesteckt. War das wer von euch?“, hakte der Teamleiter mit ernstem Unterton nach.

Er faltete den DIN-A4-Zettel auseinander und zeigte die Skizze in die Runde.

Kristin prustete: „Nicht dein Ernst! Du glaubst jetzt nicht an eine Tatortskizze oder willst uns hier dienstlich beschäftigen? Wir sind doch im Urlaub, oder?“

Thomas Schulte konnte es nicht lassen: „Huh, eine geheimnisvolle Karte. Was bekommt derjenige, der den Ort als Erster findet? Ich finde Schnitzeljagden cool.“

Thorsten blieb ernst. „Ich denke immer noch an den Mord in Oslo. Was ist, wenn es doch kein Zufall war? Was ist, wenn die Frau mit dem Rollator doch mit an Bord gekommen ist? Ich kann nicht sagen, wo mir jemand diesen Zettel zugesteckt hat. Vielleicht schon an Bord ...“

Nina griff im ironischen Analysemodus ein: „Wenn hier ein Mord skizziert worden ist, müsste die Phantom-Omi vor uns allen eine der ersten Fløibahnen genutzt haben und das samt Rollator. Dann hat sie hier oben irgendwo einen Mord begangen und muss in Windeseile diese Skizze gezeichnet haben, um sie dir auf dem Weg vom Schiff bis auf die Aussichtsplattform zuzustecken. Das ist mal etwas Besonderes für das Guinnessbuch.“

Die Psychologin, Carlotta, versuchte zu beschwichtigen: „Was haltet ihr davon, wenn wir den Rundweg wie geplant gehen, im Restaurant einkehren und ein paar Souvenirs kaufen? Sollten wir dann auf dem Weg eine Leiche finden, können wir wenigstens gestärkt direkt in eine Fallanalyse einsteigen. Was meint ihr dazu?“

Thorsten gab sich geschlagen, behielt die Skizze aber in der Hand. Die Urlauber orientierten sich an einem Wegweiser, der den Panoramaweg aufzeigte, aber auch einen Hinweis auf „Trollskogen“, den Wald der Trolle, der in einem Pfad nur leicht hinter einem großen Spielplatz vom Rundweg abzweigte. Dieser Umstand allein ließ Thorsten nicht stutzen, aber über dem Hinweisschild zum Trollwald hing ein roter Stringtanga, der wie eine Fahne im Wind wehte.

Maik Holzner hatte sich bislang zurückgehalten, nun kommentierte er dieses skurrile Bild aber: „Uuih, ein neuer Hinweis. Was das wohl für Trolle sind, die mit roten Stringtangas werben?“

Thorsten war genervt. „Okay, Leute, bleibt ihr auf dem Hauptweg, ich schaue mir den Trollwald mal näher an und komme euch dann wieder entgegen.“

„Na, Chef, ob du das alles in der Zeit schaffst? Wer weiß, was dich dort erwartet. Aber keine Angst, wir petzen nicht“, frotzelte Thomas Schulte mit einem Augenzwinkern.

Thorsten schoss ein Foto von dem Wegweiser samt Tanga und ging zielstrebig in Richtung Trollskogen. Die Psychologin hatte Mitleid und schloss sich ihm an.

Das Quartett der anderen Profiler flötete: „Bis nachher, viel Erfolg!“, und folgte dem Hauptweg.

Carlotta und Thorsten passierten den Spielplatz, auf dem meist junge Eltern und Großeltern mit ihren Kindern und Enkeln beschäftigt waren. Zum Trollwald führte ein felsiger Weg durch einen Birkenwald. Der hügelige Boden war mit Moos bedeckt. Es roch muffig, und der Resttau zog zu einem nebligen Dunst auf. Ein echter Zauberwald. An einer Birke war ein Trollkopf befestigt, über dem ein Pfeil weiter in den Wald zeigte. An diesem Wegweiser hing völlig deplatziert ein roter BH. Während Thorsten wieder zur Kamera griff und mehrfach auslöste, wurde es der Psychologin doch mulmig, denn hier waren sie allein. In der Ferne nahmen sie dunkle Schatten auf den schmalen Wegen wahr. Carlotta hoffte, es waren andere Touristen und keine Trolle, die sie langsam einkreisten. Hier hätte man sofort die Szene eines Harry Potter Films drehen können, ohne etwas zu verändern. Einzig der BH störte dieses Bild.

Thorsten klappte die Zeichnung auseinander. Sie schauten auf einen Baumstamm, auf den der Oberkörper eines weiblichen Trolls mit Brustansätzen gezeichnet war. Sie hörten von Ferne das lachende Schreien eines Kindes, das wohl gejagt wurde. Hoffentlich nur zum Spaß von seinem Vater oder Opa.

Durch den Dunst entdeckten sie abseits des Weges in den Felsen schemenhaft einen etwa drei Meter hohen Stamm, der nach oben nicht dünner, sondern dicker wurde. Nur allmählich konnte man den schmalen Bereich als Hüfte, den darüber als Brust und darauf den überdimensionierten Kopf mit den riesigen Ohren erkennen. Das war der Troll von der Skizze.

Sie gingen vorsichtig weiter. Der Dunst löste sich mehr und mehr auf, je näher sie der Gestalt kamen. Erst jetzt konnten die Psychologin und der Profiler erahnen, dass sich etwas Helles an den Stamm anlehnte. Beim Näherkommen erkannten sie den nackten Leichnam einer jungen Frau mit langen, blondlockigen Haaren. Der gesamte blasse Körper war aufgrund von Kopf- und Halswunden blutüberströmt, wobei sich eine große Blutlache am Boden zwischen den weit gespreizten Beinen gebildet hatte. Thorsten verharrte und stoppte Carlotta, die näher an den toten Körper herantreten wollte.

„Bleib bitte hier. Wir können nichts mehr für sie tun und wollen die gesamten Spuren nicht zerstören. Rufst du bitte das Team an? Sie sollen sich an den Hinweisschildern aufstellen und den BH und Stringtanga so lange sichern, bis die Kollegen aus Bergen übernehmen. Ich versuche, die beiden Kollegen aus Oslo zu erreichen. Es ist jetzt sicher angebracht, dass sie in Bergen bleiben.“

Der OFA-Leiter hatte sich die Mobilfunknummer von Politibetjent 1 Larsen geben lassen und konnte sie noch in der Polizeidienststelle in Bergen erreichen.

„Hallo, Frau Larsen, auch wenn Sie es mir nicht sagen dürfen. Ist es richtig, dass die skalpierte Frau im Botanischen Garten in Oslo erstochen und nackt aufgefunden worden ist?“, fragte er die Ermittlerin direkt.

Larsen wollte eigentlich ausweichen, fühlte sich anhand der Stimme des deutschen Profilers allerdings veranlasst, ehrlich mit einem kurzen „Ja!“ zu antworten.

„Dann sollten Sie Ihren Heimweg abbrechen und mit vollem Programm in den Trollskogen kommen. Wir haben soeben eine nackte Frauenleiche gefunden, und das sind mir ein paar Zufälle zu viel“, forderte er unmissverständlich.

„Thooooorsten!“, schrie Carlotta plötzlich. „Da war jemand im Gebüsch und hat uns beobachtet!“ Sie zeigte auf eine kleine Schonung, etwa 100 Meter oberhalb des Leichenfundortes. Thorsten konnte noch einen Schatten wahrnehmen, der schnell durch das Unterholz rannte und versuchte, den Berg hinaufzusprinten. Er selbst schleppte den großen Profirucksack mit der gesamten Fotoausrüstung immer noch auf dem Rücken. Der war so befestigt, dass er bei Exkursionen nicht aus seiner Position rutschte, was sich nun rächte. Ein kurzes Abstreifen des etwa 15 Kilogramm schweren Equipments gelang ihm während des Sprints bergauf nicht. Thorsten fluchte über das üppige Frühstück und die Leckereien der ersten Tage auf See und musste die Verfolgung schwer atmend abbrechen. Dann alarmierte er umgehend sein Team.

„Achtet auf eine Person, die von uns aus auf euch in Richtung Bergstation zukommt und vielleicht Blut am Körper und der Kleidung hat. Hier ist gerade wer vom Tatort geflüchtet.“

Kristin erfragte eine Beschreibung. Geschlecht, Größe, Statur, Bekleidung? „Sorry, die Person war zu weit weg“, bedauerte Thorsten, was seine Kollegin nur mit „Klasse! Wir halten die Augen auf“ beantwortete. Es klang resigniert.

Thorsten untersuchte den Bereich um den Ort der ersten Sichtung und war nicht erstaunt, als er im Unterholz weitere Bekleidung mit deutlichen Blutantragungen fand.

Das Viererteam hatte sich aufgeteilt. Nina und Kristin sicherten die beiden Wegweiser mit der Unterwäsche. Die Jungs beobachteten die Rückkehrer zur Bergstation, wobei Thomas mit seinem Handy versuchte, möglichst viele Personen zu videografieren, die später als Zeugen oder auch Tatverdächtige ermittelt werden konnten.

Über einen Versorgungsweg zum Restaurant erreichten ein Notarzt und mehrere Einsatzfahrzeuge der Polizei den Bereich der Aussichtsplattform. Maik Holzner begrüßte umgehend Ingrid Larsen und Magnus Andersen, die aus einem Fahrzeug der Spurensicherung stiegen.

„Hallo, Herr Holzner, wo liegt die Frau?“, fragte sie hektisch.

„Irgendwo oben im Trollwald. Wir waren auch noch nicht da. Herr Büthe hat gerade eben noch eine verdächtige Person verfolgt. Sie sollten sämtliche Leute überprüfen, bevor Sie zurück ins Tal fahren. Wir haben die Rückkehrer bislang nur videografieren können. Frau Bäumer und Frau Bachmann sichern einen BH und einen Stringtanga an zwei Hinweisschildern zum Trollwald. Vielleicht kann die Unterwäsche dem Opfer zugeordnet werden und diente als Wegweiser zum Tatort“, vermutete Maik Holzner.

„Okay, Maik, ich werde alles veranlassen. Wir müssen jetzt erst mal zum Tatort. Bis gleich“, verabschiedete sich die junge Ermittlerin.

Nach einem weiteren Telefonat mit den Politibetjents aus Oslo rückten nach und nach Ermittler aus Bergen, Kriminaltechniker und ein Rechtsmediziner an. Der alarmierte Notarzt zog sich nach einem Blick auf den Leichnam schon von Weitem zurück. Hier war für ihn nichts mehr zu veranlassen.

Der Tatort wurde mit rot-weißem Flatterband abgesperrt. An der Trollfigur und dem unmittelbaren Leichenfundort wurde ein heller Pavillon aufgestellt, in dem die Rechtsmediziner und Kriminaltechniker ungestört mit ihren eigenen Lichtquellen arbeiten konnten. Weitere Spezialisten der Spurensicherung dokumentierten die Ablage und den Fundort der aufgefundenen Opferbekleidung in der Schonung oberhalb der Trollstatue. Dort waren eine Jeans, eine Bluse und eine leichte Windjacke sowie ein paar blaue Sneakers abgelegt worden, an denen großflächige Blutantragungen vorhanden waren. Unterwäsche oder eine Tasche mit persönlichen Gegenständen fanden sich hier und im weiteren Umfeld nicht.

Während die Spezialisten vom Hordaland Politidistrikt Thorsten Büthe und die Beamten des LKA Niedersachsen vor Ort zu ihren Beobachtungen befragten, hörten sie einen lauten Aufschrei aus dem Tatortzelt: „Jævla dritt!!“, und alle schreckten auf.

„Was haben sie da gerade gerufen?“, fragte der OFA-Leiter seinen Kollegen aus Oslo, Magnus Andersen.

„Das heißt auf Deutsch in etwa ‚verdammte Scheiße‘. Ich geh mal nachsehen.“

Der Leichnam lehnte sitzend mit dem Rücken an dem Stamm der Trollfigur, beide Beine des nackten Körpers waren weit gespreizt und der rasierte Vaginalbereich des Opfers war frei einsehbar.

Die Rechtsmediziner konnten eine massive Schnittverletzung am Hals des Opfers feststellen. Vermutlich waren die Halsvenen und -arterien, Luft- und Speise­röhre durchtrennt worden, was die starke Blutung verursacht haben dürfte. Als die Experten den Leichnam auf dem Rücken untersuchten und den Körper nach vorn ziehen wollten, stockte selbst den erfahrenen Medizinern und Kriminaltechnikern der Atem. So etwas hatten selbst sie noch nicht gesehen.

Durch die Lageveränderung blieb der lange blonde Haarschopf an dem Stamm des Trolls zurück und auf dem Kopf des Leichnams offenbarte sich eine großflächige blutige Wunde. Dem Opfer war die Kopfhaut samt Haaren entfernt und der abgetrennte Skalp mit einem großen Fahrtenmesser in das Holz der Statue gerammt worden.

Ingrid Larsen und Magnus Andersen blickten sich fassungslos an. Diese Tötungsart kam ihnen aus Oslo sehr bekannt vor. Sie stimmten sich kurz ab, wiesen telefonisch ihren Vorgesetzten, Inger Olsen, in die neue Lage ein und traten auf den deutschen Profiler zu.

„Gilt das Angebot einer Kooperation noch? Wir würden es jetzt gern annehmen.“

Maik und Thomas hatten sich von ihrem Beobachtungsposten zurückgezogen, als die Polizei aus Bergen mit den Überprüfungen der Personen begann, die ins Tal abfuhren.

In Höhe des Spielplatzes stieß Thomas Maik mit seinem Ellenbogen in die Seite.

„Guck dir den mal an“, sagte er und blickte zu einem jungen Mann, der fast wie ein Troll gekleidet war und am Sandkasten auf und ab stolzierte, als würde er über einen Laufsteg bei Germany’s next Topmodel flanieren. Dabei präsentierte er eine schrill-bunte Handtasche, die vor seinem Bauch wie ein Fremdkörper hin und her wippte.

„Die Tasche muss lebbben! Weißt du noch, Tommi?“, ulkte Maik.

Der Troll war fast zwei Meter groß, wirkte nicht gerade sportlich, aber sehr kräftig. Er sang einen lauten melodischen Song in norwegischer Sprache und zog nicht nur amüsierte Blicke der Touristen auf sich. Eltern nahmen ihre kleinen Kinder auf den Arm und waren unsicher, ob von dem Troll nicht auch eine Gefahr ausging.

Maik stutzte. „Siehst du seine Hände? Ist das Blut?“

Thomas wurde ernst.

„Tommi, den schauen wir uns doch mal an. Du bleibst an ihm dran, ich hole die Kollegen“, sagte Maik und lief zurück zur Bergstation.

Der Troll tänzelte plötzlich grunzend mit geöffneten Armen direkt auf die spielenden Kleinkinder im Sandkasten zu, die ängstlich schreiend zu ihren Müttern tapsten. Väter sprangen auf und verharrten in der skurrilen Szene.

Abwarten war nicht der Stil von Thomas Schulte. Er stürzte sich auf den Riesen, trat ihm in die Kniekehlen und schrie in englischer Sprache: „Stop, police! Don’t move!“

Der kräftige Troll fiel im Sandkasten nach vorn um wie ein Baum. Thomas hatte eigentlich mit einem heftigen Kampf gerechnet, in dem er seinem Gegenüber körperlich völlig unterlegen war und hatte auf rasche Verstärkung der norwegischen Kollegen gehofft. Es kam anders.

Der Troll drehte sich demütig auf den Rücken, riss beide Arme schützend vor sein Gesicht und schrie ängstlich wie ein Kind: „Nei! Ikke slå!“, was auf Deutsch etwa „Nein! Nicht schlagen!“ bedeutete.

Thomas wurde von uniformierten Polizisten von dem kreischenden Riesen gerissen. Maik zog seinen Kollegen am Ellenbogen eingehakt weg.

„Wolltest du nicht auf uns warten?“, warf er Thomas vor.

„Was sollte ich tun? Er hat plötzlich Kinder angegriffen. Hast du die Unterarme und Hände gesehen? Das ist mit Sicherheit Blut“, rechtfertigte sich der junge Profiler.

Einer der Beamten der Polizei Bergen klärte die beiden deutschen Polizisten vorwurfsvoll auf, dass der Troll hier ein amtsbekannter, geistig behinderter junger Mann namens Børre Thorsen war. „Er ist täglich hier und gehört zum Inventar. Der tut keiner Fliege was“, kritisierte er den Einsatz der deutschen Polizisten.

Maik sprach seinen uniformierten Kollegen auf die Blutanhaftungen an den Händen und Armen an, was der Polizist nur mit einem Augenrollen kommentierte. Als ihn der Fallanalytiker weiter bat, einen Blick in die bunte Damentasche werfen zu dürfen, reagierte der Beamte fast aggressiv und forderte die beiden deutschen Kollegen auf, sich zu entfernen. Ansonsten drohte er an, ein Verfahren wegen des Angriffs auf Børre Thorsen einzuleiten. Eine Polizistin half dem Riesen auf, strich ihm tröstend über den Kopf und redete beruhigend auf ihn ein. Thomas hatte seinen Chef telefonisch über die Situation auf dem Spielplatz informiert, der in Begleitung der beiden Politibetjents aus Oslo unmittelbar dazustieß.

Sie ließen sich kurz die Lage erklären. Magnus Andersen wies den abweisenden Beamten aus Bergen an, die Damentasche an sich zu nehmen und deren Inhalt zu überprüfen. Der Troll schrie bei diesem Versuch wieder laut auf und vergrub die Tasche unter seinen mächtigen, vor der Brust verschränkten Oberarmen. Die tröstende Polizistin sprach weiter besänftigend auf Børre Thorsen ein, bis er ihr die bunte Handtasche überließ.

Im Inneren fand sich ein rosafarbenes Handy der Marke Samsung Galaxy S 10 sowie eine Geldbörse samt Ausweis einer 19-jährigen jungen Frau mit langem blonden lockigen Haar.

Magnus Andersen nahm das Zepter der Ermittlungsführung an sich. „So, Kollegen, Børre Thorsen ist wegen Mordverdacht festgenommen. Ingrid, fahr bitte mit in die Bergener Dienststelle und veranlasse alles Notwendige. Sicherstellung seiner Klamotten, rechtsmedizinische Untersuchung, Sicherung der Blutspuren, erkennungsdienstliche Behandlung samt Speichelabstrich zum DNA-Abgleich. Versucht, ihn in psychologischer Begleitung zu vernehmen. Vielleicht gibt es schon einen Betreuer, der euch unterstützen kann. Bitte das volle Programm.“

Ingrid Larsen nickte nur und bat die uniformierte Polizistin: „Sie haben einen guten Draht zu ihm. Würden Sie uns bitte begleiten?“

Erst nach einem vorwurfsvollen Blick des bulligen Beamten aus Oslo, legte der genervte Polizist dem Tatverdächtigen Handschellen an und führte ihn zum Einsatzwagen.

Die sichergestellte Tasche wurde in einer transparenten Spurensicherungstüte transportiert und am Tatort den Kriminaltechnikern übergeben.

Während die Spezialisten den Tatort weiter akribisch abarbeiteten, fuhren Carlotta und Thorsten mit Politibetjent 1 Larsen in die Bergener Dienststelle, dem Hordaland Politidistrikt, und ließen sich als Zeugen zum Leichenfund und der Verfolgungssituation am Tatort vernehmen.

Das restliche Profilerteam hatte sich zwischenzeitlich beraten, zur Talstation zu fahren, um sich im Zentrum von Bergen die Beine zu vertreten und auf die beiden Kollegen zu warten.

In der Mittagssonne schlenderte das Viererteam aus Hannover durch die schmalen Gassen und engen Passagen des beeindruckenden Hafenviertels Bryggen, in dem die Vergangenheit Bergens wieder lebendig zu werden schien.

Im Jahre 1702 waren die meisten Bauwerke in Bryggen durch einen Großbrand zerstört worden. Beim Wiederaufbau hatte man den alten Baustil wieder hergerichtet, sodass die Architektur mit aktuell 61 denkmalgeschützten Gebäuden heute noch wie im 12. Jahrhundert wirkt und zu einem der bekanntesten Mittelaltervierteln Norwegens zählt.

Sie erwarteten jederzeit den Anruf von Thorsten und Carlotta und waren nicht nur gespannt, was die Ermittlungen ergeben hatten. Die vier Profiler hatten die Befürchtung ihres Leiters nicht ernst genommen und mussten akzeptieren, dass sich die Entspannungsphase ihrer Kreuzfahrt dem Ende zuneigte.

Carlotta und Thorsten wurden von unterschiedlichen Beamten des Hordaland Politidistrikts zeitgleich als Zeugen vernommen. Die Politibetjents Larsen und Andersen hatten sich aufgeteilt. Sie unterstützten nicht nur als Dolmetscher, sondern konnten auch ihre Informationen zum Mord von Oslo in die aktuellen Ermittlungen mit einbringen. Ingrid war bei der Befragung der Psychologin und Magnus bei der des OFA-Leiters zugegen.

Die Vernehmung führte ein junger dynamischer Politiadvokat in Uniform, der offensichtlich der Leiter der hiesigen Mordermittlungen war. Nach den allgemeinen Fragen zu seinen Beobachtungen versuchte Thorsten Büthe seine Vermutung zu begründen, dass sein Profilerteam durch die ihm zugesteckte Skizze gezielt zum Leichenfundort geführt werden sollte. Weiter führte er aus, dass das Tötungsdelikt in Oslo unbedingt mit in einen vermutlichen Serienkontext einbezogen werden sollte. Schließlich wiesen nicht nur das Opferbild, sondern auch die Tötungsart sowie die Ablagesituation starke Übereinstimmungen auf. Sowohl die aktive Einbindung seiner Person in Form eines Koffertransporteurs als auch das Deponieren einer Tatortkarte mit gezieltem Hinführen zu dem Leichnam im Trollskogen spreche für Parallelaspekte inszenierten Täterhandelns.

„Woher wissen Sie denn von der Fundsituation des Leichnams, der Tötungsart und dem Opferbild in Oslo, Herr Büthe? Waren Sie nicht selbst tatverdächtig?“, fragte der Politiadvokat mit einem vorwurfsvollen Blick in Richtung der Politibetjents 1.

Andersen verzog eine Augenbraue und erahnte, von wem der LKA-Beamte diese Information erhalten hatte. Aber Magnus ließ sich nichts anmerken und setzte seine Unschuldsmiene auf.

Die provozierte Ruhe wurde von einem Telefonklingeln gestört. Der Ermittlungsführer nahm den Anruf an, machte sich Notizen und beendete das Gespräch mit einem Lob für eine super Arbeit.

„So, die Tat ist wohl schnell geklärt. Børre Thorsen hat sich in seiner Befragung in erhebliche Widersprüche verwickelt. Die Tasche gehörte dem Opfer. Das Blut an seinen Händen, Armen und der Kleidung auch. Das reicht vollkommen“, resümierte der Polizeichef aufatmend.

„Magnus, glaubst du das im Ernst? Frage deinen Chef bitte, ob er das wirklich denkt. Warum, wann und wo sollte Børre Thorsen mir eine Skizze des Tatorts zugesteckt haben? Warum sollte er das Opfer töten, skalpieren und dann nackt in einer derart degradierenden Position ablegen? Dieser Täter versendet Botschaften. Erst in Oslo und dann in Bergen. Ach ja, eine kleine Prognose vom deutschen Touristen: Er wird weitermachen! Ich würde mich sogar noch weiter festlegen: Und zwar im nächsten Hafen, in dem die ,Norwave‘ festmacht. Verdammt! Lasst uns endlich zusammenarbeiten!“, flehte er Politibetjent 2, Magnus Larsen, an.

An der Stimmlage seiner Übersetzung konnte Thorsten erkennen, dass sich der Ermittler für seinen Vorschlag eingesetzt hatte, aber es kam ganz anders. Der Politiadvokat hielt einen langen unfreundlichen Monolog, den Magnus Andersen nicht gern und vor allem nicht vollständig übersetzte.

„Herr Büthe, erstens muss ich hier formell bleiben. Zweitens hat in Bergen niemand ein Interesse an einer Unterstützung durch ein deutsches Landeskriminalamt. Drittens habe ich gerade einen riesengroßen Einlauf bekommen, weil Sie die Informationen über den Fall in Oslo herausposaunt haben. Vielen Dank dafür. Wenn es nach ihm ginge, würde er sie sofort wieder festnehmen, da der Mord hier in Bergen ja nun geklärt ist und Ihre Rolle in diesen beiden Fällen dubios bleibt. Ihre Skizze wird beschlagnahmt, und ich soll Sie umgehend aufs Schiff bringen. Das Einzige was er tun könne, sei eine Belobigung ans LKA Niedersachsen, dass Ihr Kollege außerhalb des Dienstes und während eines Urlaubsaufenthaltes in Bergen, einen Mörder festgenommen hat. Andererseits könne er auch ganz andere Dinge nach Deutschland melden. Und jetzt sollten wir einfach fahren“, schlug der Politibetjent 2 resigniert vor.

Sie sammelten Carlotta Bayer-Westholdt sowie Politibetjent 1 ein und fuhren direkt zum Anleger der „Norwave“. Thorsten hatte sein Team telefonisch informiert, dass sie bereits an Bord gehen sollten und dass sie sich später treffen würden.

Im Polizeifahrzeug diskutierten die deutschen und norwegischen Kollegen über den bisherigen Ermittlungsstand und die aktuelle Entwicklung. Magnus Andersen war frustriert. „Wir sehen das genauso und glauben, dass die Taten zusammengehören. Wir haben hier in Bergen aber keine Weisungsbefugnis. Uns sind also die Hände gebunden.“

„Ihr wisst aber auch, was passieren wird. Der Täter könnte wieder mit der ,Norwave‘ weiterreisen, und im nächsten Hafen geht dieses Spiel munter weiter. Dann können die Ermittler in Stavanger mich wieder als Mordverdächtigen vernehmen oder ihr habt jetzt mal den Arsch in der Hose, das in Oslo klären zu lassen“, forderte der LKA-Beamte ein.

„Lasst uns mal in Ruhe überlegen, wie wir Herrn Olsen überzeugen können, am Ball zu bleiben“, schlug Ingrid Larsen vor.

„Der beratungsresistente Polizeichef wird wahrscheinlich schon mit Olsen gesprochen haben. Er wird uns mit Sicherheit zurückbeordern“, sagte Magnus Andersen resigniert.

„Ich habe einen Vorschlag“, warf Carlotta ein. „Wie wäre die Reaktion eures Chefs, wenn sich soeben ein neuer und für euch wesentlicher Ermittlungskomplex ergeben hätte, der nur an Bord der ,Norwave‘ zu klären wäre? Wir gewinnen einen Tag, könnten auf See mit unserer Methodik beide Fälle analysieren und eine mögliche Ermittlungskonzeption erstellen, die ihr dann euren Vorgesetzten vorschlagt. Was meinst du, Thorsten?“

Politibetjent 2, Magnus Andersen, schränkte sofort ein: „Den Braten riechen die doch gleich.“

Der OFA-Chef wirkte nachdenklich. „Mit dem Erarbeiten dieser ersten Strategie können wir an Bord doch schon mal beginnen. Vielleicht sollten wir den Kapitän mit ins Boot holen.“

Ingrid Larsen sah ihren Kollegen fordernd an. „Na gut, ich nehme das auf meine Kappe. Uns wird schon etwas einfallen. Dann man los.“

An Bord setzten sie den Kapitän über die Situation in Kenntnis, wobei auch ihm eine offizielle Kooperation der Polizei Oslo und den LKA-Profilern suggeriert wurde. Die norwegischen Ermittler konnten wieder in ihre Kabinen einziehen. Nach Rückkehr des Viererteams traf sich die nunmehr internationale Ermittlungsgruppe, die einerseits aus zwei offiziell nicht zuständigen Osloer Beamten und sechs deutschen Touristen bestand, die zufällig als LKA-Profiler in eine aktuelle Mordserie geraten waren. Die ersten Ideen des länderübergreifenden Teams wurden in der ,Fjord-Bar‘ entwickelt, wobei sich der Alkoholkonsum an diesem Abend lediglich auf ein Getränk beschränkte. Der nächste Tag musste effizient genutzt werden.

Schärengrab

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