Читать книгу Wessen Moral? Eine Autobiografie zum Thema: Erwachsene Kinder suchtkranker Eltern - Cécile Koch - Страница 6

Erstes Kapitel

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Ich weiß nicht, wie viele unzählige Male ich aus der schweren Eichentür in die Sonne geblinzelt habe, mit dem Entschluss nie wieder zurückzukehren. Ich bin immer wieder nach Hause zurückgekehrt. Auch wenn sie mich nicht schlafen ließen, die Geräusche in der Nacht, die Schreie meiner Mutter, das Zerschlagen von Glas auf dem Küchenfußboden – es war etwas Vertrautes. Mit dem Selbsterhaltungstrieb eines Kindes lernte ich, in einem Scherbenhaufen zu laufen. So, wie ich mich heute oft in meine Kindheit zurückwünsche, immer noch den Traum in mir trage, einen einzigen Tag Kind einer heilen Welt zu sein, mit gesundem Herzen lachen und mit begeisterten Augen sehen zu können, so sehr und noch viel stärker wünschte ich mir damals, ganz schnell erwachsen zu werden, um endlich frei sein zu können. Der Begriff „erwachsen“ bedeutete für mich mit den Augen eines Kindes betrachtet nur eins: Freiheit.

Doch so sehr ich mir die Freiheit wünschte, war ich oft selbst diejenige, die sich im letzten Augenblick hinter ihrer Mutter versteckte, und einem perfekt einstudiertem Theaterstück gleich mit vollkommener Überzeugung verkündete, dass sie hier glücklich sei. Mit dem Instinkt einer Katze erkannte meine Mutter die Tage, an denen das Jugendamt seine Routinebesuche bei uns absolvierte, und wenn ich ehrlich bin, zählen sie zu den Tagen meiner Kindheit, an die ich mich gerne zurückerinnere. Ich mochte diesen beschwingten, souveränen Klang in der Stimme meiner Mutter und ich mochte die Schönheit, die sie in diesen Tagen ausstrahlte. Ich mochte den intensiven Scheuermilchgeruch in unserem Haus – auch wenn es manchmal eine Nacht mit wenig Schlaf war, die ich dafür aufbringen musste. Und wie ein Akku auf der Ladestation genoss ich jedes demonstrative Kopfstreicheln, ihre Anreden, wenn sie mich laut „Stups“ oder „Fusselkopf“ nannte. Nur für dieses kleine Theater, für einen kurzen Bühnenakt „heile Welt“, ließ ich meine Akte lange beim Jugendamt liegen und die Betreuer glauben, dass nichts für mich getan werden musste.

Nach all den Jahren ist das Gesicht meiner Mutter verschwommen, und immer wieder ertappe ich mich dabei, dass ich ihr zwei Gesichter aufsetze. So wie ich sie auch wahrgenommen habe: wunderschön und sanft, Dämonen zerfressen und schwer. Ich hatte nicht eine Mutter, ich hatte zwei. Heute weiß ich, dass die Frau mit einer tiefgründigen Wissensbildung und einem tadellosen Geist, dem akkuraten Make-up und dem grazilen Gang, dass die Dame mit den lackierten Fingernägeln, dem wunderschönen Lachen und dem makellosen Körper, dass diese Frau, von der ich mir manchmal einbilde, ihre Berührung in meinem Nacken zu spüren, dass sie schon vor meiner Geburt ausgezogen ist. Anfangs war sie noch gut mit der anderen befreundet, die sich gehen ließ, die an nichts außer ihren Untergang glaubte, die in ihrer eigenen Welt verschwand, doch im Laufe unserer Jahre wurden ihre Besuche weniger.

Als ich damals an ihrem Bett stand, begleitet von dem monotonen Piepen ihres Herzschlag-Überprüfungs-Gerätes, da waren sie beide bereits gegangen. Unter diesem weißen Haar, der eingefallenen Haut, der Vaseline in den Augen, „piep, piep, piep“ … ich konnte sie nicht berühren, hatte keinen Bezug zu diesem „Etwas“, was dort steril, klinisch rein, auf den Tod vorbereitet wurde. Ich habe mit meinen Fingern Muster auf ihrem Laken gezogen und konnte nicht sprechen. Unwirkliche Wirklichkeit schlug mit dem Vorschlaghammer auf mich ein, und wenn ich ehrlich bin, ich wäre am liebsten fortgerannt. In dem Moment, in dem ich den Anruf bekam, dass meine Mutter im Krankenhaus im Koma lag, in dem Moment wusste ich, dass ich ihr Lachen nie wieder hören werde. Und ich stand da vor ihrem Bett und starrte auf den einzigen Fleck Wand zwischen all den Geräten hinter ihrem Kopf, und bat sie sich zu entscheiden, ob sie leben oder sterben möchte. Noch in derselben Nacht ist sie gestorben.

Ich war 19 Jahre alt, und sie ist 45 geworden.

Wein’ noch einmal deine Tränen

und ich wisch sie weg,

mag sein,

dass ich heute stärker bin.

Sprich noch einmal deine Zweifel

und ich halt Dich fest,

mag sein,

dass ich heute stärker bin.

Zeig noch einmal deine Angst

und ich nehm sie dir,

mag sein,

dass ich heute stärker bin.

Halt noch einmal meine Hand

und ich drück Dir Deine,

mag sein,

dass ich heute stärker bin.

Mit welcher Kraft geht ein Mensch durchs Leben? Wie wichtig sind die Wurzeln, aus denen wir wachsen? Ich habe die Geschichte meiner Mutter nie begriffen. Sie war so von Schwere überladen, angsterfüllt, und alle Figuren aus ihrer Vergangenheit waren Dämonen gleichgesetzt. Ich weiß nur, dass sie immer gerannt ist, so lange, bis sie irgendwann ihren Atem und sich selbst verlor. In einem strengkatholischen Elternhaus wurde meine Mutter als erstes von zwei Kindern geboren. Ihre Eltern wollten weder die Kinder noch ihre eigene Ehe. Doch als meine Großeltern nach einer versoffenen Nacht nach einem Kirmesfest zusammen in den Büschen verschwanden und meine Großmutter daraufhin schwanger wurde, verlangten es der Anstand und die gute Sitte, dass sie heirateten. Meine Großmutter war eine sehr strenge, herrische Frau, die alles unter ihrer Kontrolle hatte und mit Brutalität ihre Unterweisungen durchsetzte. Meine Mutter lebte in panischer Angst vor ihrer Mutter, die sie schlug, oder sie von ihrem Ehemann schlagen ließ. Brav wurde jeden Sonntag in die Kirche gegangen, der Familienfrieden durfte nicht kaputt gemacht werden. Immer brav sein, immer still sein, was sollen sonst die Leute denken.

Meine Mutter flüchtete sich oft zu ihren Großeltern, sang im Kirchenchor, und hatte ihren Lieblingsplatz bei den alten Gräbern auf dem jüdischen Friedhof in der Nähe ihres Dorfes.

Als sie 14 Jahre alt war, wurde sie über mehrere Jahre lang von ihrem Religions- und Gesangslehrer, der gleichzeitig Küster der Kirche war, sexuell missbraucht. Als sie mit sechzehn endlich den Mut fasste, ihrer Mutter alles zu erzählen, wurde sie von ihr brutal verprügelt und über mehrere Wochen zu Hause eingesperrt. Mein Großvater negierte es genauso wie meine Großmutter. So etwas gibt es nicht. Was sollen denn die Leute denken? Wehe, du sprichst mit jemanden darüber!

Die erste Chance, die meine Mutter hatte, ihr Elternhaus zu verlassen, nutzte sie. Sie floh, fand Halt in einer Hippie-WG auf einem alten Bauernhof, machte ihr Abitur zu Ende, fand Kraft durch Alkohol und heiratete bald darauf den Vater meiner Schwester. Meine Mutter knallte sich zu, mit Studium – welches sie in Rekordzeit als eine der besten Absolventinnen beendete, politischen Aktivitäten, Kabarett und Gesang, mit Alkohol und bald darauf mit der Mutter-Rolle. Die Ehe hatte keine Chance. Meine Mutter verbuddelte sich in Arbeit und machte sich unersetzlich in allem was sie tat. Meine Schwester immer unter dem Arm gab es nichts, an dem sie nicht interessiert war, außer ihrem Mann. Und als die beiden irgendwann voreinander standen und sich nichts mehr zu sagen hatten, haben sie sich getrennt.

So oder so ähnlich wird es wohl gewesen sein.

Vor einigen Jahren fasste ich den Mut, Kontakt zu meinem Großvater aufzunehmen, doch um Licht in das Dunkel der Vergangenheit zu bringen, war es schon zu spät. Mein Großvater war nach seinem zweiten Schlaganfall halbseitig gelähmt und seine Erinnerungen fanden keine Worte mehr. Seine Zunge konnte der Lähmung nicht mehr widersprechen. Mir blieben ein paar wenige Momente mit ihm. Mit seinem Begräbnis wurde ein weiteres Kapitel beendet, und als ich brav meine Erde auf seine Asche schaufelte, fragte ich mich, wo ich jemals Klarheit finden werde. Auf der Beerdigung meiner Mutter hatte ich meinen Großvater zum ersten Mal seit über zehn Jahren wiedergesehen. Wer erklärt mir all den Zorn?

Dieses Gefühl ist nicht zu beschreiben, das da irgendwo zwischen Magen und Herzen krampfhaft entsteht. Meine ganze Kindheit lang haben mich Sätze wie „meine Oma hat“, „mein Onkel macht“, „mein Papa sagt“, verletzt und eifersüchtig gemacht. Eifersucht ist eines der prägendsten Gefühle meiner Kindheit. Dieses ewige Gefühl vernachlässigt zu werden, hat auch immer bedeutet, dass ich mit dem Hier und Jetzt niemals zufrieden war, ganz egal wie schön es war und wie viel Mühe es gekostet hatte. Es blieb dieses Grundgefühl, dass es anderen viel besser ging. Damit habe ich mir immer selbst im Weg gestanden. Wenn mir heute jemand nach einen netten Abend sagt, dass es ein schöner Abend war, schaue ich immer noch verschämt zu Boden, und denke, dass es mit jemand anderem, nicht mit mir, bestimmt netter gewesen wäre.

Narben bleiben, Selbstzweifel auch.

Ich besitze nur ein einziges Bild, auf dem meine Mutter gemeinsam mit meinem Vater abgebildet ist. Wenn man dieses Bild neutral betrachtet, ist es schrecklich: ein Hippiepaar vor einer 70er Jahre Mandala-Tapete, mein Vater unvorteilhaft im Moment des Trinkens getroffen, meine Mutter schaut müde auf ihr Glas. Aber sie halten sich an den Händen. Und das ist mir unglaublich wichtig, zu wissen, dass sie sich und somit mich geliebt haben.

Ich kenne die Geschichten der Trennung, ich weiß, dass diese Liebe schon vor meiner Geburt beendet war und in meinem ersten Lebensjahr einen zweiten verzweifelten Versuch erlitt. Ich weiß, dass sie sich am Ende zerfleischt haben, nicht zusammen gepasst haben, und doch nicht voneinander lassen konnten. Dennoch macht es mich unglaublich glücklich zu wissen, dass es einen Moment gab, in dem sie mich beide wollten.

Ich habe mir meinen Vater oft gewünscht, noch heute habe ich Schwierigkeiten, ihn so wie er ist anzunehmen. Träume schaffen neue Bilder.

Als ich geboren wurde, hat man es, glaube ich, gut mit mir gemeint. Mein Leben ist bis heute von einer unerschütterlichen Hoffnung geprägt, die, wenn auch mit einigen Einschnitten, nie zu sterben drohte, und mich am Leben hielt. Es waren meine Träume und die Hoffnung, die mir immer wieder Kraft gaben, und mich wieder aufrichteten, wenn ich am Boden lag.


Ich erinnere mich an so viele Morgen, die alle den gleichen, monotonen angsterfüllten Rhythmus hatten. Ich werde wach und weiß nicht wie spät es ist, aber es ist schon hell. Meine Schwester ist schon lange gegangen, und ich höre keine Geräusche in der Wohnung. Mit dem Traum sind auch die Seifenblasen gegangen, mit müden Augen starre ich in unser Kinderzimmer. Ich fühle mich wie gelähmt. Jede Nacht ist es der gleiche Traum, dass mich eine Hand sanft wach rüttelt, dass ich von den Klappern der Teller in der Küche wach werde. Einfach das Gefühl zu haben, dass jemand den Morgen mit mir teilen möchte.

Es ist zu spät, zu spät um jetzt loszugehen. Ich weiß nicht, was ich anziehen soll, stehe mit nackten Füßen auf dem ungesaugten Fußboden, liegengelassene Krümel bohren sich in meine Sohlen. Mein Blick fällt auf einen Haufen Kleider, ich nehme mir ein paar heraus. Ich habe Hunger, ich habe Durst. Ich will jetzt nicht zur Schule gehen, will nicht an allen Kindern vorbeigehen, die mich auslachen, sich die Nase zu halten, und in der Pause nicht mit mir spielen.

Mama schläft, ich bin sechs und seit einem halben Jahr in der Schule. Meine Schwester ist zehn, sie kann schon alleine aufstehen, sie weckt mich nie, ich habe keinen Wecker. Ich habe gefroren heute Nacht, und ein bisschen friere ich immer noch. Ich bin traurig, ich bin wütend, irgendetwas in mir sagt mir, dass dies nicht richtig ist, dass es falsch ist. Ich finde es ungerecht. Ich ziehe mich zornig an, viel zu hastig versuche ich in meinen Pullover zu schlüpfen. Der Ärmel ist verdreht und zwickt mich in den Oberarm, ich habe mich in meinem eigenen Pullover verlaufen und ich bin so unglaublich wütend darüber. Wütend auch auf die Kälte, die mich so zittern und meine Zähne so laut klappern lässt, wütend auf die Krümel unter meinen Fußsohlen, die mich zwacken und wütend auf die doofe Schule. Zornige Tränen laufen hektisch über meine Wangen. Böse schmeiße ich den Pullover weg und meckere ihn an, ich trampele mit den Füßen auf der Stelle und balle meine Hände zu Fäusten. Erst als alle Wut aus mir draußen ist, fange ich von Neuem an mich anzuziehen.

Ich schleiche mich in die Küche, mit der trotzigen Traurigkeit aber auch Angst, denn wenn Mama jetzt wach werden würde, wäre ich Schuld, denn es gibt für sie keinen erklärbaren Grund, warum ich nicht in der Schule bin. Ich weiß, dass das ungerecht ist, vielleicht weiß sie das auch irgendwo, aber ihr Zorn ist schlimmer: ich, das Kind, das sie die Haare raufen lässt. Meine wunderschöne Mutter, wie oft hab ich um sie geweint. Ich schnappe mir meine Sachen und gehe raus, ich werde einfach so lange spielen, bis ich die anderen Kinder aus der Schule kommen sehe, und morgen muss ich dann den Zorn der Lehrerin aushalten. In meinen Spielen vergesse ich die Welt, ich buddele in der Erde und erforsche neugierig meine Umgebung.

Erinnerung kann verwischen mit den Jahren, und kann einen Geschichten glauben lassen. Man kann vergessen mit den Jahren, doch irgendwann holt einen die Erinnerung ein. Ich bin alt geworden.

Ich habe mir immer einen Freund gewünscht, einen besten, so wie im Bonbon-Lied, und ich hätte so gerne jemanden gehabt, der mit mir händchenhaltend und mit dem Kopf wackelnd durch Neo-Kitsch-Gärten hüpfte. Ich hatte keinen. Doch in meinem Kopf, da gab es ihn, den starken, großen Jungen, der immer auf mich aufpasste, dem ich alles erzählen konnte. Ein steter Begleiter an meiner Seite. Die Kinder lachten so oder so über mich, weil ich stank, weil ich unmoderne Klamotten trug, weil ich nie Sportzeug mithatte, meine Mutter nie zu Elternabenden oder Ähnlichem kam, und weil ich zu naiv war, um ihre Gemeinheiten zu durchschauen. Sie lachten auch, weil ich – in ihren Augen – mit mir selber sprach. Doch auch genau dann, wenn ich nicht alleine war, wenn mein „großer Freund“ neben mir stand, dann war mir das alles egal. Sollten sie doch lachen, ich wusste, dass ich eines Tages über sie lachen würde.

Als wir in das Haus gegenüber von dem Friedhof zogen, auf dem meine Mutter heute beerdigt ist, war ich drei Jahre alt. Meine Mutter machte ihr Referendariat an einem Gymnasium und meine Schwester war gerade eingeschult wurden. Das Haus war ironischerweise eine alte Schnapsbrennerei und nach einer Komplettsanierung bezogen wir es im Erstbezug. Die ersten Wochen waren wir drei und unsere beiden Katzen auch tatsächlich die einzigen in diesem Haus. Nach und nach zogen dann Nachbarn über, neben und unter uns ein. Altbau, hohe Decken, ein riesiges Treppenhaus mit einer uralten Wendeltreppe, es war ein bisschen wie ein Palast. Meine Mutter freundete sich schnell mit allen Nachbarn an. Man tauschte Butter und passte abwechselnd auf die Kinder auf. Es war eine Idylle, die zeigte, wie einfach das Leben sein konnte. Ich ging in eine evangelische Kindergruppe, das war eine alternative Form des Kindergartens. Die Kinder wurden hier länger betreut, als in der herkömmlichen Form des Kindergartens, außerdem war es kostenlos und man bekam gleich noch die christliche Werterziehung für seine Kinder gratis dazu.

Es war eine sehr engagierte Gruppe, die oft Aufführungen machte, Kinderfeste, Kindergottesdienste, das ganze Programm. Eines der Mädchen aus unserem Haus ging auch in die Gruppe. Sie hieß Cindy und war die erste Freundin, die ich hatte. Wir gingen gemeinsam dort hin oder wurden abwechselnd von unseren Müttern gebracht und abgeholt. Wir verstanden uns, die Mütter verstanden sich, alles war so einfach.

Manchmal, in heißen Sommernächten, erlaubten uns unsere Eltern im Garten zu zelten. Dann stellten wir das Zelt auf und meine Schwester Rebecca, Cindy und ich übernachteten im Garten. Das war immer besonders aufregend, ein bisschen Urlaub mitten im Leben. Für meine Schwester war die ganze Konstellation eher belastend als erfüllend. Sie fühlte sich zu alt, um an unseren Spielen teilzuhaben und so wurde sie stillschweigend der Babysitter für Cindys jüngeren Bruder.

Ein Spiel, das wir alle gleichermaßen liebten, war das Treppenrutschspiel. Man lehnte sich mit dem Oberkörper über das Geländer, hielt sich mit beiden Armen am Geländer fest, zog die Knie an, so dass man schwebte, und rutschte.

Als ich sechs Jahre alt war, spielte ich dieses Spiel zum letzten Mal. Ich war hoch in Cindys Stockwerk gegangen und hatte geklingelt, aber es hat niemand aufgemacht. Also rutschte ich die Treppe runter. Als ich ein Drittel der Strecke hinter mir hatte, riss Cindy die Tür auf und schrie: „Hallo, Cécile …“, und ich riss die Arme hoch um ihr zuzuwinken. Ich verlor das Gleichgewicht und flog.

Ich kann mich an den Flug nicht mehr erinnern. Offenbar kam ich auf der letzten Holzstufe der Treppe auf, danach wäre, dem Palast entsprechend, der Marmorfußboden gefolgt. Ich brach mir den Schädel, und trage heute noch eine Narbe über der linken Augenbraue. Meine Nieren waren durch eine gebrochene Rippe gequetscht und ich hatte innere Blutungen.

Ich hatte verdammt viel Glück. Meine Erinnerung setzte in der Notaufnahme des Klinikums wieder ein. Ich öffnete die Augen, sah verschwommen Menschen um mich herum, die ich nicht zu ordnen konnte, drehte mich zur Seite und spuckte von der Trage. Dann wusste ich wieder lange Zeit nichts mehr.

Über drei Wochen lang lag ich im Krankenhaus und trotz meines anfangs kritischen Zustands war es eine verdammt schöne Zeit für mich. Ich mochte den besorgten Gesichtsausdruck an meiner Mutter, mochte die liebevolle Art, wie sich meine Schwester um mich kümmerte. Mochte es, dass meine Mutter und mein Vater gemeinsam an meinem Bett standen und mir vorlasen. Sie gaben mir das Gefühl, dass alles wieder gut würde, wenn ich nur gesund werde.

Ich wurde gesund.

Aber nichts wurde gut.

Nichts wurde besser.


Ich war sieben Jahre alt, als mir meine Mutter verkündete, dass sie heiraten würde. Den Mann, der bis zu ihrem Tod mein Stiefvater sein würde, hatte ich vorher mehrmals als Patient bei uns gesehen. Meine Mutter hatte nach ihrem Studium als Oberstufenlehrerin für Germanistik und Politik eine Ausbildung zur Gesprächstherapeutin absolviert. Täglich gingen fremde Menschen bei uns aus und ein, und wenn sich hinter ihnen die Tür schloss, durfte meine Mutter nicht gestört werden. Udo war einer von ihnen. Damals begriff ich nicht, wie fatal diese Ausgangssituation war. Meine Schwester nahm die Nachricht von der Hochzeit mit wenig Freude entgegen. Vielleicht gaben ihr die vier Jahre, die sie älter war als ich, den Weitblick, die Konsequenzen abzusehen. Ich fand es großartig und klammerte mich an die Vorstellung, endlich einen Vater zu haben. Mir wurden abends Geschichten vorgelesen und es war jemand da, der mit mir spielte und mich fragte, wie es mir ging. Wir besuchten manchmal seine Eltern und ich hatte dann für kurze Momente das Gefühl in einer richtigen Familie zu sein, Oma und Opa zu haben.

Die Nacht vor ihrer Hochzeit war die erste Nacht der Schreie. Ich weiß nicht mehr, worum es ging, erinnere mich nur noch daran, wie ich das Kissen auf meinen Kopf drückte, und in der Dunkelheit das Gesicht meiner Schwester suchte und es nicht fand. Sie schrien und heulten, und sie bewarfen sich mit Gläsern und Flaschen. Es steigerte sich und wurde immer lauter und lauter, bis es irgendwann ruhiger wurde, und die Wand neben mir rhythmisch angestoßen wurde, dann wurde es noch einmal ganz laut, bis es ruhig war, bis zum nächsten Morgen.

Am nächsten Morgen hatte ich Angst, die Tür zu öffnen. Mein Stiefvater hockte schwitzend im Flur und sammelte die Scherben in einen Eimer, er lächelte, irgendetwas war in seinem Blick, aber ich konnte es nicht verstehen. Er arbeitete eifrig, wischte, schrubbte, saugte, verwischte die Spuren der Nacht. Es wurde nichts erklärt.

Meine Mutter war an diesem Tag wunderschön. Vielleicht war es das Strahlen in ihren Augen, vielleicht war es ihr Kostüm. Sie hatte ein rosa-creme-farbenes Kostüm an, Rock, Bluse und Jacke, es sah edel aus an ihr, ihre Nägel waren akkurat lackiert. Sie lächelte die ganze Zeit. In diesem Moment hat sie wirklich an die Liebe geglaubt. Wir sind zum Standesamt gefahren und trafen da mit den Trauzeugen zusammen.

Ich habe mich geschämt an diesem Tag, als sie von ihren Freunden Geschenke überreicht bekommen haben. Also habe ich mich aus dem Trubel geschlichen und habe mir zusammengesucht, was ich finden konnte, ich weiß es noch heute: zwei leere Weinflaschen, das rosafarbene Papier vom Schlachter, eine leere Zigarettenschachtel und ein Stift. Daraus bastelte ich dann ein Brautpaar, was ich stolz als Dekorationsgeschenk präsentierte. Meine Mutter stellte es auf die Anrichte, zu den anderen Geschenken. Ich habe immer wieder hingeguckt in der Hoffnung, dass irgendjemand meinem Blick folgen würde und mich loben würde. Ich wollte, dass jemand darin nicht unsere Armut erkannte. In meiner Fantasie waren es zwei teuer gestaltete Puppen, und ich hoffte, irgendjemand würde es genauso sehen.

Am nächsten Tag war die kirchliche Trauung. Ich streute Blumen und fand es großartig. Es war eine richtige Feier. Wir gingen in ein Gasthaus, es gab Musik und leckeres Essen, und es waren andere Kinder da, mit denen ich spielen und tanzen konnte. Ich hatte den Schrecken vergessen und genoss den Moment. Eine Schutzreaktion, die mich mein Leben lang begleitet.

Es wurde nichts besser, es wurde nichts einfacher. Ehrlich gesagt, von diesem Augenblick an ging es steil bergab, und ich kam langsam in das Alter, in dem ich anfing, die Welt zu realisieren. Doch ich wollte die Welt, wie sie ist, nicht sehen und flüchtete mich in Träume, floh in eine mir eigene Welt, die mich lachen ließ und in der ich etwas Besonderes war.

Als ich am nächsten Tag zur Schule ging, wusste ich, dass meine Mutter gemeinsam mit meiner Schwester und meinem neuen Stiefvater weg sein würde. Ich spielte auf dem Heimweg mit einem Jungen, und wir beschlossen, nachmittags weiter zu spielen. Zu Hause waren noch letzte Reste von den Festen. Ungespülte Teller stapelten sich im Waschbecken, vollgerauchte Aschenbecher standen in eingetrockneten Weinflecken auf den Tischen, die Katzen schliefen satt und glücklich zusammengerollt inmitten des Drecks. Anscheinend hatten sie die Teller ein bisschen vorgespült und sich die leckersten Reste von ihnen geklaut. Die Styroporkisten vom Partyservice stapelten sich in der Küche. Mir war ihr Wert nicht bekannt. Als der Junge nachmittags zum Spielen kam, spielten wir Zoo. Wir nahmen die Kisten als Käfige, hauten Löcher hinein, damit die Tiere atmen konnten, und reihten sie alle hübsch säuberlich auf. Den ganzen Tag spielten wir. Als er ging, ging ich ins Bett, die anderen waren noch nicht zurück und ich hatte nicht zu Abend gegessen.

Ich wurde wach, vom hysterischen Schimpfen meiner Mutter: „Dieses Kind ...“ Es ist komisch, aber in meiner Erinnerung war ich immer „dieses Kind“, irgendetwas Nicht-Zugehöriges, was zufällig mal da war. Meine Schwester war immer „meine Tochter“. Sie war ihre ganze Kindheit lang ein Traumkind, so ruhig, so unauffällig, dass sie an meinem Leben irgendwie total vorbeigegangen ist.

Es gab nie etwas gemeinsames, etwas, das uns verbunden hätte. Als kleine Einzelkämpferinnen buhlten wir, eine jede auf ihre Art, um die Liebe unserer Mutter und fanden dabei nicht zueinander.

So still wie sie war, so laut war ich. Ich war immer weg, in mir tobte es, ich fand mein Leben ungerecht, und das habe ich immer lautstark von mir gegeben. Heute weine ich leise.

Ich hatte Angst, als die Tür aufging, denn ich wusste, dass mich niemand fragen würde, wie mein Tag war, ob ich was gegessen hatte, ob es mir gut ging. Ich wurde von einer rauen, starken Hand am Nacken gepackt und an den Haaren aus dem Bett gezogen. Mein Stiefvater schleifte mich ins Wohnzimmer.

Meine Schwester saß still auf ihrem Stuhl und träumte sich in eine andere Welt. Ich weiß nicht, ob sie je auch nur ein bisschen von meiner Art zu leben verstanden hat. Definitiv hat sie immer verstanden, dass ich schwierig bin, und dass ich unserer Mutter viele Sorgen bereitete. Manchmal frage ich mich sogar, ob so mancher böser Gedanke durch ihren Kopf geht, wenn sie über den frühen Tod unserer Mutter nachdenkt.

Meine Mutter stand erst mit dem Rücken zu mir. Sie drehte sich schwer atmend um. Ein leicht alkoholischer Geruch strömte von ihr und meinem Stiefvater auf mich ein. Sie rauchte. Ihre Mimik war einer Theatermaske gleich zwanzig Jahre gealtert, ihre Figur war eine absonderliche Mischung aus graziler Dame und zerschlagener Frau. Sie sprach mit schwerer Stimme, sie schrie nicht, sie weinte schwermütig und hielt mir eine Predigt, die nicht enden wollte, und die – wie immer – allumfassend war. Die Wut über meinen Vater tauchte darin auf, über mein generelles Ich und überhaupt alles an mir. Immer wieder schaute sie meine Schwester und meinen Stiefvater bedeutungsschwanger an, als ob sie dem noch schwerwiegendere Aspekte hinzufügen wollte. Sie beendete ihren Vortrag mit dem Satz: „Aber nun haben wir ja wieder einen Mann im Haus“, sie nickte meinem Stiefvater zu.

Er schob mich zurück in unser Kinderzimmer und legte mich über einen Stuhl. Ich weiß nicht mehr, ob es seine Hand oder sein Gürtel war, es erschien mir auf jeden Fall unendlich, und die Schmerzen zogen durch den ganzen Körper. Ich konnte so laut gar nicht schreien und weinen. Und ich weiß auch nicht mehr, was mehr wehtat, die Schläge oder dieses Gefühl des Alleinseins.

Ich war sieben Jahre alt. Heute glaube ich, dass das Alleinsein am stärksten schmerzte, neben dem Wissen, dass der Mann im Haus nicht für mich und somit auch nicht für mein Vertrauen da war.

Es war nie jemand da, der mir sagte, tu dies nicht, tu das nicht, hier ist dein Essen, wie war dein Tag. Unsere Mutter ist nie morgens mit uns aufgestanden und hat uns Frühstück gemacht, wir hatten auch keine Brote dabei oder eine Mark, von der wir uns was kaufen konnten. Bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr aß ich nur, wenn mir etwas gegeben wurde. Dies bedeutete, dass ich an der Ganztagsschule mein Mittagessen bekam, und wenn meine Mutter gekocht hatte (das war abhängig von ihrer Stimmung und unserer finanziellen Situation) abends eine weitere Mahlzeit. Ich konnte Tage ohne Essen verbringen oder aber fressen wie ein Scheunendrescher. Als ich vierzehn Jahre alt war, wurden die Lehrer darauf aufmerksam, dass ich unterernährt war. Zu dieser Zeit grassierte an unserer Schule eine Welle von Bulimie und Magersucht. Ihnen lag die Vermutung nahe, dass auch ich magersüchtig sei. Eine wirkliche Magersucht hatte ich nie. Es war nur Protest. Wenn ich den einen oder anderen Tag zu schwer oder zu ausweglos empfand, er mich wortwörtlich angekotzt hat, kam es vor, dass ich eine Nacht über der Toilettenschüssel verbrachte und spuckte. Der Grund lag nie in einem Schönheitsideal. Vielmehr war es ein Signal, meine Art, die Außenwelt auf meine Innenwelt aufmerksam zu machen. Der Schönheitswahn und die harte Kritik mir selbst gegenüber kamen erst viele Jahre später. Dennoch ertappe ich mich heute noch dabei, dass ich mir wünsche abzunehmen, wenn es mir nicht gut geht. Das Gesicht kann man überschminken, eine schlackernde Hose bleibt sichtbar. Ich fühle mich verstanden, wenn jemand seine Hand vor den Mund schlägt und sagt: „Mein Gott, bist du dürr geworden.“


Meine Schwester und ich sind so unterschiedlich, wie zwei Menschen nur sein können. Rückblickend war meine Schwester immer still und zurückhaltend. Sie konnte Tage in ihrem Zimmer verbringen, ein Buch lesen oder die Wand anstarren, sie war sehr in sich gekehrt. Von klein auf hatte sie einen absonderlichen Drang zu Reinheit und Sauberkeit. Ihr Zimmer war immer akkurat aufgeräumt und makellos waren alle Flächen geputzt. Nie lag irgendwo Staub rum, ihr Zimmer war so klinisch rein, dass es mir fast unbelebt vorkam. Wenn ich ehrlich bin, kann ich mich nicht daran erinnern, jemals lang in ihrem Zimmer gewesen zu sein, geschweige denn mit ihr gesprochen zu haben.

Mein Zimmer war immer ein einziges Chaos, ein Drecksloch sozusagen oder ein Handgranatenwurfstand, wie meine Mutter zu sagen pflegte. Und ich glaube, ich war unglaublich dreckig als Kind. Ich wurde in der Schule immer von allen gemieden, weil ich stank, weil ich blöd war, weil ich komisch gekleidet war, und weil ich mir die Realitäten so erfand, wie sie für mich erträglich waren. Und ehrlich, ich kann mich auch nicht daran erinnern, mich sonderlich oft gewaschen zu haben.

Dennoch gab es immer Engel in meinem Leben, Menschen, die es gut mit mir meinten und, die für mich da waren. Menschen, die mich wie kleine Inseln umgaben, mich all die Jahre über einen kleinen Schritt weiter brachten, kleine Wunder aus dem Nichts, die sich zu mir herunterbeugten und mir ihre Hände reichten.

Habe ich mich je richtig bedankt?

Einer dieser Engel war Frau Krüger, eine alte Dame, die wir schon aus der Referendariatszeit meiner Mutter kannten, in der sie für meine Schwester und mich die Tagesmutter war.

Frau Krüger hatte grau-weiß gelocktes Haar, war ein wenig rundlich und hatte dieses milde, wissende Lächeln, so, als wenn sie nichts aus der Ruhe bringen könnte. So, wie eine richtige Oma.

Als sie noch unsere Tagesmutter war, lebte sie in einem riesigen Haus, mit einem riesigen Garten, in dem wir Kinder spielen konnten. Und manchmal übernachteten wir in dem Zimmer direkt unter dem Dach. Und ich liebte es, in dem alten, riesigen Bett zu schlafen und den Regentropfen zuzuhören, wie sie donnernd und drohend oder fröhlich und tanzend auf das Dach prasselten. Ich liebte es, dem Knacken des alten Holzes zuzuhören, nachts, wenn das Haus müde atmete, und ich versank voll Glück in der alten ausgelegen Matratze, die mich fast ganz verschluckte.

Noch bevor ich in die Grundschule kam, zog Frau Krüger in eine kleine Wohnung näher an der Innenstadt. Vielleicht wurde ihr die Arbeit in dem großen Haus zuviel, vielleicht fühlte sie sich aber auch einfach nur einsam. Nachdem ihr Mann verstorben war und ihre Kinder ausgezogen waren, fühlte sich vielleicht erdrückt von den Erinnerungen des alten Hauses.

Ich war in der zweiten Klasse und wurde zum Direktor gerufen. Während die anderen Kinder Religionsunterricht hatten, saß ich auf dem Stuhl vor dem Sekretariat und überlegte, wie ich meine Hände halten sollte, so dass man den Dreck unter den Fingernägeln nicht sah. Immer, wenn keiner schaute, schob ich eine Kante eines Fingernagels vorsichtig über meine spitzen Eckzähne, doch so sehr ich mich auch bemühte, die Arbeit war vergebens.

Ich saß ziemlich lange auf dem Stuhl, hatte schon mehrmals die weißen und die schwarzen Fliesen gezählt, hatte die Bilder betrachtet, die Schiffe, die Vögel, die Bäume gezählt, hatte die Namen der malenden Kinder gelesen und wusste, dass in der Vitrine getöpferte Sachen ausgestellt waren. Ich hatte meine Hände unter den Pobacken versteckt, schlackerte mit den Füßen und zählte die Lampen an der Decke.

Dann ging die Tür auf und ich wurde hereingebeten.

Der in meiner Fantasie böse Direktor war eine Frau, die mich freundlich anlächelte und mir einen Platz ihr gegenüber anbot. Ein Erwachsenenstuhl, auf dem ich ein wenig verloren saß und sie fragend ansah.

„Kannst du dir vorstellen, warum ich dich zu mir gebeten habe?“, fragte sie mich und lächelte. Ich zog die Schultern hoch.

„Deine Lehrerin, Frau Spatz … das ist doch deine Lehrerin?“ Sie sah mich kurz an, und ich nickte. Irgendetwas machte mir Angst, aber ich konnte es nicht benennen. Ich ließ meine Schuhspitzen nach außen und nach innen klappen und nahm mir vor, nie wieder woanders hinzuschauen als auf meine Fußspitzen. Vielleicht passierte dann nichts Schlimmes.

„Nun, Frau Spatz hat mir erzählt, dass sie ein wenig hilflos sei, da du seit Wochen keine ordentlichen Schulsachen dabei hast.“ Ich versuchte nur auf die Fußspitzen zu sehen und ihr gar nicht zuzuhören, doch die Fußspitzen fingen langsam an zu verschwimmen. Meine Augen füllten sich immer weiter mit Tränen und legten bunte Regenbogenstreifen um meine Schuhe. Ich wollte hier nicht mehr sein.

Die Direktorin sprach weiter: „Frau Spatz hat mir auch erzählt, dass sie schon mehrmals mit dir gesprochen hätte und auch schon versucht hätte Kontakt zu deiner Mutter aufzunehmen. Nur leider ohne Erfolg.“

Nur auf die Fußspitzen schauen …

„Um in die Schule zu gehen brauchst du Sportzeug, also Turnschuhe, du brauchst Hefte, Bücher, Stifte … all dies hast du aber nie dabei. Nun sag mir, Cécile, liegt das daran, weil du immer vergisst es mitzunehmen, oder hast du es einfach nicht?“

Nun waren die Fußspitzen völlig hinter einer dicken, tropfenden Nebelwand verschwunden. Ich weinte. Natürlich könnte ich sagen, dass ich dies tatsächlich nicht besaß, natürlich könnte ich meiner Mutter in den Rücken fallen und sagen, dass sie darauf nicht achtete und dass wir kein Geld für so was hatten. Doch ich konnte das nicht sagen. Ich hätte nie etwas gegen meine Mutter gesagt. Also saß ich da, die Augen heulend an meinen Füßen klebend, und sprach bildlich Bände, doch ich sagte nur: „Ich weiß nicht.“

Ich bekam einen Brief mit, den ich meiner Mutter geben sollte, und durfte wieder in den Unterricht gehen. Als ich die Tür öffnete, grinsten mich die anderen Kinder an, vielleicht dachten sie, ich wäre von der Schule geschmissen worden. Ich war mir sicher, dass sie sich das wünschten. Von allen Seiten kam dieses Gefühl, nicht gewollt zu sein und nicht dazuzugehören.

Ich setzte mich auf meinen Platz und malte die Arche Noah auf ein Stück Papier, genau, wie alle anderen Kinder auch.

Die Miene meiner Mutter verfinsterte sich deutlich, als ich ihr den Brief in die Hand drückte. Sie las ihn, legte ihn beiseite und sah mich ernst an.

„Kannst du mir das mal erklären, Frollein?“

Während ich vor anderen oft „dieses Kind war, war ich in der direkten Anrede von ihr oft die hessische Variante der von ihr verhassten Anrede Fräulein.

Es gab nur wenige Worte, in denen ihre hessische Wurzel zum Ausdruck kam, neben den Worten Kirsche, Kirche, Tisch und Fisch, die aus ihrem Mund die Kirsche und die Kirche vertauschten und aus dem Tisch einen Tich machten, sprach sie dialektfrei.

Sie hielt mir den Brief entgegen und in ihren Augen spiegelte sich blank und deutlich ihre Enttäuschung. Und auch wenn ich ihr so gerne erzählt hätte, wie ich empfand und wie die Geschichte aus meiner Sicht aussah, spürte ich diese Schwere, die mich runterzog, die mir sprachlos die Tränen in die Augen trieb und ich hörte, wie es in meinem Kopf hämmerte „Du bist ein schlechter Mensch! Keiner will dich! Du machst alles kaputt!

Doch parallel dazu, war da auch meine Wahrheit …

Kurz vor den ersten großen Sommerferien hatte ich einen Joghurt mit zur Schule genommen. Ich hatte den Becher einfach in meinen Ranzen getan. Durch das Ruckeln auf den Weg zur Schule war der Becher geplatzt.

Ich weiß noch, wie ich die Schnappverschlüsse geöffnet habe und eine weiße, klebrige Hand aus meinem Ranzen hervorholte. Ich hatte mich wahnsinnig erschrocken und entsetzt „igitt“ gerufen. Die Kinder lachten. Die Lehrerin wies mich an, die Sachen aus dem Ranzen zu nehmen und ihn auszuwaschen. Die Hefte waren nicht zu retten und wurden weggeworfen. Die Bücher wurden abgewischt, Seite für Seite, und auf der Heizung zum Trocknen ausgelegt. Der Ranzen wurde, so gut es ging, ausgewaschen.

Zu Hause bekam ich riesigen Ärger, wie ich denn auf die Idee kommen könnte, mir einen Joghurt mit zur Schule zu nehmen, das wäre doch logisch, dass der auslaufen würde.

Dabei war ich so stolz auf meinen Weg zur Schule. So stolz, dass ich morgens alleine in den Kühlschrank geschaut hatte, dass ich mir einen Becher Joghurt heraus genommen hatte und – genau wie alle anderen Kinder auch – in der Pause etwas zu essen haben würde. Ich bin glücklich, euphorisch zur Schule gehüpft (was den Joghurt wohl zum Platzen brachte). Denn an diesem Tag würde ich dazu gehören, ich würde wie alle anderen Kinder auch in der Pause in meinen Ranzen greifen und mein Essen rausholen.

Aber alles was blieb war ein riesiger Fleck in meinem Ranzen.

Da der Fleck nach dem Not-Wasch-Manöver in der Schule nie wieder behandelt wurde, wurde er im Laufe der Zeit immer größer und dunkler. Er wurde zu einem magischen Fleck, und alles was man in diesen Ranzen legte, wurde zwangsweise dreckig und süffig und fing an zu stinken.

Irgendwann später wurden für meine Schwester Hefte gekauft. Ich klaute mir eins. Ich bekam nicht nur Ärger von meiner Mutter und meiner Schwester, weil ich sie bestohlen hatte, sondern auch von meiner Lehrerin, weil das Heft die falsche Linienführung hatte.

Von da an gab ich die Eigeninitiative diesbezüglich auf.

Vielleicht hätte ich einfach nur so clever wie meine Schwester sein müssen und mich artikulieren müssen, aber irgendwie wartete ich darauf, dass man sich um mich kümmerte.

Und wenn es keiner tat, dann tat ich es auch nicht.

Als das „Frollein“ gefragt wurde, hätte ich das sagen können. Aber ich sagte nichts. Ich sah sie an, schaute zu Boden und nuschelte: „Ich habe keine Hefte, Mama.“

Meine Mutter zählte mir auf, was ich alles zur Einschulung bekommen hatte: „Von deinem Vater hast du ein Federmäppchen bekommen mit Buntstiften und Filzstiften, kannst du mir bitte mal sagen, wo das ist?“

Ich wusste es nicht. Irgendwann hatte ich in meinem Zimmer gesessen und gemalt und dann hatte ich etwas anderes gespielt und die Stifte waren irgendwie weg. Wahrscheinlich, wenn man diesen riesigen Berg aus dreckiger Kleidung und Müll und vermeintlichem Spielzeug einmal aufräumen würde, dann würde man wahrscheinlich zumindest einen Teil des Federmäppchens wiederfinden.

„Und die Hefte und Blöcke, die wir dir zur Einschulung geschenkt haben, wo sind die?“

Ich schaute auf den Boden und sagte leise zu meinen Fußspitzen: „Aufgebraucht.“

„Aufgebraucht? Das kann gar nicht sein. Ich sage dir mal was, Frollein. Ich bin nicht dafür verantwortlich, wenn du nicht auf deine Sachen aufpassen kannst.“

Irgendetwas in mir schrie ganz laut: „Bist du doch!“, aber das war nur in mir, und ich blieb stumm.

„Du kannst dich an Frau Krüger wenden, schreib ihr einen Brief oder so.“

Meine Mutter zündete sich eine Zigarette an und sah lange dem Qualm hinterher. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Mein Verhalten machte sie krank, und in ihrem wunderschönen Gesicht lagen Zornesfalten. Ihre schlanken Finger umgriffen ihre Zigarette und ihre Fingernägel glitzerten durch meine regenbogenverschmierten Tränenaugen.

„Alles, was man dir in die Hand gibt, geht kaputt. Vielleicht hast du ja Glück und Frau Krüger hat Lust, dir noch mal zu helfen.“

Ich schämte mich so. Als ich in meinem Zimmer saß und den Brief schrieb, als ich die drei Kilometer von uns zu ihr lief, als ich den Brief in ihren Briefkasten schmiss und betete, dass sie mich nicht sah. Ich schämte mich so unglaublich. Ich wollte nicht, dass sie das für mich tat, ich wollte, dass meine Mutter – so wie alle anderen Mütter auch – darauf achtete.

Jeden Dienstag war mein Tag, an dem ich Frau Krüger in ihrer kleinen neuen Wohnung besuchte. Und an diesem Dienstag gingen wir in das kleine Schreibwarengeschäft an der Straßenecke und kauften die ganze lange Liste ein, mit allem, was ich für die Schule brauchte.

Und der Stolz über den Besitz übertraf die Scham. Mit hoch erhobenem Kopf öffnete ich am nächsten Tag meinen Schulranzen und legte demonstrativ alle neuen Dinge auf meinen Platz. Alle Hefte neben einander, alle Mappen, das Mäppchen, das Lineal. Ich war so stolz.

Selbst die Lehrerin lächelte.


Als ich zehn Jahre alt war, zogen wir auf ein kleines Dorf, nahe der deutsch-deutschen Grenze, ziemlich am Ende der Welt, 20 Kilometer von der Stadt entfernt. Eine Kleinstadt, ja, aber irgendwie halt doch eine Stadt. Wir sind in ihr aufgewachsen, meine Mutter hatte dort studiert und die Bewegung des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands begleitet. Meine Kindheit war geprägt mit „Wacht auf, Verdammte dieser Erde“ und „Europa hatte zweimal Krieg“-Parolen. Ich konnte sie alle auswendig mitsingen. Gruppen wie N’Sync und ähnliche blieben mir stattdessen fern. Ich kannte auch kein Krisskross, und ohne Fernseher erzogen lernte ich erst Jahre später, was ET, Nightrider oder Baywatch für eine Bedeutung hatten. Wir zogen also auf dieses Dorf, eine kleine 500 Seelen-Gemeinde, in der alle irgendwie miteinander verwandt waren und seit Ewigkeiten friedlich nebeneinander her lebten. Wir waren Neudazugezogene, die kritisch beäugt wurden, und denen man vorsichtig ‚Guten Tag‘ sagte, und über die man alles erfahren wollte. Das Bauernhaus, in das wir zogen, war alt, und total verkommen. Es wurde mit Öl beheizt, welches immer knapp war. Auch der Badeofen war ein Ölofen. Um baden oder duschen zu können, musste man ihn füllen, zünden und ziemlich lange warten. In meiner Erinnerung ist er immer aus.

Die Umzugskisten waren kaum ausgepackt, da wurde ich krank, Meningitis, die erste von dreien, die ich in meiner Kindheit erleben sollte. Generell wurde ich ständig krank, und wenn ich nicht wirklich krank wurde, dachte ich mir etwas aus. Ich übte mein schauspielerisches Talent, bis sie mich ins Auto setzten und mich in die Stadt ins Krankenhaus fuhren. „Dieses Kind ...“

Ich wollte weg, ich wollte raus, überall war es schöner als da, in diesem versifften Haus, in dem meine Mutter langsam, aber sicher, immer tiefer den Hang runter stolperte, sich selbst und uns verlor, in dem sie vergaß, wofür sie gelebt und gekämpft hatte.

Ich hasste es, morgens noch früher aufstehen zu müssen. Das Zimmer meiner Schwester und meins waren miteinander verbunden, oder anders gesagt, mein Zimmer war das Durchgangszimmer, das in das Zimmer meiner Schwester führte. Jeden Morgen, wenn meine Schwester die quietschende Schiebetür aufschob, die unsere Zimmer miteinander verband, wurde ich wach. Das zu spät zur Schule kommen hatte ein Ende. Der Bus, den wir erreichen mussten, fuhr um zehn vor sieben. Genau wissend, dass der nächste Bus erst zwei Stunden später fuhr, standen wir jeden Morgen pünktlich an der Haltestelle. Das letzte Jahr der Grundschule verbrachte ich zehn Kilometer von unserem Dorf entfernt auf einer Gesamtgrundschule, in die alle Kinder der umliegenden Dörfer gingen. Die meisten mussten, um zur Schule zu kommen, wie Rebecca und ich jeden Morgen mit dem Bus fahren. Unterwürfig, klein und demütig stieg ich jeden Morgen ein, denn die Kinder setzten sich auf die äußeren Sitze und ließen mich nicht zu ihnen setzen und sie tuschelten über mich und bewarfen mich mit Papierschnipseln. Ich hatte keine richtige Schultasche, sondern nur einen Jutebeutel. Die Kinder lachten darüber, entrissen ihn mir oft und leerten ihn auf den Weg zur Schule.

In diesem Jahr arbeitete meine Mutter in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für das jüdische Museum. Es handelte sich hierbei um ein Forschungsprojekt über Bestattungsrituale der Juden in Deutschland zur Jahrhundertwende. Ihre Liebe zu Israel und ihr Interesse an fremden Religionen und Kulturen waren ihr dabei eine große Hilfe. Doch meine Mutter konnte ihre Arbeit von zu Hause erledigen, und sich ihre Zeit frei einteilen. Das wurde zu ihrem Verhängnis. Die permanente Präsenz meines Stiefvaters, der von ihr beschäftigt werden wollte, ließ sie ihre Arbeit schnell vergessen. Nach dem morgendlichen Kaffee folgte schnell der morgendliche Rotwein. Sie trank schon, bevor ich aus der Schule kam, und auf ihrem Schreibtisch sammelte sich langsam Staub an. Ich weiß nicht, ob sie ihre Arbeit je im Sinne des Forschungsprojektes beendet hat. Eines Tages lagen die Bücher nicht mehr auf ihrem Schreibtisch. Meine Mutter wurde immer schwermütiger, ihre Stimme immer kehliger, der Glanz in ihren Augen immer seltener. Stück für Stück verlor sie sich. Ich nahm das damals nicht so bewusst wahr, für mich war das mein Leben, das war meine Welt. Ich fühlte mich einfach nur nicht wohl in ihr.

Ich bin nie gerne nach Hause gegangen, habe immer getrödelt, Umwege eingelegt, bin ein Dorf früher ausgestiegen und die restlichen drei Kilometer gelaufen, ganze Tage verbrachte ich am Steinbruch und starrte in das Dorf hinab. In den meisten Fällen fiel es nicht auf. Es gab keine Regeln, keine Konstante, an die man sich halten konnte. Ich konnte einen ganzen Tag von zu Hause fern bleiben, und niemand merkte es, ich konnte fünf Minuten zu spät kommen, und dafür zwei Wochen Stubenarrest bekommen. Es gab keinen Sinn, auch wenn mir in nächtelangen Predigten dieser zu vermitteln versucht wurde. Es hatte keinen Sinn, kein System.

Bis zu meinem sechsten Lebensjahr war mir der Kontakt zu meinem leiblichen Vater verboten. Als ich den Kontakt dann endlich aufnehmen durfte, war seine Häufigkeit und Regelmäßigkeit von den Launen meiner Mutter abhängig. Generell glaube ich, dass mein Vater mit mir schlichtweg überfordert war.

Ich kannte keine Grenzen und keine Regeln, ich lief permanent in total verdreckten und abgetragenen Klamotten bei ihm auf, konnte hemmungslos und maßlos lachen und Krach machen und in der nächsten Minute ganz still und traurig sein. Versuche, mit mir darüber zu sprechen, wie es mir ging, endeten meistens damit, dass ich anfing, hysterisch rumzuschreien, meinen Kopf unter einem Kissen verbarg, mich versteckte oder mir die Ohren zuhielt. Wie eine kleine Löwin warf ich mich dann schützend vor meine Mutter, beteuerte, dass es mir gut ging, dass alles in Ordnung sei zu Hause, dass es meine Schuld sei, dass ich so dreckig sei, etc. Mein Vater reagierte schnell. Er kaufte mir Klamotten, die er bei sich behielt, er kaufte mir eigenes Waschzeug, eine Zahnbürste und ähnliches. So musste er mit mir nicht darüber diskutieren, ob ich es vergessen hatte, oder meine Mutter, oder ob es das alles vielleicht gar nicht gab.

Ich hasste das Bauernhaus, ich hasste die Ölöfen, ich hasste die Kälte, den Dreck, das Knarren der Dielen unter den Füßen und dieses Gefühl, am Ende der Welt eingesperrt zu sein.

Ich versuchte mich wegzudenken. Während ich die Kinder draußen auf der Straße spielen hörte, robbte ich auf allen Vieren mit dem Schrubber durchs Haus und putzte. Ich erinnere mich noch an die Getränkekiste, die unter meinen Füßen stand, damit ich bis zum Waschbecken reichte. Ich erinnere mich an die nicht enden wollenden Abwaschberge, und daran, dass ich heulend am Becken stand und mich so unglaublich müde fühlte. Meine Mutter sagte immer, ich solle mich nicht beschweren, dass ich so spät ins Bett kommen würde, schließlich habe ich erst nach dem Abendessen angefangen, und es wäre nicht ihre Schuld, wenn ich mich permanent in eine andere Welt träumte und trödelte. Eine andere Welt … meine andere Welt … meine heile Welt, irgendwo in meinen Gedankengängen ein kleiner Schatz, der nur mir alleine gehörte, meine Welt in die kein anderer hineinkam, ein goldenes Tor, hinter dem alles anders war. Die Spülmittelblasen auf der Wasseroberfläche waren kleine Schiffchen, die mich, die Prinzessin, mitnahmen. Sie überquerten gefährliche Tiefen und entgingen schweren Strömungen. Ich stand einfach nur da und starrte auf das Wasser. Ich vergaß die Spülbürste und den Teller in meiner Hand, ich vergaß, dass meine Mutter hinter mir stand und mich auslachte. Ich war in meiner Welt, meiner Galaxie. Meinen kleinen Schatz konnte mir keiner nehmen.

Ich hatte keinen Vater, keine Mutter. Ich war schon erwachsen, ich regierte ein Königreich.

Kurz bevor die Sommerferien endlich das Ende der Grundschulzeit einläuteten, wurde ich nachts von dem Schreien und Heulen meiner Mutter geweckt. Lang anhaltend, wie ein verhungerter Hund, hallte ihr Schluchzen durch das Haus. Manchmal hörte ich Sätze wie: „Versuch mich doch bitte zu verstehen …“, doch die meisten Sätze wurden von dem Taschentuch vorm Gesicht, dem Rotwein, der schwer im Körper wütete, oder der Wand, die zwischen mir und ihnen war, verschluckt. Müdigkeit und Hellwachsein stritten sich für einen kurzen Moment wütend in meinem Körper. Ich setzte mich auf und war mit meiner Mama traurig. „Warum weint sie nur so doll?“, fragte ich mich.

Durch mein Fenster sah ich die Wolken vom Mond beleuchtet über den nachbarlichen Bauernhof ziehen. Sein Licht hüllte mein Zimmer in Dämmerlicht, so dass ich im schummerigen Schein alles sehen konnte. Die Schiebetür zum Zimmer meiner Schwester war verschlossen, hat sie es auch gehört? Etwas fiel zu Boden, ich hörte meinen Stiefvater schreien: „Verdammt noch mal“, dann ein weiteres Krachen, anders diesmal, und das Heulen meiner Mutter war für einen kurzen Moment ein spitzer Schrei, auf den lautes Schluchzen folgte. Ich ließ meine Fersen kreisen und zusammen baumeln und lauschte in die Dunkelheit. Warum hört das nicht auf? Was kann ich nur tun? Was habe ich nur falsch gemacht, dass sie so traurig ist? Auf der Bettkante sitzend, machten meine Füße kleine Ballerinaschritte auf den Dielen. Meine Hände lagen unter meinen Oberschenkeln, ich drückte die Schulterblätter so weit vor, als wenn ich wollte, dass sich die linke und die rechte Schulter unter meinem Kinn berührten. In einer eigenen Sprache, die ich mir selbst ausgedacht hatte, und die auch nur ich kannte, sang ich ein Lied. Ich sang leise, presste den Kopf auf meine Brust und sang in mich hinein.

Meine Mutter heulte erneut laut auf und holte mich zurück aus meinem Lied. Immer noch waren die Geräusche da. Die Schiebetür zum Zimmer meiner Schwester war immer noch zu. Sie hörte alles. Sie musste es doch hören! Doch nichts passierte. Die Füße versuchten wieder in den Takt zu kommen, ich versuchte das Lied zurückzuholen. Ich hatte es vergessen. In meiner Quatsch-Sprache, deren Bedeutung ich nicht kannte, sagte ich etwas vor mich hin. Ich sprach mir selber Mut zu, dann stand ich auf.

Während ich den Riegel von meiner Zimmertür zurückschob, schaute ich noch einmal zu der Tür meiner Schwester. Die Tür war immer noch zu.

Der Flur war dunkel und alle Zimmertüren waren verschlossen. Aus dem Spalt unter der Küchentür leuchtete Licht hervor. Um Zeit zu gewinnen ging ich als erstes geradeaus an der Küche vorbei ins Badezimmer. Ich verschloss die Tür, setzte mich auf die Toilette und versuchte zu pinkeln. Es klappte nicht. Ich musste nicht.

„Marlies, es reicht“, dröhnte es drohend aus der Küche. Meine Ellenbogen bohrten sich spitz in meine Oberschenkel, ich hielt mir die Ohren zu. Aber was ich auch versuchte, die Geräusche gingen nicht weg.

Ich wusch mir viel zu lange die Hände. Nachdem ich gespült hatte, lehnte ich meinen Kopf gegen das Waschbecken. Es hörte immer noch nicht auf.

Ich löschte das Licht im Bad und stand im Dunkeln im Rahmen der Badezimmertür. Von hier aus musste ich nur meinen Arm ausstrecken. Ich ging einen Schritt vor, noch einen, dann stand ich im Rahmen der Küchentür, die Hand an der Klinke, das Ohr an das kalte Holz der Tür gepresst. Für einen kurzen Moment war es ruhig. Ich hörte das aufgebrachte Schnaufen meines Stiefvaters, hörte wie ein Glas hoch genommen, aus ihm getrunken und unsicher wieder abgestellt wurde. Hörte das Klicken des Feuerzeuges, meine Mutter zündete sich eine Zigarette an. Dann krachte es wieder und meine Mutter fing von Neuem an zu weinen.

Ich drückte die Klinke hinunter. Zigarettenqualm lag schwer im Raum und Rauchschwaden tanzten Ringelrein um die Küchenlampe. Mein Stiefvater hielt einen Teller in der Hand und schob sich unbeholfen mit seinen bloßen Fingern ein Stück Fleisch in den Mund. Es war ekelhaft. Sein Gesicht, seine Finger, sein Unterhemd, alles war mit roten und braunen Essensresten verschmiert. Ich musste würgen. Er grunzte und ich nahm das als Zeichen wahr, dass er registriert hatte, dass ich den Raum betreten hatte. Meine Mutter saß am Küchentisch, der Bademantel war geöffnet und hing ungeschickt an ihr. Für einen kurzen Moment ekelte ich mich vor ihr und ihren nackten, dünnen, weißen Beinen. Sie hatte das Gesicht in ihren Händen verborgen. Eine bis auf den Filter verglühte Zigarette, die einen langen Aschestab bildete, stand seitlich von ihrer linken Hand ab. Sie war so still, stiller als still, wie tot. Ich ging an meinem Stiefvater vorbei. Stand seitlich neben ihr. Streichelte ihren Kopf. Keine Reaktion. Tränen schossen in meine Augen. Was war nur passiert? Der Bademantel löste sich und entblößte ihre schlaffe, weiße Brust. Ich griff in die Innenseite des Bademantels, um die Brust wieder zu bedecken. Meine Mutter erschrak fürchterlich, der Aschestab fiel ungebremst in ihren Schoß. Ihre Augen rotgeweint. Sie sah mich fassungslos an. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, dass sie nicht wusste, wer ich war. Ich griff überkreuzt nach meinen Schultern, schob den rechten Fuß auf den linken, presste meine Oberschenkel aneinander, ich wollte verschwinden.

Ich war so unglaublich traurig und ich war so wütend auf ihr verquollenes, verheultes Gesicht. Ich war wütend auf den Gestank von nicht geleerten Aschenbechern, Katzenpisse, Alkohol und Unhygiene und ich stand mitten drin, war ein Teil davon und konnte es nicht ändern.

„Mama“, versuchte ich sie anzusprechen, „Mama, was ist denn los?“ Meine Mutter schien sich immer noch nicht so ganz sicher zu sein, wer vor ihr stand.

Mein Stiefvater leckte schmatzend und grunzend seine Finger ab, ich hatte ihn für einen kurzen Moment vergessen. Instinktiv ging ich einen Schritt zurück, presste mich an die Wand. Fragte ihn: „Udo, was ist denn los?“

Er lachte. Schüttelte den Kopf, lachte und öffnete den Kühlschrank. Er starrte in den Kühlschrank hinein, sprach mit sich selbst in den Kühlschrank, furzte laut. Ich war mir sicher, er hat mich, meine Anwesenheit und meine Frage vergessen. Ich sah nur die Kühlschranktür unter der seine dicken, roten Beine hervorguckten, von denen sich trockene Haut in großen Schuppen löste. Die Strümpfe, in denen er steckte, waren fast schwarz an ihren Sohlen, kurz vor der Tennissockenbestreifung schafften sie es annähernd wieder an ein Weiß.

Ich wandte angewidert meinen Blick von ihm und sah wieder zu meiner Mutter. Diese hat sich umständlich eine Zigarette angemacht, ihren Bademantel zurecht gezogen, und versuchte aufzustehen. Die Zigarette in ihrer Hand zitterte. Sie griff mit der einen Hand nach der Lehne des Stuhls, die andere Hand lag auf der Tischplatte. Sie versuchte sich hochzudrücken. Sie schien nicht zu registrieren, dass der Stuhl zu weit unter dem Tisch stand, dass Tisch- und Stuhlbeine ihre eigenen Beine einklemmten. Sie versuchte sich zu drehen und wankte dabei Besorgnis erregend. Ich hatte Angst um sie, sie drohte das Gleichgewicht zu verlieren.

Ich stützte sie an der Schulter, sagte: „Nein, Mama, so geht das nicht“, aber ich war zu spät. Sie fiel. Stürzte samt Stuhl auf mich drauf. Meine Mutter schrie: „Au, au, au …“ und rieb sich an ihren Beinen und fing lauthals an zu weinen, sie war unfähig, ihre Arme und Beine zu koordinieren. Ich biss mir auf die Lippen und ignorierte den Schmerz, den der Aufschlag des Stuhles und ihres Körpers verursacht hatte. Ich krabbelte unter meiner Mutter hervor und versuchte ihr zu helfen. Doch sie schrie mich an: „Geh weg, verschwinde, meinst du ich lass mir noch mal von dir wehtun? Hau ab. Du bist ja gemeingefährlich.“

Ich stand wie gelähmt da, rieb meinen Arm, auf dem die meiste Last gelandet war und starrte sie an. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, völlig perplex. Tränen liefen meine Wangen herab und ich verstand die Welt nicht, die sich unaufhörlich weiter drehte. Warum kann diese Welt nicht für einen ganz kurzen Moment einmal anhalten, damit ich Luft holen kann?

„Ich habe dir doch gar nichts getan“, weinte ich verbittert bettelnd. Der Stuhl stand wieder und meine Mutter stützte sich schwankend mit beiden Händen auf die Lehne. Sie wechselte auf die Tischplatte. Ohne mich zu beachten schob sie sich vorsichtig um den Tisch herum, um sich mit der Rotweinflasche von der Anrichte zurückzukämpfen. Zitternd versuchte sie, ihr Glas zu treffen. Die Scherben auf dem Boden verrieten mir, was zuvor so laut gescheppert hatte.

Mein Stiefvater nahm ächzend einen tiefen Schluck aus seiner Bierflasche und stellte sie viel zu laut ab. Ich zuckte zusammen. Er sah mich an. „Abmarsch jetzt“, sagt er, „es ist Schlafenszeit.“

Ich sah den zitternden Körper meiner Mutter, wie sie, mittlerweile mit beiden Händen, krampfhaft versuchte, die Flasche zu heben. Alles was sie interessierte war, neuer Wein in ihrem Glas. Ich sah, wie viel Kraft sie das Stehen kostete.

Ich ignorierte die Warnung, ich ignorierte meinen Stiefvater. Ich konnte sie so nicht sehen. Sie tat mir so unglaublich Leid.

Ich ging zu ihr, stützte sie und fragte: „Soll ich dich ins Bett bringen?“

Sie hatte nicht viel Kraft in ihrem unterernährten, vergifteten Körper, doch sie nahm alle, die sie noch hatte, zusammen, um mich wegzuschubsen.

„Ich habe dir doch gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen.“

Ich ging ein paar Schritte zurück, ließ sie zwei Mal, drei Mal Luft holen. Dann ging ich wieder zu ihr und half ihr, sich auf den Stuhl zu setzen. Tat so, als wenn ich nicht gehört habe, was sie gerade gesagt hatte und als wenn es die vorherige Szene nicht gegeben hätte. Während ich ihr ein wenig Wein ins Glas goss, fragte ich noch einmal: „Soll ich dich ins Bett bringen?“

Ihre dünne, kleine Faust ballte sich. Wütend traten ihre müden Adern über den Knochen hervor, doch der von ihr erwünschte Knall blieb aus, als sie die Faust viel zu müde und viel zu schlaff auf die Tischplatte knallen ließ.

„Verdammt noch mal, ich habe dir gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen! Hörst du nicht?“ Ihr dünner, langer Zeigefinger deutete zitternd auf die Tür: „Geh jetzt, geh!“

Mein Stiefvater nahm einen neuen tiefen Schluck aus seiner Bierflasche. Ich hörte, wie das Bier laut gluckernd seine Kehle runter rann. Er grinste spöttisch an dem Flaschenhals vorbei.

Ich kniete mich neben meine Mutter. Sie musste mich doch verstehen, ich wollte ihr doch nichts Böses, liebte nichts mehr als sie, wollte nur, dass sie schlafen konnte. Ich legte meinen Kopf in ihren Schoß und meine Arme um ihre Hüfte. Nur für einen kurzen Moment wollte ich Wärme spüren. Ich weinte in ihren Schoß. Ihre spitzen Fingernägel bohrten sich in meine Hände, als sie sich grob aus meiner Umklammerung löste und mich wegschubste.

„Ein für alle mal, du sollst verschwinden!“

Ich kniete immer noch. Neben mir eine Pfütze Rotwein und Scherben zerbrochener Gläser; heruntergefallene Asche und vollgeweinte Taschentücher hatten Teile des Weines aufgesaugt. Eine kleine Scherbe bohrte sich biestig in mein Knie. Ich legte meine Hand auf ihren Unterarm, jetzt selber völlig verheult weinte ich, bettelte ich: „Mama …“

Ihr Arm schoss hoch, kraftlos, aber eindeutig ein Signal. „Es ist jetzt Schluss.“ Sie sah zu meinem Stiefvater. „Udo …“ Er kam auf mich zu, packte meinen Arm und riss mich unsanft hoch. „Du hast gehört, was deine Mutter gesagt hat“, fuhr er mich an, während er mich wie einen schlaffen Sandsack einfach hinter sich her schleifte. Er öffnete die Küchentür und schubste mich in den Flur. „Verschwinde jetzt.“

Jetzt war mir alles egal, ich hatte nichts mehr zu verlieren. Ich drehte mich um und schrie ihn an:

„Du bist nicht mein Vater, und du wirst auch nie mein Vater sein.“

Die Augen meines Stiefvaters verengten sich zu kleinen Schlitzen, dieser Gesichtsausdruck von absoluter Kälte und Berechnung, die gleiche Mimik, mit der er jungen Katzen den Hals umdrehte, meine Mutter bewusstlos schlug. Dieser Blick … messerscharfe Stiche, die dir das Blut in den Adern gefrieren lassen. In dem Moment weißt du ganz genau, noch ein Wort, und er bringt dich um. Eine falsche Bewegung und er wird dich am Genick packen, durchs ganze Haus schleifen, dich im Bad auf die Kacheln klatschen lassen, dich in die Wanne schmeißen. Er wird das eiskalte Wasser anmachen, dich abduschen, deinen Kopf immer wieder in den Wasserstrahl drücken, er wird lachen. Dieses eiskalte, hysterische, berechnende Lachen, das Freude empfindet am Schmerz eines anderen.

Ich war still. Ich hörte das Puckern meines Blutes im Ohr, spürte, wie mir ganz kalt wurde, biss mir auf die Lippe, um den Schrei zu unterdrücken, der in mir steckte. Mein Blick suchte das Gesicht meiner Mutter. Strafend schaute sie von oben nach unten an mir herab. Ich hatte ihren Mann verletzt, ihr Baby.

„Dann bringen wir sie halt zu ihrem Vater …“, sagte meine Mutter und zündete sich eine Zigarette an.

„Was soll das heißen, was soll das?“, fragte ich sie, und merkte, wie sich der Boden unter mir drehte. Ich war eingestellt auf die kalte Dusche, auf eine Nacht auf diesem Spinnenweben verhangenen Dachboden. Ich war eingestellt auf Missachtung, Ignoranz, eine Woche lang, von mir aus. Aber was sollte das?

„Pack deine Sachen“, sagt sie klar, eindeutig und berechnend. Ich schmiss mich auf den Boden und wollte auf sie zu.

„Ich will meine Sachen nicht packen, ich will hier nicht weg …“

„Es ist doch überall besser, als bei uns. Udo ist nicht dein Vater, du fühlst dich vernachlässigt, keiner mag dich … also los, pack deine Plünnen1und wir bringen dich zu deinem Supervater. Soll er doch sehen, wie er mit dir fertig wird. Aber ich bin fertig mit dir.“

Ich lag auf den Boden, spürte wie meine Haare in meinem verheulten und verrotzten Gesicht klebten.

„Nein!“, heulte ich in das versiffte Linoleum. „Nein, nein, nein!“ Ich starrte lieber an die blauen Flecken an den Beinen meiner Mutter, starrte lieber auf die Brandlöcher von fallengelassenen Zigaretten auf dem Fußboden. Ich wollte meinen Kopf nicht heben, wollte für immer dort liegen bleiben, hatte Angst, dass sie mich verstieß. Ich war doch für sie aufgestanden, wollte sie retten, und nun verstieß sie mich. Ich konnte meine Sachen nicht packen. Das wäre Verrat.

Heute weiß ich, dass es ihr nur darum ging, ihre Macht zu demonstrieren.

„Gut, dann gehen wir halt erstmal so, wenn Mademoiselle sich nicht in der Lage sieht, ihre Sachen zu packen. Dann kannst du halt morgen nicht in die Schule gehen. Aber das soll nicht mehr mein Problem sein, da kann sich dann dein Vater mit rumärgern. Ich hab mir lange Zeit genug den Arsch für dich aufgerissen, und wenn das deine Art ist, es uns zu danken, dann bitte schön.“

Sie waren beide betrunken …

Es dämmerte schon. Mein heißer Kopf beschlug die kalte Fensterscheibe, und im angehauchten Glas verzog sich die ganze Welt da draußen zu unwirklichen Fratzen. Alles erschien mir unwirklich. Mir war schlecht, mein Kopf war heiß. Ich hätte so gerne mit ihr gesprochen, hätte mich so gerne an sie gekuschelt. Ich versuchte die Situation zu rekonstruieren, wollte mich erinnern, was ich getan hatte, dass sie mich verstieß. Aber ich sah immer nur die kalten, berechnenden Augen meines Stiefvaters im Rückspiegel, und ich lehnte meinen Kopf an die Scheibe und schloss die Augen. „Bitte, lieber Gott, lass mich bei ihr bleiben, bitte lieber Gott, lass alles gut ausgehen …“ Ich betete, achtzehn Kilometer lang.

Die Lichter der Stadt zogen verzerrte Bilder auf der Fensterscheibe. Ich zählte die Kreuzungen. Wusste mit jeder Sekunde, dass sie es sich nicht anders überlegen würde. Spürte diesen riesigen Klos im Hals. Ich hoffte, dass ich jetzt in diesen Moment einschlafen und nie wieder wach werden würde. Wir näherten uns der Straße meines Vaters, ab jetzt lief die Zeit in Zeitlupe, minutenlang bogen wir um die Straßenecke, der Blinker klickte eine Stunde lang, Zeit und Raum verschoben sich, nichts war mehr wirklich. Vor der Toreinfahrt hielt der Wagen. Meine Mutter stieg aus. Klingelte, sprach etwas in die Gegensprechanlage, ihre Stimme war kalt. Sie öffnete meine Autotür. „Steig aus“, sagte sie zu mir. Mein Vater erschien in der Toreinfahrt. Er war verschlafen. Notdürftig war er in eine Hose und ein Hemd gesprungen, seine Haare klebten verschlafen in seinem Gesicht.

„Marlies, was soll das? Warum lässt du die Kleine nicht schlafen, was willst du mitten in der Nacht hier?“

Meine Mutter lachte ihn an und zerrte mich aus dem Auto.

„Ich bringe dir deine Tochter. Sie meint, dass es ihr bei dir besser gehen würde. Also bitte schön, nimm sie …“

Mir liefen Tränen über das Gesicht. Ich versteckte mich hinter meiner Mutter, wollte mich an ihr festklammern, als wenn er, mein Vater, ein böser Mensch wäre. Wollte sie nie mehr loslassen. Sagte immer wieder: „Nein, nein, ich will das nicht, ich will nicht zu Papa, ich will bei dir bleiben, bei dir bin ich zu Hause.“

Mein Vater versuchte die Situation zu erfassen, versuchte zu verstehen, was da los war mitten in der Nacht. Fühlte sich wahrscheinlich wie auf einem Hochseil, und wusste nicht, wie er jetzt den Salto schlagen sollte, ohne sich oder mich zu gefährden.

„Marlies, ich bin darauf überhaupt gar nicht eingestellt, und ich hab auch gar nichts da für die Kleine. Klar kann sie heute Nacht erstmal hier bleiben, aber morgen müssen wir dann noch mal reden. Ich … du weißt, dass das nicht von heute auf morgen geht, ich hab nur eine kleine Butze, sie hätte ja noch nicht mal ein eigenes Zimmer.“

„Siehste …“, sagte meine Mutter. „Dein Vater will dich gar nicht, und nun? Welchen Plan hat Madame jetzt? Sollen wir vielleicht noch beim Kinderheim vorbei fahren? Auch da ist es bestimmt besser, oder?“

Mein Vater machte eine hilflose, sich erklären wollende Geste. „Das hab ich so gar nicht gesagt. Willst du heute Nacht erstmal hier bleiben, Kleine?“ Ich drückte mich näher an das Auto und schüttelte den Kopf.

„Nein, ich möchte nirgendwo hin, ich möchte einfach nur nach Hause. Ich möchte bei Mama bleiben, da wo ich hingehöre.“

Ich begriff nicht, dass ich mit diesen Worten meinen Vater verletzte, und die Verwirrung, die meine Mutter gestiftet hatte, damit noch verstärkte. Mir war damals gar nicht bewusst, was mein Vater in diesem Moment fühlen oder denken konnte. Es lag mir fern, ihn zu verletzen. Ich fühlte mich nur selbst verletzt. Wollte nach Hause, wollte nicht abgeschoben werden. In dieser Nacht vergaß ich, dass ich so viele Male davon geträumt hatte, einfach von zu Hause abzuhauen. Auch der Traum, dass mein Vater mich da eines Tages rausholen würde, war in dieser Nacht vergessen.

Auf der Rückfahrt nach Hause lehnte ich meinen Kopf an die kühle Scheibe und schlief ein. Ich hörte noch verschwommen, wie die beiden sich unterhielten, über Stubenarrest, und härtere Konsequenzen. Mit diesem Kind konnte es so nicht weiter gehen.

Irgendwie lief die Zeit weiter. Irgendwie verziehen sie mir. Ich schaffte es, ab und an meinen Vater zu besuchen, und kam so gar manchmal nachmittags nach der Schule heimlich bei ihm vorbei. Ich liebte meinen Vater und hatte dennoch das Gefühl, dass er mich nie richtig verstand. Aber wie sollte er das auch? Ich wurde ihm in Bröckchen zugeschmissen, und jeder Kontakt mit mir war ein riesiger Akt gepaart mit Streitereien und Auseinandersetzungen mit meiner Mutter.

Als er mir kurz nach meinem zehnten Geburtstag eröffnete, dass er nach Berlin ziehen werde, traf mich das wie ein Schlag ins Gesicht. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, aber ich fühlte mich irgendwie belogen. In mir war diese heimliche Vorstellung gewachsen, dass mein Vater mich da eines Tages rausholen würde, dass ich irgendwann ein anderes Leben mit ihm und einer seiner vielen tollen Frauen beginnen würde. Aber er ging. Ich hatte versucht, ihm zu vertrauen, hatte in den wenigen Jahren sogar manchmal zugegeben, dass ich unglücklich war, hatte manchmal sogar geweint, und gesagt, dass ich nicht nach Hause zurück wollte. Und er ging.

Ich stand draußen auf dem Hof, es war soweit, mein Vater war gekommen um sich zu verabschieden. Ich hatte keine Ahnung, wie weit Berlin weg ist, aber ich spürte, dass es ganz weit war. Ich würde alleine zurückbleiben. Durch den Regenbogen meiner Augen sah ich zu meiner Linken das Bauernhaus, zu meiner Rechten den Kleinwagen seiner Freundin und die Straße. Ich wollte ihn nicht umarmen und klammerte mich gleichzeitig an ihm fest. Ich weinte, weinte leise, weil meine Mutter sich schon über meine Theatralik lustig machte. Ich wartete, mein Herz klopfte. Obwohl der Verstand schon lange gesagt hatte, dass dies die Realität sei, wartete ich, dass er mich bat einzusteigen, dass er mich mitnahm. Er stieg stumm ein, schlug die Tür zu. Seine Freundin stieg hinters Steuer, beide winkten, sie fuhren los … Ich blieb wie angewurzelt stehen. Die anderen waren schon lange wieder im Haus, da starrte ich immer noch auf den Fleck, an dem das Auto gestanden hatte. Dieses Wort Vertrauen wurde in dem Moment aus meinem Kopf gelöscht. Ich fühlte mich allein und war so unglaublich wütend auf ihn.

In meinem Kopf schrie eine Stimme: „Nimm mich mit, nimm mich mit, nimm mich mit.“

Die Stimme hörte nicht auf zu schreien, war so laut, dass ich gar nicht verstehen konnte, was tatsächlich gesprochen wurde. Alle Verabschiedungsklauseln rauschten durch mich hindurch, wurden von der Stimme in mir überschrien, ich bekam sie nicht stumm. Ich hatte darauf vertraut, dass er mich mitnahm. Er musste mich doch mitnehmen, ich war doch seine Tochter.

„Papa!“

Vielleicht wollte er eine andere Tochter. Ich hatte ihm vertraut, dass er mich lieb hat, ich hab ihn doch lieb.

„Bitte, hab mich lieb, Papa!“

Vertrauen liegt irgendwo in diesem alten Bauernhaus …

Ein Spiel, dessen Regeln ich nie begriff, begann ab da seinen Lauf zu nehmen. Jedes Mal, wenn es auf die Ferien zuging, fieberte ich darauf, mich in den Zug zu setzen und nach Berlin zu fahren. Doch von all den geplanten Reisen fanden nur wenige statt. Es waren oft banale Gründe, die mich zurückließen und heute weiß ich, dass es mit mir nichts zu tun hatte. Manchmal war der alleinige Grund, dass das Geld für die Bahnfahrt nicht vorhanden war. Aber dies wurde so natürlich nie gesagt. Meist war es mein Verhalten, dem eine Strafe folgen musste. Hilflosigkeit ist ein Begriff, der meine Kindheit geprägt hat.

Wessen Moral? Eine Autobiografie zum Thema: Erwachsene Kinder suchtkranker Eltern

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