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Rückkehr
ОглавлениеHamburg: Helmut-Schmidt-Airport.
Ich sitze in der Ankunftshalle des Flughafens. Meine Lebensgefährtin wird bald aus Afghanistan zurückkehren. Die rote Rose halte ich fest umschlossen in der linken Hand. Ein schlichter Willkommensgruß mitsamt den tausend Küssen, die über sie bereits bald niederregnen werden. Ich warte. Ich bin sehr früh hierhin gekommen.
Häufig, jedenfalls geht es mir so, komme ich meistens viel zu früh, manchmal leider zu spät. Ja, die Zeit. Ein komisches Ding. Nicht greifbar und doch immer ein stiller Begleiter. Gibt es überhaupt die Zeit? Oder gibt es sie eigentlich nur auf Uhren? Im Augenblick weiß ich es nicht. Ihr Flugzeug ist auf der Informationstafel angekündigt. Lediglich als eine Zeile unter etlichen Zeilen. Nichts Festes, nur eine Zeile oder auch Ankündigung, die ständig vor meinen Augen auf und ab springt. Im Augenblick befinden sich darüber etliche weitere Reihen. Laufend verändern sich diese Reihen. Sie rücken einträchtig nach oben, manchmal werden sie auch wieder nach unten verschoben. Betrachtungsweise, so denke ich…….
Ankunftspunkt im Airport. Ständig öffnen sich zwei Schiebetüren, die sich links von mir befinden, und geben den Blick auf die Halle und auf die ankommenden Passagiere frei. Wobei nur ein kleiner Teil der Halle dahinter zu erkennen ist. Der Rest bleibt im Verborgenen, außer ich würde vor den Türen hin und her laufen, um auch den letzten Winkel erfassen zu können. Ich sehe Ankommende, wie sie entweder am Transportband unruhig stehen und dort ihr Gepäck erwarten, währenddessen die einzelnen Stücke langsam aber regelmäßig ihre Schleifen ziehen. Die Umstehenden bilden eine feste Kette um das Band herum. Ständig drängelt sich jemand in diese Kette hinein. Manchmal taucht nur eine Hand auf, um sich bereits im nächsten Moment das erwartete Gepäckstück zu schnappen und wegzuziehen. Andere wiederum verhalten sich sehr ruhig, lassen von niemand Unruhe an sich herantragen, werfen zwischendurch ab und zu einen kurzen Blick auf das Band, um sich wiederum einer anderen Beschäftigung wie Handywischen, Telefonieren oder auch einem Nachbarn, vielleicht einer Zufallsbekanntschaft aus dem Flugzeug, zu widmen, bis, ja, bis dann auch das erwartete eigene Gepäckstück langsam vorbeizieht.
Ganz anders hingegen stellt sich die Situation dar, wenn nur die Ankündigung auf der elektronischen Anzeige erscheint und sich das Band noch nicht in Bewegung gesetzt hat. Unruhige Geister unter den Passagieren laufen hin und her, so als könnten sie mit ihrer Bewegung den Vorgang der Ausgabe beschleunigen, wenigstens jedoch in Gang setzen. Immer wieder wird nach rechts oder links gehastet, bei Nachbarn gefragt oder auch laut gestöhnt: „Warum das heute gerade wieder so lange dauert?“, oder auch „Die schlafen sich wieder aus hier!“ und auch das eine oder andere verächtliche Wort oder Wunsch fällt. Das sind die typischen und ewigen Meckerer, die, wer sich häufig im Ausland auffällt, es, als eine typisch deutsche Eigenschaft beobachten und einordnen wird. Es sind dieselben Typen, denen es auch im Supermarkt um die Ecke nach dem Einkauf auf dem Band nicht schnell, geordnet und gesittet abläuft!
Ich denke mir meinen Teil dabei, obgleich, sollte ich mich unter diese Menschen einordnen, ich mich irgendwo in der Mitte zwischen ruhig und hektisch wiederfinden würde. Aber wen interessiert es? Mich vordergründig augenblicklich auch nicht!
Zeit „besitzt“ heutzutage niemand mehr, womit ich wieder bei der anfangs gestellten Frage bin: Zeit! Was ist das? Offensichtlich nichts Gegenständliches. Etwas, um das es sich kreisen lässt wie bei einem Gepäckband. Etwas, worüber es sich sprechen, aufregen, verzweifeln lohnt wie bei einer Uhr. Etwas, was stets vorhanden und es eigentlich wiederum nicht ist wie bei einem Tagesablauf zwischen dunkel und hell, Regen und Sonnenschein. Eine physikalische Größe, die körperlos und doch allgegenwärtig ist. Etwas, was „Alles und Jedes“ miteinander verknüpft, weil es inhärent wie ein Preisschild an der Ware Leben klebt.
Gegenwärtig öffnet sich wieder die Schiebetür und bringt ein Gesicht und den Oberkörper eines Mannes zum Vorschein, hastig um sich blickend, um einen Angehörigen zu entdecken und zu grüßen, und um demjenigen noch schnell zuzurufen: „Ich komme gleich! Warte nur noch auf das Gepäck!“, als würde sein Abholer sich Das nicht denken können.
Zeitlos, zeitviel, zeitgleich, zugleich, ungleich, unbekannt, mitGepäck, ohneGepäck, mitMantel, ohneHut, ohneLangehose, imKleid, zuFuss, gefahren, gehüpftwiegesprungen, Gepäckband, getragen, Sperre, Zollbeamte, Polizei….. durch die Schiebetür und fast wieder zuhause, Geschafft! Puuuuuuuuhhhhhhhhhhh!
Auch auf unserer Seite, der sogenannten Abholerseite, spielen sich ähnliche Szenen ab. Ein ständiges Kommen und Gehen beherrscht den Raum. Doch! Hier kommt eine weitere Variante ins Spiel. Wir befinden uns in einer Halle mit Geschäften, Bistros, Zeitungsläden, Wechselstuben und sogar Ruhezonen. Auch hier schwirren die Menschen unsortiert umher. Jeder interessiert sich für Vieles oder für fast Nichts, ja, einige zelebrieren dieses Gefühl. Es scheint, falsch: Wir haben auf unserer Seite mehr Zeit. Wir befinden uns in der Halle mitZeit im Gegensatz zu der anderen Halle ohneZeit. Wie sonderbar! Die Zeit ist getrennt nur durch eine dünne und zerbrechliche Glasschiebetür. Und diese trägt offensichtlich ihren Namen zu Recht: Schiebetür. Denn ihre Tätigkeit liegt darin, die Zeit hin und her zu schieben, je nachdem Wer sich Wo und auf welcher Seite befindet.
„Meine Damen und Herren! Was möchten Sie? MitZeit oder ohneZeit. Hier bekommen Sie Ihren Wunsch erfüllt. Kommen Sie, kommen Sie! Hier wird Ihr Wunsch erfüllt. Treten Sie näher!“ In etwa so nehme ich ihr fröhliches, geräuschvolles Schieben wahr.
Über uns im ersten Stockwerk befindet sich eine weitere Halle. Die Abflughalle. Dort steht auf einem Schild, zu lesen: Abflug! Danke! Vielleicht beim nächsten Mal. Heute befinde ich mich in der Ankunftshalle und beobachte die Ankunftstafel und die Personen um mich herum.
Jetzt im Moment rollen fünf Passagiere ihre Koffer durch die Schiebetür: Der Vater, die Mutter, vielleicht eine Freundin und zuletzt folgen zwei Kinder. Sie steuern direkt auf mich zu und biegen dann mit einem Schwenk im nächsten Augenblick an mir vorbei. Gut so. Ich habe nicht auf sie gewartet. Ich erwarte meine Freundin mit meiner Rose in der Hand. Sie wird bald da sein.
Immer wieder öffnet sich die Schiebetür und schüttet Menschen aus, wobei es farblich sehr bunt zugeht. Aus allen Herrenländern und von allen Kontinenten kommen die Passagiere: von Ozeanien über Europa und weiter bis hin nach Amerika. Ein Netz aus Spinnenweben stellen die Flugbahnen der Jets dar. Wobei diese nicht nur in einer Ebene angelegt sind, sondern in Kanälen von unterschiedlichen Höhen verlaufen. Ein Blick auf diese sehr gewöhnungsbedürftige Darstellung zeigt dieses nahezu undurchschaubare Geflecht an. Unverständlich für die unwissenden Passagiere, jedoch wohlgeordnet für die Spezialisten, die Fluglotsen, die tagein und tagaus vor ihren Bildschirmen diesem rätselhaften, mehrfarbigen Wirrwarr vor ihren Augen flackern sehen und jederzeit eingreifen wie auch steuern können, ja, sogar müssen. Und obgleich jeder Handgriff und Wort immer nur einen physikalischen Impuls auslöst, wird es dennoch auf der Empfängerseite in der Kanzel eindeutig verstanden. Und die Passagiere? Die wissen zumeist nichts von diesen Hintergrundvorgängen, vertrauen den Fluggesellschaften wie Piloten und ergeben sich ohnmächtig diesen Mechanismen.
Dunkelhäutige Menschen, teilweise mit sehr exotischen, grellbunten Farben gekleidet, treten sichtbar hervor, währenddessen die europäischen Fluggäste vor diesen wie Steine am Strand in die Unsichtbarkeit zurücktreten. Und auch die Sprachen sind so vielfältig wie bunte Glaskugeln in einem Kinderspiel. Bei jedem Anblick und Lauten ist der Vielfalt nahezu keine Grenze gesetzt. Wie auch? Die Natur gibt den Takt vor und die Menschen interpretieren ihn unterschiedlich, bevor sie ihn aufnehmen. Sie fühlen sich offensichtlich sehr wohl darin, jedenfalls kann ich es ihren an Zufriedenheit anmutenden Gesichtern entnehmen. Auch beim Gang, überhaupt der Körpersprache treten große Unterschiede hervor. Scheinen einige Gruppen über eine tänzerische Leichtigkeit zu verfügen, indem sie sich federnd leicht bewegen, drängt sich bei anderen eine Schwere und Schlaffheit verbunden mit gekrümmten Rücken hervor. Fast scheint es, als würde die sogenannte Alte Welt Europa unter der Last der Neuen nicht nur die Schwere spüren, sondern sichtbar leiden. Und dennoch finden wir uns in einer Welt, unserer gemeinsamen Welt, wieder und nicht ein einziges grünes Marsmännchen mit winzigen, federnden Antennen am Kopf hat sich dazwischen geschmuggelt.
Wieder rückt augenblicklich die Ankunftszeile auf der Tafel einige Zeilen nach oben. Wie ich lesen kann, ist der Flug nicht verspätet und wird nun in einigen Minuten landen. Nur noch wenige Kilometer vom Flughafen entfernt, befindet sich ihr Flieger. Bei diesem Gedanken strafft sich augenblicklich mein Körper und erlangt eine feste Erwartungshaltung. Bald, bald ist es so weit! Das lang ersehnte Wiedersehen!
Offensichtlich ist zwischenzeitlich wieder eine Maschine eingetroffen. Aus Mallorca, wie ich auf dem Bildschirm lesen kann. Sommerlich leicht gekleidete Menschen in kurzen Hosen und bunten T-Shirts entern jetzt die Halle. Noch gefangen von ihrer Urlaubsheiterkeit wird es augenblicklich sehr laut. Es wirkt auf mich wie ein letztes Ausatmen von der Hektik des Strandes, den Wellen des warmen Wassers, welches in ruhigen Bewegungen auf den weißen Strand zurollt und den Kindern um die Füße spielt. Einige von den Kleinen laufen, springen und tanzen unter lautem Geschrei um diese Wellen herum, während das Wasser auf ihre niedlichen Füße trifft, um bereits im nächsten Moment mit offenem Mund voll Freude zu ihren begeisterten Eltern zurückzulaufen. Überall dominiert eine braune Hautfarbe, die wie künstlich in einem Sonnenstudio erzeugt wirkt, auffallend gleichartig. Schönes, stabiles, warmes Sonnenwetter wird auf sie eingestrahlt haben, und selbst bei dem ansonsten eher typischen blassen Teint der Norddeutschen den frischen Pinsel über die Haut streichen lassen. Den Menschen scheint es ganz offensichtlich zu gefallen.
Wieder rückt „Ihr“ Flieger um eine Zeile vor. Und…. jetzt erscheint die Ankunft zuoberst auf der Liste. Noch habe ich ein wenig Zeit, um nach oben zu laufen und das Flugzeug landen zu sehen.
*
»Sagen Sie«, werde ich plötzlich angesprochen, »kommt dieser Flug aus Reunion? Entschuldigen Sie, meine Augen sind ein wenig schwach!«
»Oh, Sie brauchen sich nicht bei mir zu entschuldigen. Das Flugzeug kommt als Zweitnächstes an«, gebe ich mich auskunftsfreudig.
»Vielen Dank! Ich erwarte meine Tochter. Ich bin wirklich sehr aufgeregt. Ich habe sie seit vier Jahren nicht mehr gesehen und in meine Arme schließen können!«
»Oh, wie schön. Ich erwarte meine Freundin zurück. Auch ich bin sehr aufgeregt. Ihre Maschine ist eben gelandet.«
»Grüßen Sie sie unbekannterweise«, sagt er noch zu mir, während er sich zur Schiebetür hin und von mir fortbewegt.
»Danke! Auch viele Grüße an ihre Tochter«, rufe ich dem älteren Herrn hinterher, bei dem es offensichtlich angekommen ist, denn er dreht sich nochmals um und nickt mir noch einmal freundlich zu.
Wieder strömen viele Menschen aus dem Schalterbereich in die Ankunftshalle. Meine Blicke streifen wehmütig über die Personen hinweg, bis sich das Gedränge ein wenig entspannt und der Bereich wieder geleert hat. Mein Blick bleibt wiederum kurz auf dem älteren Herrn hängen. Ich sehe ihm die Anspannung auch von hinten aus der Entfernung an. Ihn scheint augenblicklich eine Starre ergriffen zu haben wie mich ebenso auch.
Noch einmal lenke ich meinen Blick auf ihn zurück. Lang aufgeschossen und sehr schlank obendrein. Viele würden es mit vermutlich mit hager bezeichnen. Er trägt einen Kamelhaarmantel, der mich spontan an Pierce Brosnan als Bond 007- Darsteller erinnert und dessen Markenzeichen ein solcher Mantel ist. Doch zurück: Passend dazu trägt er schwarz: Rollkragenpullover, Stoffhose aus leichtfallendem Material und Hochglanzschuhe, als hätte er sie eben erst aus den Händen eines Schuhputzers zurückerhalten. Sonderbar, denke ich, ungewöhnlich und auffällig edel. Dass es mir nicht zuvor sofort aufgefallen ist?
Ansonsten dominiert hier in der Halle der sogenannte „Cool-Look“. Zerfetzte Jeans im Knie sowie an weiteren Stellen, dazu Markensportschuhe ohne Socken beziehungsweise Kurzsocken, die mit den kaputten Schlappen abschließen und dem Betrachter einen Blick auf den nackten Knöchel freigeben, in Neudeutsch auch „flanking“ genannt. Lässig darüber geworfen befinden sich Parkas mit pelzbesetztem Rand an der Kapuze. Und wenn ich meine Augen momentan schweifen lasse, entdecke ich diesen sogenannten Individuallook etliche Male und damit auch die scharenweise abgelehnte Uniformität der Jugend.
Jetzt fällt mein Blick zurück zu meinem Gesprächspartner. Bei ihm hingegen findet sich die Kleidung sehr passend und akkurat zusammen. Klassisch schön, jedoch nicht individuell frech und ungewöhnlich dazu, weil dieser Mann irgendwie nicht aus dieser Zeit zu entspringen scheint. Eher 60er-Jahre würde ich schätzen. Alain Delon war auch für diesen Look berühmt, oder trug er einen Trench? Ich bin mir nicht mehr so sicher? Jedenfalls hingen an ihm die Frauen und schwärmten leidenschaftlich. Nicht wegzudenken, die ihn lässig begleitende, brennende Zigarette, die ihm stets aus dem Mundwinkel hing. Oh, das ist lange her und zumeist noch heute auf Schwarz-Weiß-Videos zu betrachten.
Die Kurzhaarfrisur des Unbekannten ist messerscharf geschnitten. Nunmehr trägt er eine dunkle Hornbrille. Hat er eben nicht noch über seine schwachen Augen geklagt? Vermutlich hatte er sich eine Brille eingesteckt und sie eben erst in einer Tasche wiederentdeckt. Meine Blicke verharren auf seinem Rücken. Ja, nicht wie aus unserer Zeit, eher wie herausgefallen und ins 21. Jahrhundert gebeamt. Ein wenig Pierce Brosnan steckt schon in ihm! Oder ist die Zeit über ihn unbemerkt hinweggegangen? Jetzt hat er meine Blicke bemerkt, die sich offensichtlich lastend auf ihm festgekrallt haben, denn augenblicklich wendet er sich mir nochmals zu und antwortet mir mit einem gefroren, freundlichen und Angst einjagenden Blick. Mich fröstelt. Sofort wende ich mich ab, so als hätte ich diesen Blick nicht bemerkt, trete ein paar Schritte zur Seite und beobachte ihn verstohlen von dort aus den Augenwinkeln. Immer noch ruht sein Blick auf mir, prüfend, vieldeutig und unheimlich zugleich.
Jetzt wird mein Name aus einem Lautsprecher aufgerufen und dass ich mich beim Zoll in der Ankunftshalle einfinden möge. Zwei Beamten erwarten mich mit einem ausdrucklosen Blick und eher gleichgültiger Mimik, verlangen von mir den Ausweis, um meine Identität zu überprüfen. Hastig hole ich mein Dokument hervor und entsprechend nervös präsentiere ich es ihnen. Mehrere Blicke wechseln hin und her, danach folgt ein kurzes Nicken. Zusammen mit ihnen fahre ich in den Keller des Gebäudes. Immer noch halte ich fest umklammert die Rose in der Hand. Jetzt nach Stunden ist sie vom Warten erschöpft und lässt den Kopf hängen. Warum jetzt gerade? Warum überhaupt? Hat sie so sehr gelitten oder ist es nur die Wassernot, die sie ergriffen hat. Vermutlich!
Durch mehrere Gänge laufen wir auf eine dunkle Tür zu. Eine männliche Person vom Flughafenpersonal erwartet uns dort. Er nickt mir einmal still zu, öffnet die Tür zum Raum. Die beiden Beamten bleiben zurück. Nach wenigen Schritten erreichen wir einen kleinen weiteren Raum. Dort steht der einfache Holzsarg einsam auf einem Fahrgestell. Abseits vom Trubel und Wirrwarr des Flughafens, hier in dieser klinischen Gruft. Still tritt auch der Flughafenbeauftragte zurück und verlässt lautlos diesen stillen Raum. Ich bin allein. Völlige Ruhe, triste Schlichtheit in hellem Grau umgibt mich. Krankenhausschlichtheit. Ich schaue auf dieses längliche, eindeutig ausdrucksstarke Möbel. Langsam öffne ich meine Augen. Darin soll ein Mensch liegen? Es erscheint mir so winzig. Darin soll meine Freundin liegen? Ich will es nicht fassen. Ich kann es nicht glauben. Und wenn eben mein Blick noch trocken und meine Beine fest waren, fängt jetzt die Umgebung an zur Unschärfe zu verschwimmen. Ständig wollen meine Beine nachgeben. Nein, ich muss mich beherrschen, stark durchdrücken, fest auftreten. Die Gedanken fliegen nur so durch meinen Kopf und scheinen nicht hierhin passen zu wollen. Der Schädel droht platzen zu wollen. Eine Reise ist zu Ende gegangen. Hier und jetzt! Ist das wirklich real? Ich kneife mich und spüre augenblicklich den Schmerz. Ja!
Was hatten wir noch alles vor? Heiraten wollten wir. Kinder wollten wir. Sie bevorzugte ein Mädchen, ich einen Jungen. Ja, eine komplette Familie wollten wir sein. Viel unternehmen wollten wir zusammen. Auch frei und ungebunden sein. Reisen…… aber eigentlich nur glücklich sein! Ist das zu viel verlangt?
*
Einige Tage später. Die hintere Kapelle des Ohlsdorfer Friedhofs lässt die Versammelten zur Abschiedsfeier ein. Ich habe es schlicht arrangieren lassen. Ihr Sarg ist mit weißen Rosen vollständig überdeckt worden. Dicke, weiße Kerzen umrahmen ihr hölzernes Totenbett. Auf der rechten Seite steht ein überdimensional großes Bild von ihr, welches ihr SENDER hat dort aufstellen lassen. Ich habe mich zwar bis zuletzt dagegen verwahrt, konnte mich aus medialen Gründen leider nicht durchsetzen. Und obgleich ich eine stille und besonnene Feier gewünscht habe, hat ihr SENDER ein großes Tamtam veranstaltet und sie für ihren heldenhaften Einsatz im Ausland und Kriegsgebiet medial herausgestellt. Sie war eine Person des öffentlichen Rechts. So surren die Kameras und ein Blitzlichtgewitter fällt auf uns herab.
Um selbst privat zu bleiben, habe ich mir einen Backenbart stehen lassen und zusätzlich die größtmögliche dunkle Sonnenbrille herausgesucht. Dazu trage ich einen schwarzen Stetson, den ich zurzeit auf meinem dunklen Mantel auf dem Schoß ruhen lasse, zusammen mit der verwelkten roten Rose, die ich damals als Willkommensgruß bei ihrer Ankunft bei mir getragen habe. Zeit ihres Lebens hat sie nie rote Rosen geliebt, ja, sie lehnte sie sogar als spießig ab. Am Flughafen habe ich damals keine weiße Rose bekommen können, und so habe ich symbolisch als Zeichen für Liebe und Blut zu eben dieser Farbe gegriffen.
Neben mir sitzen Freunde wie auch Bekannte. Eine Familie besaß meine Freundin schon lange nicht mehr. Der verfluchte Krebs hatte sie ihrer Eltern kurzfristig nacheinander beraubt. Häufig machte sie zynische Bemerkungen zu ihrer Gesundheit, die in mir immer aufs Neue Magenschmerzen wie auch Übelkeit hervorriefen. So sagte sie zu mir: „Wenn mich mein Job nicht tötet, wird es sicherlich der Krebs sein!“ Wenn sie so zu mir sprach, war ich sofort übel gelaunt. Dann antwortete ich ihr stets auf die gleiche Art: „Was für ein Unsinn, nicht an das Leben zu glauben!“, worauf sie wiederum konterte: „Bei meinem Job falle es schon sehr schwer, anders zu denken!“ Wütend beendete ich diese entsetzliche Diskussion: „Du lebst, liebst und nun Schluss damit!“ Zumeist wendete ich mich sofort von ihr ab. Obgleich, und das muss ich an dieser Stelle loswerden: Mehr als nur wenig Verständnis hatte ich für ihre Rhetorik.
Allein im Jahr zuvor waren etliche Kollegen bei der Ausübung ihrer Arbeit entführt, erschossen und teilweise auf bestialische Weise ermordet worden. Häufiger habe ich deshalb von ihr verlangt, diesen Scheißjournalistenjob aufzugeben. Doch, wie sie stets betonte, übte der Nervenkitzel einen großen Reiz bei der Arbeit aus. Was sollte ich darauf antworten? Mir fiel dazu Fallschirmspringen, Paragliding, Boots- oder Autorennen ein, sparte mir in der Regel diese Bemerkung, denn was hätte ich außer einem milden Lächeln ernten können? Verhielten sich diese Tätigkeiten wie zwei linke Schuhe zueinander. Zu diesem Job musste man geboren oder aber verantwortungslos erzogen sein. Beides war sie nicht, war eher sogar wohlbehütet aufgewachsen. Dennoch hatte sie an diesen Scheißjob Gefallen gefunden. Innerlich war sie offensichtlich immer eine Spielerin gewesen!
8 1/2 Minuten dauert das „Adagio und poco mosso“ aus Beethovens 5. Klavierkonzert in Es-Dur, welches augenblicklich aus den Lautsprechern der Anlage zu uns Trauernden hinüberschallt, währenddessen sich meine Hände in der Hutkrempe verkrallen und langsam Tränen aus meinen Augen quellen und ihren Weg über die Wangen meines versteinerten Gesichtsausdrucks zum Kinn finden, um letztlich auf den Stetson zu tropfen und um auch darin vergänglich nach einer Weile zu versickern.
Eine Fliege oder Falter, genau kann ich es nicht erkennen, hat sich von irgendwo kommend gelöst und strebt jetzt flatternd einer Lampe nach oben zu, während die Klaviertöne tropfenartig aus den Lautsprechern klingen. Ihr Geist? Oder nur ein Zufall! Nein, ganz sicherlich strebt ihr Geist geradewegs dem Himmel zu. Würdevoll und majestätisch, wie man es von ihrem Charakter bei der aufopfernden Arbeit nicht anders erwarten darf. Stets war sie loyal zu ihrem SENDER und auch darauf bedacht, den Menschen in den Mittelpunkt der Reportagen zu belassen, dorthin „wohin er auch gehört und was erst Menschsein bedeutet!“, wie sie stets betonte. Humanismus stand für sie in vorderster Front (ein Ausdruck ihrer Tätigkeit).
Allerdings gab sie bestimmend zu bedenken, nicht von einer falsch verstandenen Menschenliebe zu sprechen, in dem Sinne, dass, was wir Europäer darunter zu verstehen meinen, zumeist nicht mit dem übereinstimmt, worin sie sich beruflich bewegte: in Krisengebieten. Dies sei nicht eins zu eins übertragbar und häufig Auslöser für Krisen. Wie lange haben die Europäer gebraucht, um annähernd ähnliche humanistische Ziele zu definieren, und wie viel Blut musste in diesen Jahrhunderten fließen? Jeder Tropfen war zu viel. Und nun soll unser Verständnis in diesen Ländern in Windeseile von außen oktroyiert werden? Ein Wahnsinn, was da von Regierenden so veranstaltet wird!
Und da sie selbst diese Mechanismen ablehnte, war es immer ihr Anliegen berichtend wie auch aufklärend darüber tätig zu sein. Eine Herkulesaufgabe und zu schwer für sie, wie sich jetzt bewahrheitet hat. Warnungen hat es von etlichen Freunden gegeben, zwischen uns hat es zumeist zu Streit geführt, aber darauf hat sie nicht gehört (hören wollen!). Offensichtlich verhielt es sich so, einige mögen es Schicksal nennen, zu denen ich nicht gehöre, dass Ihr Anliegen ihr nunmehr zum Verhängnis geworden ist! Dass Geist und Körper getrennt sind, ist langläufig bekannt. Ihr Geist als Falter hat sich uns, zumindest mir, noch einmal gezeigt und wollte uns allen aufzeigen, dass trotz ihres Todes ihr Einsatz für die Menschen sich gelohnt habe. Hoffentlich haben es auch andere so verstanden, und vor allem ihr SENDER auch (was ich allerdings bezweifeln möchte!). Was für eine weitsichtige und kluge Frau war sie: meine Lebensgefährtin Anne!
Nachdem wieder Ruhe eingekehrt ist, auch in meinem Kopf, prasseln nunmehr mehrere Reden von Menschen ihres SENDERs über uns ein und zugleich fängt auch wieder das Surren und Blitzen der Kameras an. Ihr Geist ist unbemerkt von diesen entschwunden. Sie hasste solche Zeremonien, wenn sie selbst Teil der Feier für einen verstorbenen Kollegen war, wie sie immer wieder betont hatte, und mir auch aufgegeben hatte, mich dagegen zu sträuben. „Wie ich das hasse!“, hatte sie mir gestanden, es muss etwa zwei Jahre zurückliegen, und drückte bekräftigend meine Hand dazu. Die Reden wollen meinem Gefühl nach kein Ende finden wie ihr Leben in diesen Schönrednern und Schwaflern. Wen wollen diese damit gefallen, außer sich selbst und dem SENDER. Vermutlich ist es „politisch korrekt“ so zu sprechen.
Endlich ist wieder Stille eingetreten. Die Kollegen lehnen sich selbstgefällig zurück und wir erwarten den nächsten Auftritt eines japanischen Baritons, der mehrere Haiku stimmlich interpretiert (es sind traditionelle japanische Gedichte, die im Deutschen dreizeilig geschrieben aber nicht intoniert werden!). Eine sehr eigenwillige spezielle Interpretation, die sich in mir mit ihren letzten Bildern vereinigen und die sich momentan in meinem Kopf festklammern. Für eine Ewigkeit!
Jetzt spüre ich den Arm eines Freundes, der eigentlich zu fest zupackt, um mich aus meiner Tablettentrance ins Jetzt zurückzuholen, währenddessen die Totenglocke leise zu schlagen anfängt. Gezogen stehe ich auf und bewege mich zu ihr, zu ihrem Sarg. Als letzten Abschied küsse ich das nur dünne Holz des Sarges, verbeuge mich ausgiebig lange vor ihr, und wende mich dann schwerfällig ab und laufe auf den Ausgang zu. Unterdessen verweilt „Ihr Geist“ in mir. Vor der Tür beginnt das befreiende Drücken von Armen und Händen von Freunden, die sich in Vielzahl um mich scharen. Und doch fühle ich es kaum. Einzig den einsetzenden Nieselregen bemerke ich, der diesen tristen Tag beschließt. Und während der SENDER zu einer Feier geladen hat, wende ich mich ab und laufe mit nur wenigen Freunden zu einem bereitstehenden Auto. Mein Abschied endet nicht hier und heute. Mein Abschied ist die nunmehr einsetzende Erinnerung an sie.
Auf den Weg zum Wagen nehme ich aus dem Augenwinkel eine schlanke Person in einem beigefarbenen Mantel neben einer Zypresse wahr. Ich stutze und halte kurz inne. Habe ich diese Person nicht schon einmal gesehen? War nicht der ältere Herr auf dem Flughafen, der seine Tochter erwartete, entsprechend gekleidet? Oder eine weitere fremde Person? Noch einmal schaue ich in diese Richtung. Nichts außer dem Baum befindet sich dort. War es eine Sinnestäuschung? Eine Fehlleistung meines überstrapazierten Hirns? Oder doch Realität. Jetzt zieht mich der Arm des Freundes fort.
»Sag mal«, so spreche ich ihn mit schwacher Stimme an, »hast Du dort auch eine Person in einem hellen Mantel gesehen?«
Zuerst ernte ich einen seltsamen Blick und anschließend ein lang gezogenes „Neiiiin, ich habe nichts bemerkt!“
»Geh bitte dorthin und schau kurz einmal nach!«, bitte ich ihn. Kopfschüttelnd kommt er wieder zurück. Wie seltsam! Sollte ich mich doch getäuscht haben?
Eine Woche später findet in aller Abgeschiedenheit die Urnenbeisetzung statt. Nun bin ich mit meiner Trauer allein. Nunmehr bin ich mit meiner Erinnerung allein!
*