Читать книгу Zuletzt die Ameisen - Cati Dorn - Страница 3

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Kapitel 1

Schortie erwachte, seiner Meinung nach sehr früh. Die Solarzelle seines Weckers arbeitete wieder und zeigte 4.30 Uhr. Eigentlich sollte sie den Akku laden, aber der funktionierte seit zwei Jahren nicht mehr und so blieb die Uhr bei Sonnenuntergang regelmäßig stehen und ging bei Sonnenaufgang wieder an. Er blieb noch eine Weile liegen und dachte darüber nach, wie spät es nun wirklich war. Die Sonne war gerade über den Dächern von Schöneweide aufgegangen, also musste es noch sehr früh sein. Er überlegte, was er mit diesem Tag anfangen sollte. Er hätte gerne mal wieder ein Buch gelesen. Schortie nahm an, dass er nicht dumm war, aber genau das hielt er auch für sein größtes Problem. Die meisten anderen Bewohner des Ghettos legten nicht allzu viel Wert auf Bücher, die dachten nur ans Überleben und hatten keine Zeit sich mit solchen trivialen Beschäftigungen, wie Lesen abzugeben. Die meisten konnten nicht einmal schreiben. Aber Schortie sehnte sich danach mal wieder ein gutes Buch zu lesen. Seit 20 Jahren gab es nur noch digitale Bücher. Es gab zwar eine Zeit lang noch ein paar kleine private Druckereien, aber vor zehn Jahren hatte die letzte dichtgemacht und was es noch so in den zahlreichen Kramläden zu kaufen gab, war nicht der Rede wert, die meisten Bücher hatte man schon zum heizen verwendet. Einige religiöse Händler hatten zumindest die Bibel aufgehoben, aber die hatte er schon mehrmals gelesen, da nichts anderes zu kriegen war und er wenigstens irgend etwas lesen wollte. Er überlegte, ob es heute Strom geben würde, aber er bezweifelte es. Seit einer Woche passierte in der Hinsicht gar nichts mehr. Also, dachte er, was nutzen Hunderte auf dem Computer gespeicherte Bücher, wenn man sie doch nicht lesen kann. Noch vor 15 Jahren war das alles kein Problem. Er hatte einen Job und genügend Geld um sich eine Wohnung in der Innenstadt zu leisten. Es gab sauberes fließendes Wasser, eine Heizung und natürlich Strom. Aber vor acht Jahren hatte die letzte Firma dicht gemacht. Infolge der Rohstoffknappheit war sie nicht mehr lebensfähig. So war es in ganz Deutschland und es hatte gar keinen Sinn woanders hinzuziehen. Immerhin, er hatte eine eigene Wohnung. Als die Stadt Schöneweide aufgekauft hatte, war er einer der ersten Arbeitslosen gewesen, die hierher verfrachtet wurden. Bloß raus aus den Enklaven der Reichen. Er betrachtete die Schimmelflecken an der Decke. Sie sind größer geworden dachte er, die Familie über ihm hatte diesen Winter nichts zum Heizen gefunden. Das Haus ist wie eine Tropfsteinhöhle dachte er. In ganz Schöneweide gab es vermutlich keine Bäume mehr. Früher wurden die noch von Parkwächtern bewacht, aber jetzt gab es nichts mehr zu bewachen und damit auch keine Parkwächter mehr. Die Stadt musste sparen. Wozu auch auf die Bäume aufpassen, Klimagipfel gab es schon lange keine mehr und ohne Erdöl keine Luftverschmutzung. Was machen da ein paar Bäume mehr oder weniger aus. Es war noch ziemlich kalt im Raum, er vermutete, dass es Mitte April sein könnte, die Sonne stand am Tage schon ziemlich hoch. Nicht, dass das eine Rolle gespielt hätte. Ein Tag war wie der andere und mit 45 Jahren hatte man eh nicht mehr viel vom Leben zu erwarten. Er dachte an Telma, die unter ihm gewohnt hatte. Der Arzt kam nur einmal im Monat in dieses Viertel, da war Telma schon an einer Zahnvereiterung zu Grunde gegangen. Vermutlich Blutvergiftung. Komisch nur, dass, obwohl ihr der Eiter aus dem Mund lief, Telma keinerlei Emotionen zeigte. Sie hätte eigentlich vor Schmerzen schreien müssen. Ja Alter, bloß nicht krank werden, dachte er. Scheiße, das wird schwierig, ich habe keine Chlortabletten mehr. Er hatte sie aus einem aufgegebenen Poolladen mitgehen lassen. Der ehemalige Besitzer hatte den Laden einfach geschlossen und die Chemikalien zurückgelassen. Die anderen Bewohner des Gettos hatten anscheinend keine Verwendung dafür gehabt, so konnte er sich nach und nach alle Büchsen holen. Er war früher in der Schule in Naturwissenschaften sehr gut gewesen, soweit man das in dieser Situation sein konnte. In seiner Klasse waren 45 Schüler, die sowieso keine Lust hatten etwas zu lernen. Die Lehrer waren völlig überfordert. Seit der Rohstoffknappheit gab es die Pille nur noch zu Horrorpreisen und die Geburtenrate stieg derzeit rapide. Ihm machte das Lernen Spaß und das zahlte sich jetzt aus. Er war in den letzten zehn Jahren nicht einmal krank gewesen und auch nicht von eiternden Geschwüren bedeckt, wie viele andere Einwohner des Gettos. Er hatte da so seine Mittelchen im Petto. Aber jetzt war sein Chlorvorrat zu Ende. Mist dachte er, jetzt habe ich nur noch etwas gegen Algen, das hilft mir nicht wirklich weiter. Ihn schüttelte es bei dem Gedanken an die rostbraune Brühe die täglich aus der Leitung kam. Aber irgendetwas muss man ja trinken. Ich könnte das Wasser destillieren, dachte er, aber das kann man nicht dauerhaft trinken. Ich muss noch einmal in den Laden. Ich glaube dort liegen noch einige Säcke Filtersand. Wenn ich das Wasser nach dem destillieren da durchgieße, müssten eigentlich einige Mineralien drin bleiben. Er sah aus dem Fenster. Gut, dass ich noch intakte Glasscheiben habe. Er sah den Lebensmittelwagen kommen. Oh, wir werden gut versorgt haha. Vor fünfzehn Jahren, als es noch regelmäßig Strom gab, hatte er in der Internetzeitung einen Artikel über genmanipuliertes Obst, Gemüse und Fleisch gelesen. In Amerika gab es nichts anderes mehr. Als in Deutschland die Lebensmittel knapp wurden, wurde dieses Zeug aus Amerika importiert und zu Dumpingpreisen verkauft. Nachdem abzusehen war, dass der Verkehr weltweit zusammenbrechen würde, wurden diese Lebensmittel auch in Deutschland produziert. Etwas anderes konnte auf dem ausgelaugten Boden sowieso nicht angebaut werden, deshalb waren jetzt alle Lebensmittel genverändert. Wir sind alle Teilnehmer an einer großen Langzeitstudie über die Verträglichkeit von Genkost, nur dass keiner mehr die Ergebnisse auswerten wird dachte er. Auf die Proteste der Bevölkerung hin, die damals noch dachten, sie würden normales Gemüse essen, wurden die Genfabriken nach außerhalb der Städte, in wenig bewohnte Gebiete verlegt. Schortie betrachtete seine Gartenecke. Jeder freie Platz im Zimmer war mit Blumenkübeln zugestellt. Nur, dass hier keine Blumen wuchsen, sondern diverse Sorten Gemüse. Ich bin nicht Teil der Studie, dachte er, ich esse nur unveränderte Nahrung. Ich muss hier raus dachte er wieder einmal. Er starrte sein Fahrrad an, eine Rostlaube, die mit gutem Willen noch fahren würde, ohne zusammenzubrechen. Nicht, dass er in den letzten Jahren damit gefahren währe. Das Fahrrad war aus Stahl und Stahl bedeutete Rohstoff und Rohstoff bedeutete Geld. Wenn irgendeiner von dem Fahrrad wüsste, hätte man es ihm schon längst geklaut und zu Geld gemacht. Nein mit dem Fahrrad durfte er sich nicht auf die Straße wagen. Ich muss raus aus diesem Ghetto und zwar bald. Es wird immer schlimmer. Die Jugendbanden zogen zu ihren Raubzügen immer in die Viertel der Reichen, aber seit dem es die Zäune gab und man nur noch mit einem Passierschein hinein durfte, fanden deren Raubzüge eben hier statt. Erst hatten sie versucht die Zäune zu untergraben, aber dann gab es die Hunde. Schortie hatte sie sich angesehen. Seltsam diese Hunde dachte er, ein leichtes Unbehagen befiel ihn. Was war nur so seltsam an denen? Der Gedanke entglitt ihm wieder. Nun fanden die Raubzüge also hier statt. Nicht dass es hier etwas zu holen gab, aber alles war wertvoll, verklumpte alte Federbetten wärmten im Winter, ein alter Stuhl spendete für einen Moment Wärme, niemand war mehr sicher. Schortie überlegte, wie er das Fahrrad und seine Ersparnisse aus dem Ghetto herausschmuggeln könnte. Schortie hatte 10000 Euro gespart und bisher nie angerührt. Geld war nur noch in der Innenstadt im Umlauf. Hier im Ghetto wurde man mit allem „Lebensnotwendigen“ versorgt, da brauchte man kein Geld. Eigentlich war das Geld nur noch zum Heizen gut. Er trug sich seit einiger Zeit mit dem Gedanken aufs Land zu ziehen. Er wusste nur nicht, ob auf dem Land noch Menschen lebten. Aber ich könnte irgendwo eine Hütte bauen und mein eigenes Essen anbauen dachte Schortie und betrachtete seinen Karton mit Sämereien. Alles ist besser als hier zu bleiben. Es wird sicherlich etwas einsam werden, aber ich habe in den letzten drei Jahren sowieso mit keinem Menschen geredet. Noch vor einigen Jahren war das anders, die Leute kannten sich alle untereinander und halfen sich gegenseitig. Warum redet jetzt keiner mehr miteinander. Die Menschen benehmen sich wie Zombies. Kein Leben in den Augen. Ja, es wird einsam werden. Die Geräusche werden mir fehlen. Man hört keine Nachbarn und kommt sich dadurch erst so richtig einsam vor. Ohne das Fahrrad komme ich nicht weit dachte er. Ich muss mir etwas einfallen lassen. Es könnte ein langer Weg werden. Schortie dachte nach, wieder dieses unbehagliche Gefühl, irgendwas stimmt hier nicht, aber was? Der Gedanke entglitt ihm erneut, er kam einfach nicht drauf. Schortie geriet ins träumen.

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