Читать книгу Mörderhände: 7 Strand Krimis - Cedric Balmore - Страница 11

3. Kapitel

Оглавление

Er fuhr rechts an den Straßenrand, als ihn ein Krankenwagen mit Blaulicht und angeschalteter Sirene in hohem Tempo überholte. Tjade Winkels hatte seinen alten Golf aus der Garage holen müssen, da der Weg zum Altenheim für einen Fußweg zu weit gewesen wäre.

Er war doch erst zu Hause gewesen und hatte ein Fertiggericht warm gemacht, während Harm sein Dosenfutter schlabberte. Dann war er mit dem Hund eine halbe Stunde spazieren gegangen. Harm mochte es nicht, wenn er zu lange im Haus bleiben musste. In solchen Fällen waren herumliegende Socken vor ihm nicht sicher.

Der Krankenwagen war kaum vorbei, als ein Streifenwagen ebenfalls mit Sirene und Blaulicht hinter ihm aufkreuzte. Tjade ließ auch ihn vorbei, ehe sich wieder in der Verkehr einordnete.

Wahrscheinlich ein Verkehrsunfall.

An seinem Ziel angekommen, blieb er vor der Einfahrt stehen und musterte das große Schild an der rechten Seite.

Seniorenresidenz Waldfrieden.

Klar, es musste heutzutage ja alles pompöser klingen als es war. Winkels erinnerte sich, dass er vor vielen Jahren schon einmal hier gewesen war. Er war gerade erst in die Abteilung für Schwerverbrechen versetzt worden, was er sich damals schon lange erhofft hatte.

Im Heim hatte es eine Vergewaltigung gegeben, Nein, keine der Insassinnen, sondern eine junge Küchenhilfe. Ein Mann hatte sie in ein leer stehendes Zimmer gezerrt, und sie hatte vor Angst keinen Laut von sich gegeben. Es war wohl ein Besucher oder jemamd war von der Straße durch ein Nebengelass auf das Gelände gekommen, eine unverschlossene Eingangstür und eine Gelegenheit: Der Fall war nie aufgeklärt worden.

Winkels hatte die junge Frau immer wieder besucht, ihr Fotos von Verdächtigen gezeigt und nachgeforscht, ob ihr nicht doch eine Einzelheit aufgefallen war. Ob ihr nicht doch noch etwas aufgefallen war, egal, wie unwichtig es zu sein schien.

Sie hatte immer nur den Kopf geschüttelt und ihn traurig angesehen. Irgendwann war sie fortgezogen, und der Fall lastete heute noch auf seiner Seele, auch wenn er damals noch nicht einmal der leitende Beamte gewesen war.

Der pensionierte Hauptkommissar legte den Gang wieder ein und rollte in die Einfahrt. Er wusste noch, dass der Weg in sanftem Bogen an einer Baumreihe vorbeiführte und dann vor dem L-förmigen Gebäude endete. Hier gab es einen Parkplatz für Besucher.

Als Winkels endlich einen freien Blick auf das Gebäude hatte, trat er abrupt auf die Bremse.

Das war doch nicht möglich!

Vor dem Haupteingang stand der Krankenwagen. Eine Trage auf Rädern war soeben ausgeladen worden, und ein Typ in einem weißen Kittel gestikulierte mit den Händen.

Die Polizisten aus dem daneben stehenden Streifenwagen waren offensichtlich bereits ausgestiegen und im Gebäude verschwunden, denn der Wagen war leer.

Langsam fuhr Winkels weiter.

Was hatte das zu bedeuten?

Nun, es war eine Wohnanlage für alte Menschen. Da kam es vermutlich häufiger vor. dass ein Krankenwagen gebraucht wurde. Aber wurde in solchen Fällen auch die Polizei gebraucht?

Er stellte seinen Golf auf dem Parkplatz ab und schlenderte zum Eingang hinüber, ganz so, als würde er hierher gehören.

Der Bau war recht modern und besaß drei Etagen. Die beiden oberen waren mit einer durchgehenden Balkonfront ausgestattet, mit Trennwänden zwischen den einzelnen Zimmern. Überall waren Köpfe und Oberkörper zu sehen, die neugierig herunterstarrten. Im Erdgeschoss gab es eine Fensterfront mit großen Scheiben, hinter denen schemenhaft ein Speisesaal zu erkennen war.

Ungehindert betrat Winkels das Gebäude durch den Haupteingang, dessen zweiflügelige Glastür weit geöffnet war. Er stand ein einer großen Halle, von der nach beiden Seiten Durchgänge abzweigten. Geradeaus war die breite Treppe, die um einen Fahrstuhlschacht herumführte.

In einem leicht geschwungenen Bogen rechts davon war so etwas wie eine Rezeption. An der Wand hinter dem Tresen sah er zahlreiche Fächer für Briefe und Haken für Schlüssel. Ganz ähnlich wie ein einem Hotel. Im Moment war die Rezeption nicht besetzt.

Neben der Treppe gab es einen Hinterausgang, dessen Türen ebenfalls weit geöffnet waren.

Er hatte den Eindruck, dass sich dort der Schauplatz des Geschehens befand. Einige ältere Damen und Herren, teilweise auf Stöcke gestützt, liefen oder standen herum und wussten offenbar nicht, was die Quelle der Unruhe war.

Schnell durchquerte Winkels den Raum und trat an der Rückseite wieder nach draußen. Mit geübtem Blick erfasste er sofort die Einzelheiten.

In einiger Entfernung lag ein Körper auf dem Rasen, direkt vor einer der Terrassen im Erdgeschoss, die es hier im Gegensatz zur Vorderfront des Gebäudes gab. Eine Frau, soweit er das aus der Entfernung erkennen konnte. Zwei Männer vom Rettungsdienst knieten neben ihr. Die beiden Uniformierten hielten die Neugierigen fern, die sich angesammelt hatten und drängten sie noch ein gutes Stück weiter zurück..

Einer der beiden sah ihn kommen und winkte.

„Das ist Hauptkommissar Winkels, lasst ihn durch.“

Mit einem freundlichen Nicken quittierte Tjade die Aufforderung. Er war also doch noch nicht vergessen! Er kannte den Beamten vom Sehen, konnte sich jedoch nicht an seinen Namen erinnern.

„Ich bin privat hier“, sagte er leise.

„Ich weiß“, entgegnete der Polizist. „Aber mir ist es lieber, wenn sich jemand von der alten Schule die Sache ansieht.“

Das ließ sich Tjade Winkels nicht zweimal sagen, und er ging näher an den auf dem Boden liegenden Körper heran. Eine weißhaarige Frau in einem geblümten Kleid und mit Pantoffeln an den Füßen lag seltsam verkrümmt auf dem kurz geschnittenen Rasen. Ihr Gesicht konnte er nicht erkennen. Der Kopf war zur anderen Seite gesunken.

Einer der Sanitäter sah ihn kommen und hielt ihn offenbar für befugt, sich hier aufzuhalten. Er schüttelte den Kopf.

„Da ist nichts mehr zu machen. Ich denke, sie hat sich beim Aufprall das Genick gebrochen. In ihrem Alter sind die Knochen nicht mehr so stabil.“

„Ist sie gesprungen oder gefallen?“

Beide blickten nach oben. In der ersten Etage stand ein älterer Mann und beugte sich über die Brüstung seines Balkons.

„Ich habe es gesehen!“ rief er aufgeregt.

„Was haben Sie gesehen?“ fragte Winkels nach oben.

„Sie ist direkt an mir vorbei geflogen. Ich konnte nicht sehen, wer es war. Aber über mir wohnt Frau Bräker. Das muss sie sein.“

Der zweite Sanitäter war aufgestanden, und jetzt starrten sie zu dritt nach oben. Der alte Herr genoss die Aufmerksamkeit.

„ist sie tot? Sie war immer so nett und freundlich“, verkündete er. „Und überhaupt nicht gebrechlich. Ich verstehe das nicht.“

Der Mann im weißen Kittel, der die Frau untersucht hatte, stand ebenfalls auf und zog seine Gummi-Handschuhe aus, ehe er Winkels die Hand entgegenstreckte. Auch er schien automatisch anzunehmen, dass die Anwesenheit des Ex-Kripomannes in Ordnung war.

„Ich bin Doktor Eilers. Ich bin einer der der zuständigen Ärzte für dieses Heim. Ich war gerade hier, als es passierte. Meine Praxis ist eigentlich in der Innenstadt, aber an drei Nachmittagen stehe ich hier für die Patienten zur Verfügung. Ich war auf dem Weg zu meinem Auto, als ich die Rufe hörte und umgedreht bin. Die Frau muss sofort tot gewesen sein. Ich konnte nichts mehr für sie tun und habe den Notruf gewählt.“

„Ist sie freiwillig gesprungen?“ fragte Winkels gespannt.

„Ich bin nicht sicher“, antwortete der Arzt.

Winkels blickte auf die Leiche der Frau.

„Was meinen Sie damit?“

Doktor Eilers beugte sich nach unten und deutete auf den Hinterkopf der Toten. „Hier ist eine Wunde, die ich mir nicht so recht erklären kann. Sehen Sie?“

Er hielt den Kopf pietätvoll vorsichtig in seinen Händen.

Winkels erkannte nur eine blutige Stelle zwischen den grauen Haaren, die ihm aber nichts verriet. „Kann es beim Sturz geschehen sein?“

Der Arzt zögerte.

„Dann müsste sie mit dem Kopf auf den Balkon unter ihr aufgeschlagen sein. Es gibt kein anderes Hindernis. Doch dazu passt der Winkel des Sturzes nicht. Kommen Sie mal herüber und sehen Sie nach oben.“

Winkels folgte dem Vorschlag.

Tatsächlich – wenn die Frau gesprungen war, konnte sie nicht mit dem Balkon unter ihr in Berührung gekommen sein.

„Hier unten gibt es nichts, dass für die Platzwunde verantwortlich sein könnte“, führte der Arzt weiter aus. „Sicher sind viele Knochen gebrochen, doch es gibt keine offenen Wunden.“

„Das lässt nur einen Schluss zu“, sagte Winkels leise.

Der Arzt nickte und sie blickten beide wieder nach oben.

Die Sanitäter hatten das Gespräch mitbekommen und hielten sich in respektvollem Abstand.

„Das heißt wohl, dass wir die Frau noch nicht mitnehmen können“, stellte einer von ihnen fest.

„Noch nicht“, meinte Winkels und sah den Arzt an, der nur kurz nickte.

Er wandte sich an die Sanitäter. „Es ist besser, wenn Sie die Polizei anrufen. Verlangen Sie Hauptkommissar Dröver, und sagen Sie ihm, dass es sich vermutlich um einen Mord handelt. Er soll die Spurensicherung mitbringen.“

Der Sanitäter sah ihn verwirrt an. „Ich dachte… also ich dachte, dass Sie von der Polizei…“

„Ich war bei der Polizei, junger Mann. Ich war.“

*

Tjade Winkels sah auf die Zimmernummer links auf dem Türrahmen. Nummer fünfundzwanzig. Das war die Zahl, die ihm die Dame unten an der inzwischen besetzten Rezeption genannt hatte. Den Namen des Bewohners hatte sie ihm auch verraten: Helmut Stolte.

Tjade klopfte.

Nichts.

Zweiter Versuch. Diesmal stärker.

Von drinnen waren Schritte zu hören und ein unwilliges Grummeln. Der Alte stand wahrscheinlich immer noch auf seinem Balkon, um nichts zu verpassen, was da unter ihm vor sich ging.

Dann wurde die Tür aufgerissen. „Ja?“

„Moin erstmal.“

„Moin.“

„Winkels ist mein Name, ich…“

„Sie waren doch gerade noch bei der Toten!“

Freudige Erregung zeichnete sich auf Stoltes Gesicht ab. Das war ja noch besser als nur von oben zuzusehen, schien er zu denken.

„Treten Sie ein. Sie haben bestimmt viele Fragen.“

Tjade Winkels befolgte die Aufforderung. Er sah keine Veranlassung, den Irrtum aufzuklären. Auch Stolte schien anzunehmen, dass er Kriminalbeamter war und die Ermittlungen durchführte.

Das Zimmer war nicht sehr groß, aber geschmackvoll eingerichtet. Ein Bett hinter einem Vorhang, ein Schrank, eine Sitzgruppe um einen runden Tisch sowie einige Kleinmöbel. Der Blickfang war allerdings ein Flachbildfernsehr, der eindeutig zu groß für den Raum war.

„Einen Tee?“

„Machen Sie sich keine Mühe. Ich habe nur ein paar Fragen.“

Helmut Stolte setzte sich Winkels gegenüber auf die Couch. Was wollen Sie wissen?“

„Sie haben den Sturz gesehen?“ begann Winkels.

Stolte nickte eifrig. „Ich sah nur etwas Dunkles vorbeifliegen. Erst dachte ich, es sei ein großer Vogel, und ich ging auf den Balkon. Da habe ich sie dann unten liegen sehen, die Erna.“

„Sie haben vorhin von Frau Bräker gesprochen.“

„Ja, ja, Erna Bräker. Sie hat das Zimmer direkt über mir.“

„Können Sie sich einen Grund vorstellen, weshalb Frau Bräker von ihrem Balkon springen sollte?“

Stolte schüttelte entschlossen den Kopf. „Die Erna? Nie im Leben! Sie war sehr beliebt im Heim, wissen Sie. Hatte für jeden ein freundliches Wort, machte immer mit, wenn es eine gemeinschaftliche Veranstaltung gab. Sie hörte ein bisschen schwer, aber sonst… jeder mochte sie.“

Er unterbrach sich und dachte kurz nach. „Na, ja. Bis auf ihren Enkel vielleicht, aber der…“

„Was ist mit ihm?“

„Seiner Meinung nach hat Erna ihm nicht genügend Geld gegeben. Das war das Einzige, was ihn interessiert hat. Darüber war sie sehr traurig. Die Schwester des Jungen, also die Enkelin, war ganz anders. Sie war häufig mit ihrer Mutter hier.“

„Das wäre dann die Tochter von Frau Bräker, richtig?“

Stolte überlegte, ob sein Besucher die nicht sehr komplizierte verwandtschaftliche Beziehung richtig wiedergegeben hatte, ehe er antwortete.

„Jo!“

„Erzählen Sie mir doch etwas mehr darüber.“

Helmut Stolte lehnte sich zurück. Seine Augen glänzten. Dieses Gespräch schien ganz nach seinem Geschmack zu sein. Vermutlich hatte er sonst kaum jemand, der ihm interessiert zuhörte.

„Der Mann von Erna ist vor ein paar Jahren gestorben, und sie hat sich daraufhin entschlossen, lieber in ein Heim zu gehen, nachdem sie einige Zeit im Haus ihrer Tochter gelebt hat. Sie wissen ja, wie das ist.“

Wusste Tjade nicht, aber er ließ den Mann reden.

„Erna und die restliche Familie waren mit der Lösung zufrieden“, fuhr Stolte fort, „und alle waren glücklich. Bis dann der Enkel aufdringlicher wurde und immer häufiger um Geld bettelte.“

„Wie alt ist der Enkel denn?“

„So um die zwanzig, schätze ich.“

„Ein bisschen alt, um die Oma anzubetteln“, kommentierte Tjade Winkels.

Stolte winkte ab. „Sie glauben nicht, was man hier so alles erlebt. Erst neulich hat mein Nachbar, also der auf der rechten Seite…“

„Steckt man ja auch nicht drin.“

„So ist es.“

„Jo.“

„Um nochmal auf...“

Tjade Winkels unterbrach ihn.

„Lassen Sie uns doch auf Frau Bräker zurückkommen“, unterbrach Winkels. „Sie sagten, dass sie hier im Heim sehr beliebt war.“

„Das ist richtig. Sie hatte natürlich auch engere Freunde. Da gab es eine kleine Clique, die immer zusammenhockte. Einige wohnten sogar außerhalb. Mit einem von ihnen war sie oft zusammen. Das war der Wilhelm.“

Winkels schreckte hoch. „Etwa Wilhelm Papendieck?“

Stolte sah ihn erstaunt an. „Sie kennen ihn?“

„Nicht direkt, aber ich weiß, wer das ist. Haben Sie denn nicht gehört, was ihm zugestoßen ist?“

Stolte schüttelte den Kopf. „Ist er krank geworden? Hatte er einen Unfall?“

„Man hat ihn gestern tot auf seinem Grundstück gefunden. Er ist von der Leiter gefallen, als er wohl seine Dachrinne säubern wollte.“

Dass es sich vermutlich um einen Mord handelte, verschwieg Winkels. Das musste die Polizei erst offiziell bestätigen.

Stolte schien schockiert und brachte eine ganze Weile kein Wort heraus. Schließlich nickte er.

„In seinem Alter sollte man wohl besser auf dem Boden bleiben.“

„Jo, kann man so sagen.“

„Kann man.“

Winkels gab einen zustimmenden Laut von sich. „Diese Clique, von der Sie sprachen – wissen Sie, wer alles dazugehörte?“

Der alte Mann kniff die Augen zusammen. „Warten Sie, vielleicht kriege ich alle zusammen. Da waren, wie schon gesagt, Erna Bräker und Wilhelm.“

Er unterbrach sich. „Er ist wirklich tot? Gut, dass die Erna das nicht mehr mitbekommen hat. Das hätte sie sehr erschüttert.“

Er zog seine Stirn in Falten. „Oder hat sie? War das vielleicht der Grund, weshalb sie vom Balkon gesprungen ist? Ich weiß nicht, welche Beziehung die beiden wirklich hatten. Jedenfalls saßen sie immer zusammen, wenn sich die Gruppe traf. Meistens am Sonntagnachmittag. Ich konnte sie von hier oben immer gut sehen, wenn sie die Köpfe zusammensteckten und sich unterhielten.“

„Worüber sie sprachen, wissen Sie aber nicht, oder?“

„Sie haben Kaffee getrunken oder Karten gespielt, und sie schienen sich immer gut zu amüsieren. Nur manchmal, da sind sie eng zusammengerückt und haben sich leise unterhalten. Ich habe Erna mal gefragt, was es denn immer so Wichtiges zu besprechen gäbe, da wurde sie ganz verschlossen. So kannte ich sie überhaupt nicht.“

Winkels lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Kommen wir noch mal zu der Gruppe. Wer war denn noch dabei?“

„Da war Heinz. Er wohnt im Erdgeschoss, schräg unter mir. Heinz Bartels. Er kam etwa zur gleichen Zeit wie Erna ins Heim. Die beiden kannten sich schon seit ihrer Schulzeit, da war es kein Wunder, dass sie sich immer trafen. Wilhelm kam damals schon zu Besuch. Kurz darauf stieß Karl zu der Gruppe. Ich glaube, er heißt Ahlsen. Sein Zimmer ist gleich neben dem von Heinz.“

Stoltes Gesicht bekam einen traurigen Ausdruck, und er wischte sich über die Augen.

„Fallen Ihnen noch mehr Namen ein?“ bohrte Winkels weiter.

„Ich muss kurz nachdenken. Auf jeden Fall gehörte Martha Weber zu der Gruppe. Sie wohnt auch nicht im Heim. Ich glaube, sie ist eine alte Freundin von Erna. Sie war Lehrerin und gibt noch Nachhilfeunterricht. Soweit ich weiß, ist sie verheiratet, aber ihren Mann habe ich noch nie gesehen. Ach, ja, und dann ist da noch Walter Köhler. Er hat sein Zimmer ebenfalls ganz unten. Doch derzeit ist er im Krankenhaus. Schon seit fast einer Woche. Ich weiß nicht genau, weshalb er dort ist, doch er soll in der nächsten Woche wieder hier sein, habe ich gehört.“

„Ist er in der Ubbo-Emmius-Klinik?“

Winkels kannte die Klinik von einem Besuch in der Notaufnahme, als eine Platzwunde genäht werden musste. Außerdem hatte er dort mehrere Vernehmungen am Krankenbett vornehmen müssen.

„Ja, dort ist er, wahrscheinlich in der Kardiologie. Darauf sind die doch spezialisiert.“

„Das sind sechs Personen in dieser Gruppe, wenn ich richtig gezählt habe.“

Und zwei davon sind tot, fügte er in Gedanken hinzu.

Stolte überlegte noch einen Moment.

„Das sind alle“, sagte er schließlich.

Winkels stand auf und blickte zur Decke. Gerne hätte er das Zimmer darüber gesehen. Erna Bräkers Zimmer. Doch der Wunsch würde zumindest heute nicht erfüllt werden. Die Polizei war auf dem Weg, und Dröver würde ganz gewiss nicht akzeptieren, dass er einen möglichen Tatort betrat.

„Sie haben mir sehr geholfen, doch jetzt habe ich Ihre Zeit lange genug in Anspruch genommen. Ach, eine Frage noch. Kann jemand das Gebäude betreten, ohne gesehen zu werden?“

Stolte hob die Schultern. „Man muss sich nicht anmelden. Die Rezeption ist meistens nicht besetzt. Sie kennen doch den Personalmangel in diesen Bereichen.“

Winkels verabschiedete sich, ging den Gang hinunter und nahm die Treppe in das Foyer. Er war noch nicht ganz unten, als Uwe Dröver hereinstürmte, gefolgt von zwei Leuten in den weißen Overalls der Spurensicherung.

Er blieb wie vom Blitz getroffen stehen, und sein Unterkiefer klappte herunter.

„Moin, Tjade!“

„Moin, moin.“

„Was machst du denn hier?“

Drövers Stimme klang schriller als sonst.

„Ich habe einen alten Freund besucht“, entgegnete Winkels ungerührt.

Dröver starrte ihn lange an. „Du gehst jetzt besser!“

Sein Nachfolger marschierte zur Rückfront des Gebäudes und verschwand durch die Tür nach draußen.

Winkels blickte ihm nach, und auf seinem Gesicht wurde allmählich ein immer breiter werdendes Grinsen sichtbar.

Er beschloss, vorerst keine weiteren Gespräche in der Seniorenresidenz zu führen. Es war besser, seinen Nachfolger nicht übermäßig zu reizen. Also würde er die anderen Mitglieder dieser ominösen Gruppe zu einem späteren Zeitpunkt besuchen. Er war sicher, mit seinen Informationen schon einen gewissen Vorsprung zu besitzen.

Dann schnippte er mit den Fingern.

Walter Köhler lag in der Klinik. Mit ihm würde er reden können, ohne dass Dröver Wind davon bekam. Falls er überhaupt von der Existenz der Gruppe erfuhr, die bereits um ein Drittel geschrumpft war.

Tjade Winkels gab eine Menge auf seine Erfahrung und auf seine Gefühle. Und die sagten ihm, dass sich hinter dieser kleinen Rentnergruppe ein Geheimnis verbarg. Ein Geheimnis, das für zwei Todesfälle verantwortlich war.

*

Harms Bellen hörte er schon von der Straße. Winkels wusste nicht, ob sein Hund ihn roch oder ob er seine Schritte identifizieren konnte, als er auf dem Plattenweg zur Haustür ging. Sein Auto hatte er auf der Straße geparkt. Hier gab es genügend Platz. Er besaß zwar eine Garage auf seinem Grundstück, war aber zu faul gewesen, erst auszusteigen und das Gartentor zu öffnen.

Im Briefkasten befanden sich nur die Zeitung und zwei Werbebriefe.

Harm begrüßte ihn stürmisch und sprang an ihm hoch. Er wusste genau, dass es jetzt Futter gab und danach einen Spaziergang.

„Moin, Harm“, sagte Winkels.

Und Harm antwortet mit einem Bellen.

„Ich muss dir eine seltsame Geschichte erzählen, Harm.“

Der Hund bellte.

„Ein neuer Fall. Was? Interesssiert dich nicht?“

Harm bellte nochmal.

„Jau, du kriegst erstmal Futter.“

Harm wedelte mit dem Schwanz.

Tjade Winkels öffnete mit einem Ruck an dem Metallring die Dose mit Rindfleisch und schüttete ihren Inhalt in den Napf. Anschließend füllte er den Wassernapf auf. Während Harm seine Mahlzeit beäugte, zog Tjade den Plastikdeckel eines Fertiggerichts ab, das für ihn selbst gedacht war.

Es hatte eine merkwürdige Farbe.

Harm hob im gleichen Moment den Kopf, und sie blickten sich in die Augen.

„Wollen wir tauschen?“ fragte Tjade.

Der Hund sah ihn aufmerksam an, als würde er überlegen, ob er diese Möglichkeit in Betracht ziehen sollte. Dann beugte er sich wieder über seinen Napf.

„Du hast recht“, sagte Winkels mit einem Seufzer und warf die Packung in den Mülleimer. Ein belegtes Brot würde es auch tun.

Sein Blick streifte durch den Raum. Früher hatte seine Frau ihm das Abendessen zubereitet, und sie hatten besprochen, wie ihr Tag verlaufen war. Jetzt war die Küche leer, seit der Scheidung. Ein paar flüchtige Affären waren nur ein schwacher Ersatz für die Zeit seiner Ehe.

Er seufzte. Es hatte keinen Sinn, sich Gedanken über das Vergangene zu machen. Vorbei war vorbei.

Er ließ sich in seinen Sessel plumpsen und griff nach der mitgebrachten Zeitung. Ein tödlicher Leitersturz wurde ohne Namensnennung des Betroffenen erwähnt, doch von einem vermutlichen Mord war nicht die Rede.

Die Polizei wollte einen möglichen Täter in Sicherheit wiegen, solange die ersten Untersuchungen andauerten. Die Ergebnisse der Autopsie würden vermutlich auch erst am nächsten Tag vorliegen.

Tjade sah auf seine Uhr. Für den Besuch im Krankenhaus war es noch nicht zu spät, aber er hatte eigentlich keine Lust, noch einmal das Haus zu verlassen, nachdem er den Hund ausgeführt hatte. Er stemmte sich wieder hoch, griff nach der Hundeleine und befestigte sie an Harms Halsband.

„Du glaubst doch auch, dass es sich um Mord handelt, oder?“

Harm wedelte einmal mit dem Schwanz.

„Und dass es mit dieser Rentnertruppe zu tun hat, ist ja wohl auch offensichtlich, nicht wahr?“

Harm sah ihn aufmerksam an und setzte sich wieder. Der Schwanz klopfte einmal auf den Boden,

„Dann sind wir uns ja einig“, sagte Winkels und öffnete die Tür.

*

Der Mann trug schwarze Kleidung. Das war seine Lieblingsfarbe. Er stand bewegungslos am Rand der Wallinghausener Straße und starrte zu dem riesigen Klinik-Komplex hinüber.

Herauszufinden, wo sich sein nächstes Opfer aufhielt, war nicht besonders schwer gewesen. Ein Anruf im Altenheim hatte ihm alles gesagt, was er wissen wollte. Die Dame in der Verwaltung hatte noch nicht einmal gefragt, wer er überhaupt war und weshalb er Walter Köhlers Aufenthaltsort wissen wollte.

Das war also die Ubbo-Emmius-Klinik. Er war noch nie hier gewesen.

Er grinste. Krankenhäuser waren für etwas für Alte und Gebrechliche.

Entschlossen überquerte er die Straße.

Trotz des frühen Abends herrschte noch viel Betrieb, auch wenn die normale Besuchszeit sicher schon vorbei war. Viele Fenster waren erleuchtet. Krankenwagen fuhren vor, weißgekleidetes Personal eilte hin und her.

Die gläsernen Türen des Haupteingangs öffneten sich automatisch. Er zupfte an der Folie seines billigen Blumenstraußes vom Discounter, der schon etwas zerknittert wirkte. Er hielt den Strauß deutlich sichtbar vor sich, während er zur Rezeption ging. Eigentlich wäre es ihm lieber gewesen, seinen Besuch auf die Nachtstunden zu legen, aber das war ihm dann doch zu riskant erschienen. Er wäre eher aufgefallen, und man hätte sich an ihn erinnern können.

Doch genau das wollte er unbedingt vermeiden!

Die ältere Dame am Empfang hob unwillig den Kopf, als er vor dem Tresen stand und sich räusperte.

„Moin.“

„Ich möchte meinen Onkel besuchen, Herrn Walter Köhler.“

„Das ist aber nun ein bisschen spät“, kam die vorwurfsvolle Antwort.

„Ich musste lange arbeiten.“ Er legte so viel Freundlichkeit in die Stimme, wie er aufbringen konnte. „Es geht nur um diese Zeit. Ich habe es bisher noch nicht geschafft. Er wird sich freuen, mich endlich zu sehen.“

Sie ließ sich erweichen und tippte auf ihrer Tastatur.

„Kardiologie“, sagte sie, ohne ihn anzusehen. „Dort drüben den Gang entlang. Achten Sie auf die Hinweisschilder. In der Abteilung müssen Sie nochmal fragen. Dort wird man entscheiden, ob Sie ihren Onkel noch sehen dürfen.“

„Tschüss.“

„Man kann auch danke sagen!“

„Danke“, presste er heraus. Ein Wort, das ihm nicht besonders lag.

Er machte sich auf den Weg und erreichte in einem anderen Gebäudeteil endlich die Kardiologie. So weit, so gut.

Allerdings wollte er hier nicht erneut nachfragen, in welchem Zimmer Walter Köhler lag. Das wäre zu auffällig gewesen, und er hatte vor, keine Spuren zu hinterlassen.

Die Tür zur Kardiologie schloss sich lautlos hinter ihm, und er stand in einem breiten Gang. Es war niemand zu sehen. Gleich zur linken Seite stand eine Tür halb offen. Dahinter war eine Art Abstellraum zu sehen. Betten, Matratzen und Kissen vor allem.

Er schlüpfte hinein.

Leer.

Der Blumenstrauß landete achtlos auf einem der Betten.

Er beschloss, zunächst abzuwarten und sich ein Bild zu machen, wie die Dinge hier liefen.

Er postierte sich an der Tür und schielte in den Gang. Nach wenigen Minuten kam eine ältere Frau in Schwesterntracht aus einer Tür, die acht bis zehn Meter entfernt war. Sie hielt ein beladenes Tablett in der Hand. Er konnte nicht genau erkennen, was sich darauf befand. Mit schnellen Schritten ging sie ein Stück den Gang hinunter und verschwand hinter einer anderen Tür.

Aha, dachte er. Das Schwesternzimmer. Von dort wurden die Patienten mit Medikamenten versorgt.

Dort würde er bestimmt eine Liste mit den Patienten finden. Doch wie sollte er es anstellen, dort hineinzukommen?

Gab es mehrere Schwestern?

Nun, er hatte Zeit und konnte warten. Er rechnete nicht mit einer Überraschung, denn es war wohl nicht zu erwarten, dass um diese Zeit neue Betten gebraucht wurden.

Die Schwester kam zurück. Sonst war immer noch niemand auf dem Gang zu sehen. Er kannte sich mit Krankenhäusern nicht besonders aus, doch er ahnte, dass die Ärzte mit ihren Krankenbesuchen schon durch waren. Vielleicht war die Schwester allein?

Er hörte ein leises Klirren, dann erschien sie erneut, mit einem Tablett in der Hand. Trinkgläser und Fläschchen waren darauf, das konnte er sehen. Sie verschwand in einem anderen Zimmer.

Er warf einen Blick auf seine Uhr. Mal schauen, wie lange so ein Patientenbesuch dauerte. Fast fünf Minuten. Na, bitte. Jetzt hatte er einen Anhaltspunkt.

Er wartete weiter. Noch dreimal genoss er das gleiche Schauspiel.

Dann änderte sich die Prozedur. Die Schwester erschien ohne Tablett. Sie zog die Tür ins Schloss und entfernte sich in der anderen Richtung durch eine weitere Glastür.

Jetzt oder nie!

Der Mann huschte aus seinem Versteck und lief zu dem Schwesternzimmer. Die Tür ließ sich ohne weiteres öffnen.

Der Raum war nicht sehr groß, Schränke, ein Schreibtisch, mehrere Stühle, eine Liege auf Stahlrohrfüßen.

Zwei Schritte bis zum Schreibtisch. Er konnte sein Glück kaum fassen. Dort lag die Liste, die er suchte. Die Namen der Patienten, die dazugehörigen Zimmernummern und die Medikamente, die ihnen zu bestimmten Zeiten zu verabreichen waren.

Sein Blick flog über die Spalten. Da war es!

Walter Köhler. Zimmer 233.

Er atmete erleichtert aus. Jetzt brauchte er nur noch zu warten, bis mehr Ruhe in dem Gebäude eingekehrt war.

Er horchte angespannt, ob sich auf dem Gang jemand näherte. Da war nichts. Sein umherirrender Blick heftete sich auf eine Plastikschale auf einem der Schränke, in der verschiedene Spritzen lagen, die offensichtlich bereits gebraucht waren. Das spielte für seine Zwecke keine Rolle.

Er wählte die größte, zog die Nadel ab und steckte die Spritze ein.

Ihr jetziger Inhalt war genau das Richtige, denn er brauchte nur Luft für sein Vorhaben. Er hatte gelesen, dass eine Luftembolie tödlich war. Wenn das Herz statt Blut nur Luft einsaugte, war es aus. Auch wenn er nicht wusste, was eine Embolie war, reichte ihm die Information.

Er würde schon einen Weg finden, wie er das hinbekam. Wahrscheinlich hing der Alte an einem Tropf. Das hatte er schließlich schon in vielen Filmen gesehen. Dann brauchte er mit der Spritze nur ordentlich Luft in den Schlauch zu blasen, und wenn er Glück hatte, merkte niemand, was geschehen war.

Jetzt brauchte er Geduld, und er zog sich in sein provisorisches Versteck zurück.

Er würde bis nach Mitternacht warten, sagte er sich. Dann war bestimmt niemand mehr wach, und er konnte nach seiner Tat hoffentlich ungesehen entkommen.

Mörderhände: 7 Strand Krimis

Подняться наверх