Читать книгу Herrscher der Highlands - Die Braut des Rächers - Cathy MacKenna - Страница 6

1. Kapitel

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Frühjahr 1334

Das Rascheln war ganz in der Nähe. Kieran presste sich fest an den Ast der alten knorrigen Eiche, auf dem er lag, und blickte unter sich. Das Schwert in der Hand, bereit, sich jeden Moment fallen zu lassen und anzugreifen. Sein Herz klopfte so heftig, dass er das Blut in seinen Ohren rauschen hörte. Dies war der erhabendste Moment, kurz bevor das Raubtier seine Beute erlegte.

Kieran sah sich gern als einsamen Wolf, gefährlich und mutig, voller Tatendrang und Kraft. Er wollte seinen Vater stolz machen, in allem, was er tat. Und er wollte der beste Krieger werden, den die Welt je gesehen hatte!

„Ich glaube an dich, mein Sohn“, erinnerte er sich an die Worte des Chieftains, die ihn mit so viel Stolz erfüllt hatten. „Von all meinen Söhnen genießt du mein größtes Vertrauen. Wir sind wie ein großes Rudel, jeder Wolf hat seinen Platz. Den deinen wirst du eines Tages finden. Sei wie der Wolf, und du wirst immer an dein Ziel gelangen.“

Ein Wolf kletterte zwar nicht auf Bäume, aber er roch seine Beute meilenweit. Und Kieran wusste, Lester war in der Nähe.

Das Rascheln wurde lauter, da kroch Lester auch schon aus seinem Versteck, einem der umstehenden Büsche. Nach allen Seiten blickte er sich um, nicht ahnend, dass der, den er suchte, ihn von oben beobachtete.

Noch ein wenig Geduld. Gleich befand er sich direkt unter Kierans Baum. Noch zwei Schritte …

Mit einem lauten Schrei ließ Kieran sich auf seinen Widersacher fallen und riss ihn zu Boden. Schon richtete er die Spitze seines Schwertes auf dessen Kehle. Aber Lester schlug die Klinge mit seiner Waffe zur Seite und rollte sich herum, so dass Kieran am Boden lag. Das Gewicht seines Gegners drückte ihn runter.

„Verdammter MacKinkaid“, keuchte Lester und holte aus.

„Warte mal, warum bin ich denn schon wieder ein MacKinkaid?“, beschwerte sich Kieran.

Lester senkte den Arm und rollte mit den Augen. „Weil ich ein MacDuncan bin“, erklärte er, kletterte von Kieran runter und steckte das Holzschwert an seinen Gurt.

Jetzt kamen auch die anderen Jungs aus ihren Verstecken. „Irgendwer muss halt in den sauren Apfel beißen“, meinte Bryan, dem Lachlan und Tom beipflichteten, indem sie ihm, wie „echte Männer“ es taten, auf die Schulter klopften.

„Dann lasst uns was anderes spielen. Die Krieger von Mull“, schlug Kieran vor. „Du darfst auch ein Oger sein, Lester.“

„Es gibt keine Oger auf der Insel Mull.“

„In der Seehöhle wohl. Hat mir meine Mutter früher erzählt“, beharrte Kieran.

„Das war eine Gute-Nacht-Geschichte, du Holzkopf.“

„Meine Mutter stammt von Mull, sie wird es wohl besser wissen.“

„Schluss jetzt, wir spielen nicht Krieger von Mull, sondern MacDuncans gegen MacKinkaids“, befahl Lester.

„Aber ich bin jedes Mal ein MacKinkaid.“ Kieran wollte sich damit nicht abfinden. Das Spiel machte ihm langsam keinen Spaß mehr. Er erhob sich und klopfte sich den Schmutz von den Knien.

„Du spielst diese Verlierer eben am überzeugendsten“, sagte Lester und lachte kehlig, der Versuch, das Lachen der Männer nach einer siegreichen Schlacht nachzuahmen. Aber es klang glockenhell bei ihm.

„Ich bin kein Verlierer“, schimpfte Kieran.

„Bist du wohl.“

Das war zu viel. Wütend hob Kieran sein Holzschwert und rannte auf Lester zu. Der wich zwar aus, bekam aber dennoch einen Schlag gegen den Arm ab.

„Na warte, das hast du nicht umsonst gemacht“, fuhr er Kieran an und zog die hölzerne Klinge, um in den Angriff überzugehen.

Kieran wehrte die Hiebe ab, doch Lester hatte nicht nur mehr Kraft als er, er schlug auch mit aller Härte zu, bis Kieran das Schwert aus der Hand fiel. Verächtlich funkelte Lester ihn an.

„Jetzt gib es zu, du bist ein Verlierer.“

„Ich gebe gar nichts zu.“

„Es wird langsam dunkel“, mischte sich Bryan ein. „Lasst uns nach Dunhall Castle zurückkehren.“

„Bryan hat recht. Hört auf, euch zu streiten“, sagte Tom ängstlich. Er war der Jüngste von ihnen, und fing er erst einmal an zu weinen, hörte er nicht so schnell wieder auf.

„Noch nicht. Erst werde ich dieser kleinen Ratte eine Lektion erteilen.“ Lester kam näher. Seine Augen glühten geradezu.

„Es tut mir leid, ich wollte nicht so fest zuschlagen“, sagte Kieran ehrlich. Lester war der Älteste in der Sippe, Kieran war zwei Jahre jünger, und einen ganzen Kopf größer war Lester auch noch. Bedrohlich baute er sich jetzt vor Kieran auf.

„Damit das klar ist, Kieran. Du wirst immer einen MacKinkaid spielen. Oder einen MacArrow. Und weißt du auch, warum?“

Kieran schüttelte den Kopf.

„Weil du in Wahrheit kein MacDuncan bist, sondern nur ein dreckiger Bastard.“

Kieran biss sich auf die Unterlippe. Lester fing an zu lachen. „Genau, ein Bastard!“, rief Lachlan.

Und wenn schon! Vater hatte ihn anerkannt. Lester war nur neidisch. Er ertrug es nicht, dass Kieran beim Chieftain eine Sonderrolle innehatte. Malcolm MacDuncan vertraute ihm mehr als jedem anderen, das hatte er selbst gesagt! Deswegen zwang Lester ihn auch immer dazu, einen MacKinkaid zu spielen. Aber er gehörte genauso wie alle anderen zum Clan!

„Ich bin ein MacDuncan!“, rief Kieran mit aller Kraft. „Und ich werde der größte Krieger aller Zeiten werden! Du wirst schon sehen!“

Lester holte einfach aus und schlug zu. Hart traf er Kieran im Gesicht, direkt über dem Auge.

Kieran spürte einen brennenden Schmerz, der ihn auf die Knie zwang. Eine warme Flüssigkeit lief über seine Schläfe.

„Jetzt hör schon auf“, flehte Tom und versuchte, Lester von ihm wegzuziehen.

„Aufhören? Ich habe doch gerade erst angefangen.“

„Nein, tu ihm nicht weh!“ Jetzt weinte Tom.

„Gut gemacht, Lester. Jetzt hört der gar nicht mehr auf zu plärren“, beschwerte sich Lachlan.

„Sieh doch, die ersten Sterne sind schon zu sehen. Es ist spät“, sagte Bryan besänftigend. „Ich will kein kaltes Abendbrot.“

Die anderen Jungen stimmten zu, doch Lester rührte sich nicht. Er stand noch immer bedrohlich über ihm. Das Schwert gesenkt, erkannte Kieran Blut an der abgerundeten Holzspitze.

„Jetzt weißt du, wo dein Platz ist“, sagte Lester voller Verachtung und wandte sich schließlich von ihm ab.

*

Winter 1341

„Du bist jetzt der neue Chief“, erklärte der Rat, der in der Halle von Dunhall Castle zusammengekommen war. Er bestand aus fünf Männern aus den wichtigsten Familien des Clans, gehüllt in Roben mit Schmuckelementen und Verzierungen. Etwas Feierliches lag in der Luft, dabei gab es nicht mal ein Fest, lediglich ein ausgiebiges Mahl stand an. Überall brannten Kerzen, als handelte es sich hierbei um eine Art Messe.

Vater stand in der Mitte der Halle, umringt vom Rat und den Chieftains und Tacksmen. Kieran und seine Brüder standen weiter hinten, hatten jedoch eine gute Sicht auf das Geschehen. Vater nickte würdevoll, als man ihm das Abzeichen des Chiefs an den Fellumhang steckte. Es war eine Entwicklung, die niemand vorausgeahnt hatte.

Die Hierarchie war normalerweise klar festgelegt, das älteste männliche Mitglied der bedeutendsten Familie übernahm die Rolle des Chiefs, dankte er ab, kam der älteste Sohn an die Reihe, dann der nächste und übernächste. Doch der bisherige Chief, Vaters älterer Bruder, hatte über den unerwarteten Tod seines einzigen noch lebenden Sohnes Blake den Verstand verloren, so dass er die Führung des Clans nicht mehr hatte ausüben können. Es hieß, er hätte angefangen, mit seinen Ahnen zu sprechen, und die hätten ihm auch geantwortet. Zumeist in Rätseln und überaus unklaren Aussagen. Außerdem hätte er auf deren Geheiß beinahe Duncan Castle in Brand gesetzt. Zunächst hatte man versucht, den Zustand des Chiefs vor den Männern zu verheimlichen, doch sein auffälliges Verhalten war immer öfter zutage getreten, bis der Rat zusammengekommen war. Ein Mann, dessen Leben nur noch von Rachedurst, Weingenuss und wirren Gedanken bestimmt worden war, der sich dabei nicht um die Angelegenheiten seiner Leute hatte kümmern können, war einfach kein geeignter Chief mehr. Und so war diese Aufgabe an Malcolm herangetragen worden.

„Ich, Malcolm MacDuncan, schwöre, dass ich unsere Leute schützen, unseren Ruhm mehren und unser Land mit aller Kraft verteidigen werde. Doch dies ist nicht nur eine ehrenvolle Aufgabe, es ist auch der Beginn einer neuen Ära. Spürt ihr den Neubeginn, meine Brüder? Fühlt ihr, dass es in der Luft liegt? Eine große Zukunft steht uns allen bevor. Und was läge näher, als eine solche Ära von einem neuen Hauptsitz aus einzuleiten? Einem Sitz, der dem Clan der MacDuncans würdig ist! Ich werde nicht nach Castle Duncan gehen, sondern bleibe hier, auf Dunhall“, erklärte er. „Dies ist nicht nur mein Zuhause und das meiner Söhne, es ist außerdem eine Burg, die unsere Stärke und Macht symbolisiert, trotzt sie doch den Mächten des Meeres und der Stürme seit jeher. Eine starke Burg, eine starke Führung, ein starker Clan!“

Castle Duncan war einst ein stolzes Gemäuer gewesen, von dem aus die Geschicke der MacDuncans geleitet worden waren, jetzt glich es einer Ruine. Noch dazu erinnerte der Zerfall der alten Burg an den Zerfall des vorherigen Chiefs. Ein Bild, das sich nicht in die Seele der MacDuncans brennen sollte. Denn manch einer glaubte bereits, dass die Ruhmeszeit der MacDuncans vorüber war. Gegen die MacCrumbies hatten sie gerade erst eine schwere Niederlage einstecken müssen.

Dieser kleine und unbedeutende Clan im Süden hatte die mächtigen MacDuncans in die Flucht geschlagen, die zuvor ihre Burg Clamis besetzt hatten. Dabei war auch Blake MacDuncan, der dort unten die Führung übernommen hatte, ums Leben gekommen. Nicht etwa durch die Hand eines MacCrumbies, sondern durch die des Erzfeindes: Calum MacKinkaid, der Sohn des Chiefs Kearon MacKinkaid. Und nicht nur das, die MacKinkaids hatten die MacDuncans weiter verhöhnt, indem sie sich mit den MacCrumbies verbündet hatten, sie schützten und wie Brüder behandelten.

Im Grunde war dies eine Demütigung für den ganzen Clan. Eine Schande!

„Warum verliert Vater kein Wort über die Schlacht im Süden“, wunderte sich Lester.

„Warum sollte er?“, flüsterte Kieran zurück.

Lester rollte mit den Augen. „Du hast wie immer keine Ahnung von nichts. Alle reden darüber. Ist dir Holzkopf das nicht klar? Die MacCrumbies haben die MacDuncans vertrieben! Wer sind denn überhaupt die MacCrumbies? Noch nie von denen gehört. Ein kleiner Clan. Wie viele Leute? Bei denen müssen sogar Frauen wie diese Erin mitkämpfen, weil die nicht genügend Mann haben. Ha!“ Lester ballte verärgert die Hände zu Fäusten. Und während er gesprochen hatte, war er im Zorn immer lauter geworden, so dass jemand sich zu ihnen umdrehte und den Finger auf die Lippen legte, damit er nicht weiter die Rede seines Vaters störte.

„Ja, so spricht man in den Highlands über die einst so großen und gefürchteten MacDuncans! Man lacht hinter vorgehaltener Hand über uns. Aber wir werden zu alter Größe zurückfinden“, sprach Lester leise weiter. Und vielleicht hatte er recht. Mit Malcolm als Chief war das möglich. Die Rede seines Vaters hatte zumindest Kieran angesteckt.

Am nächsten Tag traf Kieran Lester im Innenhof, wo er mit dem Schwert übte, es wie seinen verlängerten Arm durch die Luft gleiten ließ, dem Angriff eines Raubvogels gleich. Kieran beobachtete ihn eine Weile. Er war ein guter Kämpfer geworden, aber auch ein Heißsporn.

„Kein Wort von Vergeltung“, sagte Lester konzentriert. Er hatte natürlich längst bemerkt, dass Kieran da war.

„Wovon sprichst du denn?“

„Von Vaters Rede. Er hat das Wort Vergeltung nicht in den Mund genommen. Dabei haben sie unseren Cousin auf dem Gewissen. Blake war ein großer Mann. Ein ehrenhafter Krieger. Ein herausragender Soldat!“ Lester hatte ihn immer bewundert. „Dadurch haben sie auch unsere Führung geschwächt, wenn auch nur vorübergehend, denn Vater hat sie ja jetzt übernommen. Dennoch scheint ihm nicht in den Sinn zu kommen, dass Clamis und das Land der MacCrumbies uns gehören.“

Er hob das silbern schimmernde Schwert über seinen Kopf, drehte sich damit im Kreis und hielt knapp vor Kieran inne, die Spitze der Waffe auf ihn gerichtet.

„Das siehst du doch auch so, oder?“

„Unsere Länder sind groß und ertragreich. Was spielt dieser kleine Fleck im Süden da für eine Rolle?“

Er lachte verächtlich. „Ein Kriegsherr bist du nicht. Es geht nicht um das Land an sich. Es ist auch nicht grüner als anderswo. Doch es geht um Respekt. Um den Ruf! Die Ehre. Was wird man sich in hundert Jahren erzählen? Die kleinen MacCrumbies haben die großen MacDuncans besiegt. Dann können die MacDuncans wohl nicht so groß gewesen sein, oder?“ Er schnaubte.

„Jetzt schützen jedenfalls die MacKinkaids die MacCrumbies. Gerätst du mit den einen in Konflikt, bist du auch mit den anderen im Krieg. Und dann sind da ja auch noch die MacBoyds, die direkten Nachbarn der MacCrumbies. Sie halfen doch auch dabei, unsere Leute in die Flucht zu schlagen. Drei Gegner, das kann selbst der größte Clan der Highlands nicht schaffen“, sagte Kieran im ruhigen Ton und schob mit der Hand die Klinge von Lester zur Seite.

„Das könnten wohl Vaters Worte sein, nicht wahr? Mutig ist das nicht, und ohne jede Voraussicht. Die MacKinkaids mögen eine gewisse Manneskraft aufweisen, aber die MacDuncans sind die unangefochtenen Herrscher der Highlands. Das waren sie immer, und das werden sie immer sein.“

„Die Zeiten ändern sich, Lester.“

„Wenn man die Dinge geschehen lässt, ist das wahr. Was wir brauchen, ist eine Taktik, die uns an die Spitze zurückbringt. Alle auf einmal angreifen? Das hat noch nie funktioniert. Aber greifst du sie nacheinander an, so wird der Sieg unser sein.“ Er senkte das Schwert und steckte es in seine Scheide.

„Mit großen Truppen durch das Land ziehen, mh? Das würde ja auch niemandem auffallen“, konterte Kieran.

„Wer redet von großen Truppen? Du musst sie aufteilen, in kleinere Kampfgruppen. Und dann umzingelst du den Feind, ohne dass er es merkt, und greifst ihn von verschiedenen Seiten an.“ Er grinste. „Ehe die überhaupt begreifen, was passiert ist, würde Clamis schon uns gehören. Und Blake wäre gerächt.“

„Vater wird das niemals anordnen.“

„Ich weiß. Das macht ihn zu einem Feigling.“

„Oder einen Mann mit Vernunft.“

„Ich dachte mir, dass du es nicht verstehst. Du bist genauso verweichlicht wie er. Geh mir einfach aus dem Weg, kleiner Bastard.“

Lester schob sich an ihm vorbei und gab ihm einen Stoß mit der Schulter mit. Kieran sah ihm nach. Die Niederlage der MacDuncans im Süden hatte Lester sehr zugesetzt. Mehr, als er ohnehin schon zeigte. Sie hatte etwas vom strahlenden Glanz der siegreichen MacDuncans abgekratzt, und Kieran war froh, dass Lester nicht der Chief seines Clans war. Doch irgendwann würde er womöglich diese Position einnehmen. Vor diesem Tag graute es ihm.

*

Sommer 1351

„Schenk noch mal nach“, rief Lester und hielt ihm den Kelch hin.

„Ich bin nicht deine Dienstmagd“, sagte Kieran genervt. „Schenk dir selbst nach.“

„Verdammt! Ich habe gesagt, schenk nach!“ Lester schlug mit der Faust auf den Tisch.

„Du bist betrunken. Du hattest zu viel Wein und solltest ins Bett gehen.“

„Das entscheidest nicht du, Kieran.“

Kieran umfasste seinen Becher mit solcher Anspannung, dass das Weiß seiner Fingerknöchel hervortrat. Die Abende mit seinen Brüdern waren oft sehr heiter. Manchmal trank Lester aber über den Durst, und dann konnte es unangenehm werden. So wie jetzt. Dabei hatte alles so gut angefangen.

Seit Sonnenuntergang saßen sie im großen Saal von Dunhall Castle, zusammen mit Lachlan und Bryan und ihren Weibern, feierten die Kalbung von gleich fünf Kühen und hatten sich dem Würfel- und Trinkspiel hingegeben, was für gute Stimmung gesorgt hatte. Nachdem Lester zweimal gegen Kieran verloren hatte, war es jedoch mit der guten Laune aus gewesen.

Kieran wusste, dass es natürlich nicht das Spiel allein war, das seinen Halbbruder zur Weißglut brachte. Viel mehr war es die väterliche Bevorzugung, die erstaunlicherweise er als unehelicher, aber anerkannter Sohn dem Erstgeborenen gegenüber genoss. Lobende Worte, anerkennende Blicke, vertraute Gespräche. „Ich bin hier nicht der Bastard, sondern du“, hatte Lester ihm oft genug an den Kopf geworfen, wenn Vater ihn und nicht Lester um Rat gefragt hatte. Dabei würde Lester eines Tages selbst Chief werden, dann würde ihm Dunhall Castle gehören, und er würde über ein weitläufiges Land gebieten. Die Männer würden ihm die Treue schwören, ihm folgen, seine Anweisungen umsetzen. Lester fieberte diesem Tag entgegen. Doch es war ein offenes Geheimnis, dass Chief Malcolm sich seinen Zweitgeborenen viel lieber auf dem Thron wünschte.

Lester knallte den Kelch vor Kieran auf den Tisch.

„Schenk ihm schon nach“, sagte Tom im angespannten Ton. „Dann gibt er endlich Ruhe.“

„Ja, stell dich nicht so an. Hier, nimm die Karaffe“, meinte Lachlan, und sein Weib hielt ihm das Weinbehältnis hin.

„Ich warte. Bastard.“ Lester ließ sich dieses Wort sichtlich auf der Zunge zergehen. Er ließ keinen Moment aus, es Kieran oder jedem, der es hören oder nicht hören wollte, unter die Nase zu reiben. „Mein Halbbruder Kieran ist ein Bastard, wusstest du das schon?“ MacDuncans verfuhren mit Bastarden oft nicht sehr mitfühlend. Wenn der Vater das Kind nicht anerkannte, wurde es nicht selten ausgesetzt oder sogar ertränkt. Waren diese Söhne und Töchter jedoch anerkannt, hatten sie häufig sehr viele Rechte und waren alles andere als gesellschaftlich geächtet. Viele der besten Kämpfer der MacDuncans waren Bastarde. Sie wollten allen beweisen, dass sie etwas wert waren, und stürzten sich aufgrunddessen mit viel Kraft und Energie in alles, was sie taten. Und das war immer zum Wohle des Clans.

Kieran biss die Zähne aufeinander. Er wusste, dass Lester ihn nur reizen wollte. Das war die einzige Waffe, die er gegen ihn hatte. Und oft genug, das musste Kieran zu seiner Schande einsehen, ging diese Taktik auch auf. Zumindest verkniff er sich heute den obligatorischen „Sohn einer Hure“. Wenn Lester seine Mutter hereinzog, sah Kieran oft rot.

„Also schön, da du es offenbar nicht selbst kannst.“ Kieran führte die Karaffe zu Lesters Becher.

„Wie war das?“

„Ich gieße dir nach, das wolltest du doch.“

„Hast du gerade behauptet, ich sei zu blöd, mir selbst einzuschenken?“

Lester suchte Streit. Er wollte heute noch jemanden aufmischen, und Kieran war da immer die erste Anlaufstelle. Die beiden hatten sich schon so oft geprügelt, dass es ein Wunder war, dass sie sich noch nicht komplett die Köpfe eingeschlagen hatten.

„Willst du jetzt den Wein oder nicht?“, fragte Kieran genervt.

„Ich mach es selber.“ Er riss Kieran die Karaffe aus der Hand und goss sich ungeschickt ein, so dass der Wein über den Rand seines Kelches schwappte. Sofort lachten Lachlan und Bryan sowie ihre zwei schönen Ehefrauen los, Tom aber presste sichtlich besorgt die Lippen aufeinander. Tom war zarter als die anderen. Prügeleien hasste er wie die Pest.

„Lachst du mich aus?“, fuhr Lester Kieran an.

„Ich habe nicht gelacht.“

„Ich hab’s doch deutlich gehört.“

„Das waren Lachlan und Bryan.“

„Schieb es nicht auf meine Brüder, Bastard. Du willst wohl heute meine Faust in deinem hässlichen Gesicht spüren, was? Das kannst du haben.“ Er schob seinen Stuhl zurück. Schlagartig wurde es ruhig im ganzen Raum.

„Beruhige dich, Les. Bryan und ich waren es wirklich, die gelacht haben. Kieran trifft keine Schuld.“

„Warum darf dieser Verlierer überhaupt mit uns an einem Tisch sitzen? Er gehört nicht zu uns, er ist kein MacDuncan.“

„Jeder, der dem Clan angehört, ist ein MacDuncan“, sagte Tom sachlich.

„Ihr wisst, was ich meine.“ Lester kam näher und trat gegen Kierans Stuhl. Der sprang gerade rechtzeitig auf, um nicht mit diesem zu Boden zu stürzen. Wütend stieß Lester ihn vor die Brust.

Jetzt erhoben sich auch die anderen Männer. „Les, lass es gut sein. Die Hitze ist dir zu Kopf gestiegen“, meinte Tom.

„Du weißt sehr wohl, dass meine Herkunft in diesen Hallen keine Rolle spielt“, erwiderte Kieran mit erhobenem Haupt.

„Für mich schon.“ Lester baute sich vor ihm auf. Früher war er größer gewesen als Kieran. Jetzt überragte Kieran ihn um einen halben Kopf. Er war der Größte in der Sippe.

„Sieh dich nur an, klobig, ein Gigant. Nein, ein Bauer. Ja, Bauer passt zu dir. Deine groben Hände, das schlichte Gemüt …“ Lester lachte und gab ihm einen weiteren Stoß. Kieran spürte den umgekippten Stuhl an den Hacken und drohte das Gleichgewicht zu verlieren. Wild ruderte er mit den Armen, doch Lester pustete in seine Richtung, als wollte er ihn mit einem einzigen Atemstoß umwerfen, und das brachte Kieran so aus dem Konzept, dass er tatsächlich hinfiel. Schallendes Gelächter erklang. Lediglich Tom hielt sich wie immer zurück.

Kieran atmete tief durch. Also schön, wenn der Knilch Streit wollte, konnte er ihn haben. Lester konnte ihm ohnehin nicht das Wasser reichen. In keiner Hinsicht. Alles, was er auf Lager hatte, waren plumpe Beleidigungen.

Er erhob sich, klopfte sich den Staub vom Hintern und straffte die Schultern. In einem Wolfsrudel gab es nur eine Art, sich zu behaupten, eine Sprache, die sie alle verstanden. Ganz besonders Lester.

„Ohne Bauern hättest du Schwachkopf kein Frühstück morgens auf dem Tisch.“

„Wie hast du mich gerade genannt?“

Ohne ihm eine Antwort zu geben, stürzte sich Kieran mit einem lauten Schrei auf Lester und prügelte auf ihn ein. Seine Faust traf ihn mitten ins Gesicht. Schon holte Lester seinerseits aus, um ihm einen Kinnhaken zu verpassen.

Rasch waren die anderen zur Stelle, um die Halbbrüder zu trennen, was ihnen mehr schlecht als recht gelang.

Und als sie sie endlich auseinander hatten, mussten Lachlan und Tom Lester mit aller Kraft festhalten, weil dieser wie ein wilder Stier über Kieran herfallen wollte. Blut tropfte aus Lesters Nase.

„Lasst mich schon los, ich will ihm die Haut abziehen!“

„Ja, versuch’s mal. Komm schon, worauf wartest du noch?“ Kierans Wut auf den Ältesten, der nie ein gutes Haar an ihm ließ, rauschte wie glühende Lava durch seine Adern. Er wollte das ein für alle Mal klären! Und er wollte als Sieger aus diesem Kampf hervorgehen!

„Nicht hier“, sagte Bryan, „wenn ihr unbedingt ein blaues Auge wollt, dann holt es euch im Hof.“

Der Vorschlag schien die Gemüter zu besänftigen. Zumindest Lester hörte auf zu schnauben. Ganz langsam ließen Tom und Lachlan von ihm ab.

„Im Hof. Falls du dich traust“, sagte er, schritt an Kieran vorbei und gab ihm einen Stoß mit der Schulter mit, der ihn ein Stück taumeln ließ.

„Im Hof“, bestätigte er und folgte Lester.

„Ihr bleibt besser hier“, sagte Bryan zu den beiden Frauen, die eingeschüchtert nickten.

Die Brüder fanden sich wenige Augenblicke später in einer mondverhangenen Nacht im Innenhof der alten Trutzburg wieder. Das Wetter war aufgrund der Lage an der Westküste der nördlichen Highlands oft schlecht, und so war es auch an diesem Abend. Aber nichts hatte das Gemäuer erschüttern können, ob Sturm oder Schlacht. Kieran jedoch wollte die Wände zum Wackeln bringen! Und etwas sagte ihm, dass es Lester genauso ging.

„Ich hätte nicht übel Lust, dass heute noch Blut fließt“, grölte der auch schon.

„Ist es doch bereits“, sagte Kieran und tippte sich an seine Nase, um auf Lesters Nasenbluten anzuspielen. „Und wenn mich nicht alles täuscht, tut’s das immer noch.“

Lester fuhr sich über das Gesicht, als hätte er die Verletzung noch gar nicht bemerkt. „Ich blute ja!“

„Ach was.“

„Das hast du nicht umsonst gemacht!“, schrie Lester und stürmte auf Kieran zu. Er fackelte nicht lange und holte aus, Kieran wich zur Seite und schlug seinerseits zu. Die Faust traf Lester erneut mitten ins Gesicht und ließ ihn seitlings taumeln und über seine eigenen Füße stolpern.

„Vielleicht warten wir, bis du wieder nüchtern bist?“

„Dir werd ich’s zeigen.“ Lester rappelte sich auf und stürzte erneut auf Kieran zu, diesmal gab Lester ihm einen Hieb gegen den Kiefer mit.

„He, hört sofort auf!“, brüllte jemand von der Brustwehr.

„Ach du Scheiße, die Wachen habe ich total vergessen“, sagte Lester.

Im Nu eilten zwei Mannen zu den Raufbolden hin. „Prügeleien im Hof sind untersagt.“

„Behauptet wer?“ Lester plusterte sich wie ein Gockel auf.

„Das sind die Anordnungen des Chiefs, das wisst ihr ganz genau.“

„Ich seh den Chief aber nirgends hier.“

„Das spielt keine Rolle.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob du Nachteule weißt, wen du vor dir hast.“ Lester öffnete und schloss die Hand einige Male, als wollte er sich auf einen Faustkampf vorbereiten.

„Anordnung ist Anordnung.“

„Ich verstehe. In dem Fall verordne ich auch etwas, nämlich eine Tracht Prügel! Wer ist dabei?“ Lester riss die Faust in die Höhe und blickte sich zu den Brüdern um, die jedoch verhalten reagierten.

„Ich bin dabei“, sagte Kieran entschlossen.

„Was, du?“

„Aber ja, mir juckts schon den ganzen Abend in den Fingern.“

Ein kurzer Blick zwischen Lester und Kieran genügte, und sie waren die besten Freunde.

Mit lautem Kriegsgeschrei gingen sie auf ihre eigenen Wachleute los, bis Verstärkung eintraf, welche die zwei Hitzköpfe niederrang. Kopf an Kopf lagen sie schließlich am Boden.

„Mann, das hat Spaß gemacht“, keuchte Lester, während zwei Wachmänner ihn fixierten.

„Und wie“, gab Kieran zu, völlig überrascht.

„Du bist gar nicht mal so übel“, gestand ihm Lester zu.

Kieran grinste, und man zog die Brüder hoch auf die Beine. Dann trat der Hauptmann mit strenger Miene vor sie hin. Er wusste natürlich, wer sie waren, was Grund genug war, einen entnervten Seufzer auszustoßen und mit den Augen zu rollen.

„Bringt sie zum Chief“, sagte er nur, und wenig später standen Lester und Kieran völlig zerrupft im Schlafgemach ihres Vaters, der zu dieser späten Stunde zwar schon im Bett war, aber mitnichten allein. Und an Schlaf hatte er schon zweimal nicht gedacht, denn Brinna und Faryann, zwei überhaus hübsche Mägde, teilten sein Lager.

„Was ist nur in euch gefahren?“, fragte Chief Malcolm, nachdem der Hauptmann der Wache ihn in Kenntnis über die nächtlichen Vorkommnisse gesetzt hatte. Das hatte er allerdings äußerst knapp getan, denn er hatte, so war zumindest Kierans Eindruck, recht schnell wieder das Weite suchen wollen. Der Anblick des halb nackten Chiefs, selbst zu dieser späten Stunde, war wohl zu viel für den guten Mann gewesen.

„Es ist ja eine Sache, wenn ihr euch unbedingt die Köpfe einschlagen müsst. Aber warum verprügelt ihr auch noch unsere Wachen?“

Kieran und Lester blickten betreten zu Boden. Aber aus dem Augenwinkel bekam Kieran mit, dass Lester Mühe hatte, nicht zu grinsen.

„Es war der Wein“, sagte Kieran.

„Und diese verdammten MacKinkaids“, fügte Lester hinzu.

„Was haben die MacKinkaids mit all dem zu tun?“, fragte Malcolm, während Faryann sich an ihn schmiegte und mit einer seiner roten Bartsträhnen spielte.

„Nichts, das ist es ja gerade. Seit dieser unsäglichen Waffenruhe gibt es keine Kämpfe mehr. Nicht mal eine klitzekleine Prügelei.“ Lester klang darüber sehr enttäuscht.

Die Waffenruhe war noch jung, hatte aber zu viel zu ruhigen Tavernenbesuchen geführt, so dass man, wenn man unbedingt einen Streit wollte, diesen mühsam provozieren musste. Und selbst dann war nicht sicher, ob wirklich jemand die Fäuste erhob. Sah man nun einen MacKinkaid auf der Straße, durfte man ihn gar nicht mehr angreifen oder bedrohen, nicht mal schubsen, was für Lester völlig unbegreiflich war. Er fand Waffenruhen feige, das hatte er zumindest an einem Abend mal herausposaunt. Besser sei es immer, Dinge nach dem Recht des Stärksten zu regeln. Wozu war das Kampftraining sonst auch nütze? Kieran sah das anders und teilte eigentlich Vaters Ansichten. Die Waffenruhe hatte Leben geschont. Und der Frieden tat den Landen gut.

Malcolm seufzte und schob die junge Frau zur Seite, um sich bedeutsam vorzubeugen. „Ich will, dass jetzt Ruhe herrscht. Zwischen den MacKinkaids, euch und vor allem unseren Wachen. Die stehen nämlich nicht ohne Grund auf der Brustwehr.“

„Wer soll uns schon angreifen? Die MacArrows etwa, diese Hosenscheißer?“

„Ruhe, verdammt!“, brüllte Malcolm den vorlauten Lester an. „Ihr tut, was man euch sagt. Euer Männlichkeitsgebaren spielt woanders aus. Aber nicht hier! Und jetzt geht mir aus den Augen, bevor ich euch zeige, wie man jemanden richtig aufmischt!“

„Also ich hätte noch Lust auf eine Rauferei“, meinte Lester und musterte die beiden Frauen an der Seite ihres Vaters mit sichtbarer Abscheu. „Und wenn ich so sehe, wie nach Mutters Tod diese Hallen entehrt werden, umso mehr.“

„Was erdreistest du dich?“

„Ich sag nur, wie es ist. Willst du etwa noch mehr Bastarde zeugen? Sind fünf Söhne nicht genug?“

„Lester … es ist gut jetzt“, sagte Kieran und packte ihn am Arm, um ihn aus dem Gemach des Vaters herauszuziehen. Aber Lester riss sich los. „Ich hasse diese dreckigen Huren. Sie sind noch nicht einmal Abbilder von Mutter.“

„Lass deine Mutter aus dem Spiel und reiß dich zusammen, Junge, oder es setzt was“, sagte Malcolm grollend und tief, so dass Lester verstummte. Selten sah man Malcolm mit diesem Blick, der alles zu durchdringen schien. Es lag eine tiefe Drohung darin. Seit die Brüder klein waren, hatte eben dieser Blick viel Eindruck auf sie gemacht, und auch jetzt verfehlte er seine Wirkung nicht.

„Ich sage es ein letztes Mal: raus mit euch!“

Lester schluckte, dann wandte er sich in einer dramatischen Drehung zur Tür. „Alles, woran der denkt, ist ficken.“

Kieran folgte ihm nach draußen mit offenem Mund. Dass sich der Chief und sein Erstgeborener nicht immer grün waren, das wusste man, wenn man auf Dunhall Castle lebte. Aber diesmal hatte er Hass in den Augen der beiden Männer gesehen.

Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, entspannte sich Lester, verwandelte sich in eine andere Person. Er legte den Arm brüderlich um Kierans Schulter und lachte sogar. „Das war doch alles in allem ganz lustig, oder?“

Meinte er das ernst?

Kieran nickte irritiert.

„Sollten wir öfter machen, meinst du nicht auch? Beim nächsten Mal müssen wir aber fester zuschlagen, damit die Wache uns nicht verpetzen kann.“

Kieran grinste. „Du bist ein Schlitzohr, weißt du das?“

„Klar. Und du bist ein guter Kämpfer, muss man sagen.“ Er gab Kieran einen leichten Stoß mit der Faust gegen die Schulter. Kieran traute dem Frieden noch immer nicht.

„Gute Kämpfer haben meinen Respekt. Egal, woher sie kommen.“ Kieran nickte. Einerseits erfreut, andererseits nachdenklich.

Tom, Bryan und Lachlan hatten im Gang auf sie gewartet und blickten nun überaus verwirrt drein ob der innigen Freundschaft zwischen ihnen.

„Wir haben offenbar einiges verpasst. Wann fand denn diese Verbrüderung statt?“, wollte Tom wissen.

Lester wuschelte Kieran über den Kopf. „Grad eben. Hab wirklich nicht gewusst, was alles in ihm steckt.“

*

Noch in derselben Nacht lud Lester Kieran in seinen privaten Raum ein. Es war lange her, seit Kieran diesen betreten hatte. Doch beide Männer waren weder müde, noch wollten sie den Abend hier schon enden lassen.

„Trinken wir noch was“, sagte Lester und goss ihnen Wein ein.

Kieran blickte sich um. Der Raum wirkte karg. Ganz anders als die Gemächer von Lachlan und Bryan, bei ihnen sah man, dass weibliche Hände bei der Einrichtung geholfen hatten.

Aber Lester hatte keine Frau in seinem Leben, ebensowenig wie Kieran, von der gelegentlichen Geliebten einmal abgesehen. Und dann waren Huren natürlich völlig in Ordnung, sofern sie Lester seine Männlichkeit bestätigten.

Kierans Blick blieb auf einem Schreibtisch haften, auf dem eine Karte der südlichen Highlands ausgebreitet war. Darauf befanden sich Zinnfiguren in militärischen Anordnungen.

„Was ist denn das?“, wunderte sich Kieran.

„Ein Schlachtplan“, erklärte Lester voller Stolz und reichte ihm den Kelch.

„Ein Schlachtplan? Wofür denn?“

„Das hier ist das Gebiet der MacCrumbies. Und das hier ist Castle Clamis.“ Ein Leuchten trat in Lesters Augen.

O nein, war er etwa immer noch besessen von dieser alten Geschichte? Es war zehn Jahre her, seit die MacDuncans Clamis hatten aufgeben müssen. Das Gemäuer hatte ihnen ohnehin nur kurze Zeit gehört und war davor und danach immer im Besitz der MacCrumbies gewesen. Doch es ging seinem Bruder wohl weniger um die Burg an sich, sondern um die Niederlage, die an ihm nagte, als wäre sie ihm persönlich zugefügt worden. Doch damals war er noch ein Kind gewesen.

„Die MacDuncans sind keine Wölfe mehr, eher zahnlose Tiger. Seit dieser unsäglichen Waffenruhe mit den MacKinkaids umso mehr.“

Bis vor wenigen Jahren noch hatten sich die MacDuncans und die MacKinkaids erbitterte Schlachten um Grund und Ressourcen geliefert. Diese Zeiten waren dank des Verhandlungsgeschicks vom neuen Chief Calum und dessen Frau Erin MacKinkaid vorbei. Und auch Vater hatte der Waffenruhe wohlwollend zugestimmt. Er war friedlicher als sein Vorgänger, was Lester zum Anlass nahm, in ihm einen Feigling zu sehen.

Kieran sah das anders. Frieden in diesen Zeiten war das wertvollste Gut.

„Du machst allen Ernstes Pläne, wie man die MaCrumbies angreifen könnte?“

Die Truppen waren aufgeteilt. Das hatte Lester schon früher erwähnt. Aber Kieran hatte gehofft, dass er diesen Wahn irgendwann würde abschütteln können. „In den Wäldern wird man sie nicht sehen. Aufgrund ihrer geringen Größe wird niemand im Umland auf dumme Gedanken kommen. Wenn sie dann vor Clamis liegen, werden sie sich wieder vereinen und die Burg einnehmen.“ Er lachte und nahm zufrieden einen Schluck.

„Du brauchst eine Frau, Lester. Sieh dir an, wie entspannt Lachlan und Bryan geworden sind.“

„Eine Frau? Ich hab doch mehr als eine.“ Erneut lachte er. „Es ist noch Zeit, sich irgendwann zu binden. Besser ist es, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Und warum sollte ich mich einem schönen Weib in der nächsten Taverne versagen? Die Ehe ist etwas fürs Alter. Sieh dir Tom an, der hat auch kein Weib.“

Das jedoch hatte Gründe, über die Kieran an dieser Stelle definitiv nicht sprechen konnte. Denn es gab ein Geheimnis zwischen Tom und Kieran, von dem vor allem Lester nichts wissen durfte.

„Und du … dich sehe ich ja auch nie in weiblicher Begleitung. Warum machst du nicht Lady Emily den Hof? Die schien doch neulich Interesse zu zeigen, als wir zu diesem Fest auf Castle Duncan waren. Diese alte Ruine.“ Er schnaubte verächtlich. „Das Castle, nicht Emily.“

Kieran seufzte. Lady Emily hatte nicht nur kein Interesse gezeigt, sie hatte ihn ständig von oben herab behandelt, wie es die meisten Ladies taten, sobald sie erfuhren, dass er nur ein anerkannter Sohn des Chiefs war. Aber ja, oft genug fühlte sich Kieran tatsächlich einsam, sehnte sich nach einer zarten Hand in der seinen oder einem warmen Frauenkörper im Arm.

„Ich meine es ernst, Lester. Vergiss Clamis. Es sind neue Zeiten angebrochen. Du machst dich nur unglücklich mit diesen Gedankenspielen.“

Lester verschränkte die Arme vor der Brust und grinste. „Du klingst schon wieder wie Vater.“

„Ich klinge vernünftig.“

Er nickte langsam. „Du hast ja recht, Kieran. Nimm es nicht so ernst. Es ist doch auch nicht mehr als das. Eben Gedankenspiele. Noch einen Schluck?“

Kieran hielt ihm den Kelch hin, und Lester goss nach.

*

Vier Jahre später …

Lester knallte den Lederbeutel auf den Tisch. Dieser war prall gefüllt, das Leder spannte zum Zerreißen. „Ich liebe es, die Pacht einzutreiben. Das muss man den Normannen lassen, sie haben nicht nur viele Siege auf der Insel und dem Festland errungen, ihr Feudalsystem gefällt mir auch außerordentlich.“

„Aber nur, solange du keine Pacht an den König zahlst, wie?“, entgegnete Kieran und gab dem Wirt ein Zeichen. Zwei Tage waren sie jetzt schon unterwegs gewesen. Sie waren durch das ganze Land der MacDuncans geritten, von Dorf zu Dorf und von Hof zu Hof, um die Abgaben einzuholen. Die letzten Nächte hatten sie im Freien verbracht, wo es trotz der Jahreszeit recht kalt gewesen war. Nicht, dass es ihnen etwas ausgemacht hätte, doch es tat gut, wieder ein Dach über dem Kopf zu haben.

„Welchen König meinst du denn?“ Lester brüllte los vor Lachen. Es war so laut, dass es durch die ganze Taverne hallte.

„David II., den Sohn von Robert the Bruce“, klärte Kieran seinen älteren Halbbruder auf.

„Der ist immer noch König?“

„Schon wieder.“

„Das gibt’s ja nicht.“ Er schlug lachend mit der Hand auf den Tisch. „Aber warte, ist der nicht Gefangener der Engländer? Na ja, soll mir gleich sein, ich akzeptiere sowieso keinen König, nur einen Chief.“

„Du pickst dir also die Rosinen aus dem Kuchen, wenn es um die Pacht geht, aber das Knie beugst du nicht vor dem rechtmäßigen Herrscher Schottlands?“

„Seit wann bist du denn so königstreu? Haben die MacArrows das Knie gebeugt? Die MacKinkaids etwa? Da muss schon jemand mit sehr guten Argumenten und einer riesigen Armee vor Dunhall Castle stehen.“

Der Wirt brachte ihnen zwei Kelche und eine Weinkaraffe.

„Das sind wahre Worte“, sagte plötzlich eine junge Frau, die wie aus dem Nichts neben ihrem Tisch stand. „Verzeiht, ich konnte nicht umhin, euer Gespräch anzuhören. Ihr wart ja auch nicht gerade leise.“

Kieran musterte die Fremde. Braune Locken hingen ihr wild über die Schultern. Ihr Gesicht war ein wenig streng. Statt eines Kleides trug sie Hosen. Eine merkwürdige Erscheinung, aber doch recht angenehm. Sie lächelte Kieran an.

„Setz dich doch zu uns. Es sei denn, dein Mann hat was dagegen“, meinte Lester und schob schon den Stuhl zurecht.

„Mann? Ich bin nicht verheiratet, sondern meine eigene Herrin.“ Sie setzte sich. „Gebt ihr mir einen aus?“

Kieran hob die Hand. Ein weiterer Kelch wurde gebracht.

„Ein König kann nicht über ein ganzes Land herrschen. Ich meine, das ist natürlich das, was er anstrebt und auch zu können glaubt, aber sein wir mal ehrlich. Hier im Norden herrschen andere Sitten. Das Land gehört den Clans. Warum sollten wir dafür zahlen? Oder diesem Herrn auf dem Thron die Treue schwören?“

„Ganz meine Meinung. Du hast einen klugen Kopf für eine Frau. Wie ist dein Name?“, wollte Lester wissen.

„Lorna MacKinkaid“, sagte sie, aber sie schaute nicht Lester an, sondern ihn, Kieran. Ihr Lächeln ging ihm durch und durch. Es hatte etwas ganz Besonderes an sich, war warm und aufgeschlossen.

„MacKinkaid? Ach … wenns denn sein muss. Auch MacKinkaids haben offenbar schöne Frauen, was in der Tat eine Überraschung ist. Weißt du, bei schönen Frauen ist es mir egal, zu welchem Clan sie gehören“, meinte Lester gönnerhaft.

Lorna nickte nur und ließ den Blick nicht von Kieran, der mit einem Mal ein heftiges Herzklopfen in seiner Brust verspürte. Das kam selten genug vor, denn normalerweise brachte ihn nichts und niemand so schnell aus dem Konzept.

„Und du bist?“, fragte sie eindeutig ihn, aber Lester anwortete.

„Lester MacDuncan.“

„Der Sohn von Malcolm?“, hakte die junge Frau nach und drehte sich nun doch interessiert zu seinem Bruder um.

„Allerdings. Der Erstgeborene.“ Lester grinste selbstgefällig und schwenkte seinen Kelch hin und her. „Der künftige Chief, könnte man auch sagen. Ach ja, und diese Null da, das ist mein Halbbruder Kieran.“

„Kieran. Ein schöner Name.“ Jetzt schaute sie wieder ihn an. Ihre Augen funkelten wunderschön. Es war ja nicht so, als wäre ihm die Schönheit des anderen Geschlechts noch nie aufgefallen. So manches Weib hatte seine Lenden in Flammen gesetzt. Aber um sesshaft zu werden wie Bryan und Lachlan, da brauchte es schon mehr. Doch hier war alles ein wenig anders. Lorna war anders. Interessant. Ja, sie weckte seine Neugierde. Ihre selbstbewusste Art, die Beinkleider, die freche Stimme.

„Was treibt dich denn in die Gegend?“, wollte Lester wissen.

„Ich bin einfach viel auf Reisen.“

„Allein?“

„Natürlich. Ich kann mich wehren!“ Sie deutete auf den Schwertknauf an ihrem Gürtel.

„Und wo warst du überall?“, wollte Kieran wissen, der die Lande der MacDuncans so gut kannte wie sein bestes Hemd, aber darüber hinaus nicht viel von den Highlands gesehen hatte.

„Im Süden. Auch in den Lowlands. Da wütet derzeit der schwarze Tod“, erklärte Lorna mit gedämpfer Stimme. „Darüber redet man besser nicht, es versetzt die Leute schnell in Panik. Wirklich schlimme Sache“, sagte sie. Natürlich hatte es auch in den Highlands Seuchenfälle gegeben. Und obwohl das Schlimmste derzeit überstanden schien, wurde ein erneutes Aufkommen gefürchtet.

„Ist eine Strafe von oben, denke ich. Die Leute bekommen nur das, was sie verdient haben“, erklärte Lester.

„Das sagen sie auch in den Kapellen. Tatsache ist, man nimmt besser die Beine in die Hand, wenn man die Masken in den Straßen sieht“, sagte Lorna und spielte wohl auf die Pestmasken der Heiler an. Wo diese nötig waren, wütete auch der schwarze Tod. Eine einfache Gleichung.

„Hast du es gesehen? Mit eigenen Augen, meine ich“, fragte Lester.

Lorna nickte. „Nur aus der Ferne natürlich. Sie karrten die Leute weg. Ich weiß nicht, wohin sie sie brachten. Wahrscheinlich zu einem der Pestlöcher außerhalb der Ortschaft …“

Alle schwiegen. Das war kein Thema für einen heiteren Abend. Hier im Norden waren sie seit einiger Zeit weitestgehend verschont geblieben von solchen Vorfällen. Zumindest hatte Kieran nichts Derartiges gehört. Es mochte an den vielen Vorkehrungen liegen, die die Leute getroffen hatten. Salzhaltige Nahrung, Kamillenbäder, beräucherte Häuser. Aber ob das wirklich Schutz bot?

Lorna nippte an ihrem Becher. „Ahhh. Das tut wirklich gut.“ Dann lachte sie leise. „Jetzt macht nicht solche Gesichter, Jungs. Es ist halt, wie es ist. Wenn man die Burg verlässt, kommt man in Gefahr, früher oder später. Aber das ist das Leben, nicht wahr?“

Sie wirkte so klug, trotz ihres geringen Alters. Es machte einen Teil der Faszination aus, die Kieran für sie empfand.

„Warum reist du denn eigentlich so viel?“, hakte er nach.

„Ich bin Händlerin.“

„Wirklich?“ Kieran hätte sie auf den ersten Blick für eine Kriegerin gehalten, was bereits sehr ungewöhnlich gewesen wäre. Aber auf eine Händlerin wäre er nie im Leben gekommen. Vielleicht weil er sich unter Händlern meist untersetzte alte Kerle vorstellte, die ihre Waren lautfeil an ihren Ständen anpriesen und einen übers Ohr zu hauen versuchten, wo sie nur konnten.

„Aber ja. Warum? Glaubst du mir das etwa nicht? Morgen ist Markttag hier. Ich will ein paar Sachen verkaufen.“

„Zum Beispiel?“ Lester leckte sich über die Lippen und starrte dabei auf ihre Brüste.

„Nicht solche Dinge“, sagte sie verärgert, als sie Lesters Blick bemerkte. „Dolche. Dieser Art, seht her.“ Sie zog einen aus ihrem Gurt und legte ihn auf den Tisch. Es war ein schöner Dolch, herrlich verziert. Soweit Kieran es beurteilen konnte, war er vortrefflich geschmiedet. Das Besondere war jedoch der Griff, an dem eine Schlaufe aus Leder baumelte.

„Soll ich mir den um den Hals hängen?“, wunderte sich Kieran.

„Nein, natürlich nicht. Ich zeig dir, wie es geht.“ Sie griff überraschend nach Kierans Hand, was ein warmes Gefühl in ihm auslöste, legte ihm den Dolch in diese und wickelte das Band um sein Handgelenk.

„Im Kampf versucht der Gegner oft, dir die Klinge aus der Hand zu reißen. Aber sie ist gesichert. Er wird dir den Dolch nicht ohne Weiteres abnehmen können.“ Sie machte es vor, und tatsächlich gelang es ihr aufgrund der Schlaufe um sein Handgelenk nicht, ihm die Waffe zu entwenden.

„Eine erstaunliche Idee“, sagte Kieran. Wahrscheinlich funktionierte das sogar in einem echten Gefecht.

„Kampf? Als gäbe es noch Kämpfe in der Gegend. Seit diesem Friedensabkommen mit den MacKinkaids ist es aus und vorbei damit“, beschwerte sich Lester. Die Verhandlungen waren in den letzten Jahren weitergegangen, aus einer Waffenruhe war ein Frieden geworden. Die Unterzeichnung eines Vertrages von beiden Seiten garantierte das. Die meisten Leute waren froh. Aber eben nicht alle.

„Das klingt, als wärst du traurig darüber“, wunderte sich Lorna.

„Ist er auch. Er lebt für den Kampf.“

„Verstehe.“

Kieran löste die Schlaufe von seinem Handgelenk und reichte ihr den Dolch zurück. Aber Lorna hob abwehrend eine Hand. „Behalte ihn bitte. Es ist ein Geschenk.“

„Ein Geschenk? Wofür denn?“

„Weil ihr mir so nette Gesellschaft leistet und mich zum Wein eingeladen habt.“ Sie zuckte mit den Schultern.

„Vielen Dank“, sagte Kieran. Der Dolch war sicher einiges mehr wert als eine Weinkaraffe, zudem war er es nicht gewohnt, dass eine Frau ihm etwas schenkte. Noch dazu etwas so Wertvolles. Es schien, dass Lorna ihn auf Augenhöhe sah. Genau genommen wusste sie ja nichts über ihn, aber es war neu für ihn.

Mit den einfachen Bauernmädchen konnte Kieran durchaus seinen Spaß haben. Sie waren naiv und aufgeschlossen, noch dazu interessierte es sie wenig, dass er ein Bastard war. Für sie war er nur der Mann aus Dunhall, also eine gute Partie, auf die sie hofften. Die Damen von Dunhall hingegen verhielten sich ihm gegenüber stets ein wenig pikiert. Dass Vater ihn anerkannt hatte, er somit einer der Söhne des Chiefs war, hatte für sie nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Man sah ihm viel zu sehr an, dass das Blut von Mull in seinen Adern floss. So war er größer als seine Brüder, wirkte rauer und grobschlächtiger. Das war nichts für feine Ladies.

Egal, wohin er also ging, was er sagte oder tat, man sah ihn aus zweierlei Sicht. Entweder als Bastard, der unter dem eigenen Niveau rangierte, oder als jemand, der über einem stand und durch den man an Ansehen gewinnen konnte.

„Und was bekomme ich?“, fragte Lester die junge Händlerin.

„Du bekommst einen feuchten Händedruck, Lester.“

„Da hätte ich eine bessere Idee.“

„Ach ja?“

„Wie wäre es mit einem Kuss?“ Er spitzte die Lippen.

Lorna lachte. „Ihr Kerle denkt wirklich immer nur an das eine.“ Sie griff nach ihrem Becher und trank ihn in einem Zug leer.

„Ernsthaft, du ziehst nicht wirklich diesen Bastard mir vor?“ Lester war so laut geworden, dass jeder im Haus es gehört hatte. „Ich bin der Erbe von Dunhall! Und er ist ein Nichts! Die Brut einer …“ Er kniff die Lippen zusammen. Offenbar hatte er gemerkt, dass er zu weit gegangen war. Doch der Schaden war schon angerichtet.

Wütend funkelte Kieran ihn an. „Das war unnötig.“ Aber Lesters reichlich schnell verletzter Stolz war wieder einmal durchgebrochen, und schon hatte er Lorna Kierans Geheimnis auf dem Silbertablett serviert – und der ganzen Taverne noch dazu.

„Ich gehe mal frische Luft schnappen, dann könnt ihr das unter euch klären“, sagte sie sichtlich genervt und schob ihren Stuhl zurück. Gleich darauf hatte sie die Taverne verlassen. Aber damit war die Sache noch nicht ausgestanden.

„Na großartig! Gut gemacht“, knurrte Lester ihn an.

„Ich? Was habe ich denn damit zu tun? Dir sind die Nerven durchgegangen.“

„Weil … du mir dauernd in die Quere gekommen bist.“

„Ich habe gar nichts gemacht. Außerdem, wie kommst du darauf, dass du hier der Platzhirsch bist? Sie hat mir den Dolch geschenkt.“ Wenn das kein Zeichen war, was war es dann?

„Bruder, meine Lenden brennen. Ich brauche einfach mal wieder einen ordentlichen … Fick“, flüsterte Lester ihm verschwörerisch zu.

„Das ist widerlich.“

„Ach, und du bist ein Heiliger, oder was? Darf ich dich an die Schwester des Knechts erinnern, die …“

„Schon gut. Aber Lorna ist anders.“

„Sie hat schon zwei mächtig große …“

„Hör auf.“ Es machte ihn fuchsteufelswild, dass Lester sie nur auf ihre äußerlichen Reize reduzierte.

„Ich wusste ja nicht, dass du auch ein Auge auf die Kleine geworfen hast“, sagte Lester nun im ruhigeren Tonfall. „Ist ja nicht das erste Mal, dass wir zwei hinter demselben Mädchen her sind. Ich schlage vor, wir lassen den Dingen ihren Lauf. Vielleicht findet sie auch uns beide langweilig.“

Das war der erste vernünftige Vorschlag an diesem Abend.

„Wo ist sie eigentlich?“, wunderte sich Lester.

„Sie ging raus, weil wir uns wie zwei Halbstarke aufgeführt haben. Ich sehe mal nach ihr.“

„Nicht so schnell, Bruder.“

„Was? Denkst du etwa, ich würde sie jetzt da draußen …“ Also wirklich.

„Wer weiß, wer weiß. Du hast eben auch deinen, zugegebenermaßen etwas bäuerlichen Charme.“ Er grinste ihn dreckig an, aber Kieran rollte nur mit den Augen und verließ die Taverne.

Nur wenige Schritte von der Stätte entfernt entdeckte er die hochgewachsene, überaus schlanke Gestalt von Lorna. Sie blickte zum Sternenmeer auf, das über ihr aufragte, die Arme verschränkt, die Füße auf- und abtretend.

„He“, sagte er und gesellte sich zu ihr.

„He“, entgegnete sie sanft. „Habt ihr euch beruhigt?“

„Ja, es war gar nicht so schlimm.“

„Ich bin ungern der Grund für Streit, da ziehe ich mich lieber zurück.“

„Kann ich verstehen.“

„Versteht dein Bruder es auch?“

„Ich denke schon.“

Sie wandte sich zu ihm um und lächelte milde. „Er ist wohl ein wenig hitzköpfig.“

„Nicht nur ein wenig.“

Ihre Hand glitt zu seinem Umhang und zupfte daran, als wollte sie ihn richten. „Was er drinnen sagte, dass du ein … Bastard bist. Ist das wahr?“

Er senkte den Blick. Eigentlich stand er dazu, normalerweise. Es war nichts Verwerfliches daran, schließlich war er anerkannt worden. Vater hielt sogar mehr auf ihn als auf Lester. Doch Lorna verunsicherte ihn in dieser Hinsicht.

„Ich habe eine uneheliche Tochter“, sagte sie plötzlich.

„Was?“

„Sie müsste jetzt zehn Jahre alt sein. Der Vater nahm sie mir nach der Geburt weg. Es war ein Albtraum für mich, aber das Beste für Eilean.“

„Ich hatte ja keine Ahnung …“

„Ist ja auch nichts, womit man als Frau hausieren geht, oder?“ Sie schaute wieder zu den Sternen auf.

„Du vermisst sie?“

„Sehr.“

„Ich wuchs die ersten vier Jahre bei meiner Mutter auf, danach gab sie mich nach Dunhall Castle zu meinem Vater, wo ich eine Ausbildung in der Kampfkunst erhielt.“

„Du wärst lieber bei ihr geblieben?“

„Ich weiß es nicht. Sie glaubte vermutlich, das Richtige zu tun. Was wäre die Alternative gewesen? Auf Dunhall ging es mir gut, ich wurde akzeptiert. Dennoch frage ich mich manchmal, ob sie mich insgeheim loswerden wollte. Eine ledige Frau mit Kind, der stehen nicht viele Wege offen.“

„Sie hat dich bestimmt geliebt.“ Lorna atmete tief durch.

Da war er sich nicht sicher. „Ich sah sie bis zu ihrem Lebensende nicht wieder.“

Lorna nickte, versuchte ein aufmunterndes Lächeln. Doch es misslang. „Ich liebe Eilean mit ganzem Herzen. Ich möchte mich ihr so gern zeigen, ihr sagen, wie viel sie mir bedeutet und dass ich sie nicht aus freien Stücken weggab. Wie sie jetzt wohl aussieht? Sie muss groß geworden sein. Unglaublich groß. Ich frage mich, wie ihr Lachen klingt.“

Sie schwiegen einen Moment.

„Wo ist ihr Vater jetzt?“, wunderte sich Kieran.

„Er lebt in der Nähe von Inverdeen. Wir sehen uns oft. Ja, wirklich oft. Er kümmert sich um mich ...“

„Er wollte dich nicht heiraten?“

„Das ging nicht.“

„Das ist kaum eine Antwort.“

„Wenn du die Umstände kennen würdest, wüsstest du, es ist die einzige Antwort.“

„Hat er dich gezwungen …?“

„O nein, nein, gar nicht. Sie ist ein Kind der Liebe, dennoch ein Kind, das nicht sein darf.“

„Und Eilean, wo ist sie?“

„Bei einer Ziehmutter in Moray Glen.“

„Das liegt im Süden.“

„Ja, im Gebiet der MacCrumbies“, erklärte sie. „Er wollte sie so weit wie möglich wegbringen, aber gut sollte sie es dennoch haben. Es gibt dort ein Findelkindhaus …“

Kieran sah die Karte der südlichen Highlands auf Lesters Tisch vor seinem geistigen Auge. Gar nicht allzu weit entfernt vom Land der MacCrumbies lag auch Millton, die Fischerstadt und das Tor zur Insel Mull. Manchmal wirkte die Welt direkt klein.

„Was hindert dich daran, zu ihr zu gehen?“

Lorna hielt sich die Hände vors Gesicht, als versuchte sie, ihre Traurigkeit vor ihm zu verbergen.

„Nichts. Außer Angst.“

„Angst?“

„Dass sie mich ablehnt. Ich bin eine Fremde für sie. Und dann ist da noch ihr Vater. Er will nicht, dass ich sie sehe. Sie ist seine Schande.“

„Sag das nicht!“

„Es ist die Wahrheit. Du kennst die Geschichte nicht. Mit seinem Zorn könnte ich leben, nicht jedoch mit ihrem Hass.“ Sie lehnte sich an ihn, was Kieran für einen winzigen Moment aus dem Konzept brachte. Sacht griff er sie bei den Schultern.

„Du hast noch die Möglichkeit, dein Kind zu sehen. Wenn du deine Tochter liebst, zeig ihr ihre Wurzeln.“

Lorna nickte nachdenklich.

„He, findet hier draußen eine Ratssitzung statt oder kommt ihr wieder rein?“, rief plötzlich Lester und lugte durch die Tür.

Lorna seufzte. „Er ist anstrengend“, flüsterte sie.

„Ich weiß“, entgegnete Kieran nicht wesentlich lauter. Sie tauschten Blicke aus und folgten Lester schließlich in die Taverne zum gemeinsamen Tisch. Doch die gute Stimmung wollte nicht noch einmal aufleben.

„Ihr habt euch ja ’ne Menge zu erzählen gehabt“, murrte Lester.

„Es ging um den Handel“, erklärte Kieran rasch.

„Handel? Natürlich.“

„Verzeiht mir, Jungs, ich habe morgen einen langen Tag vor mir und will mich aufs Ohr hauen. Danke nochmals für den Wein. Das war wirklich nett, mich einzuladen.“ Sie wollte sich erheben, da schnellte Lesters Hand vor und packte sie am Arm. „Moment. Wo willst du hin?“

„Was soll das, bist du verrückt?“, fuhr Lorna ihn an.

„Beruhige dich“, sagte auch Kieran und trennte vorsichtig Lesters Finger von ihrem Handgelenk.

„Tut mir leid“, sagte Lester kleinlaut. „Es war vorhin so nett. Ich hoffte, dass wir noch etwas Spaß haben könnten. Aber verzeih, bitte. Ich habe nicht richtig nachgedacht.“

„Schon gut“, beruhigte sich Lorna. „Ich bin müde“, gab sie zurück und deutete mit dem Daumen nach draußen. „Das wirst du wohl verstehen?“

Lester nickte.

„Wir brauchen auch noch eine Schlafstätte“, erinnerte Kieran seinen älteren Halbbruder.

„Ich dachte, wir schlafen hier, die werden wohl ein Zimmer für den Sohn des Chiefs haben, oder?“

„Das Haus ist voll. Ich habe schon gefragt. Der Wirt bietet aber noch Schlafstätten im Heu an. Wenn ihr den Gestank aushaltet, da ist genug Platz“, sagte Lorna und schaute wieder ihn an. Kieran hatte das unbestimmte Gefühl, dass es eine Einladung war.

„Im Stall? O Mann.“ Lester schnappte sich seinen Kelch und trank ihn leer. „Das kommt gar nicht infrage. Sind wir irgendwelche Taugenichtse auf der Durchreise?“

„Im Stall schlafen also nur Taugenichtse?“, wunderte sich Lorna.

„War nicht so gemeint.“ Er winkte ab.

Ihr Blick suchte Kierans. „Wie dem auch sei. Ich wünsche euch eine geruhsame Nacht.“ Mit diesen Worten ging sie. Leider. Kieran mochte sie wirklich sehr. Und etwas sagte ihm, dass es auf Gegenseitigkeit beruhte. Immerhin hatte sie ihm und nicht Lester den Dolch geschenkt. Und dann war da ja noch eine Geschichte, die sie verband. Die uneheliche Tochter, die sein Schicksal teilte.

„Also raus mit der Sprache, was war wirklich los?“, verlangte Lester zu erfahren.

„Nichts, was dich beunruhigen oder in deiner Männlichkeit bedrohen könnte.“

Aus den harten Zügen wurde ein gieriges Lächeln. „Na schön, du hast mich noch nie angelogen, daher glaube ich dir. Sie ist wirklich hübsch. Eine Wildkatze. Und Wildkatzen lieben es wild.“

Kieran rollte mit den Augen. „Lass es gut sein. Wir gehen ihr auf die Nerven.“

„Hat sie das gesagt?“

„Angedeutet.“

„Tja, Pech, die weiß nicht, was gut ist.“

So schnell gab Lester auf? Das sah ihm gar nicht ähnlich.

„Fragen wir den Wirt also nach einem Zimmer, was meinst du?“

„Sie sagte doch, das Haus ist voll.“

„Und ich sagte, der Sohn des Chiefs schläft nicht im Stall.“

Wenig später lagen sie auf den einfachen Betten, den Lederbeutel hatten sie unter Lesters Kopfkissen verstaut. Für den Fall, das jemand auf Ideen kam …

Der Wirt hatte kaum eine andere Wahl gehabt, als ihnen sein eigenes Schlafzimmer zur Verfügung zu stellen, schließlich hatte Lester mehr als deutlich gemacht, welch gehobenen Gast der Mann im Hause hatte. Und auch, welche Konsequenzen es nach sich ziehen würde, ihnen Unterkunft zu verwehren. Das Abzeichen der Familie MacDuncan an Lesters Umhang hatte den Wirt sehr schnell sehr gefügig werden lassen.

„Dich hätte man eigentlich auch im Stall unterbringen können“, meinte Lester und lachte. „Wenn du dich unter die Schafe mischst, fällt das gar nicht auf, hah!“, grölte er.

Kieran schmunzelte. Eigentlich hätte er gern im Stall geschlafen, um bei Lorna zu sein, denn nie zuvor hatte ihm eine Frau ein solch liebreizendes Lächeln geschenkt. Schon gar nicht jene aus den angesehenen Familien seines Clans. Diese „Ladies“ hatten sich alle für etwas Besseres gehalten und sich mehr für seine Brüder interessiert, ihn wie einen Laufburschen behandelt. Es war ein besonderes Gefühl gewesen, Lornas leuchtende Augen zu sehen. Er seufzte. War es wirklich möglich, dass sie ihn mochte? Einfach um seiner selbst willen?

Vielleicht sollte er morgen noch einmal mit ihr sprechen. Sie war doch ungebunden, wenn er es recht verstanden hatte.

„Du Schaf“, freute sich Lester immer noch über seinen Scherz.

„Und du warst auch schon mal witziger.“

„Ach, jetzt lach doch mit.“

„Ein anderes Mal.“

„He, Kieran, wir lassen doch kein Weib zwischen uns kommen, oder, Bruder? Ich meine, das, was wir haben, das ist doch stärker als Begierde und Fleischeslust.“

Kieran hob überrascht den Kopf und blickte zu Lester, der an die Decke starrte, die Hände auf der Brust gefaltet.

War das wirklich das, was er empfand? Nachdem sie sich verbrüdert hatten, war das Leben auf Dunhall sehr viel angenehmer geworden. Keine Streitereien, keine Prügeleien, zumindest nie aus einem ernsten Grund. Doch nie war sich Kieran völlig sicher gewesen, ob Lester ihm nur etwas vorgemacht hatte oder ob es ihm ernst war, ob er ihn wirklich als Bruder anerkannte. Er war schließlich stets derjenige gewesen, der darauf beharrt hatte, dass Kieran nicht zur Familie gehörte.

Jetzt wandte Lester ihm den Kopf zu, als erwartete er eine Bestätigung. „Das ist eine eiserne Regel unter Männern. Frauen bringen nur Unruhe in Freund- und Bruderschaft. Das dürfen wir nicht zulassen.“

Kieran nickte langsam. Also verzichteten sie beide auf Lorna, ihrer Bruderschaft wegen. Das klang fair. Auch wenn sein Herz sich ein wenig nach dieser schönen Händlerin sehnte. Vielleicht auch ein wenig mehr. Aber ja, das Verhältnis zu Lester stand über jeder Sehnsucht.

„Bruder?“, hakte Lester nach.

„Bruder“, bestätigte Kieran und ließ sich wieder auf die Liege sinken. Blut war dicker als Wasser. Obgleich Lester Kierans Blut mehr als einmal als verwässert bezeichnet hatte. Er war und blieb ein MacDuncan, Teil des Rudels.

Kieran schloss die Augen und schlief ein, erschöpft, wie er war, ging das sehr schnell. Das Land der MacDuncans war groß, und sie hatten erst die Hälfte ihrer Reise hinter sich, die sehr beschwerlich gewesen war. Irgendwann, mitten in der Nacht, glaubte Kieran die Tür knarren zu hören. Aber dann war er auch schon wieder eingeschlafen.

*

Vier Tage später kehrten Lester und Kieran nach Dunhall Castle zurück. Ein dunkles Flies überzog den Himmel, die Unwetterfront, die Kieran schon Tage zuvor in den Gliedern gespürt hatte, hatte die Küste erreicht.

Einem bösen Omen gleich konzentrierten sich die finsteren Wolken über der alten Trutzburg, die auf einer Anhöhe lag. Ein Stück weit ragte diese über die Küste hinaus, einer Landzunge gleich.

Lester war bester Laune. Beinahe erschien Kieran diese übertrieben. Er redete viel, machte unaufhörlich Witze, und zugleich zuckten seine Augen nervös, wann immer sich ihre Blicke trafen. Es kam ihm merkwürdig vor, doch als er Lester einmal danach fragte, sagte der einfach, alles sei bestens.

Man konnte nicht sagen, der Ritt wäre ein Misserfolg für sie gewesen. Denn sie hatten die Pacht der Bauern im ganzen Land eingetrieben, und die konnte sich wahrlich sehen lassen. Zwei große Lederbeutel voller Taler brachten sie zurück zum Hauptsitz der MacDuncans. Vater würde stolz sein, und zwar auf sie beide! Und das war er auch, als sie ihm die Einnahmen wenig später präsentierten.

„Das ist ein guter Tag! Lasst euch was zu essen geben, wir feiern heute die ganze Nacht.“

Am Morgen des nächsten Tages traf ein Reiter auf der alten Trutzburg ein, der sich als Logan MacKinkaid vorstellte und in einer überaus wichtigen Angelegenheit den Chief zu sprechen ersuchte. Einer Angelegenheit, die keinen Aufschub duldete.

Kieran hatte keine Ahnung, was Gegenstand dieser Unterhaltung war. Wenn es um die Geschäfte des Clans ging, war er normalerweise immer zugegen, doch aus irgendeinem Grund durfte er diesmal nicht an der Ratssitzung teilnehmen, die wegen des überraschenden Gastes einberufen worden war. Lester und die anderen Brüder waren bei der Unterhaltung anwesend, wie er am Rande mitbekommen hatte. Kieran verstand nicht, warum sein Vater ihn plötzlich ausschloss. Er fühlte sich wie ein Außenseiter, machte aber gute Miene zum bösen Spiel. Schließlich hatte er mehr als einmal bewiesen, dass er ein wichtiger Teil des Dunhall-Rates war, der sich aus den ranghöchsten männlichen Familienmitgliedern zusammensetzte und eine ähnliche Funktion hatte wie der Großrat des Clans. Während Lester ein Heißsporn war, dessen Lösung für jedes Problem in irgendeiner Art und Weise mit Gewalt zu tun hatte, war Kieran derjenige von ihnen, der gern überlegt vorging, alle Möglichkeiten abwog und somit, ähnlich wie ihr Vater, ein Taktiker war.

Deswegen, das hatte der Chief ihm selbst gesagt, war er ein unverzichtbares Mitglied dieses Rates. Aber unverzichtbar war heute offensichtlich Auslegungssache.

Na gut, er würde schon noch erfahren, worum es ging und was dieser MacKinkaid auf Dunhall zu suchen hatte. Bis dahin vertrieb er sich die Zeit. Gerade jetzt war er im Innenhof und trainierte mit seinem Schwert. Kieran war recht geschickt mit diesem. Seit sie Kinder waren, hatten sie Unterricht in der Kampfeskunst erhalten. Auch hier hatte sich gezeigt, dass Kieran seinen Brüdern in mancher Hinsicht überlegen gewesen war. Schneller und graziler waren seine Bewegungen gewesen. Diese Fähigkeit mochte er jetzt ob seiner hünenhaften Erscheinung verloren haben. Das glich er aus durch fulminante Stärke.

Während er mit Sorge die Wolkendecke beobachtete, die den Himmel über der Küste immer mehr verdunkelte und riesige Schatten über den Innenhof schob, betrat Tom raschen Schrittes den Hof. Noch kein einziger Regentropfen hatte die Erde berührt. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis das Unwetter losging.

„Komm mit“, sagte Tom ernst.

„Ich soll dem Rat jetzt doch beiwohnen?“, wunderte sich Kieran, und Tom nickte nur. Er war merkwürdig wortkarg. Irgendetwas stimmte hier nicht, das spürte Kieran deutlich.

Tom schritt durch den Eingangsbereich von Dunhall Castle und hielt zielstrebig auf die große Halle zu, aus der laut diskutierende Männerstimmen drangen.

Kurz bevor sie die Tür erreichten, drückte Tom ihn plötzlich an die Wand. Was Kieran ein Schmunzeln entlockte, denn der Kleine hatte deutlich weniger Kraft als er und musste sich ziemlich anstrengen, ihn in dieser Position zu halten. Seine dünnen Arme zitterten sogar.

„Ich muss es wissen“, flüsterte er. „Hast du dir irgendetwas zuschulden kommen lassen, als ihr unterwegs wart?“

„Wovon sprichst du?“

„Beantworte meine Frage.“

„Nein, natürlich nicht.“

Tom ließ von ihm ab und blickte sich nervös um. „Ich wusste es“, sagte er.

„Wirft man mir etwas vor?“

Toms Blick streifte den seinen, doch nur ganz kurz, dann sah er wieder weg.

„Raus mit der Sprache, was erwartet mich da drin?“

„Ein wütender MacKinkaid.“

„Ich hatte mit keinem von denen was zu tun.“ Halt! Das stimmte nicht. Lorna war eine MacKinkaid! Ging es um sie?

„Wir müssen da jetzt rein“, sagte Tom ernst und ging weiter. Er drückte die Tür auf, und Kieran folgte ihm irritiert.

„Kieran ist hier“, kündigte Tom schließlich das Offensichtliche an und setzte sich auf die lange Bank. Kieran hielt nach einem Stuhl Ausschau, doch es war kein einziger mehr frei.

Seine Brüder schauten ihn an. Starr und emotionslos. Aber in den Augen von Logan MacKinkaid sah er mehr als das. Zorn. Verachtung. Hass. Schwarze Haare hingen dem Mann aus dem kalten Nordosten ins Gesicht, der markante Kiefer war vorgeschoben. Er erinnerte an einen Raubvogel, der gerade seine Beute erspäht hatte.

Schlimmer als Logans Blick war jedoch der von Vater. Denn in diesem lag weder Wut noch Hass. Dafür aber Enttäuschung, die ihn so viel tiefer traf als alles andere. Kieran drängte jede Verunsicherung zurück. Was immer man ihm vorwarf, es musste ein Irrtum sein.

„Was ist passiert?“, fragte er also mit fester Stimme.

„Machst du dich über mich lustig?“, herrschte ihn Logan an und sprang von seinem Stuhl auf, die Hände zu Fäusten geballt, das Gesicht vor Zorn rot glühend. Es fehlte nicht viel, und er wäre wohl über die Bank gesprungen, um Kieran anzugreifen. Was ein Fehler wäre, ein großer Fehler! Denn Kieran war nicht nur größer, er schätzte auch seine Körperkraft als höher ein. Logan wirkte zwar nicht gerade untrainiert, aber dennoch wie ein gebrochener Mann. Trotzdem wich Kieran zurück. Er wollte nicht noch Öl ins Feuer gießen. Gleich würde sich alles aufklären, und dann war man wieder gut Freund.

„Natürlich nicht, warum sollte ich?“, sagte Kieran ganz ruhig.

„Du weißt, warum du hier bist?“, fragte Vater mit zitternder Stimme. Kieran hatte ihn nie so unruhig und aufgelöst gesehen.

„Nein. Ich habe keine Ahnung.“

„Welch schlechtes Schauspiel. Doch wir wissen längst, was du getan hast“, sagte Logan, noch immer stand er bebend hinter dem Tisch.

Kieran realisierte allmählich, was hier geschah. Es war nicht nur eine Unterhaltung oder gar Aufklärung von irgendeinem Fehlverhalten, das man ihm vorwarf. Er stand vor Gericht!

„Du trägst die Schuld am Tod meiner Schwester Lorna!“, brüllte Logan schließlich.

Kieran hielt den Atem an. Er hatte mit allem Möglichen gerechnet. Irgendeine Kleinigkeit, die schnell aus der Welt zu schaffen war, wegen der man kein Fass aufmachte. Irgendetwas, das in Richtung Beleidigung ging. Oder eine Art von Kompetenzüberschreitung. Das aber ein echtes Verbrechen vorlag, auch noch ein Mord offenbar, damit hätte Kieran nie gerechnet. Doch nicht nur das. Das Opfer war Lorna? Die Frau aus der Taverne, zu der er sich hingezogen gefühlt hatte. Wut packte ihn, aber auch Trauer. Er konnte es nicht glauben!

„Lorna … ist … das kann nicht sein“, stammelte Kieran. Was war das nur für ein Albtraum! Es riss ihm fast den Boden unter den Füßen weg. Sein Herz wurde kalt, als hätte jemand wie bei einer Kerze einfach das Licht ausgepustet.

„Du warst zuletzt bei ihr. Danach fand man sie in Loch Armas“, fuhr Logan fort.

„Ich war nicht zuletzt bei ihr, ich … war bei Lester …“

„Du leugnest es? Es gibt Beweise.“

„Lester und ich verbrachten den Abend mit ihr, das ist wahr. Aber danach zog sie sich in den Stall zurück und wir uns auf unser Zimmer.“

„Ich befragte den Wirt, denn ich wollte mich mit ihr in der Taverne treffen. Er erzählte, dass du ständig bei ihr warst, selbst als sie die Taverne verließ, um allein zu sein, bist du ihr nachgegangen. Er sagte, du hättest sie nicht in Ruhe gelassen. Es sei offenkundig gewesen, welcher Art Interesse du an ihr gehabt hättest. Im Stall mag sie gewesen sein, um dort zu nächtigen, doch am nächsten Morgen zahlte sie ihre Rechnung nicht und war auf und davon, das Pferd jedoch noch im Stallhaus. Der Wirt ahnte, dass etwas vorgefallen war. Doch erst am Mittag wurde sie gefunden. In Loch Armas. Sie hatte eine schwere Wunde am Kopf.“

Die Worte erschütterten Kieran tief.

„Das ist furchtbar, glaub mir, Logan, es tut mir sehr leid. Ich verspüre großen Zorn auf den Täter. Aber ich war es nicht. Ja, wir saßen am selben Tisch und unterhielten uns draußen, aber ich bedrängte sie kein einziges Mal! Im Gegenteil, sie suchte den Kontakt zu uns. Ich weiß nicht, was dieser Wirt gesehen haben will! Es waren viele Männer an diesem Abend dort. Jeder könnte sich in den Stall geschlichen haben. Lester, sag ihnen, wie es wirklich war. Ich kam der jungen Frau in keiner Weise zu nahe. Schon gar nicht nachts. Ich war in unserem Zimmer. Lester kann es bezeugen!“

„Was ziehst du mich da mit rein? Ich habe geschlafen. Außerdem sagte ich dir doch am Abend zuvor, Weiber bringen nur Schwierigkeiten! Lass sie einfach in Ruhe. Aber du konntest nicht aufhören, sie anzustarren. Das war widerlich.“

„Lester … warum sagst du das?“ Kein Wort davon stimmte! „Vater, ich bitte dich, ich habe niemandem etwas getan. Glaube mir.“

Aber der Chief schwieg, er schaute Kieran nicht einmal an. „Lester, nun sprich schon. War Kieran die ganze Zeit in eurem Zimmer?“, forderte Malcolm schließlich doch.

Lester senkte den Blick. „Nein“, sagte er. „Das war er nicht. Er verließ es mitten in der Nacht.“

Das war eine glatte Lüge! Fassunslos schüttelte Kieran den Kopf.

„Das ist nicht wahr!“, rief er wütend. „Lester, warum erzählst du diese Geschichten? Ich verstehe das nicht.“

Lester ignorierte seine Einwände. Aber er versuchte absichtlich, die Schuld auf Kieran zu lenken. Das konnte im Umkehrschluss nur eines bedeuten … Mein Gott, verstand denn niemand, was hier wirklich geschah?

„Ich sage euch, wie es war. Schenkt mir Gehör!“, forderte Kieran vehement, denn Lesters Manöver waren so durchsichtig, dass es doch eigentlich jeder hier im Raum merken sollte. Er musste zu Lorna gegangen sein! Er war die ganze Zeit hinter ihr her gewesen, hatte sie mit seinen Blicken fast ausgezogen. Was auch immer dann geschehen war, es hatte mit ihrem Tod geendet.

„Was hast du da für einen Dolch?“, unterbrach Logan ihn barsch und deutete auf die Stichwaffe an seinem Gurt.

Kieran seufzte, löste den Dolch und gab ihn dem MacKinkaid. „Er war ein Geschenk von Lorna“, erklärte er.

„Ein Geschenk?“

„Sie übergab ihn mir in der Taverne, weil wir uns gut verstanden. Das allein sollte dir zeigen, dass ich nicht der Mann bin, der ihr etwas antat.“

„Ist das so?“ Er musterte den Dolch. „Ich erkenne in den Schmuckelementen ihre Handschrift. Sie wollte diese verzierten Stichwaffen auf den Märkten verkaufen. Und das sagt mir, sie hätte diese wertvolle Ware nicht einfach so verschenkt“, entgegnete Logan. „Schon gar nicht an einen Bastard.“

Wütend kniff Kieran die Augen zusammen. „Gerade einem Bastard hätte jemand wie Lorna ein solches Geschenk gemacht.“ Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Und da wusste Kieran, Logan kannte Lornas Geheimnis um die uneheliche Tochter.

„Sie hat dir gar nichts geschenkt, dich nicht einmal angesehen, was dich wütend machte. Sehr wütend sogar. Ich musste dich beruhigen. Ich sage euch ehrlich, Kieran ist sonst ein guter Kerl. Aber diese Frau hat etwas in ihm geweckt, von dem wir alle nichts wussten“, behauptete Lester dreist.

Kieran blieb die Luft weg. Sein Bruder log immer weiter und ritt ihn tiefer und tiefer in die Scheiße! Dieser dreckige Hund! „Hör auf, oder ich stopfe dir das Maul!“, rief Kieran voller Zorn.

„Seht ihr, was habe ich euch gesagt?“

Bebend stand Kieran vor Lester, dem Verräter. Diesem miesen Stück, das ihm Bruderliebe vorgespielt hatte! Wie lächerlich er sich jetzt vorkam, weil er es ihm auch noch abgenommen hatte. Dabei war es offensichtlich, dass es nur einen Grund gab, warum er diese Scharade aufführte!

„Ich kann in jedem Fall bestätigen, das ist einer der Dolche meiner Schwester. Man erkennt sie an dieser Schlaufe“, erklärte Logan und reichte auch dem Chief die Waffe.

„Hör mich an, Vater. Ich sage die Wahrheit. Du weißt, dass auf mein Wort immer Verlass war. Ich habe niemandem etwas angetan. Das könnte ich nicht. Es ist nicht meine Natur, Probleme mit Gewalt zu lösen. Es gibt Menschen, die dazu neigen, das weißt du selbst am besten.“ Er warf einen verächtlichen Blick zu Lester, dann fuhr er fort: „Es ist wahr, dass ich Lorna zugetan war. Aber ich war in dieser Nacht nicht bei ihr, jemand anderes war es. Jemand, der die Schuld auf mich zu schieben versucht, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Was wirklich geschah, das weiß ich nicht. Aber ich versichere dir und allen hier im Raum, dass ich Lorna kein Haar krümmte. Ich würde niemals einer Frau etwas antun oder sie gar zu irgendetwas zwingen. Vertraue mir nur noch dieses eine Mal, Vater“, redete Kieran eindringlich auf den Chief ein.

Er musste Vater einfach überzeugen! Vater und er hatten seit jeher eine besondere Verbindung gehabt, deswegen war er ja auch sein Lieblingssohn. Es hatte ihm nie an etwas gemangelt. Seine Fähigkeiten, seine Klugheit und Besonnenheit hatten den Chief immer beeindruckt. Lester hingegen war durch seinen Heißsporn und unvernünftiges Verhalten aufgefallen. „Wenn ich daran denke, dass er eines Tages auf dem Thron sitzt, wachsen mir graue Haare“, hatte Malcolm mehr als einmal gesagt. Und dann hatte er Kieran auf eine Weise angesehen, die mehr als deutlich gesagt hatte: Ich wünschte, du wärst mein rechtmäßiger Erbe.

Ihr Verhältnis war eng und von Vertrauen geprägt gewesen. Er musste ihm jetzt einfach glauben, denn es stand viel auf dem Spiel. Zu viel.

Malcolm schaute ihn an. Traurigkeit lag in den alten Augen des Mannes, der Kieran großgezogen hatte. Er wirkte erschöpft und unendlich müde. Ohne ein Wort legte er den Dolch auf den Tisch zurück. Er glaubte ihm nicht, das sah Kieran seinem Vater an.

„Ich habe niemanden getötet!“, platzte es erneut aus ihm heraus, doch er sprach gegen Wände. „Lester ging zu ihr, nur so kann es gewesen sein. Deswegen versucht er, es mir anzuhängen!“ Kieran hatte nachts das Knarren der Tür gehört. Lester hatte den Raum wohl verlassen, und was dann geschehen war, das wussten nur die Sterne.

„Nur ein feiger Mann tötet eine wehrlose Frau. Und nur ein feiger Mann versucht, die Tat auf einen anderen zu schieben“, sagte Logan kühl.

O ja! Das stimmte Wort für Wort. Nur war Kieran nicht der Täter! „Ich hätte Lorna nie angefasst, ihr nie wehgetan!“

„Schweig! Ich will nichts mehr von dir hören, nichts von dir sehen, bis du morgen am Galgen baumelst!“, brüllte Malcolm. Seine Stimme klang heiser, zitterte sogar. Sein Blick war nervös und unwirsch, er konnte Kieran nicht in die Augen sehen.

Die Worte seines Vaters löschten den letzten Funken Hoffnung in ihm! Nicht nur, dass sein eigener Bruder ihn hintergangen hatte und man Kieran kein Wort glaubte, ihm nicht einmal zuhörte, jetzt hatte sein Vater auch noch das schwerste aller Urteile über ihn gefällt.

Er erkannte diesen Mann nicht wieder. War das Dummheit, weil er etwas so Offensichtliches nicht durchschaute? Oder wollte er es nicht durchschauen? Wie konnte der Chief ihn nur einfach so aufgeben?

Fassungslos sank Kieran auf die Knie. Dieser Verrat war schlimmer als das Urteil selbst. Er hatte geglaubt, Vater würde ihn lieben, ihn anerkennen, wie die anderen Söhne auch. Er hatte sich dazugehörig gefühlt, ihm beweisen wollen, dass er auf ihn zählen, sich auf ihn verlassen konnte. Aber wie stand es umgekehrt?

Kieran schloss gequält die Augen. All die schönen Worte in all den Jahren waren bedeutungslos geworden. Daher gesagt, weil sie wohl geklungen hatten. Doch im Moment der Not, wo er seinen Vater wirklich gebraucht hätte, wandte dieser sich ab. Er glaubte Lester, nicht ihm, obwohl Lester oft genug gezeigt hatte, dass er eine Schlange war.

„Bringt ihn in den Kerker“, sagte der Chief. Schon standen zwei Wachen neben Kieran! Man griff ihn an den Armen und zog ihn hoch. Dann führte man ihn ab. Kieran wehrte sich nicht, suchte aber ein letztes Mal den Blick seines Vaters. Vergebens.

*

Als Kieran wieder zu sich kam, stand Tom vor den Gitterstäben der einfachen Kerkerzelle und blickte auf ihn herab. Im Licht der wenigen Fackeln wirkte der Halbbruder wie ein Dämon. Und im ersten Augenblick war sich Kieran nicht sicher, ob er nicht ein solcher war.

Sein Kopf schmerzte höllisch. Sie hatten ihn einfach in die Zelle geworfen, wo er ungünstig aufgekommen war. Die Gnade der Dunkelheit hatte ihn daraufhin heimgesucht.

„Komm hoch“, zischte Tom. „Wir haben nicht viel Zeit.“

Kieran fuhr sich benommen über die Schläfen. Morgen würden sie ihn in den Innenhof führen, ihm den Strick um den Hals legen und …

„Mach hin, krieg deinen Hintern hoch.“

„Was soll das alles?“, fragte Kieran irritiert und zog sich an den Gittern hoch. „Was willst du von mir?“

„Was glaubst du, warum ich hier bin?“

„Ich habe nicht die geringste Ahnung.“ In dieser Familie konnte man niemandem trauen. Diese Lektion hatte Kieran nun gelernt. „Vielleicht willst du dich verabschieden? Oder dein Gewissen erleichtern?“

Tom wusste ja, dass er unschuldig war. Er hatte ihn vor der Verhandlung gefragt, und Kieran hatte ihm die Wahrheit gesagt. Doch eingeschritten war auch Tom nicht. Er hatte ebenso wie alle anderen Kierans Unschuldsbeteuerungen ignoriert.

„Habe ich einen Grund dazu?“

„Die werden mich morgen hängen“, knurrte er. Seine eigene Familie wollte seinen Tod! Nahm ihn zumindest in Kauf. Das war unvorstellbar! Dabei hätte Kieran sein Leben für jeden von ihnen gegeben, wenn sie in Not gewesen wären. Es tat weh, nun die Wahrheit vor Augen geführt zu bekommen, dass er nie einer von ihnen gewesen war.

„Ich weiß, deswegen kommst du jetzt mit.“ Tom zog einen verrosteten Bund von Schlüsseln aus seiner Tasche und öffnete die Zellentür. Kieran starrte ungläubig auf die sich geschwind bewegenden Hände des Jünglings.

„Was … tust du da?“

„Wonach sieht es denn aus?“

Kieran verstand gar nichts mehr. „Du willst mich befreien?“

„Du bist heute ein wenig langsam, oder? Die haben dir wohl einen Schlag zu viel auf den Kopf gegeben!“

Kieran fuhr sich erneut über die Stirn und spürte eine dicke Beule an der Schläfe sowie verkrustetes Blut. Quietschend ging die Tür auf. Aber das mussten die Wachen doch mitkriegen? Wieso kam niemand? Tom packte ihn ungeduldig am Arm und zog ihn hinter sich her.

„Wo sind die Wachmänner?“

„Die haben ein bisschen zu viel Wein intus.“ Er zwinkerte ihm zu. „Zieh den Umhang über.“ Tom hatte ein Stoffbündel auf der steineren Treppe platziert und reichte es ihm nun. Kieran schlüpfte rasch in das Gewand und zog die Kapuze über den Kopf. Tom trug ein ähnliches Kleidungsstück.

„Wir müssen zur Küste.“

„Zur Küste?“ Wie sollten sie denn ungesehen die Burgmauern passieren?

„Vertrau mir.“

Tom winkte Kieran mit sich. Im Schatten der Steinmauern schlichen sie bis zu der kleinen Burgkapelle, die um diese Uhrzeit leer stand.

„Hilf mir mal“, sagte Tom und hantierte an der dreiteiligen Relieftafel hinter dem Altar herum.

„Was machst du denn da?“, wunderte sich Kieran, doch kaum hatte er Tom erreicht, klappte dieser plötzlich das mittlere Bild auf, und ein Gang wurde dahinter sichtbar. Er schnappte sich eine der Fackeln, die an der Wand hingen und leuchtete ins Dunkel hinein.

„Vater wünschte, dass ich Kleriker werde. Wie du weißt, habe ich die Ausbildung bei unserem ehemaligen Priester nicht beendet, bevor er weiterzog. Aber diesen Geheimgang habe ich damals trotzdem entdeckt.“

„Wo führt der denn hin?“

„Nach draußen natürlich. Komm.“

Tom kletterte hinein, der Gang war nicht groß genug, um aufrecht zu stehen, also mussten sie kriechen. Kieran verschloss das Bild hinter sich, dann folgte er Tom. Schon bald wurde der Gang breiter, und eine aufrechte Haltung war wieder möglich.

„Ich hatte keine Ahnung, dass das alles hier existiert“, sagte Kieran überrascht.

„Da bist du nicht der Einzige. Die Wenigsten wissen hiervon, aber keiner von denen lebt auf Dunhall.“

Ein Stück weit führte der Gang in die Tiefe. Unebene Bruchsteintreppen wiesen ihnen den Weg. Wahrscheinlich war das ein alter Fluchtweg, den die Erbauer eingefügt hatten, falls es mal zu einer Burgbelagerung kam.

Schließlich erspähte Kieran ein Licht in der Ferne.

Es war der Mond, der hinter einer dunklen Wolke hervorlugte.

Unglaublich, er hätte nie gedacht, ihn jemals wiederzusehen. Jetzt standen sie ein Stück weit vor der Burg an einem Hang, und Kieran spürte den kühlen Nachtwind auf der erhitzten Haut. Ein wunderbares Gefühl. Fast vergaß er für einen Moment, dass er auf der Flucht war, bis ihm einfiel, dass die Wachen jederzeit die leere Zelle bemerken konnten.

„Und jetzt? Was hast du dir überlegt?“ Tom hatte ja die Küste erwähnt. Wie es von dort weitergehen sollte – ein Rätsel. Aber er war schon für diesen kurzen Moment in Freiheit so dankbar, dass ihm fast die Tränen kamen.

„Mir nach.“

Der jüngere Bruder stürmte voran, in Richtung des rauschenden Meeres, immer weiter auf die Küste zu und dann an dieser entlang, und Kieran hinterher, bis er in nicht allzu weiter Ferne ein Pferd entdeckte, das nervös hin und her trappelte. Das Unwetter hatte inzwischen mächtig getobt, davon hatte Kieran im Kerker nichts mitbekommen, jetzt allerdings sah er die peitschenden Wellen. Und noch immer bedeckten dunkle Wolken den Himmel, verschluckten das Sternenmeer. Es war eine dunkle Zeit, an einem dunklen Ort.

„Du riskierst viel, um mir bei der Flucht zu helfen“, sagte Kieran und schnaufte, als sie endlich das Ross erreichten. Es war gezäumt und gesattelt, angebunden, an einem dünnen Bäumchen, das unter den Stürmen zu brechen drohte.

„Warum tust du das?“, hakte Kieran nach, weil Tom ihm eine Antwort schuldig geblieben war.

„Das weißt du doch.“

Kieran hatte den Knirps immer beschützt, von klein auf. Insbesondere, wenn Lester sich an ihm hatte austoben wollen, bei einem seiner berüchtigten Wutanfälle. Doch es steckte noch mehr dahinter. Ein Geheimnis, das sie teilten. Kieran hatte eisern geschwiegen. Es war eine Sache der Ehre.

„Du hast mich nie verraten“, sagte Tom auch schon. „Das mit mir und Kelvin, meine ich.“

Vor zwei Sommern hatte er die beiden jungen Männer im Wald erwischt, als er auf der Jagd gewesen war. Zwischen Sträuchern und Blätterwerk waren sie einander sehr zugetan gewesen. Zärtliche Berührungen, sanfte Küsse. Dann der Schrecken, weil Kieran sie gesehen hatte. Doch er hatte versprochen, nie ein Wort darüber zu verlieren, schon gar nicht ihrem Vater oder den Brüdern gegenüber. Er hatte Wort gehalten.

Tom blickte auf das Meer hinaus. Die Wellen wurden vom aufkeimenden Sturm angetrieben, schlugen hoch und warfen die Gicht an die steilen Felswände.

„Du weißt, was geschehen wäre, wenn sie es herausgefunden hätten?“

Man hätte Kelvin wohl gehängt und Tom in ein Kloster geschickt.

Doch bevor er antworten konnte, sprach Tom weiter. „Ich konnte nicht zusehen, wie dir Unrecht geschieht. Du warst von allen immer derjenige, der ohne Wenn und Aber für mich da war, dem ich vertrauen konnte, egal, worum es ging“, sagte Tom, ohne ihn anzusehen. Ein Lächeln umspielte dessen Lippen.

Kieran legte die Hand auf Toms Schulter. „Du bist der Einzige, der an meine Unschuld glaubt. Dafür danke ich dir.“

„Ich danke dir. Ein Leben ohne Kelvin wäre kein Leben. Er hat auch geholfen, deine Flucht zu organisieren. Bei den Wachen ist er beliebt. Die ahnen natürlich nichts von unseren Gefühlen füreinander. Aber er hatte noch den einen oder anderen Gefallen bei ihnen offen, weswegen sie keine Fragen stellten. Und die restlichen Kerle haben wir mit Wein gefügig gemacht.“

Kieran nickte ernst. Ein guter Plan, bis hierhin. Aber was kam danach?

„Ich weiß, dass Lester hinter allem steckt“, fuhr Tom fort. „Vater weiß es auch. Ich denke, er hat es bereits zuvor geahnt. Ich hörte sie nach deiner Verhandlung darüber reden. Lester gestand ihm unter vier Augen, dass er das Mädchen tötete“, sagte Tom bitter. „Er lockte Lorna aus dem Stall, verschwand mit ihr im Grünen, doch sie verweigerte sich ihm. Da schlug er zu und ließ sie in Loch Armas verschwinden. Natürlich war er zu dumm, die Leiche mit Gewichten zu beschweren und zu versenken.“ Tom lachte bitter. „Lester ist für alle eine Gefahr. Für sich selbst und die Zukunft unserer Clans. Alle wissen das, aber niemand sagt etwas. Stattdessen bleiben Vater und er bei der Geschichte, die sie Logan MacKinkaid aufgetischt hatten.“

Das war die größte Enttäuschung von allen. Vom Lieblingssohn zum Sündenbock. Aber warum, verdammt?

„Ich kann das nicht glauben“, sagte Kieran mit erstickter Stimme. „Vater würde mich nicht hintergehen. Nicht so, wie du es gerade schilderst.“

„Du darfst Vater keinen Vorwurf machen.“

„Das soll wohl ein Scherz sein. Wem, wenn nicht ihm, sofern es wahr ist, was du gerade sagtest?“

„Es ist wahr, Kieran, so leid es mir tut.“

„Er hat sich also gegen mich entschieden. Dabei hätte er sich genauso für die Wahrheit entscheiden können. Nein, müssen! Insbesondere, nachdem Lester ihm gegenüber alles gestanden hat. Das ist es, was einen guten Chief ausmacht. Er lässt niemanden ins offene Messer rennen, schon gar keinen Unschuldigen.“

„Du verstehst das große Ganze nicht.“

„Ach nein?“

„Versetz dich in seine Lage. Lorna ist nicht irgendwer, sie ist eine MacKinkaid. Und ihr Bruder Logan hat einen hohen Rang innerhalb des Clans.“

Tom blickte immer noch starr aufs Meer hinaus, während sich die Gedanken in Kierans Kopf überschlugen und er noch mal alles rekapitulierte. Auf ihrem Heimweg hatte sich Lester merkwürdig verhalten. Nervös, unruhig. Als stimmte etwas nicht. Kieran hätte die Zeichen wohl erkennen können, wenn er gewollt hätte. Aber nach all den Jahren war Lester ihm ein guter Bruder geworden, so dass er die Wahrheit nicht hatte sehen wollen. Ja, das war der Teil an Schuld, den er zu tragen hatte. Nur das, nicht mehr.

Der Himmel fing an zu weinen. Mit einem Platsch schlug ein Regentropfen auf Kierans Stirn auf. Das Gewicht des Tropfens erschien ihm unendlich schwer und der Aufprall viel härter als jeder Schlag, den er zuvor hatte einstecken müssen.

„Logan befragte die Leute vor Ort, den Wirt, ein paar Gäste, und alle sagten einhellig, dass ihr am Abend zuvor mit ihr zusammen wart. Lester und du, der Erstgeborene und der Bastard des Chiefs. Einer von euch sah sie zuletzt, einer von euch war bei ihr, als es geschah. Einer erhob die Hand gegen sie.“ Allein bei dem Gedanken, dass Lorna Gewalt angetan worden war, ballten sich Kierans Hände zu Fäusten. Am liebsten wollte er direkt umkehren und Lester die Seele aus dem Leib prügeln.

„Lorna MacKinkaid ist tot. Ermordet. Von einem MacDuncan. Eben mit diesen MacKinkaids herrscht Frieden, wo zuvor Blut vergossen worden war. Ein Frieden, den beide Seiten ersehnt haben, der aber auf wackeligen Beinen stand und steht. Schlimm genug, dass Logans Spur ausgerechnet nach Dunhall Castle führte. Und umso schlimmer wäre es wohl, wenn herausgekommen wäre, dass der älteste Sohn des Chiefs seine Hände im Spiel hatte. Der Erbe des Throns, der Mann, der Chief Malcolm einst ablösen wird. Das würde zu diplomatischen Verwerfungen führen. Oder zum Krieg. Ich nehme an, dir ist nun die Tragweite des Ganzen bewusst“, sagte Tom.

„Ich fürchte, ja. Schieben wir es doch einfach auf den Bastard! Der taugt ja sowieso nichts, und einen Mord traut man ihm auch zu, was?“, platzte es voller Wut aus Kieran heraus. Er war verletzt, dass sein Bruder tatsächlich bereit war, ihn zu opfern, um seine eigene Haut zu retten, anstatt Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Und ihr Vater stand hinter Lester. Er war bereit, Kieran aufzuhängen! Die Wut wurde stärker, der Hass ebenso. Wohin nur mit all diesen Gefühlen?

„Denk nicht an Rache“, sagte Tom und sah ihn ernst an.

„Du kennst mich gut.“

„Damit würdest du alles nur noch schlimmer machen.“

„Soll ich zusehen, wie sie meinen Ruf zerstören? Mich als Mörder brandmarken? Jeder wird davon erfahren. Ein Frauenmörder, ein Bastard. Sie nehmen mir alles. Alles, was ich mir erkämpft und erarbeitet habe. Wozu? Um unseren Thronerben zu schützen.“

„Es geht weniger um Lesters Erbe, sondern um den Frieden, der brechen würde, wenn herauskäme, dass er Lorna getötet hat. Seine Tat wiegt schwerer, sie könnte unsere Clans in eine Katastrophe führen.“

Wütend stemmte Kieran die Hände in die Seiten.

„Lass die Sache ruhen. Ich bitte dich. Man wird es mit der Zeit vergessen. Und du fängst einfach irgendwo neu an. Unter einem anderen Namen. Gründe eine Familie im Süden oder wo es dir gefällt.“

„Ich soll alles aufgeben, verdammt?“

„Du erhältst dadurch den Frieden, deinen eigenen und den in unseren Landen. Um Frieden zu erreichen, müssen wir Opfer bringen. Das hat Vater immer gesagt.“

„Ich hielt ihn einst für einen weisen Mann und dies für weise Worte, aber jetzt erkenne ich nur noch Dummheit darin.“

„Dir wurde übel mitgespielt. Der Preis, den du zahlen musst, ist hoch. Aber wie hoch ist er erst für all die unschuldigen Frauen und Kinder in den Dörfern, die durch unsinnige Schlachten ihre Häuser und auch ihre Leben verlieren würden?“

Kieran beruhigte sich etwas. Sein Rachedurst war nicht gestillt, aber zumindest gedämpft. Natürlich wollte Kieran nicht, dass all die hilflosen Menschen im Lande der MacDuncans und MacKinkaids die Suppe auslöffeln mussten. Aber alles einfach auf sich beruhen lassen? Konnte er das? Verdammt. Er musste es wohl, da hatte Tom recht.

Er war ein guter Junge, hatte das Herz am rechten Fleck. Und er hatte sich durch diesen ganzen Schlamassel selbst in Gefahr gebracht, denn morgen früh würden sie merken, dass Kieran weg war.

„Was willst du denen erzählen, was passiert ist?“

„Die Wache fand dich in deiner Zelle. Der schwarze Tod raffte dich dahin. Die Berichte über die sich häufenden Vorfälle in den Lowlands werden dies stützen. Einige Tote soll es ja sogar auch schon bei uns im Norden gegeben haben, und wer weiß, mit wem du auf deinen Reisen in Kontakt gekommen warst. Niemand wird deine Leiche ernsthaft untersuchen wollen. Du weißt selbst, wie sehr sie die Ansteckung fürchten. Und Logan wird es als Strafe für deine Sünden sehen. Die MacKinkaids sind vielleicht nicht die Gläubigsten im Land, aber sie fürchten den schwarzen Tod wie jeder andere.“

„Also gut, aber soweit ich weiß, sperren sie die Kranken in Häuser und belassen sie unter sich. Sie sterben nicht innerhalb weniger Tage, sondern siechen dahin. Wie willst du dieses plötzliche Dahinscheiden von mir glaubwürdig machen?“

„Es ist unklar, wann genau du dich infiziert hast und wo. Sie werden kaum Nachforschungen anstellen, sondern so wenig wie möglich mit dieser Angelegenheit zu tun haben wollen, den Kerker einfach ausräuchern und sich fernhalten von deinem Gemach und allen Dingen, die dir gehörten. Des Weiteren werde ich erklären, dass du schon vor Aufbruch deiner Reise Fieber hattest. Und in der feuchten Zelle ging es dann alles doch recht schnell.“

„Na ja, da mein Tod allen recht sein wird, werden sie es wohl glauben. Und wo ist meine Leiche, wenn ich fragen darf?“

„Aufgrund der Ansteckungsgefahr und des mächtigen Gestanks hatten Kelvin und ich keine andere Wahl, als dich in Tücher zu hüllen und mit Steinen beschwert die Klippe hinab ins Meer zu werfen.“

„Dort würde man mich nie finden.“

„Richtig. Du brauchst also keine Verfolgung zu fürchten. Sie werden glauben, dein Körper läge am Grund des Meeres. Weit weg von ihnen, was natürlich das Wichtigste in ihren Augen ist.“

„Und dennoch werden sie mich für schuldig halten, obwohl ich nichts getan habe.“

Er spürte, wie in ihm nach wie vor der Wunsch nach Vergeltung brodelte.

„Kelvin und ich riskieren viel. Das ist dir hoffentlich klar. Wenn du auf dumme Ideen kommst, man dich irgendwo in unserer Gegend sieht, dann werden sie wissen, dass wir gelogen haben. Lass dir also nicht einfallen, je wieder einen Fuß nach Dunhall Castle zu setzen.“

Kieran nickte. Er verstand Toms Sorge. Es schmeckte ihm nur nicht, dass man in ihm für immer den Schuldigen sehen würde. Viel lieber würde er Lester den Hals eigenhändig umdrehen.

„Nimm das Pferd und das hier auch.“ Tom reichte ihm einen kleinen Geldbeutel und ein Schwert. Zu guter Letzt gab er ihm Lornas Dolch. „Mit all dem solltest du eine Weile über die Runden kommen.“

„Wo hast du den her?“, fragte Kieran und musterte den Dolch mit der Schlaufe und den feinen Verzierungen.

„Ich bin manchmal ein Langfinger, wie dir vielleicht aufgefallen ist. Der Dolch gehört dir, er war ein Geschenk. Und er wird dich daran erinnern, dass du dich nicht versündigt hast.“ Tom lächelte.

Kieran sah ein, er hatte keine andere Wahl. Vielleicht war dies die Aufgabe in seinem Leben! Er erinnerte sich an die Worte seines Vaters. Sie seien ein Rudel Wölfe. Und Kieran müsse dort erst noch seinen Platz finden. Womöglich war dies gerade geschehen. Ein Bastard konnte keine hohe Stellung einnehmen, er würde nie Chief oder Chieftain sein. Aber er konnte all die Menschen schützen, die jetzt gerade nicht einmal ahnten, was tatsächlich hinter den Mauern von Dunhall vor sich ging.

„Danke, Tom, für alles.“ Er umarmte seinen kleinen Bruder und löste die Zügel, saß auf und ritt los.

*

Herrscher der Highlands - Die Braut des Rächers

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