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III

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Der Gasthof Lamb and Crown war einer von der weniger feinen Sorte, wie Geneviève einigermaßen erleichtert feststellte, als sie schließlich, nach ermüdendem Fußmarsch, davorstand: Das ehemals weiß gekalkte Fachwerkhaus hatte einen neuen Anstrich dringend nötig und die Fensterscheiben waren schon länger nicht mehr geputzt worden. Die Stalltür war geschlossen, im Hof stand nur ein klappriges Gig, von lebhaftem Reiseverkehr war sonst nicht das Geringste zu spüren: Eine Poststation war das nun ganz gewiss nicht!

Geneviève hörte, wie ihr Magen anzüglich knurrte, gab sich einen Ruck und trat ein. Niemand drehte sich nach ihr um (wie sie vorher befürchtet hatte), denn es war überhaupt keine Menschenseele anwesend: Der dämmerige Flur lag völlig verlassen vor ihr. Sie nestelte rasch zwei Geldstücke aus dem kleinen Lederbeutelchen und hatte dieses gerade wieder in ihren Ausschnitt zurückgestopft und die kostbaren Münzen in ihre Jackentasche gleiten lassen, als hinter ihr eine Stimme mit geschäftsmäßiger Freundlichkeit fragte: „Und was steht zu Diensten, junger Herr?“

Sie fuhr herum und sah einen Mann in mittleren Jahren, mit hagerem, säuerlichem Gesicht vor sich, der offensichtlich den Wirt vorstellte und dessen professionell gastfreundliche Miene sich langsam in Gleichgültigkeit verwandelte, nachdem er Geneviève genauer betrachtet hatte. Sie wunderte sich ein wenig darüber – nicht über sein nunmehr mangelndes Interesse, sondern über den anfänglichen Diensteifer: Sie sah doch wohl auch von hinten nicht wie ein junger Herr aus, sondern nur wie ein ungeheuer schmutziger Bauernbursche?

Der Wirt begab sich schon hinter die Theke und fragte mechanisch: „N´Bier?“

„Nein“, antwortete Geneviève etwas ratlos, „ich - ich meine – ich möchte – haben Sie eine Frau?“

Der Wirt schien verdutzt. „Eh-? Nein, ich habe keine Frau. Warum?“

„Oh!“ Geneviève war ganz verwirrt. Was sollte sie jetzt tun? Sie hatte in ihre Pläne die dicke, freundliche Wirtsfrau so fest mit einbezogen, dass sie nicht weiter darüber hinaus gedacht hatte. Aber das Lamb and Crown war in diesem Ort der einzige Gasthof, der nächste Ort war kaum in der Ferne zu erkennen und ihr taten schon jetzt die Füße in den ungewohnten Holzschuhen weh. Man musste sich also mit dem behelfen, was vorhanden war. Sie beschloss, den Sprung ins kalte Wasser zu wagen.

„Nun, dann muss ich mich eben Ihnen anvertrauen. Oder gibt es hier vielleicht eine Dienstmagd oder sonst ein weibliches Wesen?“

Er nickte. „Ja, die Mary, die was hier die Magd ist, aber die war heute Nacht bei ihrer Familie drüben in Hitchham und ist noch nicht wieder da, muss aber bald kommen. Was wollen Sie denn von ihr? Hören Sie mal, das ist hier ein anständiges Haus. Was Sie suchen, finden Sie wohl eher drüben in Chichester im Bordell, also verschwinden Sie!“

„Im Bordell? Was ist das?“

„Was-? Oh, na schön, also nicht. Was wollen sie denn dann von der Mary?“

„Naja, also es ist so – ich weiß gar nicht, wie ich es sagen soll“, sie holte tief Luft und platzte dann heraus: „ich bin nämlich eigentlich ein Mädchen.“

Der Wirt betrachtete sie fasziniert und zweifelte offensichtlich an ihrem Verstand, wie Geneviève sofort bemerkte.

„Haben Sie keine Angst, ich bin bestimmt nicht verrückt. Ich komme aus Frankreich und hatte mich verkleidet, um unerkannt vor der Revolution zu fliehen; ich bin wirklich ein Mädchen.“

„Ah ja -“, meinte der Wirt unentschlossen. „Aus Frankreich, ja?“ Offensichtlich gestand er diesen seltsamen Ausländern exzentrisches Benehmen zu; nichts in seinem Benehmen dagegen sprach dafür, dass zwischen Frankreich und England Krieg herrschte oder es aus irgendeinem anderen Grund verboten war, als Französin nach England zu reisen.

Der Wirt bemühte sich, die Situation zu begreifen. „Und was wollen Sie dann von mir? Und was fragen Sie nach der Mary?“

„Aber das ist doch ganz klar“, versetzte Geneviève nicht ohne eine Spur von Ungeduld, ihn so schwer von Begriff zu finden. „Ich dachte, hier könnte ich vielleicht Frauenkleider bekommen; so kann ich doch auf die Dauer nicht herumlaufen!“

Die Antwort des Wirts war kurz und bündig: „Nein.“

Geneviève war in höchstem Maße enttäuscht. „Sie haben gar nichts? Nicht einmal einen alten Fetzen? Es muss wirklich nicht schön sein – nur so, dass ich mich vielleicht als Dienstmagd ausgeben könnte. Mary hat doch sicher irgendein altes Kleid, das sie nicht mehr braucht.“

„Also, da könnte ja jeder daherkommen und uns Kleider abschwatzen. Ich habe gar nichts – und Mary braucht ihre paar Klamotten schließlich selber. Wollen Sie einer armen Dienstmagd – nicht dass ich sie schlecht bezahlen täte! – auch noch die Kleider abschwatzen?“

Jetzt verstand Geneviève erst den Grund seiner ablehnenden Haltung; ihr Gesicht hellte sich schlagartig auf und sie unterbrach den schimpfenden Herrn: „Aber Sie haben mich ja ganz und gar missverstanden, Monsieur! Ich will doch natürlich nichts geschenkt haben, ich wollte doch nur fragen, ob Sie mir vielleicht ein altes Kleid verkaufen könnten!“

Der eine Louis d`or, den sie zur Bekräftigung ihrer Absicht hochhielt, zauberte sofort ein breites Lächeln auf die schmalen Lippen des Wirts; er taute zunehmend auf: „Ei gewiss! Nun, darüber lässt sich schon reden. Was täten Sie denn so brauchen?“

Geneviève überlegte. „Also, auf jeden Fall ein Kleid – wenn es geht, einigermaßen sauber“, fügte sie mit einem misstrauischen Rundblick hinzu. „Dann vielleicht ein Paar Schuhe – wenn Sie bessere haben als diese Holzdinger hier. Strümpfe und alles andere habe ich schon. Ja, und dann etwas zu essen und zu trinken. Für alles zusammen gebe ich Ihnen dieses Goldstück.“

„Ja, das täte schon gehen“, meinte der Wirt, den die Aussicht auf ein ganzes Goldstück zu erstaunlicher Lebhaftigkeit animierte.

„Sie müssten halt nur warten, bis die Mary wiederkommt – ich kann ihr ja nicht einfach ihre Kleider wegverkaufen. Aber sie hat gesagt, um eins ist sie wieder da, und jetzt ist es schon bald zwölfe. Setzen Sie sich halt in die Gaststube, dann bringe ich Ihnen ein Frühstück.“

Geneviève wandte sich erleichtert der Tür zur Gaststube zu – die ganze Unterhaltung hatte im Flur stattgefunden, der, wie die Theke verriet, auch als Ausschank diente –, als der Wirt noch einen Einwand fand: „Moment mal – Sie kommen aus Frankreich, haben Sie gesagt? Was ist jetzt das dann für ein Goldstück – ein französisches?“

„Ja, natürlich“, antwortete Geneviève und reichte es ihm überrascht. Er betrachtete sorgenvoll die Münze in seiner Hand. „So – und woher soll ich wissen, was so ein Ding wert ist – ob es überhaupt was wert ist? Ein paar ehrliche Shillinge wären mir schon lieber.“

„Natürlich ist es was wert!“ Geneviève war empört. „Beißen Sie doch drauf, wenn Sie mir nicht glauben! Es ist echtes Gold, und in Frankreich kann eine Familie einen Monat lang davon leben!“

Sie hatte nicht die blasseste Ahnung, ob das der Wahrheit entsprach – aber der Wirt auch nicht, da war sie ganz sicher. Schließlich sah sein Gasthof nicht so aus, als stiegen hier jemals vornehme Ausländer ab. Wirklich entspannten sich seine Züge und er brummte: „Naja, schon gut. Regen Sie sich nur nicht auf. Ich mach Ihnen dann mal ein Frühstück.“ Er hielt inne und betrachtete sie zweifelnd. „Wollen Sie sich vorher vielleicht etwas – naja – frisch machen?“

„Ich habe es wohl nötig?“, fragte Geneviève kleinlaut.

Er grinste unwillkürlich, was seinem säuerlichen Gesicht einen überraschend angenehmen Zug verlieh. „Ziemlich. Die Treppe hinauf, erste Tür links. Warten Sie, ich bringe Ihnen Wasser und ein Handtuch.“

Er eilte davon, und Geneviève fragte sich verwundert, was diese plötzliche Freundlichkeit nun wieder zu bedeuten hatte. Wahrscheinlich hielt er nach ihrer Behauptung den Louis d´or für viel wertvoller als er war. Sie dachte noch darüber nach, während sie die Treppe hinaufstieg. In Frankreich hatte sie natürlich nie selbst etwas eingekauft; das meiste wurde im Haus hergestellt und zu Besorgungen schickte man die Diener, also vor allem Jean-Baptiste; so hatte sie selbst keine Ahnung von der Kaufkraft eines Louis d´or.

Wenn sie doch nur Jean-Baptiste fragen könnte! Wahrscheinlich hatte sie dem Wirt viel zu viel gegeben – oder er glaubte es wenigstens; anders war sein plötzlicher Eifer nicht zu erklären.

In dem angegebenen Schlafzimmer entdeckte sie einen Krug heißen Wassers, in der Schüssel stehend, ein raues Handtuch, etwas Seife und einen alten Kamm, der sogar einigermaßen sauber aussah.

Sie starrte entsetzt in den fleckigen Spiegel: Allmächtiger, wie sah sie bloß aus! Die kurzen dunklen Locken verklebt und schmierig, das Gesicht immer noch gerötet und mit einer dicken Staubschicht bedeckt, die sie auch nicht gerade verschönte. An der Nase schälte sich obendrein die Haut ab. Wahrhaftig, es war ein Wunder, dass der Wirt sie nicht sofort hinausgeworfen hatte!

Sie zog die Jacke aus, goss Wasser in die Schüssel und machte sich an eine gründliche Reinigung, ja, sie versuchte sogar, sich mit diesen unzulänglichen Mitteln die Haare zu waschen.

Das raue Handtuch ließ ihre misshandelte Haut noch mehr brennen, aber immerhin war sie nun wieder einigermaßen sauber. Sie betrachtete gedankenvoll die schwarzbraune Brühe in der Schüssel – dass man in einer einzigen Nacht so viel Schmutz auf sich versammeln konnte? Aber offensichtlich war auch ein Teil der braunen Farbe wieder aus ihrem Haar herausgewaschen worden – diese Annahme erhärtete sich zur Gewissheit, als sie kleinlaut das völlig verdorbene Handtuch betrachtete, das sicher nie wieder sauber werden würde.

Erstaunlicherweise war sie gar nicht müde, obwohl sie die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte – ihre großen, haselnussbraunen Augen blickten klar und vergnügt. Sie band ihr Haar im Nacken wieder zusammen und war mit sich und der Welt in diesem Moment recht zufrieden. Schwungvoll hüpfte sie die Treppe hinab, um zu ihrem dringend benötigten Frühstück zu gelangen.

Doch als sie die Tür zur Gaststube öffnete, hielt sie erschrocken auf der Schwelle inne: Ein fremder Mann saß an dem Tisch neben dem, auf dem Tee, Brot und Käse einen höchst erfreulichen Anblick boten.

Der Gentleman – ein solcher schien er der Kleidung nach zu sein – war aber offensichtlich an Essbarem nicht interessiert, sondern starrte trübe in seinen Deckelkrug.

Er war wunderschön gekleidet, wenn auch vielleicht nicht ganz passend für einen ländlichen Gasthof und auch nicht für einen gewöhnlichen Montagvormittag; er sah eher aus, als wolle er gleich zu einer festlichen Abendgesellschaft aufbrechen, aber davon abgesehen waren seine prächtigen Gewänder ziemlich ramponiert.

Sein ungepudertes dunkles Haar war im Nacken zusammengebunden, aber einige Strähnen hatten sich gelöst und hingen ihm in das hübsche, wenn auch nicht gerade blühend zu nennende Gesicht; er trug eine elegante Jacke aus steifem silbergrauen Brokat, die leider durch einen Rotweinfleck verunziert wurde, darunter eine reich bestickte Weste in zartem Rosa; die schwarzen Kniehosen waren ebenso aus Seide wie die weißen Strümpfe; reiches Spitzengeriesel an Kragen und Handgelenken vervollständigte das Bild eines in dieser Gaststube völlig deplatziert wirkenden Gentleman von etwa fünfundzwanzig Jahren.

Geneviève murmelte „Guten Morgen, M´sieur“, und hoffte, er würde sie nicht ansprechen. Sie hatte keine Lust, ihrer Tante mehr Peinlichkeiten zu bereiten als unbedingt nötig, und es stand fest, dass es sehr peinlich werden würde, wenn ein Mitglied der feinen Gesellschaft sie in Männerkleidung, alleine und in einer mehr als obskuren Wirtsstube antraf und das womöglich in London herumtratschte. Jedenfalls wäre das in Frankreich so unmöglich gewesen, dass sie sich nicht vorstellen konnte, man würde in England über derlei hinwegsehen.

Sie glitt auf ihren Platz, schenkte sich Tee ein und begann mit herzhaftem Appetit, ihr Frühstück zu verzehren.

Der erstaunliche Herr am Nebentisch befasste sich weiterhin mit seinem Deckelkrug, mit dessen Inhalt er offensichtlich seine nach einer durchzechten Nacht arg darniederliegenden Lebensgeister zu erfrischen hoffte. Der Ehrenwerte Thomas Darley hatte nämlich die vergangene Nacht bei einem in der Nähe ansässigen Freund mit Kartenspiel und viel zu viel Wein und Brandy verbracht und sich, als er auf dem Rückweg an diesem Wirtshaus vorbeikam (sein liebenswürdiger Gastgeber hatte mit schwerer Zunge noch vergeblich versucht, ihm klarzumachen, dass er so nicht reisen könne), plötzlich der anstrengenden Heimreise ohne ein ordentliches Quantum Ale nicht mehr gewachsen gefühlt. Was zum Teufel war ihm nur eingefallen, wegen eines lumpigen Kartenspiels durch halb England zu rattern? Auf eine derart schwachsinnige Idee konnte auch nur er kommen!

So saß er nun vor seinem Krug, ärgerte sich, rund achtzig Meilen von London entfernt in einem derart unpassenden Aufzug zu sitzen, dass man es nur noch absurd nennen konnte, und überlegte, ob es wohl die Höflichkeit geböte, mit dem jungen Burschen, der sich am Nachbartisch geradezu ekelhaft herzhaft ein Frühstück schmecken ließ und trotz seiner entsetzlichen Kleidung irgendwie nicht wie ein Bauer aussah, ein wenig Konversation zu treiben.

Eigentlich hatte er keine Lust dazu und glaubte auch, vom Reden würde sein Schädel nur noch mehr dröhnen, aber schließlich war er ein wohlerzogener Mensch und seine bloße Anwesenheit in diesem Wirtshaus war schon genug Verstoß gegen die guten Sitten.

Er bemerkte also, nicht sonderlich originell: „Schönes Wetter heute, nicht wahr?“

„Ja“, antwortete Geneviève einsilbig, nicht minder einem Gespräch abgeneigt. Er beschloss, noch einen Versuch zu wagen und es dann aufzugeben: „Sie kommen aus Frankreich?“

Die Reaktion auf diese reine Höflichkeitsfrage erstaunte ihn.

„N-nein, wieso?“ stammelte der Bursche und lief womöglich noch röter an, kerzengerade aufgerichtet.

„Na, Sie haben doch vorhin M´sieur zu mir gesagt, deshalb dachte ich, Sie wären Franzose“, erläuterte Mr. Darley achselzuckend, denn eigentlich war es ihm völlig gleichgültig, ob das Kerlchen nun aus Frankreich, China oder vom Mond kam.

„Warum erschrecken Sie denn so? Ist doch nicht verboten, aus Frankreich zu kommen. Ein Spion werden Sie ja wohl nicht sein – au! Ohh…“

Er griff sich an den geplagten Schädel. Geneviève sprang alarmiert auf. „Ist Ihnen nicht wohl, M´sieur?“ Himmel, jetzt hatte sie schon wieder M´sieur gesagt! Er schien es aber nicht gehört zu haben, denn er murmelte nur: „Schon gut, ich habe nur furchtbares Schädelbrummen. Dieser Brandy war teuflisch, wissen Sie.“

„Wie bitte?“ Verständnislos starrte sie ihn an.

Er seufzte und hob mit gequälter Miene den Kopf. „Ich – habe – gestern – zu viel – getrunken“, erklärte er überdeutlich. „Sie müssen aus Frankreich kommen, wenn Sie nicht mal wissen, was Brandy ist. Leugnen ist zwecklos.“ Er schloss die Augen, wie um das Endgültige dieses Dictums zu betonen.

Geneviève war fasziniert und vergaß ihre Vorsicht. Diese Engländer hatten doch eine zu seltsame Ausdrucksweise! Offensichtlich hatte der Herr Kopfschmerzen, aber woher, war ihr noch nicht ganz klar, wenn sie auch einen bestimmten Zusammenhang vermutete.

„Bekommt man Kopfschmerzen, wenn man zu viel trinkt?“, fragte sie deshalb interessiert, aber auch von der Hoffnung getrieben, sie könne ihn damit von der heiklen Frage ihrer Herkunft ablenken. Doch dadurch verschlimmerte sie die Sache nur noch.

Der Herr fuhr ob dieser naiven Frage so jäh hoch, dass ein besonders schmerzhafter Stich seinen gemarterten Schädel durchzuckte und ihm ein neuerliches Stöhnen entlockte. „Sagen Sie mal, ist das Ihr Ernst? Ja, waren Sie denn noch nie beso- betrunken?“

„Natürlich nicht!“, wies ihn Geneviève zurecht, einen Moment lang vergessend, dass gelegentliche Trunkenheit für einen Herrn auch in Frankreich nichts Anstößiges darstellte.

„Naja, ein bisschen kindlich sehen Sie ja noch aus. Aber Sie sind doch mindestens – naja, siebzehn?“

Sie nickte, auf ein Jahr mehr oder weniger sollte es ihr nicht ankommen.

„Na, und noch nie zu viel erwischt? Gibt´s ja gar nicht.“

Er musterte sie mit aller Konzentration, derer er in seinem angeschlagenen Zustand fähig war, und sah ein ungewöhnlich glattes und zartes Gesicht (nur leider sehr gerötet) vor sich, mit großen braunen Augen, einer zierlichen Stupsnase, von der sich die Haut abschälte, und einem vollen, hübsch geschwungenen Mund. Dieses Gesicht betrachtete ihn mit einer Mischung aus Faszination und Furcht. Plötzlich kam ihm die Erleuchtung: „Ich hab´s – Sie sind ein Mädchen!“

Strahlend ob dieser enormen geistigen Leistung sah er sie an. Geneviève fuhr wie unter einem Schlag zusammen und wurde so bleich wie nur möglich. „Wie kommen Sie denn auf diese absurde Idee?“, erkundigte sie sich bemüht gelassen, aber doch mit deutlicher Nervosität in der Stimme.

Der Gentleman, den das Ale offensichtlich gestärkt und angeregt hatte, grinste sie entwaffnend an. „Ganz klar – viel zu hübsch für ein Bürschchen!“ Vorsichtig, um seinen immer noch schmerzenden Kopf nicht noch mehr zu erschüttern, neigte er sich zu ihr herüber.

„Erzählen Sie doch mal! Eine Französin, als Mann verkleidet, im Lamb and Crown. So etwas trifft man nicht alle Tage, beim Zeus! Wie kommen Sie denn hierher?“

Geneviève las nur ehrliches Interesse in seinen blauen Augen und gab sich geschlagen. Was konnte es noch schaden, wenn er ohnehin schon alles erraten hatte? Sie holte also ganz tief Luft.

„Ich bin heute Nacht aus Frankreich geflohen -“

„Na, da haben Sie aber mal Recht gehabt, aus Frankreich hört man ja abscheuliche Dinge! Keine Manieren mehr, kein Spaß, da wäre ich auch nicht geblieben. Anständige Leute sollen dort ja ihres Lebens nicht mehr sicher sein!“

Sein Beifall ermutigte sie, fortzufahren: „Ja, genau, es hatte geheißen, sie wollten alle Aristokraten hinrichten – kurz bevor ich geflohen bin, hat man in Paris auch eine Menge Leute in den Gefängnissen getötet – einfach so! Also hat mir unser alter Kutscher geholfen, und sein Vetter, ein Fischer, hat mich heute Morgen hier vor der Küste abgesetzt – und da bin ich nun!“

Sie lächelte ihn zaghaft an. Mr. Darley war hingerissen: „Und da sind Sie nun – ein richtiges Abenteuer-! Nicht schlecht, meiner Seel`! Sagten Sie nicht, Sie seien Aristokratin?“

„Ja“, antwortete Geneviève verwundert.

„Wie heißen Sie denn? Allmächtiger, ich vergesse ja ganz meine Manieren – frage Sie hier aus wie ein Ichweißnichtwas und habe mich noch nicht einmal selbst vorgestellt!“

Er stieß den Stuhl zurück, erhob sich unsicher und setzte zu einem schwungvollen Kratzfuß an. „Gestatten – mein Name ist Darley – ergebenster Diener, Mademoiselle!“

Seine Reverenz wurde nur unwesentlich von einem aufkommenden Schwindelgefühl beeinträchtigt, das ihn zwang, hastig an der Stuhllehne Halt zu suchen, und Geneviève ein heiteres Glucksen entlockte.

„Ich bin Geneviève de Deaubray.“

„Hocherfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Aber – wenn ich fragen darf – was wollen Sie jetzt tun? Ich nehme doch nicht an, dass Sie den Rest Ihres Lebens hier in dieser Maskerade verbringen wollen?“

Sie lachte. „Aber nein, natürlich nicht, M´sieur. Ich werde zu meiner Tante nach London reisen und bei ihr leben. Darf ich Sie übrigens bitten, nicht weiterzuerzählen, dass Sie mich hier allein in diesem schockierenden Aufzug angetroffen haben. Es wäre meiner armen Tante gewiss sehr peinlich.“

Darley schwor ewiges Stillschweigen und fragte weiter: „Wie heißt denn ihre Tante? Ich will nicht neugierig erscheinen, aber, wissen Sie, ich kenne mich in der Londoner Gesellschaft recht gut aus – vielleicht bin ich mit Ihrer Tante bekannt?“

„Meine Tante ist Lady Burnham; sie wohnt in South Audley Street“, gab Geneviève bereitwillig Auskunft.

Mr. Darley war entzückt: „Famos! Lady Burnham kenne ich gut, und auch Charles und Louisa, ihre Kinder – ich gehöre schon fast zur Familie, so oft bin ich mit ihnen zusammen. Na, da werden wir uns in London gewiss oft sehen. Ihre Tante kann Ihnen wirklich alles bieten. Aber wie wollen Sie denn nach London gelangen?“

Erstaunt sah sie ihn an. „Mit der Postkutsche natürlich – die gibt es hier doch auch?“

„Klar gibt es hier Postkutschen – aber das können Sie glatt vergessen.“

„Wie bitte?“ Was sollte das denn jetzt wieder heißen?

„Sie können auf keinen Fall mit der Postkutsche reisen. Ihre Verkleidung mag ja für irgendwelche halbblinden Straßenposten in der Nacht ganz glaubwürdig gewesen sein, aber bei Tage nimmt Ihnen das keiner mehr ab. Und als Mädchen können Sie nicht alleine reisen – jedenfalls nicht, wenn Sie nachher noch in der guten Gesellschaft verkehren wollen. Wenn Sie nun jemand sieht!“

Das gab Geneviève zu denken. „Aber wie soll ich denn dann nach London kommen?“

Mr. Darleys Kater hatte sich offensichtlich verflüchtigt. Im selben Maße, wie seine Sprechweise wieder zu ganzen Sätzen zurückkehrte, begann auch sein Verstand zunehmend besser zu arbeiten. Er riet ihr also: „Einwandfrei wäre es, wenn Sie hierbleiben und Ihrer Tante einen Brief schreiben, sie möge Sie hier abholen. Das dürfte allerdings einige Tage dauern.“

„Nein, das will ich nicht. Hier gefällt es mir nicht und ich mag nicht alleine hierbleiben.“ Sie wurde sehr entschlossen. „Außerdem hält meine Tante einen Brief vielleicht für Schwindel und kommt gar nicht. Kann ich nicht nachts mit der Post fahren?“

„Natürlich – wenn Sie gerne Bekanntschaft mit Straßenräubern schließen wollen…“

„Um Gottes willen!“

„Eben.“ In seinem Gesicht arbeitete es; allerdings war die nun folgende Idee nicht unbedingt als Glanzleistung seines wieder funktionierenden Verstandes zu bezeichnen: „Hören Sie – ich nehme Sie mit nach London! Das schickt sich zwar auch nicht, aber sie müssen eben weiterhin das Bürschlein spielen.“

Geneviève verstand ihn nicht. „Ich dachte, die Verkleidung sei nicht gut genug? Das haben Sie doch gerade erst selbst gesagt? Wie kann ich dann mit ihnen in dieser Verkleidung reisen?“

„Ja, für die Postkutsche reicht Ihre Kostümierung wirklich nicht aus. Sie müssen bedenken, die anderen Passagiere sehen Sie von Nahem, der Kutscher, die Leute in den Stationen – das geht wirklich nicht. Wenn Sie aber mit mir fahren, kommt Ihnen keiner zu nahe, es fällt also nicht auf – wenn wir nicht durch irgendeinen teuflischen Zufall einen Bekannten treffen“, fügte er düster hinzu.

„Ja, aber auch Sie müssen doch die Pferde wechseln? Wie weit ist es überhaupt von hier nach London? Ich weiß gar nicht, wo wir hier eigentlich sind.“

„Wir sind in der Nähe von Portsmouth und Chichester, wenn Ihnen das etwas sagt. Nach London sind es gute achtzig Meilen, das schaffen wir leicht in acht Stunden, vielleicht auch weniger. Um die Pferde machen Sie sich nur keine Sorgen, es sind prächtige Renner und so ausgeruht, wie man es sich nur wünschen kann. Die brauchen wir vielleicht nur einmal zu wechseln – und dabei wird uns schon keiner sehen.“

Er erwärmte sich zusehends für seinen Plan, im Gegensatz zu Geneviève, die noch mancherlei Einwände hatte und diese auch vorbrachte.

„Ihr Kutscher wird sich aber sehr wundern“, meinte sie zunächst voller Zweifel. „Sicher hält er mich für ein lockeres Frauenzimmer und erzählt dann alles weiter.“

Er lachte herzlich: „Ja, glauben Sie denn, ich reise in einer stickigen, spießigen Kutsche? Bin ich mein Großvater? Ich fahre natürlich eine Karriole – vierspännig, versteht sich; das einzig Wahre.“

„Natürlich“, murmelte Geneviève, die nicht genau verstanden hatte, wovon er sprach. „Ist das ein offener Wagen?“

„Gewiss“, antwortete er erstaunt. „Gibt es das in Frankreich nicht?“

„Ich weiß es nicht; wir hatten jedenfalls keine – wie sagten Sie? – keine Karriole, nur eine alte Kutsche (ganz feudal, mit Wappen auf dem Schlag) und einen Leiterwagen.“

„Na, auf jeden Fall hat man bei einer Karriole keinen Kutscher, sondern fährt selbst. Man kann natürlich einen Groom mitnehmen, das ist sogar sehr de rigeur, aber ich habe ihn dieses Mal zu Hause gelassen.“

Geneviève war immer noch nicht überzeugt. „Ist das denn nicht schrecklich ungehörig?“

„Klar“, entgegnete er vergnügt, „aber wissen Sie etwas Besseres? Wenn wir bald aufbrechen, können Sie zum Dinner bei Ihrer Tante sein – lockt Sie das gar nicht?“

„Doch“, gestand Geneviève. „Gut, ich werde mit dem Wirt reden.“

Sie erhob sich und suchte den erwähnten Herrn auf, um ihm mitzuteilen, sie wolle nicht mehr auf Mary und deren Gewänder warten; der Herr aus der Wirtsstube werde sie nach London mitnehmen. Der Wirt wunderte sich zwar im Stillen über diese völlige Änderung ihrer Pläne, stellte aber keine Fragen. Schließlich hatte er einen ganzen Louis d´or für ein lumpiges Frühstück kassiert – und was ging es ihn an, wenn diese exzentrischen Ausländer keinen Sinn für Schicklichkeit hatten? Schließlich sah man ja an dieser gottlosen Revolution (der Wirt war durchaus ein gebildeter Mann und las gelegentlich eine Zeitung), was für ein Volk diese Franzosen waren.

Geneviève fand Mr. Darley im Hof, wo er den Stallburschen beim Anspannen von vier prächtigen und äußerst lebhaften Füchsen beaufsichtigte.

„Hübsche Tiere, nicht wahr?“, wandte er sich zu Geneviève um, als sie an ihn herantrat. „Haben mich auch eine ordentliche Stange Geld gekostet. Mein alter Herr hat ganz schön getobt, aber dann hat er eingesehen, dass es ein guter Kauf war.“

„Sie sind wirklich herrlich“, stimmte Geneviève begeistert zu und gestand ihm, dass sie daheim in Frankreich auch Kutschieren gelernt habe. „Aber nie mit so wunderbaren Pferden, nur mit lahmen Kleppern, und auch nur einspännig. Jean-Baptiste hat es mir heimlich beigebracht – Papa hätte es bestimmt verboten, wenn er davon gewusst hätte.“

„Ihr Vater ist wohl sehr streng?“, erkundigte er sich mitfühlend.

Sie nickte, verbesserte aber: „War. Er ist vor einem Monat gestorben.“

„Oh - das tut mir leid.“ Um das traurige Thema zu verlassen, reichte er ihr einem Kutschiermantel und hüllte sich selbst auch in einen erstaunlich schlichten Umhang mit nur drei Schulterkragen, wobei er mit schiefem Grinsen feststellte: „In der Pracht kann ich mich hier nicht länger zeigen, sonst laufen uns noch alle Kinder und Hunde nach. Weiß gar nicht, was ich mir gestern dabei gedacht habe.“

Geneviève, der nun erst einfiel, dass sie Umhang und Kappe von Jean-Baptiste auf Georges´ Kutter vergessen hatte, pflichtete ihm bei: „Dieser Brokat scheint wirklich für ländliche Gegenden nicht ganz das Richtige zu sein. Sie sehen eher aus, als seien Sie bei Hofe eingeladen.“ Sie wickelte sich in den Mantel und fragte: „Irgendeinen Hut haben Sie wohl nicht? Damit könnte ich mein Gesicht gut verstecken.“

Er bedauerte. „Wäre aber eine teuflisch gute Idee.“

Er half ihr auf den Kutschbock, schwang sich neben sie, nahm die Zügel aus den Händen des Stallburschen entgegen und ließ den Pferden die Zügel schießen. Die Füchse stoben davon. Als sie in rasendem Tempo, aber höchst elegant aus der Einfahrt schwenkten, erinnerte sich Geneviève daran, dass sie vor noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden auch auf einen Wagen geklettert war, Jean-Baptiste neben sich. Was war seitdem nicht alles geschehen!

In Zukunft würde es wohl keine solchen Fahrten mehr geben; als gesittete junge Dame von Stand mit weiten Röcken und gepuderter Frisur würde sie, wie es sich gehörte, im Fond einer Kutsche sitzen statt auf dem Sitz eines hohen Karriols.

Die Cousine aus Frankreich

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