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Prolog

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In einem alten Film hörte ich einmal die Worte „… man ist so lange nicht tot, so lange man noch eine Geschichte zu erzählen hat ...“. Dies ist meine Geschichte.

Jeder Mensch trägt seine Geschichte in sich, seine Ängste, seine Zweifel, die Steine, auf denen das Fundament gebaut wurde. Manchmal lehne ich mich zurück und starre an die Decke, bin völlig gedankenleer, starre durch sie hindurch, weit an den Wolken, dem Mond und den Sternen vorbei, starre ins Irgendwo, in ein imaginäres Irgendetwas, und manchmal, in diesen kurzen, kleinen Momenten frage ich mich: „Wessen Moral?“

Meine Geschichte fängt – wie jede Geschichte – vor meiner Geschichte an, denn wie jede Geschichte ist auch meine nur ein Ausschnitt aus einer anderen, die unter einem anderen Blickwinkel betrachtet, wieder eine ganz andere ist, und vielleicht glaubt der eine oder andere im Vorbeigehen, im flüchtigen Draufschauen auch, dass beide nichts miteinander zu tun haben.

Ich glaube, dass jeder Mensch eine Ur-Angst in sich trägt, sei es der pubertierende Wille, niemals wie die Eltern zu werden oder die Angst davor verlassen zu werden, die Angst Verantwortung zu übernehmen, oder die Angst, das zu sagen, was man wirklich denkt. Ich hatte immer Angst vor den Menschen die Angst haben. Angst zwingt zur Lüge, zwingt einen zum Fortlaufen, zum Flüchten. Wer verängstigt ist, zieht eine Maske hoch, hinter der er sich verstecken kann. Eine in oft mühseliger, lebenslanger Arbeit erschaffene Mauer, hinter der irgendwann jegliches Gefühl der Angst und der Bitterkeit weicht.

Mit meinem eigenen Bestreben, die Ängste von mir abzuschütteln, eine offene und ehrliche Persönlichkeit zu werden, schien ich ein Magnet für all diese Menschen geworden zu sein, die in scheinbarer Glückseligkeit unantastbar für tiefere Emotionen oder Bindungen lebten.

In jeder Geschichte gibt es eine Geschichte der Liebe, doch meine ist eine einzige Liebesgeschichte, eine Liebeserklärung an das Leben, dessen Lebendigkeit ich in all seinen Facetten und Erscheinungen lieben gelernt habe, zum Beispiel im Lachen der Sonne, im Blinzeln des Mondes, in Momenten der Tiefe und Schwere. Das Leben und ich führten eine zerfleischende, tief emotionale Liebesbeziehung, aber ab dem Punkt, ab dem wir keine Angst mehr voreinander hatten, von da an, wurde es schön.

Doch bevor dieser Punkt erreicht wurde, ist viel Blut die Arme hinuntergetropft, sind viele Spiegel zerschlagen worden. Die Strecke vor dem Zieleinlauf war lang, und viele Menschen, Erinnerungen, viele Träume und Hoffnungen wurden auf diesem Weg beerdigt.

Wie oft musste ich Abschied nehmen, sowohl von anderen, als auch von mir. War allein. Um mich herum absolute Stille. In diesen Momenten hörte ich nur das Rauschen des Blutes in meinen Ohren, das Klopfen meines Pulses viel zu laut in die Stille des Abschieds hinein.

Man verliert irgendwann die Angst davor alleine zu sein, wenn man einsieht, dass man im Ist- Zustand, im hier und jetzt, in dem Moment, in dem man einatmet und vielleicht gerade denkt, dass man nicht alleine sein möchte, dass man in diesem Moment allein ist.

Ich bin nie mit Diktiergeräten in der Hand durch Städte gelaufen und habe die Menschen nach ihren größten Ängsten befragt, aber ich glaube fest daran, dass die Angst des Verletzt-, Verlassen-, Allein-Gelassen-Werdens, die größte innere Angst ist, die wir als Menschen unser Leben lang in uns tragen.

Ich besitze manchmal die Frechheit zu sagen: „Ich habe keine Familie.“ Rein genetisch ist das eine Lüge, denn wie jeder Mensch, bin auch ich nur ein Glied in einer langen Familienkette. Ich habe – heute noch – einen Vater und eine Schwester, die ich beide über alles liebe. Doch unsere Wege liefen oft getrennt voneinander, und viele Situationen musste jeder von uns alleine durchleben. Wahr ist, dass ich nicht weiß, wie sich das anfühlt: Familie. Weil es nie stimmte, nie passte und vielleicht auch nie da war. Ich hatte viele Lieben in meinem Leben, mit denen ich oft diesen Augenblick der Geborgenheit erlebte, und ich habe Freunde, die sich manchmal wie Familie anfühlen.

Was ich damit sagen möchte, ist, dass ich meine Wurzeln niemals negieren möchte, ich habe sie nur nie gefühlt.

Auch erzähle ich diese Geschichte aus meinen Augen, und aus meiner Erinnerung. Es mag sein, dass sie aus manchem Munde anders klingt und manche Augen es anders gesehen haben.

Wessen Moral? Eine Autobiografie zum Thema: Erwachsene Kinder suchtkranker Eltern

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