Читать книгу Zuletzt die Ameisen - Cati Dorn - Страница 4

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Kapitel 2

Ein Sommertag vor 15 Jahren. Endlich Wochenende dachte Schortie. Er hatte die ganze Woche täglich 12 Stunden gearbeitet. Seit dem es immer wieder zu Rohstoffengpässen kam, mussten sie die Tabletten mit einer Handpresse in Form bringen. Diese Woche war es Aspirin. Die Überstunden wurden nicht bezahlt, er konnte froh sein, dass er überhaupt noch Arbeit hatte. Die Märkische Pharmazeutika war die einzige Firma, die noch nicht dicht gemacht hatte.

Er wollte zu seinem Kleingarten fahren. Seitdem er von den genetisch veränderten Lebensmitteln gelesen hatte, sammelte er sorgfältig alle Samen seiner Pflanzen ein und von den Obstbäumen trocknete er sorgfältig die Kerne. Er hatte säckeweise Blumenerde gekauft und im Schuppen gelagert. Für den Winter trocknete er regelmäßig Apfel- und Birnenringe, Beeren und Kräuter. Er lagerte Zwiebeln, Knoblauch und Kartoffeln ein, weckte ein, soviel er konnte und er hielt sich Hühner. Was gäbe ich für ein leckeres Schweineschnitzel mit Spiegelei, aber man weiß ja heutzutage nicht, was man da isst. Jeder flecken in seinem Garten war mit irgend etwas bepflanzt. Der blau gestrichene Holzschuppen diente als Hühnerstall. Wegen der Hühner hatte er nicht allzu viele Freunde, eigentlich nicht wegen der Hühner, sondern wegen des Hahnes, der den Vereinsmitgliedern etwas zu früh krähte. Aber laut Satzung sollte Kleintierhaltung ausdrücklich gefördert werden und man musste die Hühner dulden. In dieser Anlage musste alles seine Ordnung haben. Ein Drittel der Gartenfläche musste wenigstens mit Obst und Gemüse bepflanzt werden. Für die meisten hier ein vorsintflutliches Gesetz, an das sich sowieso niemand hielt, außer Schortie. Aber Schortie ernährte sich auch ausschließlich von seinen eigenen Produkten. Jemand räusperte sich hinterm Gartenzaun. Schortie sah auf. Hallo Bertie, hallo Dottie. Bertie, alias Bernard Schmidt, verzog das Gesicht. Bertie war der Vorsitzende dieses Kleingartenvereins und ein richtiger Beamtentyp. Deshalb war er auch hervorragend für diesen ehrenamtlichen Job geeignet. Bertie mochte keine Spitznahmen. Er achtete immer darauf alle mit ihrem korrekten Vornamen anzusprechen. So auch Schortie, alias Georg Hannes Büchner. Seine Frau Dottie, alias Dorothea Schmidt war da sehr angepasst, aber wenn sie ihn traf, nannte sie ihn Schortie, wie alle hier. Auch sonst war Bertie das personifizierte Gesetz. Er achtete strikt darauf, dass sich alle an die Regeln hielten. Dieses Wochenende war es wieder einmal Zeit für eine dieser langweiligen Versammlungen. Bertie überraschte Schortie, in dem er sagte, wir geben heute eine Grillparty, ich habe unglaublich günstiges Fleisch bekommen und die Salatzutaten waren fast geschenkt. Es ist dieses Jahr immerhin das 50jährige Bestehen unseres Vereins. Schortie dachte nur, es geht los und betrachtete Dottie das Muttertier. Er stellte sich vor, wie modifizierte Aminosäuren aus der Nahrung in jede Zelle eindrangen und diese, zu was auch immer, veränderten, ja sogar bis ins Gehirn gelangten und natürlich das Baby ernährten. Eine neue Spezies wird geboren dachte er. Dottie war endlich wieder schwanger. Ihr erster Sohn war schon 8 Jahre und sie wollte schon immer noch ein zweites Kind haben, aber bis jetzt hatte es einfach nicht geklappt. Nun war sie im 6. Monat schwanger. Schortie mochte keine Kinder. Er schien für viele Frauen attraktiv zu sein, er war sehnig, fast mager, 1,70 Meter groß mit blauen Augen und dunkelblonden Haaren. Er hatte eigentlich auch nichts gegen eine Beziehung, er wollte nur keine Kinder. Erst schienen das die Frauen auch so zu sehen, aber nach einiger Zeit wollten sie ihn regelmäßig festnageln und redeten nur noch vom Familie gründen und vom Kinder kriegen. Er verstand einfach nicht, wieso alle so versessen auf Fortpflanzung waren, wo doch die Welt gerade unter ging. Schortie hatte vorgesorgt. Er hatte sich letztes Jahr sterilisieren lassen. Seit dem hielten seine Beziehungen nur noch einige Wochen, was ihn aber nicht unbedingt störte. Irgendwann merkten seine Lebensabschnittsgefährtinnen dann meistens, dass sie einfach nicht schwanger wurden. Er hatte jetzt sowieso andere Sorgen, der Kleingarten warf nur genug Nahrung für ihn selbst ab. Er wollte mit niemandem zusammen sein, der genverseuchte Nahrung aß. Wer weiß, zu was für Monstern die sich entwickeln.

Schortie überlegte, was er tun sollte. Er war fest davon überzeugt, dass es sich bei Berties Fleisch um genveränderte Ware handelte, es war einfach zu billig. An den Versammlungen musste man teilnehmen, sich wie im Kindergarten in eine Anwesenheitsliste eintragen. Ich muss hingehen, aber wie kriege ich es hin, nichts zu essen oder zu trinken fragte er sich? Wann soll es denn losgehen fragte er Bertie. Wir treffen uns um 18.00 Uhr am Vereinshaus. Ok, dann bis nachher sagte Schortie und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Es wurde eine grandiose Party. Die Hälfte der Vereinsmitglieder war so besoffen, dass sie nicht mehr stehen konnten und die andere Hälfte war kurz davor. Es war eigentlich ganz leicht, nichts zu essen oder zu trinken. Man lief einfach mit einem ständig vollen Glas durch die Menge und erzählte entweder, dass man schon gegessen habe und total satt war, oder, dass man noch etwas warten würde, weil man keinen Hunger habe. Irgendwann fragte sowieso niemand mehr danach. Es war eigentlich das letzte Mal, dass alle miteinander geredet und zusammen gelacht hatten. Danach ging eh alles nur noch den Bach runter.

Zwei Wochen später machte Schorties Firma dicht. Er war, wie so viele andere, arbeitslos. Zwei Jahre zahlte die Stadt noch seine Wohnung. Ein Jahr später wurde dem Kleingartenverein gekündigt. Man begann die Zäune zu bauen, der Kleingartenverein trennte den guten Bezirk vom Armenviertel. Schortie musste seine Hühner schlachten. Es war das letzte Mal, dass er Fleisch zu essen hatte. Jede freie Ecke seiner Wohnung war mit Blumenkübeln zugestellt, aber er musste sich trotzdem sehr einschränken, da die Obstbäume wegfielen. Er begann Eicheln und andere essbare Pflanzen zu sammeln. Irgendwann hatte er mal ein Buch über das Essen im Mittelalter gelesen, das kam ihm jetzt zugute.

Dann war es schließlich so weit, die Zäune waren fertig und die Stadt wies ihm die Wohnung in Schöneweide zu. Was für eine verrottete Gegend, dachte er, die meisten Wohnungen hatten keine intakten Fenster mehr, die Öffnungen waren mit irgendwas zugestopft. Strom gab es bisher, aber nur unregelmäßig. Von den Fassaden bröckelten die Reste des tristen grauen Putzes. In fast jeder Wohnung gab es Schimmel, der teilweise ganze Wände bedeckte. Am schlimmsten dran waren diejenigen, die als letzte in das Viertel kamen. Sie wohnten zu Hunderten in den stillgelegten Fabriken. In den riesigen Hallen standen Hunderte von Betten. Zu essen gab es regelmäßig. Die Versorgung war gut. Jeden Tag kam der Lebensmittelwagen und lud bergeweise Fleisch und Gemüse ab. Schortie stellte sich vor, wie abends einige Zellen in eine Petrischale getropft wurden und morgens ein fertiges Schnitzel darin lag. Man musste seine Ration abholen und eine Codenummer nennen. So registrieren die da oben, ob man noch lebt dachte er. Telma hatte drei Tage ihre Ration nicht geholt, dann kam schon der Leichenwagen und in die Wohnung zogen andere ein. Ein junges Paar mit zwei Kindern. Das eine schien normal zu sein. Es war ca. neun Jahre alt, aber das andere Kind war seltsam. Es schien ungefähr drei Jahre alt zu sein und wirkte auf den ersten Blick ganz normal, aber wenn man genauer hinsah erschien es völlig fremdartig. Schortie überlegte, woran das wohl lag. Es ist dasselbe, wie mit den Hunden dachte er. Am Anfang verhielten sich die Hunde normal, sie knurrten und bellten, wenn sich jemand den Zäunen näherte. Ungefähr zwei Jahre später war das nicht mehr so. Die Hunde bewegten sich wie Roboter oder eher wie Zombies. Es verursachte einem eine Gänsehaut ihnen in die Augen zu sehen. Sie gaben keinen Ton von sich, saßen nur da und sahen einen an, aber Schortie wäre nie auf die Idee gekommen sich ihnen zu nähern. So war das auch mit dem Kind, äußerlich schien es ganz normal, aber wenn er ihm in die Augen sah bekam er eine Gänsehaut. Dieses Gefühl beschränkte sich mittlerweile nicht nur auf dieses Kind. Das Leben im Viertel hatte sich verändert. Irgendetwas ging mit den Menschen hier vor. Oder wurde er verrückt, er schien der einzige zu sein, der so empfand. Der Lebensmittelwagen bog um die Ecke. Ich muss meine Ration holen, sonst bekomme ich Untermieter. Schweigend ging er nach unten, zeigte seine Codenummer, wurde auf der Liste abgehakt und bekam seine Ration. Er betrachtete die Leute auf der Straße genauer. Noch vor zwei Jahren waren die meisten mit irgendwelchen Geschwüren bedeckt oder hatten eiternde Wunden. Jeder den er ansah hatte eine perfekte glatte Haut und glänzendes Haar. Es schienen keine älteren Menschen auf der Straße zu sein, aber auch keine Babys. Das jüngste Kind, das er sah war ca. drei Jahre alt. Früher hätten die Frauen alles darum gegeben Babys zu bekommen, dachte er, es waren immer irgendwelche Mütter mit Kleinkindern unterwegs, aber heute schienen die alle zu Hause geblieben zu sein. Er brachte seine Ration nach oben. Sechs große Fleischstücken und diverses Gemüse, hauptsächlich Tomaten. Jetzt habe ich eine Woche Zeit einen Weg nach draußen zu finden und meine Flucht vorzubereiten. Wieso eigentlich Flucht dachte er, niemand tut einem hier was und den Behörden kann es doch egal sein, wo man bleibt. Die stecken einfach neue Leute in die Wohnung und das wars. Er dachte an die seltsamen Blicke, die ihm die anderen zuwarfen. Sie standen einfach nur da und starrten ihn an, egal wo er auftauchte, ja sie wichen sogar vor ihm zurück, wenn er sich nähern wollte. Das ist schon unheimlich dachte er. Als ob ich ein Aussätziger wäre. Es muss an der Nahrung liegen. Warum kommt der Lebensmittelwagen nur einmal in der Woche, obwohl es häufig keinen Strom gibt und Fleisch ja bekanntlich leicht verderblich ist. Dieses hier aber nicht dachte er. Er hatte das Fleisch untersucht. Es hatte die Konsistenz von Fleisch, es roch wie Fleisch, aber es verweste nicht. Nach einer Woche war es immer noch frisch, kein Schimmelpilz befleckte seine Oberfläche, obwohl es in seinem Zimmer davon nur so wimmelte. Es schien unzerstörbar, genau wie die Menschen im Viertel, die perfekte Oberfläche. Ob sie einen Jungbrunnen gefunden haben? Vielleicht sind jetzt alle unsterblich und nur ich weigere mich dieses Geschenk anzunehmen. Sie schienen alle irgendwie miteinander zu kommunizieren, obwohl er schon lange niemanden mehr hatte sprechen hören. Als ob alle ein kollektives Bewusstsein hätten. Ich muss mir die Hunde noch einmal ansehen. Der Weg nach draußen führt nur durch die Zäune. Ob sich die Menschen in den Reichenvierteln auch verändert haben? Schotie zog los. Er hatte die ganze Zeit ein mulmiges Gefühl. Egal wo er lang ging, die Leute starrten ihn an, mit starren irgendwie toten Blicken. Keine Emotionen dachte er. Er kam zu den Zäunen. Die Hunde hatten sich verändert, das war ihm vorher gar nicht aufgefallen. Jeder Hund war perfekt. Glänzendes lockiges weiches Fell, der perfekte Körperbau. Er hatte sie anders in Erinnerung, struppig und bösartig. Jetzt saßen sie hinter dem Zaun und sahen ihn schweigend an. Kein Bellen, keine Regung, sie starrten einfach nur. Schortie ging näher heran aber die Hunde rührten sich nicht. Ich muss noch diese Woche abhauen dachte er, bevor sich alle weiter verändern und auf mich losgehen. Noch werden sie mir nichts tun, aber wie lange noch. Ich glaube, ich kann es riskieren das Fahrrad zu nehmen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sich niemand dafür interessieren wird. Schortie lief nach Hause, immer begleitet von diesen unheimlichen Augen.

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