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Was sind Ursachen der ADHS?
Viele verschiedene Faktoren können zur ADHS führen. Das bedeutet, es ist kein einzelner, ursächlicher Faktor festzumachen. Diskutiert werden aktuell erbliche und neurobiologische Ursachen. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der Ursachendiskussion zu ADHS.
Es ist nicht möglich einen einzelnen Auslöser für ADHS auszumachen. Vielmehr scheint sich die ADHS-Symptomatologie aus einer Vielzahl von Ursachen zu ergeben, und allgemein wird eine Interaktion biologischer und psychosozialer Faktoren vermutet. Größten Zuspruch fanden in den letzten Jahren erbliche und neurobiologische Einflüsse. Umwelteinflüsse, wie maladaptive Erziehungspraktiken (d.h. negative Interaktionen zwischen Eltern und Kindern, wie z. B. verbale Auseinandersetzungen) und Stress in der Familie, scheinen die Schwere der Störung zu modulieren, aber kein ursächlicher Faktor zu sein. Doch auch wenn vieles für erbliche und neurobiologische Ursachen der ADHS spricht, lassen sich noch keine ganz sicheren und endgültigen Aussagen darüber machen.
Merksatz
Es gibt, wie bei vielen psychiatrischen Störungen, keine biologischen Marker, die eindeutig das Vorhandensein der ADHS anzeigen können.
Vererbung als ein ursächlicher Faktor
In der Literatur besteht Konsens darüber, dass ADHS eine erbliche Störung ist. Belege für die These des primären Einflusses genetischer Faktoren bei der Ausbildung der ADHS gibt es vielfältige. Zunächst findet sich eine erhöhte Rate von ADHS-Symptomen bei unmittelbaren Familienangehörigen der Kinder mit ADHS. In Adoptionsstudien wurde 20eine erhöhte Rate von ADHS zwischen biologisch verwandten Personen festgestellt. Weiterhin geben auch Zwillingsstudien Aufschluss über die Erblichkeit der ADHS: Die → Konkordanzraten betragen für eineiige (monozygote) Zwillinge zwischen 50 und 80 % und für zweieiige (dizygote) Zwillinge etwa 35 %.
Auch molekulargenetische Untersuchungen untermauern die Erblichkeitshypothese. So wurden Gene lokalisiert, welche in die → Dopaminregulation eingreifen. Diese Gene scheinen bei ADHS-Patienten so verändert zu sein, dass sie ADHS verursachen können. Das bedeutet, dass bei ADHS-Betroffenen diese veränderten Gene eine Variation im Dopaminhaushalt bewirken können, was wiederum Auslöser für hyperaktives und unaufmerksames Verhalten sein kann. Aktuell wird vermutet, dass ein Zusammenspiel mehrerer verschiedener Gene ADHS verursacht. Das heißt, dass ein einzelnes Gen die Entwicklung der Störung nicht auslösen kann (Comings 2001).
Neurophysiologische Faktoren
Unterschiedliche Forschergruppen haben in den letzten Jahren festgestellt, dass Kinder und Erwachsene mit ADHS im Vergleich zu Versuchsteilnehmern ohne ADHS in einzelnen Hirnregionen Besonderheiten aufweisen. Dazu gehören: Eine verringerte Größe des → Frontallappens, des → Corpus Callosum und der → Basalganglien.
In den → präfrontalen Hirnregionen konnte darüber hinaus eine verminderte Durchblutung gefunden werden. Diese und neuere Ergebnisse aus → PET-Untersuchungen lassen eine Verminderung des Glukosestoffwechsels in den präfrontalen Hirnregionen bei Patienten mit ADHS vermuten.
Hirnphysiologische Untersuchungen mit dem → EEG ergaben ebenfalls Auffälligkeiten und dabei insbesondere Reduktionen bestimmter Ereigniskorrelierter Potentiale (→ EKPs). Dazu gehört vor allem die → P300, die als Aufmerksamkeitskomponente gilt und bei Kindern mit ADHS verringert ist. Zudem erweist sich auch die → N200-Komponente als reduziert, was auf eine gestörte Inhibitionsleistung bei ADHS-Patienten hinweist. Das bedeutet, es fällt Betroffenen schwer, ihre Reaktion auf einen Reiz zu unterdrücken.
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Neuropsychologische Faktoren
Zahlreiche empirische Studien konnten die These untermauern, dass bestimmte neuropsychologische Fähigkeiten, nämlich die → exekutiven Funktionen, bei Kindern mit ADHS eingeschränkt sind. Zu diesen Fähigkeiten gehören beispielsweise die Reaktionshemmung, das Arbeitsgedächtnis, Flexibilität im Denken und Verhalten, Sequenzierung von Verhalten und das Planen.
Russell Barkley (1997) nimmt an, dass dabei vor allem die Hemmung von Impulsen und somit die Hemmung dominanter Handlungsimpulse, die Hemmung laufender Handlungen und die Hemmung interferierender Handlungstendenzen betroffen sind (Abbildung 4). Denn nach Barkley sind diese Inhibitionsprozesse Grundlage für vier bedeutende exekutive Funktionen, die folglich bei ADHS-Betroffenen gestört sind:
• das (nonverbale) Arbeitsgedächtnis (d.h., ADHS-Kinder haben Schwierigkeiten, vor allem nichtverbale Informationen im Arbeitsgedächtnis vorübergehend präsent zu halten und zu verändern),
• die Selbstregulation von Affekten, Motivation und Aufmerksamkeit (d.h., ADHS-Kinder haben Schwierigkeiten, Emotionen, Motivation und Aufmerksamkeit zu kontrollieren),
• die Internalisierung und Automatisierung von Sprache (d.h.,ADHS-Kinder haben Schwierigkeiten, Sprache so zu automatisieren, dass diese ohne bewusste Anstrengung genutzt werden kann),
• die Analyse und Entwicklung von Handlungssequenzen (d.h., ADHS-Kinder haben Schwierigkeiten, Handlungsabfolgen durchzuführen).
Abb. 4: Neuropsychologische Faktoren zur Verursachung der ADHS (nach Barkley 1997)
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In empirischen Studien konnte bestätigt werden, dass Kinder mit ADHS bezüglich der Reaktionshemmung und bezüglich dieser vier exekutiven Funktionen Beeinträchtigungen zeigen. Bei Aufgaben, welche die Inhibition bestimmter Reaktionen verlangen, machen Kinder mit ADHS mehr Fehler als Kinder ohne ADHS. Dies betrifft z. B. die → Go-NoGo-Aufgabe, bei welcher auf einen Stimulus reagiert und auf den anderen nicht reagiert werden soll, und die Stopp-Aufgabe, bei welcher nach einem Stopp-Signal eine bereits laufende Handlung unterbrochen werden soll. Weiterhin zeigen Kinder mit ADHS in Reaktionszeitexperimenten längere Reaktionszeiten und mehr Fehler als Kinder ohne ADHS. Das heißt, sie brauchen länger als Kinder ohne ADHS, um auf Stimuli zu reagieren, verwechseln häufiger die unterschiedlichen Reaktionen auf verschiedene Stimuli (Verwechslungsfehler) und lassen häufiger Reaktionen aus (Auslassungsfehler). Das visuell-räumliche Arbeitsgedächtnis (d.h. das Arbeitsgedächtnis für visuell-räumliche Informationen) wie auch das phonologische Arbeitsgedächtnis (d.h. das Arbeitsgedächtnis für sprachliche Informationen) erscheinen in experimentellen Studien bei Kindern mit ADHS ebenfalls beeinträchtigt.
Psychosoziale Faktoren
Früher wurden häufig Umweltfaktoren als Ursache der ADHS angenommen. Konkret ging man davon aus, dass ein ungünstiges soziales Milieu ein verursachender Faktor sein könnte. Solche psychosozialen Faktoren werden heute nicht mehr als alleinige Ursache der ADHS diskutiert. Vielmehr geht man davon aus, dass psychosoziale Wirkfaktoren in der Familie und in der Schule nicht primär zur Entstehung der ADHS führen. Jedoch können aufgrund der ADHS-Symptomatik eines Kindes Interaktionsstörungen mit Eltern, Geschwistern, Lehrern und Freunden auftreten. Diese Interaktionsstörungen können wiederum zu einer Verstärkung der ADHS-Symptomatik führen (Döpfner et al. 2000).
Im biopsychosozialen Modell zur Entstehung der ADHS (Döpfner et al. 2000) wird dies verdeutlicht (Abbildung 5). Dort gilt eine genetische Disposition als hauptsächliche verursachende Variable der ADHS. Ungünstige Bedingungen in Familie und Schule können dann, neben den Kernsymptomen, zu einer Zunahme negativer Interaktionen im Umfeld führen, was wiederum → komorbide Symptome verstärken kann.
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Abb. 5: Biopsychosoziales Modell zur Entstehung von Aufmerksamkeitsstörungen (nach Döpfner et al. 2000)
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Evolutionspsychologische Theorien zur ADHS
Mit seinem Buch „Eine andere Art die Welt zu sehen“ (2006) lieferte der amerikanische Autor Thom Hartmann eine neue Sichtweise auf ADHS: ADHS-Betroffene werden von Hartmann als „Jäger“ und Nicht-ADHS-Betroffene als „Bauern “ bezeichnet, deren genetische Wurzeln bis in die Steinzeit zurückreichen und die beide jeweils überlebenswichtige Fähigkeiten und Funktionen für die frühen Gesellschaften hatten. Diese Theorie wird kontrovers diskutiert, bietet aber eine reizvolle Erklärung für die Häufigkeit des → klinischen und nicht-klinischen Phänomens ADHS in der Bevölkerung.
Zudem bietet Hartmann eine angenehm positive Sichtweise auf die ADHS, indem er Störungsmerkmale der ADHS in Wesenszüge umformuliert. Diese Wesenszüge könnten, seiner Ansicht nach, durch natürliche Anpassung (also im Laufe der Evolution) entstanden sein. Folgende Beispiele sollen dies verdeutlichen:
• leichte Ablenkbarkeit = ständige Überwachung der Umgebung
• handeln, ohne die Konsequenzen zu bedenken = Bereitschaft und Fähigkeit, Risiken und Gefahren auf sich zu nehmen
• Probleme, die Anweisungen anderer zu befolgen = Unabhängigkeit
Hartmann geht davon aus, dass sich ADHS als Merkmal in der Bevölkerung wie eine Gauß’sche Glockenkurve „normalverteilt“. Das heißt: Sehr wenige Menschen zeigen eine sehr starke bzw. sehr geringe Ausprägung von ADHS, während die meisten eine mittlere Ausprägung aufweisen.
Allergische Reaktionen als Ursache für ADHS
Seit den 1970er Jahren stehen bestimmte Stoffe bzw. Zusätze in der Ernährung (z.B. Farbstoffe, Phosphate, Zucker, Milch, Eier) im Verdacht, ADHS-typisches Verhalten auszulösen. Kontrollierte, empirische Studien konnten diesen Verdacht nicht bestätigen. Für die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen mit ADHS scheint also die Art und Weise der Ernährung keine Ursache für ADHS darzustellen. Einzelfallberichte legen jedoch nahe, dass es für manche der betroffenen Kinder bei einer Ernährungsumstellung zu Symptomveränderungen und -verbesserungen kommen kann. Es wurde herausgefunden, dass diese Befunde 25am deutlichsten bei jüngeren (Vorschul-)Kindern sind, die zusätzlich unter weiteren Allergien (z. B. Allergien auf Nahrungsmittel, Heuschnupfen) leiden. Somit scheint es in der Praxis ratsam, zu überprüfen, ob ein ADHS-Kind unter (Nahrungsmittel-)Allergien leidet.
Weitere Ursachen
Weitere korrelative Zusammenhänge finden sich zwischen mütterlichem Rauchen und Alkoholkonsum während der Schwangerschaft und späterer ADHS des Kindes. Ein Großteil entsprechender Studien zur Feststellung der Ursachen von ADHS ist jedoch rein korrelational, d.h., kausale Schlussfolgerungen können nur bedingt gezogen werden. So könnte es beispielsweise sein, dass ein übergeordneter dritter Faktor (z.B. der sozioökonomische Status) sowohl zu vermehrtem Rauchen während der Schwangerschaft als auch zu ADHS führt.
Weitere Zusammenhänge fanden sich zwischen einem niedrigen Geburtsgewicht und ADHS. Aber auch hier könnte argumentiert werden, dass z. B. mütterliches Rauchen während der Schwangerschaft sowohl zu einem niedrigen Geburtsgewicht als auch zu einer ADHS beim Kind führt. Werden alle Faktoren (Alkohol, Rauchen, Drogen, sozioökonomischer Status) berücksichtigt, zeigt sich, dass ein niedriges Geburtsgewicht nur bei sehr wenigen ADHS-Patienten als unabhängiger Risikofaktor für die Entwicklung einer ADHS in Frage kommt (Mick et al. 2002). Fraglich bleibt weiterhin, ob die betroffenen Kinder nicht bereits im Mutterleib eine vermehrte Hyperaktivität zeigen und deshalb in der Folge ein geringeres Geburtsgewicht aufweisen als andere Kinder.
Literatur
Nigg, J.T. (2006): What causes ADHD?: Understanding what goes wrong and why.