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Kurz vor Sonnenuntergang rollte der Wagen in Great Abbington ein. Sarah sah eifrig aus dem Fenster und freute sich an den hübschen Fachwerkhäusern entlang der Straße, dem Dorfplatz mit einer normannischen Kirche und einem kleinen, aber georgianischen Gebäude, das laut Tante Letty den Dorfvorsteher und andere beamtete Persönlichkeiten beherbergte. Einige Momente später tauchte ein größeres Gebäude auf, das eindeutig das Wirtshaus des Ortes vorstellte und auf der Seite eine recht stabile Treppe aufwies. „Hier finden im ersten Stock die meisten Tanzereien statt. Ab und zu kommt auch eine Theatertruppe vorbei.“

„Das klingt aufregend“, musste Sarah zugeben, die weiter aus dem Fenster spähte.

Schließlich fuhr der Wagen in einen weiten Hof ein und hielt an. Der Kutscher stieg hörbar ächzend vom Bock und riss den Wagenschlag auf, so dass Mrs. Granger und Sarah aussteigen konnten.

Sarah sah sich interessiert um. Ein breit gelagertes Gebäude mit Seitenflügeln; der helle Stein schimmerte im Licht der tiefstehenden Sonne golden, so dass das Gutshaus den Nimbus eines Schlösschens bekam.

„Ist das schön!“

„Vielen Dank“, freute sich ihre Tante. „Aber nun komm ins Haus, mein Kind.“

Die Tür öffnete sich schon, als sie sich näherten, und ein Herr in mittleren Jahren, ländlich, aber ordentlich gekleidet, breitete die Arme aus und umarmte dann erst seine Frau, die er auch herzhaft abküsste, und packte dann Sarah mit wahren Bärentatzen. Sarah erschrak einen Moment lang etwas, dann fühlte sie sich in der Wärme und dem beruhigend festen Griff wohlig geborgen.

Eine große Hand klopfte ihr freundlich auf den Rücken und als sie wieder losgelassen wurde, fühlte sie sich einen Moment lang, als habe man ihr etwas weggenommen. Sie blinzelte. „Mr. Granger! Welch freundlicher Empfang!“

„Unsinn, ich bin Onkel Thomas für dich, mein Kind! Und jetzt kommt schnell herein, meine Lieben! Harry wird sich um euer Gepäck kümmern.“

Sie traten in eine geräumige Diele, von der aus sich im Hintergrund eine Treppe nach oben erstreckte. Steinerner Boden, weiß getünchte Wände, Kerzenhalter an den Wänden, hölzerne Türen mit schmiedeeisernen Riegeln. Schlicht, ruhig, geschmackvoll. Und freundlicher als im Dower House, fand Sarah und sah sich anerkennend um.

„Ich denke, wir möchten uns erst einmal frisch machen, nicht wahr, Sarah?“, verfügte Tante Letty und Sarah nickte gehorsam.

Sie wurde die Treppe hinaufgeführt, wo man ihr ein junges Ding vorstellte, das Mary hieß, eifrig knickste und ihr als Zofe dienen sollte. Sarah lächelte ihr zu, wandte sich aber sofort ihrer Tante zu: „Aber – ich brauche doch keine Zofe! Ich hatte noch nie eine Zofe! Ankleiden und kämmen kann ich mich wirklich selbst!“

„Spätestens beim ersten Kleid, das auf dem Rücken geknöpft wird, wirst du froh sein um Mary“, war die trockene Antwort. „Außerdem wäre ich dir sehr dankbar, wenn Mary bei dir etwas lernen könnte. Vielleicht kann sie sich dann später eine anspruchsvollere Stellung suchen.“

„Oh! Dann natürlich… gerne, Tante Letty.“

Mary knickste noch einmal, wandte sich dann um und hielt Sarah eine Tür in ihrem Rücken auf. Sarah trat ein, gefolgt von ihrer Tante, und blinzelte überwältigt.

Das Zimmer war von gewöhnlicher Größe und wie alles hier weiß getüncht. Es hatte einen sehr hübschen Kamin aufzuweisen, ein blassgelb dekoriertes Himmelbett, passende Vorhänge an den Fenstern, die auf den Gemüsegarten hinter dem Gutshaus zeigten, einen Toilettentisch aus nussbraunem Holz mit kleinen goldenen Verzierungen, davor einen gelb gepolsterten Hocker – und an der letzten Wand eine Kommode (mit Waschgarnitur) und einen gewaltigen Schrank aus dem gleichen nussbraunen Holz, neben einer unauffälligen Tür, hinter der sich eine Badewanne verbarg.

„Wie luxuriös“, staunte Sarah beeindruckt.

„Thomas liebt alles Moderne“, erklärte Tante Letty. „Wenn er etwas Neues für den Gutsbetrieb anschafft, bekomme ich auch stets etwas Neues für das Haus. Letztes Jahr haben wir gleich zwei sanitäre Einrichtungen einbauen lassen, eine im Erdgeschoss, hinter der Treppe, die andere hier am Ende des Ganges.“

„Sanit-? Oh, ich verstehe. Wie praktisch!“

„Ideal wäre es, wenn man das Wasser so leiten könnte, dass es auch in die Badewanne fließt – aber dann wäre es leider kalt, also werden wir uns wohl weiter mit großen Kannen behelfen müssen. Nun, die Zeiten ändern sich immer schneller, vielleicht wird etwas Geeignetes eines Tages erfunden. Bis dahin aber, denke ich, wirst du es hier einigermaßen komfortabel finden.“

„Mehr als das! Du bist so großzügig, Tante Letty – ich kann dir das doch niemals vergelten!“

„Sei einfach gerne hier bei uns, lerne, dich zu amüsieren – das ist uns Belohnung genug, mein liebes Kind. So, und jetzt richte dich mit Marys Hilfe ein wenig ein, ruhe dich ein bisschen aus und dann komm zu einem späteren Tee herunter. Sagen wir, um sechs?“ Damit verließ sie die beiden Mädchen, die sich etwas ratlos musterten, bis der Diener Harry Sarahs Kiste polternd ins Zimmer brachte und sie auf den Boden stellte.

Sofort machte sich Mary an die Arbeit. „Kleidung ordentlich verräumen, das kann ich schon, Miss!“

Sarah lächelte. „Dann zeig mal, was du kannst, Mary! Alles andere verwahre ich selbst.“

Mary packte tatsächlich die spärliche Garderobe ihrer jungen Herrin vorsichtig aus und verräumte sie sorgfältig, soweit sie sie nicht zum Bügeln mitnehmen wollte. Sarah ordnete ihre Bücher und die Briefmappe, in die sie auch die Briefe ihrer Eltern steckte, und stellte dann fest, dass ihre wenigen Habseligkeiten in dem mächtigen Schrank wie verloren wirkten.

„Fertig, Miss! Soll ich die leere Truhe auf den Schrank stellen?“

„Schaffst du das alleine, Mary?“

„Aber sicher doch, Miss – Verzeihung, ja, Miss. Ich bin viel kräftiger, als ich aussehe.“

„Wie alt bist du denn, Mary?“

„Vierzehn vorbei, Miss. Als mich das Waisenhaus gehen hieß, hat Mrs. Granger mich aufgenommen. So eine nette Frau!“

„Dann bist du noch nicht lange hier?“

„Doch, Miss, fast genau zwei Jahre. Das Waisenhaus behält die Kinder nur bis zwölf, dann müssen sie arbeiten gehen. Mrs. Granger tut das öfter, hat man mir gesagt, sie nimmt die Mädchen auf und lässt sie etwas lernen. Dann bekommen sie ein gutes Zeugnis und können sich eine andere gute Stelle suchen.“

„Das ist ja ausgesprochen nett von ihr“, lobte Sarah.

„Nicht wahr, Miss? Wenn ich mich bei Ihnen im Frisieren, Ankleiden und in der Pflege der Garderobe üben darf, dann habe ich später bestimmt Aussichten auf eine Stelle bei einer echten Lady.“

„Was ist denn für dich eine echte Lady?“, fragte Sarah nur halb amüsiert, denn sie fand, dass Tante Letty den Titel einer Lady mehr verdiente als manche hochwohlgeborene Dame.

„Eine Dame, die auf richtige Bälle geht“, antwortete Mary mit sehnsuchtsvollem Blick. „Abendroben und Schmuck und all so was. Seide und Samt, kostbare Spitze und Stickereien, französische Parfums… ich habe einmal eine Modezeitschrift gesehen – was da alles drin war, mir war ganz schwindelig davon!“

„So etwas wäre sicher sehr lehrreich für dich“, überlegte Sarah und goss sich etwas Wasser in die Schüssel. Die bereitliegende Seife duftete nach Frühlingsblumen, was Sarah als der Inbegriff des Luxus erschien. Rasch wusch sie sich Gesicht und Hände, nahm das von Mary hastig gereichte Handtuch mit kurzem Dank entgegen und trocknete sich ab.

„Du könntest mich neu frisieren, Mary“, schlug sie dann vor und setzte sich vor den Toilettenspiegel.

„Oh ja, gerne, Miss!“ Mary entfernte die Haarnadeln, lockerte die hellbraune Flut und begann mit dem Bürsten. Sie bürstete so lange, dass Sarah von dem gleichförmigen Gefühl beinahe die Augen zufielen.

„Du machst das sehr gut, Mary“, griff sie gerade noch rechtzeitig ein. „Aber nun solltest du die Haare zu einem Knoten drehen und ihn gut feststecken, ja?“

Mary arbeitete fieberhaft. „So etwa?“

In dem Handspiegel, den Mary hinter Sarahs Hinterkopf hochhielt, erblickte dieses einen etwas schiefen Knoten, aus dem sich eine Strähne bereits gelöst hatte, und nickte. „Für heute genügt das auf jeden Fall. Danke schön, Mary.“

„Beim nächsten Mal gelingt es mir bestimmt schon besser, Miss“, beteuerte Mary kleinlaut. Sarah lächelte. „Da bin ich ganz sicher, Mary.“

Sarah fand das Wohnzimmer (oder legten die Grangers Wert auf die Bezeichnung „Salon“?) ohne Schwierigkeiten, klopfte an die halboffene Tür und trat ein. „Komm, Kind, setz dich zu uns!“, bat Tante Letty sofort und klopfte auf den Sofaplatz neben sich. Mr. Granger – ach ja, Onkel Thomas – lächelte nur und nahm sich ein Stück Kuchen.

„Hier, meine Liebe!“ Sarah erhielt eine Tasse Tee und einen Teller mit einer Auswahl an Kuchen und Sandwiches.

„Aber das ist doch viel zu viel, liebe Tante!“

„Unsinn! Sarah, du bist so dünn, du hast in der letzten Zeit doch viel zu wenig gegessen, hab ich nicht Recht? Du musst ein bisschen aufgepäppelt werden, nicht wahr, Thomas?“

Thomas nickte mit vollem Mund.

Sarah ergab sich und machte sich über den Kuchenteller her. Wunderbare Scones mit Erdbeerkonfitüre, ein sehr aromatischer Teekuchen… Sie aß, bis sie nicht mehr konnte, und Tante Letty sah lächelnd zu. „Die Konfitüre machen wir selbst ein. Du wirst sie auch beim Frühstück vorfinden.“

Sarah lobte alles aus tiefstem Herzen und bekannte, so satt zu sein, dass sie bis zum Frühstück keinen Bissen mehr herunterbringen könne.

„Das macht gar nichts, mein Kind – bei uns ist ein üppiger Tee oft auch zugleich das Abendessen. Das lassen wir dann gerne ausfallen.“

„Welch ein Glück! Ich könnte einem Abendessen heute wirklich keine Ehre mehr antun.“

Tante Letty lachte. „Ich denke, sobald du dich ein wenig eingewöhnt hast, werden wir dich auch mit den anderen jungen Leuten hier in der Gegend zusammenbringen.“

„Mit Peter, zum Beispiel“, warf Onkel Thomas beiläufig ein. Tante Letty warf ihm einen seltsamen Blick zu, fand Sarah und fragte gehorsam: „Wer ist Peter?“

„Das ist mein Neffe“, erläuterte Onkel Thomas bereitwillig. „Der Sohn meiner Schwester, Peter Dunston. Er besitzt selbst ein kleines Gut in der Nähe von Crowborough, kaum eine Stunde von hier. Er kommt uns recht häufig besuchen. Ein netter junger Mann – und er wird eines Tages auch diesen Besitz hier erben…“ Er lächelte Sarah aufmunternd zu, die ihn etwas verdutzt ansah: Warum wurde ihr dieser Mr. Dunston so warm angepriesen? Und warum runzelte Tante Letty die Stirn? Mochte sie diesen Mr. Dunston nicht? Oder war sie, Sarah, für ihn nicht gut genug? Oder wollte Tante Letty doch, dass sie eine gewisse Trauerzeit einhielt?

Sie konnte darüber aber nicht länger nachsinnen, denn Tante Letty übernahm die weiteren Informationen. „Wir haben hier auch einen noch recht jungen Pfarrer, Mr. Wivern, und seine Schwester Elizabeth. Und im weiteren Umkreis gibt es noch einige bessere Häuser, wo auch junge Leute leben. Für kleinere Tanzereien, Picknicks und Ausflüge ist also stets gesorgt. Ach ja – die Tauntons auf Abbing Priory haben wir ja auch noch…“

„Abbing? Wie in Great Abbington? War das die Abtei, die einmal zum Ort gehört hat?“, erkundigte Sarah sich interessiert.

„Oh, du verstehst etwas von Geschichte?“ Mr. Granger lächelte erfreut.

Das gab Sarah bescheiden zu. Ihr neuer Onkel entpuppte sich daraufhin als wahrer Spezialist für die Vergangenheit von Great Abbington und Umgebung. Während seines kurzen Abrisses der Geschichte der Abtei zeigte Tante Letty sichtliche Zeichen von Ungeduld, denn, wie sich sofort danach zeigte, wollte sie lieber über die Geschichte der Tauntons referieren: „Thomas, bist du jetzt zu Ende? Die Tauntons haben die Abtei also von den Twinings gekauft, denn der alte Twinings war völlig ruiniert und hat sich erschossen. Seine Tochter musste den Besitz aufgeben. Günstigerweise war er nicht erbrechtlich gebunden, du verstehst? Da kam Herbert Taunton und bot ihr genug, um alle Schulden abzulösen. Reich genug ist er ja dafür, allerdings weiß und keiner so genau, womit er dieses Vermögen verdient hat und außerdem ist er – nun - nicht sehr angenehm im Umgang … aber ein einigermaßen akzeptabler Mann, das muss man wohl sagen.“

Sarah verbiss sich ein Lächeln, als sie diese Worte hörte, die nach Landadel klangen und nicht nach der – durchaus bürgerlichen – Frau eines Gutsbesitzers, eines Großbauern also. Hatte dieser Mr. Taunton etwa Gott behüte für dieses Vermögen gearbeitet? Gar in der Industrie? Oder womöglich in der City?

„Und dieser Mr. Taunton hat doch wohl Familie? Du hast von den Tauntons gesprochen?“, kam sie auf Wesentlicheres zurück.

„Oh! Ja, gewiss, er hat zwei Söhne und eine Tochter. Die Tochter, Melissa, dürfte in deinem Alter sein, etwas jünger vielleicht. Ein recht hübsches Mädchen, nur ein wenig – nun - niedergedrückt.“

Sie betrachtete ihre Nichte kritisch. „Andererseits, sobald Mary etwas geschickter geworden ist… ich denke, du könntest mit ihr durchaus mithalten. Die schöneren Augen hast du auf jeden Fall.“

„D-dann bin ich ja beruhigt“, antwortete Sarah mit leicht schwankender Stimme. „Was ist an Melissa Tauntons Augen denn verkehrt?“

„Ach, verkehrt… sie stehen zu eng beieinander, finde ich. Das lässt sie immer so - nun ja, so in sich gekehrt wirken.“

„Die reinste Maus“, wurde Onkel Thomas deutlicher.

„Also bitte, Thomas – das ist doch wohl etwas übertrieben!“

„Das finde ich nicht. Denk doch nur daran, wie sie immerzu hinter ihrem Vater herschleicht! So bringt er sie bestimmt nicht an den Mann.“

„Thomas!“ Der Tadel wirkte nicht recht überzeugend, weil Tante Letty ein Lächeln nicht ganz unterdrücken konnte.

Sarah wurde neugierig auf diese Melissa Taunton – ein armes Ding, so hörte es sich wenigstens an.

„Ist diese Abbey weit von hier entfernt?“

„Ach nein, wir leben hier eigentlich alle recht nahe beieinander – unser Gut, die Abbey, der Pfarrhof gleich hier im Dorf, Mordale Hall, Vance Priory – ach nein, das steht ja leer, seit diesem tragischen Vorfall…“ Tante Letty seufzte halb betrübt und halb animiert.

„Tragischer Vorfall?“ Eine solche versteckte Aufforderung, doch gefälligst nachzufragen und Stichworte zu geben, kannte Sarah von ihren Cousinen, deren Klatsch allerdings meistens nur aus Büchern oder der Zeitung stammte – was erlebten sie auf Glanby Hall denn schon?

Tante Letty reagierte auf das Stichwort wie zu erwarten: „Ach ja…! Das ist jetzt etwa zwei Jahre her, nicht wahr, Thomas?“

„Möglich. Ich weiß es schon gar nicht mehr genau.“

„In der Priory lebten Lord und Lady Vance. Arme Frau – aber was dann geschah, war natürlich dennoch unentschuldbar…“

Tante Letty verstand es wirklich, einen auf die Folter zu spannen!

„Was ist denn damals geschehen?“

„Letty, das ist doch alles nur Klatsch und Tratsch“, mahnte Onkel Thomas, als hätte er sich nicht eben erst recht deutlich über Melissa Taunton geäußert.

Sarah richtete einen festen wissbegierigen Blick auf ihre Tante und es wirkte: Ohne auf die Mahnungen ihres Gemahls zu achten, stürzte Tante Letty sich in die aufregenden Einzelheiten:

„Margaret Vance hatte wirklich kein schönes Leben. Ihre Eltern hatten sie sehr jung an Vance verheiratet, und er war tatsächlich ein ausgesprochen unangenehmer Mensch.“

„Versoffen“, warf Mr. Granger ein.

„Thomas! Welch eine Sprache! Aber es stimmt leider: Lord Vance war wohl recht häufig betrunken – und dann redete er sich ein, seine Gemahlin sei ihm nicht treu, und wurde wohl immer wieder handgreiflich.“ Sie seufzte. „Ab und zu haben wir Margaret Vance mit blauen Flecken oder gar Verbänden gesehen. Einmal hatte sie sich sogar den Arm gebrochen und die ganze Nachbarschaft war überzeugt davon, Vance habe sie eine Treppe hinuntergestoßen. Wie seinerzeit Robert Dudley, nicht wahr? Oh!“

„Und sie ist bei diesem Unmenschen geblieben?“, empörte sich Sarah.

„Wohin hätte sie gehen sollen?“, war die trockene Gegenfrage. „Ihre Eltern hätten ihr sicherlich die Tür gewiesen, denn eine Frau hat bei ihrem Mann auszuharren, nicht wahr?“

Das fand Sarah nun eigentlich nicht, aber sie schwieg lieber.

„Nun, jedenfalls verdächtigte Seine Lordschaft Lady Vance immer wieder unerlaubter Beziehungen zu den verschiedensten Männern in der Gegend.“

„Von Mordale über Taunton bis zu Vances Stallmeister. Schlechter Mensch“, warf Onkel Thomas ein.

Sarah verbiss sich ein Lächeln – die beiden Grangers schienen geübt darin, eine saftige Klatschgeschichte mit verteilten Rollen zu erzählen. Und sie machten das recht hübsch, die Spannung sank nie herab.

Sie wagte aber eine weitere Frage: „Hat niemand dieser Herren Lord Vance ein derartiges Verhalten übel genommen?“

„Seltsamerweise längere Zeit nicht, aber offenbar scheint Lady Vance eines Tages tatsächlich Trost gesucht zu haben und als sich die Hinweise verdichteten, hat Lord Vance seinen Nebenbuhler gefordert.“

„Huh – ein Duell?“

„Richtig. Tragisch, muss man schon sagen…“

„Na, Letty – wieso denn tragisch?“

Ein strafender Blick traf Mr. Granger. „Der Tod ist immer tragisch!“

Ihr Gatte grummelte etwas, aus dem Sarah nicht schade drum herauszuhören glaubte.

„Hat der Gegner die Forderung akzeptiert?“

„Selbstverständlich!“, entrüstete sich Mr. Granger. „Er wäre doch als absoluter Feigling dagestanden, wenn er sich gedrückt hatte. Alles lief auch ganz korrekt ab, wenn das wohl auch kaum Vances Verdienst war. Es gab genügend Sekundanten und einen Arzt, Mordale schoss mehr oder weniger absichtlich daneben, traf Vance aber doch – der war sofort tot, der Arzt konnte nichts mehr machen. Vier Zeugen bestätigten, dass Vance wohl selbst schuld war, also gab es nur einen Tadel vom Friedensrichter. Was daran tragisch sein soll… Vance war doch wirklich kein Verlust.“

Sarah seufzte beeindruckt. „Und dann hat Lady Vance ihren – äh – Verehrer geheiratet und alles wurde gut?“

Tante Letty errötete. „Nein, nicht wirklich – du lieber Himmel, Thomas, wir hätten das dem Kind wohl besser nicht erzählt, das ist nichts für die Ohren eines jungen Mädchens…“

„Das fällt dir aber früh ein, mein Schatz!“, spottete der Gutsherr.

„Mach dir keine Gedanken, Tante Letty, ich habe sehr viel gelesen. Was sollte man in Glanby auch sonst tun? Jedenfalls ist Ehebruch in der antiken und neueren Literatur durchaus ein Thema, von dem ich schon gehört habe. Warum wurden die beiden nicht glücklich miteinander?“

Tante Letty gab sich geschlagen; offenbar brannte sie ja auch darauf, den Ausgang der Geschichte zu erzählen: „Man weiß es nicht genau. Vielleicht konnte Lady Vance ihm den Tod ihres Mannes nicht verzeihen… jedenfalls reiste sie ins Ausland und verheiratete sich dort erneut. Sie lebt jetzt in Paris – eine Freundin von mir hat sie tatsächlich einmal in der Opéra getroffen. Offenbar ist ihr zweiter Gemahl sehr wohlhabend und trägt sie auf Händen.“

„Und was wurde aus ihm? Ich meine, dem Liebhaber?“

Tante Letty zuckte die Achseln und bedeutete ihrem Gemahl, fortzufahren.

„Mordale blieb hier auf seinem Besitz. Was er über die Affäre denkt, weiß keiner. Niemand wagt wohl, ihn zu fragen. Er wird nicht eingeladen.“

„Man schneidet ihn, obwohl dieser Lord Vance offenbar selbst schuld war?“ Sarah war empört. „Was bitte hätte er anderes tun können?“

Onkel Thomas zuckte die Achseln. „Nun ja – aber seine Kugel hat Vance getötet. Und er hätte eben besser seine Finger von Lady Vance gelassen.“

„Mag sein – aber ich finde das ungerecht! Der Schurke in diesem Stück war doch wohl Lord Vance, oder? Und bestraft wird dieser Mr. Mordale?“

„Er ist ein Baronet“, korrigierte Mrs. Granger mechanisch.

„Gut, also Sir Irgendwas Mordale. Was bitte hätte er denn anders machen können?“, wiederholte Sarah erbost.

„Eine Kämpferin für die Unterdrückten und Verachteten?“, neckte Onkel Thomas seine neue Nichte.

„Vielleicht“, drohte Sarah nur halb im Scherz. „Ich kenne sicher nicht alle Fakten, aber mir scheint, dieser Sir – wie? dient der ganzen Gegend als Sündenbock. Was tut ihr, wenn ihr ihm begegnet? Schneidet ihr ihn?“

Ihre Tante seufzte. „Wir hätten dir die traurige Geschichte tatsächlich besser nicht erzählt – aber um auf deine Frage zurückzukommen: Wir begegnen ihm nie. Er bleibt zu Hause und streift wahrscheinlich nur über sein eigenes Land.“

„Apropos Herumstreifen“, warf ihr Gemahl ein, „du kannst doch reiten, Sarah?“

„Nun ja“, bekannte diese, „ich habe es freilich zusammen mit Lavvy und Selly gelernt, aber ich hatte wenig Gelegenheit dazu. Ein Gig kann ich fahren, darin habe ich Übung.“

„Dann werden wir dir morgen ein passendes Pferd heraussuchen und du kannst wieder üben“, beschloss der Gutsherr.

„Hier gibt es häufiger Ausflüge zu Pferde“, erläuterte Tante Letty.

Sarah fühlte sich ganz überwältigt. „Ihr seid so lieb zu mir! Aber vergesst bitte nicht, dass ich noch in Trauer bin – und ein Reitkleid besitze ich natürlich auch nicht.“

„Meine Zofe wird mein Dunkelgraues umarbeiten, ich habe ja das neue Dunkelblaue. Grau ist eine angemessene Farbe für Halbtrauer – und du musst sich mit deinem Pferd ja erst einmal bekannt machen.“

Gegen Tante Letty war kein Ankommen, aber sie meinte es wirklich gut. Und Sarah konnte es sich sehr nett vorstellen, die Gegend hoch zu Ross zu erkunden und andere junge Menschen kennenzulernen, also beschränkte sie sich auf ein dankbares Lächeln.

Rätselhafte Nachbarschaft

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