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Kapitel 4 - Offenbarung Arik nach Johannes (Kap. 13 Vers 18)

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hic sapientia

est qui habet intellectum conputet numerum bestiae

numerus enim hominis est et numerus eius est sescenti

sexaginta sex

(Hier ist Weisheit!

Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tiers;

denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist

sechshundertsechsundsechzig.)

Dass ich todmüde ins Bett gefallen bin, könnte man mir abnehmen. Leider stimmt es ganz und gar nicht. Ich habe nach dieser merkwürdigen Zusammenkunft und anschließender Diskussion überhaupt kein Auge zugemacht und mich die restliche Nacht von einer Seite auf die andere gerollt. Erst als am Morgen die ersten Vogelstimmen den neuen Tag froh ankündigen, falle ich in einen angenehmen wie tiefen Schlaf zugleich. Durch einen langen Schnarrton, der mich aus der Gedankenschwere herauszieht, werde ich geweckt. Schlaftrunken und gerädert rufe ich zur Tür:

»Ich komme schon!«

Natürlich steht die liebe Luba bestgelaunt vor der Tür und guckt mich verdutzt an. Natürlich, wer will es ihr verdenken, ist sie von meinem desolaten, schläfrigen Zustand überrascht.

»Was ist denn letzte Nacht mit dir passiert? Hast du etwa getrunken?«, und stellt sofort resolut weiter fest:

»Dans cet état dérangé Je ne veux pas te voir! (In diesem derangierten Zustand möchte ich dich nicht sehen!). Bring dich in Ordnung und erst dann werde ich dich empfangen!«, sofort dreht sie sich beleidigt um und geht die Treppen in Richtung ihrer Wohnung hoch.

Ich rufe ihr nur noch ein müdes: »A‘ vos ordres, Madame!« hinterher, bevor ich wieder sterbensmüde ins Bett falle. So eben noch bekomme ich einen Gedanken ins Gehirn: Derangiert hat sie gesagt. Wenn sie nur wüsste? Und sofort schlafe ich für ein paar Stunden weiter.

Erst am Nachmittag finden meine Nerven wieder zu mir zurück, auch weil sich mein leerer Magen eben gemeldet hat. Derangiert fällt mir als erstes Wort wieder ein. Ja, verwirrt, das bin ich auch! Deinetwegen liebe Freundin!

Wenn man wie betäubt ist, gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten wieder herauszukommen. Das Duschwasser entweder auf kalt oder eben auf brühend heiß einstellen. Ich ziehe die letzte Variante vor und fange an zu leben, nachdem sich meine Haut bereits krebsrot gefärbt hat. Als ich wenig später vor ihrer Haustür stehe, bittet sie mich herein, beäugt mich nach wie vor sehr kritisch. Und nicht nur mich, sondern meine sämtlichen Bewegungen dazu.

»Sei ehrlich zu mir, Torben. Weiber und Alkohol!«, poltert sie ungewohnt laut heraus und fügt noch an:

»Männer sind doch alle gleich!«

»Nein, nein, es ist nicht so, wie du jetzt denkst! Ihr Frauen seid nicht besser als wir Männer. Ihr träumt auch nur eure Schubladen mit Vorurteilen leer!«, entgegne ich ihr genauso resolut.

»Weißt du, was ich letzte Nacht durchgemacht habe?«

»Weiber und Alkohol!«

»Nein, das stimmt doch gar nicht! Willst du meinen unverdächtigen Atem riechen?«

»Untersteh dich, du Ekel. Ich überlege mir gerade, ob ich dich nicht wieder hinauswerfe. Pfui, du Ekel!«

»Also, liebe Luba, mein liebes Lubotschka!«, und ich lächele sie herzzerreißend an.

»Hör mit deiner Schmeichelei auf und erzählt endlich, was passiert ist. Kannst du dir eigentlich denken, dass ich mir Sorgen um dich gemacht habe? Du bist schließlich nicht mehr der Jüngste!«, behauptet meine Bekannte, geht in die Küche und stellt mir bereits ihren lecker duftenden Tee vor die Nase und selbst gebackenen Kuchen dazu. Freudestrahlend greife ich beherzt zu (immer noch in Gedanken über ihren Spruch: Du bist ja nicht mehr der Jüngste! Und sowas muss ich mir von einer 91 Jährigen sagen lassen? Naja, ihr biblisches Alter entschuldigt sie auch gleich wieder! Hoffentlich hat sie nicht meine Gedanken erraten?)

»Ich möchte deine Gedanken nicht kommentieren!«, fährt sie mir bereits in die Seite: »Die waren unangemessen und respektlos! Nun ist aber auch gut. Und erzähl, was so furchterregendes passiert ist.«

Und dann erzähle ich sinngemäß, fast wörtlich, den Hergang des gestrigen Abends und vor allem über den spindeldürren Arik zum Abschluss bei Nagel. Mir fällt sofort auf, wie sich ihre Hautfarbe zum Rötlichen hin verändert hat.

»Und nach mir hat er gefragt?«, fügt sie zum Abschluss nochmals an.

»Ja, nach dir! Und nicht nur gefragt, sondern er möchte, dass ich ihn dir vorstelle. Ich habe ihm geantwortet, dass ich mir dazu Gedanken machen und dann wieder auf ihn zurückkommen werde!«

»Das war klug von dir!«

»Aber, liebe Luba, bedenke, verhindern können wir sein Kommen nicht! Nur aufschieben!«

»Ja, aufschieben. Da stimmt wohl!« Dann zögert sie mit ihrem Satz und fährt dann fort:

»Es hat sich bewahrheitet. Der Mechanismus ist in Gang gesetzt.«

»Luba, du machst mir Angst. Ich verstehe zwar kein Wort: Mechanismus? Was für ein Mechanismus?«

»Torben, später, später. Lass mich jetzt allein. Ich muss mir Gedanken machen! Bitte geh jetzt!«, und schon schiebt sie mich aus ihrer Wohnung hinaus, weg von Tee und Kuchen. Neuerlich verwirrt, wie vergangene Nacht bereits, stakse ich die Stufen zu mir hinunter. Und da ich im Augenblick nichts unternehmen kann, will ich erst einmal meinen Freund Helmut am Telefon über diesen jungen, finsteren Mann ausquetschen. Der aber würgt mich sofort ab und sagt:

»Komm am späten Nachmittag vorbei. Augenblicklich habe ich keine Zeit. Ich habe Besuch!«

Helmut besitzt ein kleines Haus in Harburg-Marmstorf (liegt im Süden von Hamburg). Vor Jahren hat er sich selbstständig gemacht und hat von seinem ehemaligen Arbeitgeber, ein großes Versicherungsunternehmen, den vollständigen Harburger Bereich inklusive Landkreis „geerbt“. Da er diese Arbeit nicht allein bewältigen konnte, hat er notgedrungen und eher unfreiwillig Mitarbeiter einstellen müssen. Ein Büro wollte er sich in der City aus Kostengründen nicht anmieten, und so ist er dem Gedanken verfallen, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Er ließ einen Anbau an sein Haus errichten, welches er fortan als Büro nutzen konnte. Wie sich herausgestellt hat, ist die Idee nicht nur sehr gut gewesen, sondern ist vor allem seiner eher trägen Konstitution entgegengekommen. Natürlich hat er das mir nicht eingestanden und würde es auch nicht tun. Dennoch liege ich mit meiner Meinung ganz sicher nicht daneben. Sein Phlegma ist uns allen Mitschülern bereits vom Gymnasium her sehr bekannt. Und daran hat sich mit den Jahren nichts mehr geändert. Wie auch!

»Komm rein!«, fordert er mich auf, als ich zur angekündigten Zeit an seiner Haustür klingele.

»Was gibt es denn so Dringendes?«, hakt er sofort nach.

»Sag mal, ist der Arik bei dir?«

»Ich verstehe deine Frage nicht? Ist irgendetwas vorgefallen, nachdem du gegangen bist?«

»Das kann man so formulieren! Aber beantworte meine Frage zuerst. Ist er da?«

»Nein, ich habe ihn heute noch nicht gesehen. Aber er arbeitet auch nicht regelmäßig hier bei mir, sondern nur, wenn ich ihn dringend benötige. Zumeist hält er sich, aber das habe ich dir bereits gestern erzählt, in Göttingen in der Uni auf, denke ich jedenfalls. Wissen tue ich es nicht!«

»Dann ist gut. Dann können wir in Ruhe sprechen!«

»Aber fang endlich an, du spannst ja meine Nerven auf die Folter!«

»Sofort, sofort! Ich muss mich selbst erst einmal sammeln!«

Und dann erzähle ich meinem Freund von der letzten Nacht, wieder akribisch und eigentlich genau mit den gleichen Worten, wie ich es meiner Freundin gegenüber nur wenige Stunden zuvor in aller geforderten Breite bereits getan habe.

»Und das hat sich so zugetragen?«, fragt mein Freund noch einmal nach.

»So, wie ich dir eben berichtet habe. Genauso!«

»Hm, das macht mich ein wenig nachdenklich. Lass uns zusammen nachdenken. Was kann er denn von Luba wollen?«

»Ich weiß es nicht. Ich kann mir auch keinen Reim davon machen. Deswegen bin ich ja auch so schnell wie möglich zu dir hierhergekommen! Auf jeden Fall brauche ich mehr Information über diesen Mitarbeiter Arik. Ich denke, du kannst mir einiges über ihn erzählen!«

»Gleich, gleich! Und was hat Luba dazu gesagt?«

»Sie hat etwas von „Mechanismus“ gebrummelt!«

»Von Was?«

»Mechanismus, du hast richtig gehört. Und außerdem hat sie sich Zeit zum „Aufschieben und Nachdenken“ vorbehalten! Und mich anschließend vor die Tür gesetzt.«

»Ich verstehe kein Wort!«

»Denkst du ich, Helmut? Vor allem, weil sie mich sofort aus ihrer Wohnung geschoben hat. Punkt aus! Zum ersten Mal übrigens. Nochmals: Deswegen bin ich bei dir. Also fang an, jetzt bist du an der Reihe!«

Und dann fängt Helmut zu erzählen an. Wie er Arik kennengelernt hat. Wie er ihn eingestellt hat. Etwas von dem Zusammentreffen mit ihm und so weiter.

»Torben, wenn ich jetzt darüber nachdenke, überkommen mich selbst einige Zweifel. Ja, wer hat eigentlich wen getroffen? Und ich muss dir ehrlich antworten: Ich weiß es gar nicht mehr!«

»Wie bitte? Was weißt du nicht mehr?«, hake ich ungeduldig nach.

»Unterbrich mich nicht und lass mich ausführlich berichten. Hm, irgendwie komisch ist es schon. Also, wie ich gestern bereits gesagt habe, habe ich eine Anzeige im

Uni-Portal abgesetzt. Zuerst habe ich mich noch gewundert, dass niemand darauf reagiert. Weißt du, normalerweise wird man von den Studenten mit Mails und Anrufen „bombadiert“. Diesmal passierte gar nichts: Kein Anruf, keine Mail, nichts. Aber das habe ich erst nach ein paar Tagen realisiert. Dann habe ich nachgeschaut: Die Anzeige war seit Tagen veröffentlich! Komisch, dachte ich, sonst….«

»Sonst überschütten die dich! Weiter, Helmut!«

»Und dann stand dieser Arik auf einmal vor meiner Bürotür!«

»Stand einfach da?«, frage ich irritiert.

»Genau! War da und erkundigte sich nach dem Job, ob er noch frei sei und so weiter. Ich habe ihn hereingebeten und erst einmal ein wenig sitzen lassen. Bei uns herrscht immer solche Hektik, immer alles schnell, schnell und sofort…«

»Weiter Helmut!«, treibe ich ihn ungeduldig an.

»Aus dem Augenwinkel habe ich ihn im Blickfeld gehabt. Lang, dürr, dunkel und wie unbeteiligt still hat er auf einem Empfangsplatz gesessen. Da vorn hat er gesessen«, und mit einer Handgeste zeigt Helmut auf diesen Stuhl.

»Und was ist weiter passiert?«

»Nicht viel. Er hat mit einem Buch in der Hand gesessen und darin gelesen. Nichts schien ihn zu stören. Als ich ihn dann zu mir gerufen habe, blickte er kurz auf und ist dann zu mir ins Büro getrottet. Aus Interesse habe ich mich nach dem Buch erkundigt. Er hat es hochgehalten, doch ich konnte nichts darauf lesen…«

»Weil es in kyrillischer Schrift geschrieben ist«, unterbreche ich meinen Freund.

»Woher weißt du das?«

»Ich ahne es! Du hast ihn uns doch als Slawistikstudenten vorgestellt«, füge ich an.

»Stimmt! Das habe ich gestern getan. Aber weiter. Dann hat er mir von Göttingen, dem Studium und dass er mit Leuten gut umgehen könne und dass er schon einmal für eine Versicherung zuvor gearbeitet habe. Und auch, dass er zuverlässig sei und dieses übliche bla, bla.«

»Entschuldige, wenn ich dich noch einmal unterbreche. Hast du ihn nicht gefragt, wieso er ohne Anruf plötzlich und unangekündigt vor deiner Tür steht?«

»Komisch, jetzt wo du es sagst. Darauf bin ich gar nicht gekommen. Irgendwie bin ich abgelenkt gewesen. Naja, eben die Hektik im Büro. Jedenfalls, da der junge Mann einen guten zurückhaltenden und klugen Eindruck auf mich gemacht hat, habe ich ihn sofort engagiert. Und ich muss sagen: Ich habe auch keine Lust mehr gehabt, mich weiter um das Jobangebot zu kümmern. Nach unserem Gespräch, habe ich ihn zu meinen Mitarbeiter zur weiteren Einweisung weitergereicht und die Sache ist für mich erledig gewesen…«

»Ist sie aber nicht!«, werfe ich dazwischen.

»Wie meinst du das?«

»Würde ich sonst hier bei dir sitzen und wir beide über ihn sprechen? Aber egal, ist dir denn sonst etwas an ihm aufgefallen oder deinem Mitarbeiter vielleicht?«

»Nicht, eigentlich nicht. Er hat seine Aufgaben erledigt und die Kunden befragt, wie ich es vorgesehen habe. Warte, doch einmal hat er wieder ungebeten vor der Tür gestanden.«

»Und was wollte er?«

»Auf Toilette!«

»Nur auf Toilette? Er kommt aus Göttingen nach Hamburg, um auf Toilette zu gehen?«

»Ist da etwas Verwerfliches dran? Er hat zu mir gesagt, er würde hier jemanden in der Gegend besuchen wollen, müsse aber dringend aufs Klo. Sein Termin sei später!«

»Und weiter?«

»Dann haben wir uns etwas ausführlicher unterhalten, bis er gehen musste. Er hat etwas von einer großen und weit verstreuten Familie auch aus Russland gesprochen. Seine Eltern seien bei einem Unglücksfall gestorben. Klavier, Gesang, Malerei und Schach habe er erlernt, denn auf Bildung sei immer Wert gelegt worden. Nun studiert er Slawistik, Philosophie, ab und zu spielt er Klavier in Bars. Immer nachts. Wie gut er spielt, habt ihr gestern mit anhören können……«

»Warte!«, rufe ich aus.

»Große Familie und nachts. Davon hat er dir erzählt?«

»Genau das!«

»Zu mir hat er gestern bei Nagel folgendes gesagt: Ich liebe auch die Einsamkeit und die große Familie, allerdings die der Nacht!«

»Irgendwie komisch ist es schon. Und auch, dass er immer in der Nacht aktiv ist. Also ich schlafe nachts!«, behauptet mein Freund. Was ich ihm gern zugestehe und ich selber für mich genauso beanspruche.

»Ich kenne eigentlich nur eine Figur, die das Helle fürchtet. Und ganz ehrlich: Diese Gestalt macht mir Angst«, antworte ich und gucke meinen Freund sehr ernst an. Der lacht laut auf.

»Haha! Jetzt willst du mir etwas vom Teufel erzählen! Haha! Ich glaube, ihr spielt zu viel auf der Playstation!«

»Vielleicht ja unser junger Fürst? Aber eine Verbindung haben wir nun zu Russland. Wahrscheinlich will er deswegen Luba sprechen und sich mit ihr auf Russisch unterhalten, schließlich studiert er ja diese Sprache. Wann hast du ihm denn etwas von meiner Freundin erzählt?«, hake ich nach.

»Kann ich mich nicht erinnern. Hm, eigentlich nicht. Ich habe ihm gesagt, dass du jemanden mit Bezug zu Russland kennst«, und er deutet mit dem Finger auf mich.

»Keine Luba erwähnt?«

»Nein, keine Luba erwähnt. Wahrscheinlich hast du gestern während der Autofahrt oder bei Nagel davon gesprochen?«

»Vermutlich, ja! Ja, so wird es gewesen sein«, reagiere ich zweifelnd und fahre fort.

»Helmut, eine Bitte habe ich an dich. Wenn er das nächste Mal bei dir ist oder sich ankündigt, ruf mich an. Machst du es?«

»Klar, mache ich es. Haha, dann kannst du dich mit dem Fürsten der Nacht treffen«, und ein wohlgelaunter Helmut guckt mich glücklich an.

»Haha, der nächtliche Fürst der Playstation.«

»Zum Schluss: Ich wollte dir noch einmal für die tolle Feier von gestern danken. Luba wäre gern auch dabei gewesen, aber sie fühlte sich nicht. Sie ist auch 91 Jahre alt«, bedanke ich mich bei Helmut.

»Grüße sie von mir. Schade eigentlich. So hätte sie selbst mit dem dunklen Gesellen sprechen können!«

»Danke dir, Helmut und bis bald!«

Auf dem Nachhauseweg grübele ich weiter. Vielmehr über Helmut, der auf mich einen eher sorglosen Eindruck hinterlassen hat. Zuerst auf der Feier und auch heute wieder. Er versteckt bestimmt eine neue Freundin vor mir? Naja, das werde ich das nächste Mal aus ihm herauskitzeln.

Luba ist nicht Zuhause, das sehe ich. Wir haben uns beide eine eher verschrobene Eigenschaft angewöhnt. Ist einer von uns nicht zuhause ist, schieben wir den Fußabtreter immer nach rechts in die Ecke, ansonsten liegt dieser in der Mitte. Ihre Matte ist nach rechts verschoben. Dann wird sich später bei mir noch melden, wenn sie zurückkommt, denke ich noch. Außerdem kommt mir ihre Abwesenheit zupass, bin ich immer noch geschafft von der letzten Nacht und von dem Gespräch mit Helmut.

Unverzüglich lege mich auf meine Couch. Wie nicht anders zu erwarten, schlafe ich sofort ein. Wilde Träume begleiten mich. Menschen, Tiere und Bäume tauchen vor meinem inneren Auge auf. Lebendig und in Bewegung, dann wieder von Starre gezeichnet. Farben von Grau bis Schwarz füllen diese Körper aus. Sie schweben, überdecken sich, trennen sich, überdecken sich wieder und werden sich dabei immer ähnlicher, so als wären sie von einer Sucht nach Ähnlichkeit befallen oder von einem Bazillus der Zweidimensionalität, die sich langsam zur dritten Dimension aufbläht, dann wieder zurückfällt und sich förmlich auf ein Blatt Papier reduziert. Das Blatt beginnt zu schweben, sich in Wellenform zu gestalten, zu drehen, zu rollen, bis es sich wie ein Umhang ausbreitet und über den dunklen Raum legt. Plötzlich erscheint eine dünne, spinnenartige Figur, die nach dem Umhang greift und sich diesen über die schmalen Schultern wirft und laut zu lachen anfängt…. …hahahahaha…hahahahaha, immer wieder wie ein Schnarren klingt es. Ich fahre hoch. Hahahahahaha, wieder ertönt das hässliche Schnarren der Türklingel!

Luba steht vor meiner Haustür und guckt mich mit einem entsetzten Blick an, dem ich nicht standhalten kann. Gerädert winke ich ihr noch schlaftrunken zu und bitte sie, hereinzukommen.

»Was ist nur mit dir los heute? Bist du krank?«, poltert sie sofort los und fährt dann leiser und milder fort:

»Ich habe mir Sorgen gemacht, dass du nicht aufmachst, weil die Fußmatte….«

»Zeigt, dass ich zuhause sein muss! Das meinst du! Ich bin total geschafft von gestern und bin eingeschlafen, als du mich jetzt eben aus einem wilden Traum geweckt hast! Entschuldige bitte, aber es geht mir sonst einigermaßen gut. Komm, setz dich und ich werde dir erzählen, was sich heute zugetragen hat.«

»Das ist auch dringend notwendig!«, meldet sie sich wieder forsch.

Ich erzähle ihr nochmals, was alles in den letzten Stunden so vor sich gegangen ist: Von der Feier, dann vom Gespräch bei Nagel und zuletzt von meinem heutigen Treffen mit Helmut. Sie hört sich alles geduldig an. Zum Schluss frage ich meine Freundin:

»Hast du dir bereits ein paar Gedanken gemacht?«

»Ja, aber davon erzähle ich dir später. Ich habe eine Überraschung für dich!«, und sie grinst mich überschwänglich an.

»Was nun wohl kommt?«, murmele ich mir in meinen nicht vorhandenen Bart.

»Wir gehen morgen in eine Ausstellung über Giacometti in die Kunsthalle! Du magst den Künstler sehr, hast du mir mal erzählt!«

»Das stimmt!«

»Ist etwas, weil du dich nicht wirklich freust?«

»Doch, doch! Im Augenblick ist alles merkwürdig und passt doch irgendwie zusammen. Bei Nagel heute Nacht war Giacometti auch ein Thema. Hm! Ich danke dir. Es wird eine sehr schöne Ablenkung werden!«

Tags darauf schlendern wir dorthin. „Die Spielfelder“, so lautet der Name der Ausstellung. Und diese zeigt „wie wegweisend das kaum bekannte surrealistische Frühwerk des Ausnahmekünstlers für sein Œuvre ist: In der neuartigen horizontalen Ausrichtung der fragilen Unikate entwickelt Giacometti die Idee der „Skulptur als Platz", so lautet die Ankündigung.

»Dann lassen wir uns überraschen«, meint meine Partnerin.

»Weißt du, Luba, das ist nicht wohl überlegt, was du gerade gesagt hast!«

»Stimmt! Überraschungen gibt es seit den letzten zwei Tagen zur Genüge. Aber lass uns jetzt den Kopf freihalten und die Sammlung betrachten gehen.«

Die Ausstellung ist sehr gut besucht. Überall laufen die Leute, zumeist mit den Erläuterungsgeräten behängt, herum. Ernste, angestrengte, nachdenkliche, kunstbeflissene Gesichter begleiten uns. Fachkundige Menschen, die jedes Werk ausgiebig betrachten wollen.

Die Hamburger Kunsthalle der Moderne ist ein unglaublich gelungenes Bauwerk. Die Lichtfülle von innen und außen, die der Architekt Oswald Mathias Ungers bewusst durch die großen Fenster geplant hat, wirft ein sehr natürliches Licht in die Räume. Aber das ist nur der eine Aspekt des Baus. Bewegt man sich darin, entsteht sofort der Eindruck, selbst zum Kunstwerk oder Ausstellungsstück zu werden. Die Transparenz der Fenster verkehrt innen mit außen und umgekehrt. Jedes Mal lässt mich dieser Zustand ins Schwärmen geraten und überrascht mich aufs Neue. Und wenn ich meine Luba ansehe, ergeht es ihr sehr ähnlich, jedenfalls verrät es ihr augenblicklicher Gesichtsausdruck.

Sehr schnell wird klar, warum Alberto Giacometti ein genialer Künstler war und immer noch ist, und warum sein Werk die Menschen noch fünfzig Jahre nach seinem Tod fasziniert. Er stellt Fragen und gibt Antworten mit seinen Werken, die jedem Menschen berühren und die im Speziellen den Kunstbesessenen ins Schwärmen geraten lassen.

»Luba, ich habe mir mehrfach ein Interview aus den Sechzigern mit ihm angesehen. Darin hat er gesagt: „Wenn ich nicht arbeite, glaube ich genau zu wissen, was ich will (…..), aber sobald ich zu arbeiten beginne, wird alles anders, und ich verliere mich.“

Geht es nicht uns allen so?«

»Und er hat auf die Frage nach dem „lang und schmal werden lassen“ seiner Figuren geantwortet: „Es ist wie um ihr Auftauchen in der Ferne auszudrücken, oder die Einsamkeit des Menschen festzuhalten, seine Unfähigkeit zur wahren Begegnung“. Ich denke, er hat recht damit. Unsere Kirche gibt eine Antwort auf die Frage. Christus besaß die Eigenschaft zur „wahren“ Begegnung. Seine Person und sein Geist verinnerlicht diese Eigenschaft in uns«, gibt Luba zu bedenken.

»Entschuldige, wenn ich dich unterbreche: Die Säkularisierung hat uns von der Kirche distanziert, hat uns Menschen einsam werden lassen. Meinst du das?«

»Nicht nur. Ich habe einmal gelesen, dass die Menschen bis zum 2. Jahrhundert auf die Wiederkehr des Christus gewartet haben sollen. Danach soll der Glaube daran verloren gegangen sein.«

»Und damit einen der Grundpfeiler der christlichen Lehre eingebüßt. Ich war immer der Ansicht, dass die Päpste aus der Renaissance die größte Schuld durch ihr Lotterleben daran getragen haben«, füge ich erkennend an.

»Das haben sie sicherlich auch, zumindest eine Mitschuld daran getragen. Damals hat es jedenfalls geheißen: Dass der Borgia-Papst Alexander VI. oder sein Sohn Cesare der „Antichrist“ gewesen sein soll, mein Bester!«

»Da muss ich dich verbessern. Soweit mir bekannt ist, soll der Antichrist durch eine Jungfrau geboren werden! Es heißt: „Christus wurde von einer Jungfrau geboren, der Teufel wird seine Waffe in einer Jungfrau schmieden, von keiner reinen Jungfrau aber, sondern von einer mit allen Lastern und satanischem Unrat erfüllten“, und in anderen Quellen wird von einer geilen Schlange, die in den Körper einer Jungfrau eindringt, gesprochen!«

»Igitt, Torben. Sag mal, wie sind wir eigentlich auf dieses unappetitliche Thema gekommen?«

»Durch die „wahre“ Begegnung! Aber lass uns damit jetzt aufhören, mir wird schlecht, wenn ich weiter daran denke.«

»Wir wollten in dieser Ausstellung auf andere Gedanken kommen. Also ran an die Kunst Giacomettis!

Erst Stunden später und erschöpft fallen wir in die Stühle des Cafe-Restaurant THE CUBE, welches im Erdgeschoss eingerichtet ist. Natürlich hat es sich Luba nicht nehmen lassen, den Ausstellungskatalog zu kaufen, um zuhause im stillen Kämmerlein die Eindrücke nochmals zu genießen und zu verinnerlichen. Ja, so ist sie, meine 91 jährige Freundin. Sie beißt sich in einer Thematik fest, bis sie ein neues „Spielfeld“ gefunden hat. Recht hat sie: Was bedeuten einundneunzig Jahre gegen das Alter der Welt. Eigentlich ist sie taufrisch, auch wenn es an der einen oder anderen Stelle des Körpers bei ihr ziept und zupft! Und wie heißt es zu der Ausstellung: „…. bilden den Höhepunkt der Suche nach einer idealen Platzgestaltung zwischen Kunst und Leben….“. Und genau das fühlen wir beide augenblicklich bei Kaffee und einem Stück Kuchen, sinnbildlich gemeint im Cafe selbstverständlich.

Doch zuhause holt uns die Realität wieder ein. Denn auf Lubas Fußmatte finden wir einen Briefumschlag vor. Einem kurzen Blick auf die handschriftliche Notiz folgt ein Achselzucken, was so viel bedeuten soll: Kenne ich nicht! Als sie mir den Umschlag übergibt, schwant mir nichts Gutes. Meine kaputten Knochen melden sich immer, wenn Gefahr im Verzuge ist. Manchmal meldet sich das rechte Bein, ein anderes Mal das linke, und wenn es ganz schlimm kommt, der Kopf. Heute ist es der Kopf. Und tatsächlich erweist sich mein Gefahrindikator Kopf, dass die Vorahnung zur Gewissheit wird. Der Brief stammt von Arik.

Hallo Lubow!

Es gibt Neuigkeiten aus der Heimat.

Arik

Der Geist der Djukoffbrücke

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