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II

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Geneviève kauerte in einer Ecke des Hecks, um den Männern nicht im Wege zu sein, die bei der kräftigen Brise alle Hände voll zu tun hatten. Schließlich – sie wusste gar nicht, wie viel Zeit schon vergangen war, aber es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, denn ihr war kalt und die vier Männer waren ihr nicht ganz geheuer – wandte sich einer der anderen Männer nach ihr um.

„Sag mal, Georges, der Kleine sitzt hier nur so herum, der könnte uns doch wenigstens ein bisschen helfen. Ich versteh´ ja sowieso nicht, wieso wir heute nur zu viert rausgefahren sind – gerade, wenn wir eine lange Fahrt vorhaben.“

„Halt´s Maul, Louis, der versteht doch gar nichts vom Segeln.“

„Was? Und wozu hast du ihn dann mitgenommen? Vielleicht wegen der guten Nachtluft? Da ist doch was faul! Sag mal, ist das etwa ein Flüchtling – ein Feind der Republik?“

„Quatsch“, brummte Georges, aber es klang wenig überzeugend.

„Na, also mir kommt das spanisch vor.“

„Ist mir egal, wie dir das vorkommt. Blas dich hier nicht so auf, Louis, zieh lieber das Tau da vorne mal fester an, das Segel flattert ein bisschen.“

Während Louis achselzuckend die wenigen Schritte zum Bug stiefelte, wo die beiden anderen Männer sich die ganze Zeit aufhielten, eilte Georges zu Geneviève und flüsterte hastig: „Tut mir Leid, mein normaler Bootsmann ist krank; wir müssen ihn bestechen – für Geld übersieht der alles. Haben Sie noch etwas Geld übrig?“

„Ja“, flüsterte Geneviève zurück.

„Wie viel?“

„Fünf Louis d´or“, antwortete sie vorsichtig, wenn auch nicht unbedingt wahrheitsgemäß.

„Ich werde es versuchen. Drei müssten aber reichen. Die anderen sind harmlos – sie machen alles, was ich sage, und können Louis nicht leiden. Lassen Sie mich nur machen.“

Mit diesen Worten trat er einen Schritt zurück und wandte sich dem zurückkommenden Louis zu. „He – Louis! Wie wär´s mit einem Spielchen? Jetzt haben wir ja etwas Ruhe.“ Dabei holte er schon ein abgegriffenes Päckchen Karten aus seiner hinteren Hosentasche. Geneviève war gespannt, was nun folgen würde - das jedenfalls hatte sie nicht erwartet! Georges freilich schien genau zu wissen, was er tat. Louis zögerte, schielte aber begehrlich auf die Karten, soweit Geneviève das in der Dunkelheit erkennen konnte, während sie unauffällig einige Münzen aus ihrem Beutelchen in die Jackentasche praktizierte.

„Lust hätte ich schon… aber ich weiß nicht. Ich hab gestern schon zwei Louis d´or im Lion Rouge verspielt – weiß gar nicht, wie mir das passiert ist. Meiner Alten hab ich das noch gar nicht gesagt. Mann, die wird mir vielleicht was erzählen!“

„Gleich zwei ganze Louis d´or? Aber Louis – so viel Geld!“

„Hör bloß auf, du redest schon wie meine Alte.“

„Ja, ja, die gute Anne“, sinnierte Georges nicht ohne Schadenfreude. Interessiert fragte er weiter: „Hat sie dir wegen sowas nicht mal eine Flasche über den Schädel gehauen?“

„Verdammt, erinnere mich bloß nicht daran!“, stöhnte Louis auf.

„Ein resolutes Weibsbild, deine Anne“, gab Georges sein Urteil ab. „Na, dann schau nur, dass du das Geld schnell wieder auftreibst. Eine ganze Menge, zwei ganze Louis d´or.“

Damit wandte er sich ab und machte sich an einem Tau zu schaffen. Geneviève hatte seine Taktik schon durchschaut: Er wollte Louis ein bisschen schmoren lassen. Tatsächlich biss dieser nach einigen Minuten stummen Kampfs mit sich selbst auf den so geschickt ausgelegten Köder an: „Sag mal, Georges, du könntest mir nicht vielleicht…?“

„Was? Geld pumpen? Schlecht, weißt du… Meine Marthe lässt mir auch nicht viel übrig; wenn ich so viel spielen würde wie du, hätte ich auch nie einen Sou. Jean und Michel brauchst du übrigens gar nicht erst zu fragen, die haben mir vorhin erst erzählt, dass sie völlig pleite sind. Tja, ich fürchte, du wirst Anne alles beichten müssen. Schau, so schlimm kann es ja auch nicht werden. Vielleicht wirft sie dir einen Kochtopf an den Kopf und verbietet dir für die nächste Zeit, in den Lion Rouge zu gehen – aber daran wirst du schon nicht sterben.“

Louis schien aber den Tod den in Aussicht gestellten Strafen vorzuziehen; er stöhnte mehrmals ganz erbärmlich und nahm schließlich einen neuen Anlauf: „Und der Kleine da?“

„Was soll mit dem sein? Ach so - ! Das hab ich gerne: erst die Leute für Flüchtlinge halten und sie dann anpumpen! Das würde ich an deiner Stelle lieber nicht tun. Stell dir vor, du nimmst Geld von ihm und dann ist er tatsächlich ein Flüchtling: Schön stehst du da, wenn das rauskommt.“

Louis widersprach ganz entrüstet. „Natürlich ist der kein Flüchtling! Sieht man doch!“ Offensichtlich war er bereit, jeden für einen guten Bürger der Republik zu halten, der ihm Geld leihen konnte. Die Aussicht auf zwei Louis d´or ließ ihn vor Erleichterung fast stottern, denn er hatte tatsächlich entsetzliche Angst vor seiner herrschsüchtigen und vor allem schlagkräftigen Frau.

Auf einen Wink von Georges reichte Geneviève Louis drei Goldstücke, nach denen dieser hastig griff, erfreut über die unvermutete Großzügigkeit des jungen Mannes.

„Na“, sagte Georges gleichmütig, „dann wären deine Probleme ja gelöst – aber solltest du eines Tages doch wieder glauben, Henri wäre ein Flüchtling, dann vergiss nicht, dass du dir von ihm hast aus der Patsche helfen lassen. Bestechung wäre das dann, jawohl.“

„Schon recht“, brummte Louis und nickte Geneviève zu, „schönen Dank auch, Bürger – oder soll ich Monsieur sagen?“

„Mir egal“, brummte Geneviève zurück und versuchte, ihre Stimme möglichst tief und männlich klingen zu lassen, was ihr aber nicht besonders gut gelang. Erleichtert sah sie Louis wieder zum Bug des Kutters stapfen, während Georges sich am Heck um das Ruder kümmerte.

„Wenn er merkt, dass wir gar nicht Richtung Brest segeln, fängt er bestimmt wieder an. Spätestens, wenn wir an Cap Hague vorbei sind, müssten wir nämlich nach Westen segeln anstatt weiter nach Norden. Aber jetzt hängt er schon mit drin, und das weiß er auch, also machen Sie sich mal keine Sorgen um ihn.“

Wirklich begann Louis nach einiger Zeit, sich mit zunehmender Lautstärke über die Route zu wundern. Die beiden anderen verhielten sich so blind, taub und stumm, dass Geneviève daraus den Schluss zog, Georges habe sie eingeweiht.

Louis jedoch wurde unruhig: „Sag mal Georges, wo willst du verdammt noch mal hin? Wir sind schon lange am Kap vorbei – hältst du mich für blöde? Wenn wir nach Westen segeln würden, müsste es seit Neuestem im Norden hell werden. Also was soll das alles?“

Tatsächlich war backbord – welche Himmelsrichtung es auch immer sein mochte, auf die Louis´ anklagender Zeigefinger wies – eine schwache hellere Färbung wahrzunehmen.

Georges antwortete zunächst nicht. Während der lastenden Stille lief es Geneviève trotz der tröstenden Worte von Georges kalt über den Rücken: Bestimmt war jetzt alles aus: Louis würde verhindern, dass man sie in England absetzte, und in Frankreich ungeheuren Krach schlagen – sie würden alle auf der Guillotine sterben. Nur mühsam bewahrte sie äußerlich die Ruhe und zwang sich, auf Georges zu vertrauen: Hoffentlich fiel ihm etwas ein, um Louis zu beruhigen!

Da hörte sie Georges bedächtig sagen: „Wohl, Louis, da magst du schon recht haben. Wir fahren tatsächlich nicht nach Westen, sondern nach Norden.“

„Nach Norden? Aber – nach England?!“

„Nach England“, bestätigte Georges mit bewunderungswürdiger Gelassenheit.

„Das dulde ich nicht! England ist ein feindliches Land! Du verrätst die Revolution, wenn du einem Feind der Republik zur Flucht verhilfst!“

Das hatte sie befürchtet. Um Gottes willen – was sollte sie jetzt tun? Geneviève wurde von einer derartigen Verzweiflung erfasst, dass sie sich vornahm, eher über Bord zu springen und zu ertrinken, als sich nach Frankreich zurückschaffen zu lassen – sterben müsste sie ja auf jeden Fall. Aus diesen morbiden Gedanken wurde sie durch Georges´ Stimme gerissen, die Louis antwortete: „Das duldest du nicht? Du hängst ja auch schon mit drin. Schließlich sehen es die guten republikanischen Bürger gar nicht gerne, wenn man von einem Flüchtling Geld annimmt – sie schimpfen doch immer über die Korruption. Du kannst es ihm natürlich wieder zurückgeben -“

Er hielt inne und registrierte befriedigt, dass sich bei Louis die erwartete Wirkung einstellte: Sein Gesicht wurde immer länger. Dann sprach Georges weiter: „Ich würde ja sagen, die Gefahr ist geringer, dass das hier rauskommt, als dass deine Frau von deinen Spielschulden erfährt und dir den Kopf abreißt – aber natürlich musst du das selber entscheiden. Ich will dir da nicht reinreden, schließlich leben wir in einer freien Republik.“

Der spöttische Unterton war unverkennbar; Geneviève, die gebannt lauschte, konnte sich trotz ihrer Befürchtungen ein Lächeln nicht verkneifen.

Louis stand einige Minuten stumm da und wog die verschiedenen Möglichkeiten gegeneinander ab; dann gab er sich einen Ruck und erklärte: „Na gut, mir soll´s recht sein. Aber wo willst du fischen?“

„Auf dem Rückweg – von hier bis Cap Hague gibt es ausgezeichnete Fischgründe, da kriegen wir bestimmt genug zusammen.“

Die Nacht neigte sich mehr und mehr ihrem Ende zu; allmählich tauchten aus der nächtlichen Schwärze Meer und Himmel in einer fahlen graublauen Tönung auf; in ihrer näheren Umgebung nahm Geneviève Farben wahr, die sich aus dem Dämmerungsgrau immer deutlicher herausschälten: Louis´ knallrotes Halstuch, sein Haar von stumpfem Braun, Georges´ blau gestreifte Hosen, eine gelb gestrichene Tonne, neben der sie die ganze Nacht gesessen hatte, ohne sie auch nur bemerken. Sie bildete sich ein, in der Ferne die englische Küste erkennen zu können. Der Wind blies unvermindert kräftig: eigentlich erstaunlich, dass sie nicht seekrank geworden war, denn das Meer war nicht besonders ruhig zu nennen.

Plötzlich spürte sie, wie steif und klamm ihre Glieder von der langen Nacht waren, die sie fast unbeweglich in der Kälte des Windes verbracht hatte; vor Aufregung, es könnte etwas schief gehen, hatte sie gar nicht so sehr gefroren. Nun erhob sie sich ungelenk und streckte sich ausgiebig, die Arme weit nach hinten ausgestreckt.

Unglücklicherweise ah Louis gerade in diesem Augenblick in ihre Richtung und stellte zu seiner Verblüffung fest, dass der junge Bursche eine etwas ungewöhnliche Figur besaß: zwar schlank, fast mager, aber an gewisser Stelle doch unverkennbar sanft gerundet. Na, das war aber mal eine angenehme Überraschung!

„He! Georges! Stell dir vor – das ist ja ein Mädchen!“, rief er aufgeregt und näherte sich, ein schmieriges Grinsen, das er wohl für sehr verführerisch hielt, im Gesicht, der zu Tode erschrockenen und völlig erstarrten Geneviève.

„Na“, fuhr er fort, während er sie auf eine Weise musterte, die ihr das Blut in die Wangen trieb, „so ein hübsches Kind! Steht dir gut, die Hose da. Und dir ist es nur drei lumpige Louis d´or wert gewesen, dass sie dir nicht deinen niedlichen Hals abgeschnitten haben? Also das nenne ich ganz schön undankbar. Da möchte ich schon noch ein bisschen mehr haben!“

Louis´ erste begeisterte Ausrufe hatte das Möwengeschrei übertönt. Nun erst bemerkte Georges, der am Bug beschäftigt war und dort Louis´ helfende Hand vermisste, dass am Heck offensichtlich etwas vor sich ging. Er befahl den beiden anderen, gut aufzupassen, und begab sich gemächlich nach hinten – gerade recht, um zu sehen, wie Louis Geneviève bei den Schultern gepackt hielt und sich über ihr abgewandtes Gesicht beugte. Sie wehrte sich verzweifelt, stemmte beide Hände gegen seine Brust und versuchte, ihn wegzuschieben – vergeblich, er war ja so viel stärker als sie und lachte nur über ihre wütenden Anstrengungen, sich von ihm zu befreien, ja, es schien ihn sogar nur noch mehr zu reizen.

„Lassen Sie mich los – ich will nicht – nein!! Georges, Georges, zu Hilfe! Nehmen Sie sofort ihre Hände weg! Georges!!“

Louis packte sie nur noch fester, zog sie noch enger an sich und knurrte gereizt: „Nun zier´ dich doch nicht so! Kannst deinem Retter ja wohl einen kleinen Gefallen tun. So ein leckeres Püppchen hab ich noch -“

An dieser Stelle seiner feurigen Liebeserklärung fühlte er sich plötzlich um die eigene Achse gedreht, verlor das Gleichgewicht und wurde unsanft auf das Deck geschleudert. Bevor er sich wieder aufrappeln konnte, stand Georges breitbeinig über ihm, eine Hand in der Hosentasche und in den Augen einen Ausdruck, der Louis nichts Gutes ahnen ließ.

„Das wirst du gefälligst schön bleiben lassen, du Widerling!“, fauchte er den Verdutzten an, der unsicher zu ihm aufblinzelte. „Wir schaffen sie bestimmt nicht deshalb nach England, damit du sie belästigen sollst. Also lass gefälligst deine dreckigen Pfoten von ihr, hast du verstanden?“

Das nahm Louis denn doch übel auf: „Sag mal, wie redest du eigentlich mit mir? Bist du vielleicht was Besseres als ich? Und die da, die ist sich wohl zu schade für einen ehrlichen Kerl? Aber jetzt weht ein anderer Wind – feine Leute gibt´s in Frankreich nicht mehr!“

Mit diesen Worten sprang er auf und wollte auf Georges los. Doch der machte sofort einen Satz zurück und zog die Hand aus der Hosentasche. Der im fahlen Morgenlicht blinkende Gegenstand in seiner Hand ließ Louis auf der Stelle zur Salzsäule erstarren – mit diesem scharfen Messer wollte er nicht so gerne Bekanntschaft schließen.

Gebannt starrte er auf Georges´ Hand und schluckte trocken, als Georges leise und überdeutlich sagte: „Ich stech´ dich ab wie ein Schwein, Louis, wenn du noch einmal deine dreckigen Hände nach dem Mädchen ausstreckst – ist das klar? Also benimm dich gefälligst!“

„Das wirst du noch bereuen“, zischte Louis erbost.

Geneviève, die dem Gespräch atemlos gelauscht hatte, erschauerte, als sie seinen bösartigen Unterton wahrnahm. Ob er wohl Georges, Jean-Baptiste, ja, alle ihre treuen Freunde vor eines dieser Revolutionstribunale schleppen würde – aus Rache?

Doch Georges schien von solchen Ängsten nichts zu spüren; offensichtlich hatte er sich schon öfter in einer derartigen Situation befunden. „Wenn ich das bereue“, erwiderte er gelassen und begann, sich mit dem mörderischen Instrument gemächlich die Fingernägel zu säubern, „dann wirst du es noch viel mehr bereuen. Du hast dich bereitgefunden, für Geld einer Feindin der Republik“, dabei zwinkerte er Geneviève, zu, „ja, einer Feindin der Republik zur Flucht zu verhelfen -“

„Dazu hast du mich gezwungen!“

„Kannst du nicht beweisen. Du hast schon vorher davon gewusst und hundert Louis d´or dafür bekommen-“

„Was?“, heulte Louis auf, dem ja nicht einmal ein Zwanzigstel dieser märchenhaften Summe angeboten worden war.

„Hundert Louis d´or“, wiederholte Georges seelenruhig, weiter seine Nägel putzend und scheinbar ganz in diese Arbeit vertieft, ohne jedoch Louis auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen.

„Ich konnte dich ja nicht davon abhalten – ja, du hast mich gezwungen, meinen Kutter zur Verfügung zu stellen. Das wird das Gericht gar nicht freuen. Und die liebe Anne wird es auch nicht gerne hören, dass du von unserem Passagier hier nicht die Finger lassen konntest – wahrscheinlich lässt sie dem Gericht dann gar nicht mehr viel zu tun übrig.“

„Das wird dich den Kopf kosten!“, schleuderte Louis ihm wutentbrannt entgegen.

„Mag sein, aber wenn ich zum Schafott gehe, gehst du mit – das verspreche ich dir. Wenn ich auch nur den geringsten Ärger mit den Behörden habe, dann ziehe ich dich sofort mit hinein, da kannst du sicher sein.“

Georges´ entschlossene Haltung machte auf Louis endlich den gewünschten Eindruck; er zuckte mit den Schultern und gab mürrisch nach: „Also schön – aber schade ist es doch. Ich habe noch nie eine feine Dame – das ist sie doch, sonst müsste sie ja nicht abhauen, oder? – ich hab noch nie eine feine Dame ge-“

„Jetzt halt endlich dein verdammtes Maul und scher dich nach vorne!“

Louis knurrte noch etwas Unfreundliches und trollte sich.

Geneviève duckte sich tiefer in ihre Ecke und dachte über das Gehörte nach. Ganz genau wusste sie ja nicht, was Louis mit ihr vorgehabt hatte, aber sie konnte es sich schon denken. Entsetzlich, wenn Georges ihn nicht an seinem abscheulichen Vorhaben gehindert hätte! Sie versank in Gedanken und schreckte erst nach längerer Zeit wieder hoch. Immer mehr Möwen umkreisten kreischend den Kutter, die Sonne stand schon recht hoch am Himmel, es wurde erheblich wärmer – und die Felsenküste Englands war schon ein gutes Stück näher gerückt. Nach ihrer Ansicht musste es mindestens Mittag sein. Nachdem weitere Zeit verstrichen war, konnte sie fasziniert beobachten, wie die Felsen von Minute zu Minute größer wurden und schließlich zum Greifen nah schienen. Das mussten wohl diese Kreidefelsen sein, von denen Miss Carpenter, ihre Gouvernante, immer erzählt hatte. Georges und die anderen manövrierten herum, bis der Kutter in eine kleine Bucht glitt, wo er vor neugierigen Augen geschützt war. Geneviève blickte ins Wasser: Das Meer schien so hell, dass es nicht mehr sehr tief sein konnte; sie bildete sich sogar ein, den Boden erkennen zu können.

Vor ihr dehnte sich ein breiter Schlammstreifen, dem ein kleiner Strand folgte; danach erhob sich unmittelbar die Felswand, die, wie sie nun erkennen konnte, nicht ganz so steil war wie zunächst vermutet und dafür mit Gras und Sträuchern bewachsen war.

Sie ging auf Georges zu, der einige Schritte von ihr entfernt stand und mit dem Ruder hantierte, und fragte ihn, warum er denn nicht näher an die Küste heranfahre. George blickte kaum auf. „Näher geht es nicht, sonst laufen wir auf Grund. Ich muss Sie hier absetzen. Das Wasser ist höchstens hüfthoch, Sie müssen an Land waten. Tut mir leid, aber in der Sonne werden Sie ja bald trocknen. Wenn Sie an den Steilhang kommen, werden Sie merken, dass da ein Weg hinaufführt – ich kenne diese Bucht ganz gut. Ober gibt´s ein Wirtshaus und wahrscheinlich auch eine Poststation. Tja, und jetzt steigen Sie wohl am besten aus.“

Sie nickte, dann gab sie sich einen Ruck, wandte sich dem äußerst mürrischen Louis zu und streckte ihm die Hand entgegen, die er nach anfänglicher Verblüffung ergriff. „Leben Sie wohl – und vielen Dank, Sie haben mich gerettet!“ Das Lächeln, das diese Worte begleitete, verfehlte nicht seine Wirkung, nämlich Louis von seinen Rachegedanken abzubringen. Er schenkte ihr ein schiefes Grinsen und sagte widerstrebend: „Na, viel Glück – und nichts für ungut!“

Sie lächelte ihm noch einmal zu und lief zum Heck des Kutters zurück, wo Georges auf sie wartete, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. Sie dankte auch ihm und sprach die Hoffnung aus, ihm möchten aus diesem Unternehmen keine Unannehmlichkeiten erwachsen. Er beruhigte sie: „Mit Louis werde ich schon fertig, dem ist bloß die lange Nacht zu Kopf gestiegen.“

Auf ihre Anfrage hin teilte er ihr noch mit, es sei jetzt – er blicke schätzend zum Himmel – etwa elf Uhr. „Wir haben also dreizehn Stunden gebraucht – keine schlechte Leistung, oder?“ Geneviève versicherte ihm höflich, wenn auch völlig unzutreffend, die Zeit sei ihr wie im Fluge vergangen. Sie entledigte sich ihrer Schuhe und Strümpfe und krempelte die Hosenbeine hoch, so gut es eben ging; Georges stützte sie, als sie sich vorsichtig ins Wasser hinabließ, um nicht nasser zu werden als es unbedingt nötig war. Georges reichte ihr Schuhe und Strümpfe nach; zum Dank dafür teilte sie ihm erfreut mit, das Wasser sei kaum noch knietief.

Darüber war Georges nun weniger glücklich; er stieß einen kräftigen Fluch aus und schickte sich an, sofort aus diesen seichten Gewässern zu verschwinden, bevor sie womöglich noch festsaßen.

Geneviève winkte ihm noch einmal zu und watete vorsichtig ans Ufer, Holzschuhe und Strümpfe in der hoch erhobenen Hand. Als sie den feuchten Schlickstreifen erreichte und sich umdrehte, sah sie den Kutter mit vollgeblähten Segeln bereits erstaunlich weit vor der Küste kreuzen. Am Strand angekommen, setzte sie sich auf einen großen Stein, der einladend in der vollen Mittagssonne stand, und dachte über ihre Lage nach, während ihre Beine trockneten.

Was sollte sie jetzt wohl am besten tun? Mit der Sprache hatte sie zwar keine Schwierigkeiten, da ihr Vater seltsamerweise gewünscht hatte, dass sie die englische Sprache erlernte – deshalb hatte sie zwei Jahre lang eine englische Gouvernante gehabt, eben jene Miss Carpenter; aber ansonsten fühlte sie sich hilflos wie ein neugeborenes Kind.

Sie besaß achtzehn Louis d´or, Kleider, in denen sie bewohnte Gegenden am besten mied, und hatte keine Ahnung von den englischen Sitten und Gebräuchen, da sich in ihrem Kopf die halb vergessenen Erläuterungen von Miss Carpenter und die zahlreichen Vorurteile ihres Vaters zu einem kunterbunten Durcheinander mischten. Durfte sie überhaupt gestehen, dass sie aus Frankreich kam und geflohen war? Sie wusste, dass Frankreich Krieg führte gegen Österreich, die Heimat der Königin, aber ob es sich auch mit England im Kriegszustand befand, war ihr nicht ganz klar.

Und falls Frieden herrschte zwischen England und Frankreich, wie konnte sie sicher sein, dass es nicht auch hier Revolutionsfreunde gab, die sie irgendwie nach Frankreich zurückschaffen würden? Die Engländer, das wusste sie aus den Äußerungen ihres Vaters, waren ein raues und rasch entschlossenes Volk, mit barbarischen Manieren und ohne Kultur; sie würden gewiss äußerst unfreundlich zu ihr sein. Warum nur hatte Tante Anne einen solchen Barbaren geheiratet? Aber hätte sie es nicht getan, so hätte Geneviève überhaupt nicht gewusst, wohin sie hätte gehen können. Nur musste sie erst einmal zu ihr gelangen!

Sie fühlte sich seltsam verzagt, die ganze Abenteuerlust, die es ihr ermöglicht hatte, die vergangene Nacht ohne hysterische Anfälle zu überstehen (selbst in den kritischsten Situationen hatte sie ein Gefühl der Spannung nicht ganz unterdrücken können), schien verflogen zu sein.

Schließlich gab sie sich einen Ruck und zwang sich, ihre Gedanken dem Nächstliegenden zuzuwenden: Hier konnte sie jedenfalls nicht bleiben.

Sie beschloss, den Steilhang zu erklimmen, sobald sie getrocknet war, und nach dem Wirtshaus zu suchen, von dem Georges gesprochen hatte. Vielleicht gab es dort eine Wirtin, der sie sich anvertrauen und die ihr mit einem alten Kleid aushelfen konnte. Von dort aus musste sie dann versuchen, nach London zu gelangen – hoffentlich gab es hier in der Nähe eine Poststation! Die Adresse ihrer Tante wusste sie auswendig, South Audley Street – im feinsten Teil von London sei das, hatte ihr Miss Carpenter einmal versichert. Immer mehr bereute sie, dass sie Miss Carpenter eigentlich nur dann aufmerksam zugehört hatte, wenn es um die englische Sprache ging, die ihr Spaß machte, aber nie bei allgemein kulturellen Belehrungen.

Sie hatte auch nicht die blasseste Ahnung, wie viel achtzehn Louis d´or in englischem Geld wert waren und ob man damit überhaupt die Post nach London bezahlen konnte – aber das würde sich schon finden.

Sie stellte fest, dass während dieser Überlegungen die Sonne das Ihrige getan und sie getrocknet hatte. So schlüpfte sie wieder in Strümpfe und Schuhe, nicht ohne sich erneut zu fragen, wie die Bauern nur in diesen Dingern gehen konnten, und suchte den Pfad, der Georges zufolge die Küste hinaufführen sollte. Er war, wie sie entdeckte, geradezu schwindelerregend steil; mit Holzpantinen würde sie jedenfalls niemals dort hinaufkommen, so viel stand fest. Also zog sie die Schuhe wieder aus und stopfte sie nach kurzem Überlegen in ihre Jackentaschen. Dort waren sie ihr zwar ziemlich im Weg, aber eine andere Möglichkeit fiel ihr nicht ein.

So nahm sie die Klippen in Angriff, mit dem festen Vorsatz, nicht hinunterzublicken. Die Augen hartnäckig auf die Wand vor sich geheftet, tastete sie sich beinahe auf allen vieren von Stein zu Stein, hielt sich an Grasbüscheln fest und auch an Ginstersträuchern, die ihr die Hände blutig rissen, und war mehrere Male nahe daran, auszugleiten, wenn Steine unter ihren Füßen wegrutschten und zum Strand hinunterpolterten, doch sie konnte sich jedes Mal gerade noch festhalten. So arbeitete sie sich mühsam nach oben, mit dem Gefühl, dieser Abhang werde nie ein Ende nehmen, doch schließlich wurde das Gelände flacher und sie krabbelte mit letzter Kraft über den Rand der Steilküste, wo sie erschöpft liegen blieb. Als ihr Herz aufgehört hatte, wie rasend zu schlagen, und der Schmerz in ihren steifen, geröteten und blutverschmierten Händen etwas nachgelassen hatte, richtete sie sich auf und blickte sich neugierig um.

Sie lag auf einer grünen Wiese, jenseits derer sie eine Straße erblickte; in einiger Entfernung war ein Dorf zu erkennen. Der wuchtige graue Kirchturm hob sich deutlich gegen den leuchtend blauen Septemberhimmel ab. Erstaunt stellte sie fest, wie hübsch es in England war. Sie hatte es sich irgendwie immer feucht, neblig und ungemütlich vorgestellt und war nun aufs höchste angenehm überrascht.

Der Kirchturm brachte sie auf eine Idee: Wenn sie dorthin gelangte, konnte sie vielleicht den Priester um Hilfe bitten – doch nein, ihr fiel ein, dass die Engländer ja keine richtigen Christen waren; dunkel entsann sie sich einer Geschichte, die ihr Miss Carpenter einmal erzählt hatte, von einem englischen König, der von der Kirche abgefallen war, weil ihm der Papst nicht erlauben wollte, sechs Frauen zu haben – oder so ähnlich, sie hatte natürlich wieder einmal nicht aufgepasst.

„Non scholae, sed vitae discimus“, zitierte sie reuig die letzten Reste eines halb vergessenen Lateinunterrichts. Diesen Satz hatte sie immer für besonders dumm gehalten, aber anscheinend hatte er doch etwas für sich. Zu spät.

Sie strich den Pfarrer – oder wie immer man das hier nennen mochte – von ihrer Liste und kam auf ihr Phantasiebild einer dicken, gemütlichen und vor allem hilfsbereiten Wirtsfrau zurück. Sie erhob sich also mühsam, um diese Wirtsfrau – die es einfach geben musste! – aufzusuchen.

Die Cousine aus Frankreich

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