Читать книгу Erzähl mir Märchen - Celina Weithaas - Страница 7

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Jetzt lass uns denn zur Hölle fahren, um dem trügerischen Paradies endlich zu entfliehen Oder Aschenputtel

„Das letzte Märchen?“, wispere ich und werfe einen Blick über meine Schulter. Liu schluckt schwer. Sein Adamsapfel hüpft unruhig unter dem leichten Schatten seines Bartes, als er den Arm um meine Taille legt. Sein bekannter Duft nach Kiefern umgibt mich, während meine Finger nur Zentimeter über der bemalten Leinwand schweben. In ihrem weiten Kleid schwebt Aschenbrödel über das Parkett, den Blick verliebt auf ihren Prinzen geheftet, den schlanken Körper an ihn geschmiegt, als brächte es sie um, ließe sie ihn los.

„Ich verstehe nicht, warum wir eine weitere Reise antreten müssen“, sagt Liutwin heiser. „Als Cayl dich das letzte Mal zurückbrachte, da dachte ich …“ Seine Stimme versagt. Sanft versuche ich, ihm die Sorge aus dem Gesicht zu streicheln. Das finstere Gewitter fortzujagen. Es will mir nicht gelingen. Die Wolken bleiben düster vor Lius bernsteinklaren Augen hängen. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Blutige Tränen tropfen auf den heißen Stein.

„Du musst keine Angst haben.“ Ich drücke besänftigend seine Hand. „Ein letztes Mal. Nur noch einmal. Dann verabschiede ich mich für immer von diesem Ort hier und jedem einzelnen Märchen. Das schwöre ich dir.“ Flehend sehe ich ihn an. Spürt er, was diese Welt mir bedeutet? Was dieser Traum mit mir macht und wie viel er mir gibt?

Liu darf nicht vergessen, ohne diese Gemälde, ohne diese Gefahren, hätte er nie nach meiner Hand gegriffen und mir nie in die Augen gesehen. Weil er nicht existieren würde. Weil wir nicht existieren würden. Dieser Ort hier haucht uns Leben ein.

„Ich fürchte mich“, flüstert er heiser. Liu räuspert sich. „Ich fürchte mich davor, dich endgültig zu verlieren.“

„Das wirst du nicht“, schwöre ich ihm.

Das Kleid scheint sich um Aschenbrödels zarte Gestalt aufzubauschen. Ich möchte nur ein einziges Mal diesem Ball beiwohnen. Keine Schlange lauert dort, kein Wolf. Niemand wird meinen Kopf verlangen. Er und ich, wir wären nur Teil einer feiernden Gemeinschaft.

„Ein letztes Mal“, flehe ich und nehme sein Gesicht in beide Hände. „Ein allerletztes Mal, Liu. Ich kann mich ohne diesen letzten Tanz nicht hiervon verabschieden. Das hier ist mein Leben. Diese Märchen, diese Bilder, sie waren alles, was mich am Leben gehalten hat.“

Entschieden schüttelt er den Kopf. Seine nachlässig frisierten, dunklen Haare schimmern in dem diffusen Licht des Korridors schwarz. Das Licht scheint schattig durch die nach Norden gerichteten Fenster und wird von den Regenbögen gefangen, die zuckend und flüchtig wie Schmetterlingsflügel unter uns dahingleiten.

Liu und ich, wir sind diese Galerie aus Möglichkeiten tausendfach durchschritten. All die Märchenwelten, die in mein Märchenbuch gebannt waren, haben wir versucht zu besuchen. Weil es genau diese braucht, um mich Glück empfinden zu lassen. Ich bin Teil dessen. Ich gehöre unwiderruflich zu den Märchengestalten, zu den Märchenschlössern und zu den märchenhaften Gefahren. Was wird von mir übrigbleiben, wenn ich dieser Galaxie von Unmöglichkeiten den Rücken zuwende und sie nie wieder betrete? Werde ich zu Staub zerfallen? Wache ich ein letztes Mal blutüberströmt neben einer alten, röhrenden Heizung auf, ehe es einfach zu Ende geht?

Liu und ich, wir beide wissen, dass wir die letzten Stunden unseres Lebens in uns aufsaugen sollten. Niemand weiß, wohin der regenbogengepflasterte Weg uns schlussendlich führen wird. Hängt das alles hier, diese Welt, dieses Sein, seiden nur an meinem Verstand, an meiner Fantasie, dann wird Liu verschwinden, sobald ich die Tür hinter mir geschlossen habe. Weil Liu nichts weiter wäre als die schönste Idee von allen.

„Einen letzten Tanz“, bitte ich und sehe ihn unter meinen Wimpern hervor an. „Lass mich einmal mit Aschenbrödel tanzen.“ Bevor ich gehen muss.

Liu bebt am gesamten Körper, als er die Arme schützend um mich schlingt und das Gesicht in meinem Haar vergräbt. Ich inhaliere seine Nähe. Unsere Herzen donnern im gleichen Takt. „Warum betreten wir kein Märchen, das wir geheilt haben?“, flüstert Liu rau. „Ich möchte dich an die Hand nehmen und im Mondschein mit dir tanzen, während der See neben uns das Licht fängt. Ich möchte, dass wir beide, du und ich, uns bis in alle Ewigkeit hinter einem dieser Gemälde verlieren.“ Gierig presst er seine Lippen auf meine. Ich atme ihn ein. Seine Intensität, seine grenzenlose Leidenschaft. „Du musst dich von alledem nicht lösen“, sagt er hektisch. „Lass uns weiterträumen bis in alle Ewigkeit. Wir haben die Monster nicht besiegt, um aufzugeben.“ Seine Nase streicht über meinen Kiefer und mir entweicht ein leises Seufzen. Wenn Berührungen süchtig machen können, bin ich unwiderruflich abhängig von ihm. „Zumindest habe ich nicht gekämpft, damit jetzt alles umsonst war.“

Muss es denn sinnlos gewesen sein, nur weil ich mich von meiner Traumwelt lösen muss? Ich bin erwachsen geworden. Wir beide sind gemeinsam herangewachsen, haben uns ineinander verliebt und Jahre geteilt, die uns niemand mehr nehmen kann.

„Ich vertraue Dante“, hauche ich an Lius Lippen. „Ich vertraue ihm mit meinem und mit deinem Leben. Wenn wir mit Aschenbrödel getanzt haben, dann wird alles einen Sinn ergeben.“ Ich zucke die Achseln. „Lass mir diesen Mädchentraum.“

Die Qualen, die ich Liutwin bereite, haben sich in seine Stirn gegraben und ich weiß, um sie zu vertreiben, müsste ich zurücktreten und wieder in Dornröschens Zimmer huschen. Dort ewig bleiben. Die Uhren scheinen leise zu ticken und die Minuten hinunterzuzählen. Wir können uns nicht länger verstecken. Es ist an der Zeit, das zu tun, was wir uns wünschen. Wenn man Dante glaubt, dann wird diese Traumwelt in wenigen Stunden zusammenbrechen. Wenn wir uns nicht in eine einzige, langweilige Welt sperren wollen, dann sollten wir die uns verbleibende Zeit nutzen und rechtzeitig wieder vor den Gemälden stehen. Auf diesem Korridor. Über den Regenbögen.

„Ich liebe dich“, flüstert Liu. „Ich liebe dich und ich liebe dich und ich werde niemals damit aufhören, dich zu lieben.“ Ich lehne meine Stirn gegen seine. „Ich liebe dich“, wiederhole ich leise seine Worte. Wiederhole ich unser intimstes Mantra. „Ich liebe dich und ich liebe dich und ich werde niemals damit aufhören, dich zu lieben.“

Er greift nach meinen Händen und presst mir einen letzten Kuss auf die Lippen. Die Berührung brennt sich in meine Blutbahnen und schimmert golden über meiner Seele.

Durch die Korridore geht ein Wispern wie von einem fremden Mädchengesang. Als würde ein Kind sich das letzte Mal zur Ruhe summen. Die Melodie versetzt mich in Angst und Schrecken und treibt mich näher heran an dieses letzte Gemälde. An dieses letzte Märchen, nach dem mein Herz sich seit immer verzehrt.

„Wenn wir das nächste Mal hier stehen, kann alles vorbei sein“, sagt Liu leise. Den Arm legt er um meine Taille und ich bette das Kinn auf seiner Schulter. Ja. In wenigen Stunden könnte das Nichts folgen. Oder das Alles? Schimmert der Tod in den schönsten Facetten oder verliert er sich im Treibsand der Zeit?

Ich zupfe an meinem durchscheinenden T-Shirt, das auf der anderen Seite des Gemäldes durch das Kleidungsstück ersetzt werden wird, das mich zu einem Teil des Märchens macht. Der Boden unter unseren Füßen wellt sich sanft, als die tausend Möglichkeiten unter uns dahinfließen. Wir könnten dem in allen Regenbogenfarben schimmernden Fluss folgen. Dort, zwischen metallischem Hellblau, lebendigem Grün und blutig triefendem Rot, liegt eine andere Welt, die Liutwin und ich nie zu betreten wagten. Er und ich, wir verharrten auf unserem Korridor und wurden zu unseren eigenen Helden. Wer würde schon in die Ungewissheit tauchen, wenn man im Paradies baden darf?

Es ist an der Zeit, die Schilde sinken zu lassen, die Rüstungen abzulegen und die Tore zu unserer verrinnenden Ewigkeit zu öffnen.

„Das letzte Märchen?“, wiederhole ich meine Frage und verschränke unsere Finger miteinander. Sanft malt Liu Kreise auf meinen Handrücken, das Gesicht gegen meinen Hals gedrückt. Sein schwaches Nicken nimmt mir eine immense Last von den Schultern.

„Ein letztes Märchen“, bestätigt er. „Ein allerletztes.“

„Es wird das Beste werden“, schwöre ich ihm und suche seinen klaren Blick. Das bernsteinfarbene Gold weicht einem warmen Braun, als er den Kopf senkt und dem Licht ausweicht.

„Versprich mir, dass du mir deinen letzten Tanz schenkst“, sagt Liu heiser. „Ich möchte bei dir sein, wenn es aufhört.“

Und ich bei ihm. Ein seltsamer Zufall ist es, ein seltsames Treiben. Ohne mich würde Liu nicht er selbst sein. Ohne ihn wäre meine Ewigkeit mit der ersten Sekunde in tausend angelaufene Scherben zersprungen. Spätestens blutrünstige Bestien und rachsüchtige Stiefmütter hätten mein Leben beendet. Wir schworen uns, dankbar zu sein für jede Stunde, die man uns schenkt.

Mich flutet eine kribbelnde Wärme, die mir ein schwaches Lächeln auf die Lippen zaubert, als ich die Hand behutsam auf Aschenputtels roséfarbenes Kleid lege. Der goldene Saal, sich in Bögen über ihr und dem Prinzen erstreckend, gewinnt an Farbe. Das leise Summen der Mädchenstimme wird durch das leise Streichen von Geigen ersetzt. Perlt dort ein Spinett? Spielen sie das Cello und die Flöte?

Seufzend presse ich die Fingerkuppen fester gegen die raue Leinwand und schließe die Augen. Liutwin hält sich dicht an meiner Seite, einen Arm um meine Taille geschlungen. Als er seine Hand über meine legt und mit mir die Energie des Bildes in sich aufnimmt, fühlt es sich an wie beim ersten Mal. Der beinahe gewöhnlich gewordene Zauber kehrt zurück und flutet meine Adern. Ein sanftes Kribbeln durchfließt mich und ich glaube zu spüren, wie meine Welt sich verschiebt.

Das widerstandsfähige Material unter meinen Fingern verliert an Gegenwärtigkeit, während der regenbogenfarbene Fluss unter unseren Füßen in tausend Stürmen tobt. Die Strudel bäumen sich auf, verlieren sich in grün und blau und gelb, erblühen in den schönsten Formen und Facetten. Das Tor zu Aschenputtel öffnet sich.

Lius Lippen streifen meinen Nacken, während die Musik anschwillt. Wir nähern uns einem rauschenden Fest. Die Kühle des Korridors schwindet und macht einem warmen Prickeln auf meiner Haut Platz. Ich rieche die Kerzen, die in jeder Ecke flackern und tanzen. Ihre Lichter bewegen sich in einem langsamen Walzer vor meinen geschlossenen Lidern. Die frische Luft, die den Westflügel meines Wolkenschlosses seit jeher durchflutete, weicht dem Duft von Gebäck und Alkohol, Fleisch und Obst. Zufrieden summend verliere ich mich in Lius Berührung. In seiner Gegenwart.

Die Sekunden dehnen sich aus und fallen übereinander her, als die Leinwand des Gemäldes verschwindet und wir in eine neue Welt taumeln. Lius warme Finger lösen sich von meinen und der Geräuschpegel schwindet.

Blinzelnd runzle ich die Stirn und sehe mich um. Im Mondlicht silbrig schimmernde Bäume weben sich um einen runden See und tanzen ihre Reigen. Auf der spiegelglatten Oberfläche schweben geschlossene, schlafende Seerosen, deren blasse Blüten weiß wirken in der gespenstischen Nacht.

Ein leises Hintergrundsummen ist geblieben, als ich mich behutsam von Liu löse und die Kühle des taufeuchten Grases an meinen Fußsohlen genieße. Da wären wir. In meinem liebsten Märchen.

Unserem letzten Märchen.

„An diesem ersten Ball“, flüstere ich, dabei sind wir hier draußen unter dem lachenden Gesicht des Mondes allein, „da ist nichts Schlimmes passiert, oder? Niemandem wurden die Füße abgehackt oder die Augen ausgefressen.“

Angespannt hebt Liu die Schultern. „Du vergötterst dieses Märchen, nicht ich.“ Das dunkle Haar steht ihm wirr vom Kopf ab. Ich grinse. Das gleiche Chaos wie immer.

Er mag angetan sein in Weste und Strümpfen, farbenfroh wie ein Papagei, das Haar weigerte er sich zu striegeln. Die Kostüme entspringen einer fremden Vorstellungskraft. Sie machen uns zu einem unwiderruflichen Teil des märchenhaften Puzzles. Zu dem Zahnrädchen einer fremden Zeit.

Männer, die ich kenne, aus meiner Zeit, trügen zu diesem Ball ein Sakko, die weißen Hemdsärmel hochgekrempelt und vielleicht goldene Manschettenknöpfe durch die fein genähten Löcher geschoben. Wenn sie verwegen wirken wollten, dann säße die Fliege schief.

Liu aber? Der Sohn eines barocken Königs? Die lange Spitze an seinen Handgelenken entlockt mir ein Kichern. Zumindest wird sein Kostüm in diese Zeit passen.

In dieses Märchen.

Mich hüllte man in einen weichen Stoff, der die Sonne einzufangen scheint. Der Rock umspielt meine Beine. Mein Dekolleté ist nicht gewagt und meine Schuhe grenzwertig hoch für ein Märchen in den Armen der Romantik. Vage erinnere ich mich, wie die Prinzessin meiner Welt ein ähnliches Kleid zu einem Ball trug. Damals verschlug mir ihr Anblick die Sprache. Das gleiche weißgoldene Collier, das in einer anderen Welt ihren Hals schmückte, liegt nun um meine Kehle und wiegt schwerer, als ich es erwartet hätte.

Ich atme tief durch und inhaliere den Duft dieses funkelnden Märchens. So fühlt es sich an. So fühlt sich eine Prinzessin. Keine Prinzessin, die durch eine Hochzeit dazu wird, sondern wie eine, die die Augen das erste Mal in den Armen einer Königin aufschlägt. In der Ferne zirpen die Grillen.

Liu betrachtet mich verträumt. Ein entrücktes Lächeln auf den Lippen, zupft er an dem luftigen Stoff meines Kleides. Die Schmetterlingsärmel blähen sich bei jeder noch so kleinen Bewegung auf und sobald ich mich drehe, dann wird der sommerleichte Rock fliegen.

Liu schluckt schwer und bietet mir seinen Arm an. Mit vor kribbeliger Aufregung rasendem Herzen hake ich mich bei ihm unter. Tauben gurren in den Bäumen zur Nacht und rascheln leise mit dem Gefieder. Über uns webt sich ein Baldachin aus Weidengeäst und ich meine zu erkennen, dass Mandeln und Kirschen Blüten tragen.

Ich stehe inmitten meines sehnlichsten Traumes. Mein Blick huscht zu den tiefen Fenstern, durch die schemenhaft die Anwesenden erkennbar sind, gefangen in traditionellen Tänzen. Wunderschön. Die perlende Musik, rhythmisch und klangvoll, zieht mich in eine schwerelose Seifenblase.

Liu folgt meinem Blick. „Möchtest du sie kennenlernen?“, fragt er leise. Ein warmes Lächeln schwingt in seiner Stimme mit.

Kopfschüttelnd schlinge ich meinem persönlichen Papageien mit der blauen Weste, dem gelben Hemd und den grünen Strümpfen, die Arme um den Hals. Als er die Hände auf meine Taille legt, kitzeln mich die langen Spitzenbesätze seiner Ärmel. Kichernd hauche ich ihm einen Kuss auf die Lippen. Prickelnde Wärme stiehlt sich von dort aus durch meinen Körper und verleiht meinem Herzen Flügel.

„In ein paar Minuten“, gluckse ich. Sobald wir diesen einen Tanz in völliger Dunkelheit genossen haben, die kühle Feuchte der Gräser an den Füßen und den Duft der Nacht in der Nase.

Sobald ich nicht mehr in Gelächter ausbreche, wann immer ich Liu ansehe.

Alle Uhren scheinen zu schweigen, als er eine Hand auf meine Taille legt und mich näher an sich zieht. In dem silbrig blassen Mondlicht strahlen Lius bernsteinklare Augen schwarz. Wohinein habe ich mich zuerst verliebt? Seine Selbstverständlichkeit? Sein gutes Herz? Wie er aus einem Dilemma einen weichen, berührenden Moment formte?

Dass er immer zu mir zurückkommt.

Mein ewiger Optimist blinzelt heftig, als versuche er, Tränen zu vertreiben. Seine Lippen streifen meinen Daumen, ehe Liu mich um meine eigene Achse dreht. Raschelnd bauscht sich der Rock meines Kleides auf. „Gestattest du mir diesen Tanz?“, murmelt Liu. Der Wind streichelt über den Weidenbaldachin. Mit dem Kinn deutet Liu auf den still daliegenden See. Die Schwäne treiben mit unter den Flügeln verborgenen Köpfen darüber wie Papierschiffchen oder weiche Blüten.

Heftig nickend drücke ich mich enger an ihn. Sein Herz schlägt gegen meines. Der dünne Stoff des Kleides scheint nicht dick genug, um Lius Körperwärme von meiner eigenen zu trennen. Wir schweben in der gleichen Seifenblase, als Liu den ersten Schritt macht, rhythmisch zu dem Schatten der rauschenden Musik, während die Tauben schläfrig gurren und im Unterholz das Leben huscht.

Leise knistern die Gräser unter unseren Bewegungen und als Liu leise lachend, den Kopf schüttelnd, meine Arme von seinem Hals löst und eine meiner Hände in seine nimmt, die andere auf seinen Unterarm legt, ist seine düstere Sorge verschwunden. Zurück ist der Liu, der mit mir schwor, jeden Augenblick zu genießen, selbst wenn er der letzte sein sollte.

Abschied zu nehmen, muss nicht schwer sein.

Lius Finger drücken heiß gegen meine Taille und unser Atem steigt in einer sanften Dunstwolke zu dem nachtdunklen Himmel auf. Die Kälte spüre ich nicht. Zu gefangen bin ich von Lius intensivem Blick und dem Schimmern darin, das mir offenlegt, wie viel ich seinem Herzen bedeute.

Ich erhalte meinen eigenen, perfekten Aschenputteltanz. Mein Prinz führt mich von einer Figur in die nächste. Ich bette den Kopf auf seiner Schulter. Wir stolpern nicht. Wir bewegen uns weiter. Wann immer Liu mich um meine eigene Achse drehte, lehne ich mich in der nächsten Sekunde wieder an ihn und sauge seine Gegenwart in mich auf. Bedächtig wandert seine Hand von meiner Taille zu meinem unteren Rücken und hält mich ihm ein Stück näher. Kein Atemzug passt mehr zwischen unsere Körper, während wir uns wiegen in dieser süßen, fernen Melodie.

Ich glaube davonzufliegen, als er mir einen zarten Kuss auf das Schlüsselbein haucht. „Du siehst glücklich aus“, stellt Liu im Flüsterton fest.

Lachend löse ich meine Finger von seinen und verschränke sie erneut in seinem Nacken. Mit den Daumen streichle ich über seinen Haaransatz, nehme nichts mehr wahr außer seinen dunklen Augen. Glücklich genügt nicht, um zu greifen, was ich empfinde. Es ist mehr. Es ist weniger. Es ist alles. Würde in dieser Sekunde die Welt untergehen, ich würde es nicht bemerken.

„Ja“, flüstere ich und beantworte Liu damit mehr als nur diese eine Frage. Ich bin ihm eine Kleinigkeit schuldig geblieben. Spürt er, dass ich ihm heute das gebe, was er sich vor Wochen dringlichst wünschte? Erinnert er sich an unseren letzten langsamen Tanz im Mondschein und seine schüchterne Frage? Daran, wie ich seinen Antrag damals lachend ablehnte und es seitdem bereute?

Lius Lächeln schwindet und sanfte Falten graben sich in seine Stirn. „Was bedrückt dich?“

Die Seligkeit will nicht von mir ablassen, selbst dann nicht, als wir unter unserem dunkelblauen, mit Sternen übersäten Baldachin zum Stehen kommen. Der Duft der Natur lullt uns ein, der, der süßen Blüten und des leise plätschernden Sees. Kopfschüttelnd suche ich seine Lippen. Jeden dieser Küsse möchte ich in mich aufsaugen und niemals vergessen. Seine Nähe ist zu kostbar, um sie fortgehen zu lassen, zu weich, um sie zu vergessen.

„Ich habe dir deine Frage nie wirklich beantwortet“, sage ich leise und wiege uns zurück in den Rhythmus der Musik.

Liu schlingt beide Arme um meine Taille und hält mich sich nah. Das Mondlicht tanzt über die Blätter und verwandelt sie in pures Silber. „Welche von den Vielen?“ Sein Mund hat sich zu einem Lächeln verzogen, die dunklen Augen bleiben todernst.

„Die, ob ich deine Frau werden möchte.“ Daran soll er sich erinnern, wenn unser letzter Moment vorübergeht. An das, was ich ihm gleich sage.

Seine Brauen rücken gequält zusammen. „Und? Sagst du heute etwas anderes als damals?“

Ratlos lachend fahre ich mit der Nasenspitze seinen Kiefer nach. Das leise Seufzen, das seiner Kehle entweicht, fange ich mit einem Schmetterlingsnetz ein und halte es mir dicht über dem Herzen. „Ja. Das tue ich.“

„Und?“ Angespannt wollen seine Füße ein weiteres Mal verharren. Ich bewege mich mit den leisen Wellen des Tanzes und zwinge Liu, es mir gleichzutun. Wenn wir stehenbleiben, so kommt es mir vor, könnte diese Seifenblase zerbrechen, und sie ist die schönste, die wir uns je geschaffen haben.

„Du kennst die Antwort doch schon lange“, gluckse ich.

Seine Brauen rücken dichter zusammen. „Tue ich das?“

„Ja! Ich habe es dir gesagt, als du geschlafen hast.“

Liu verzieht das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. „Dann weiß ich es ja doch nicht.“

„Doch, tust du! Hättest du mich damals denn gefragt, wenn du dir nicht sicher gewesen wärst, dass ich Ja sage?“

Gedankenversunken spreizt Liu seine Finger auf meinem Rücken und legt das Kinn auf meiner Schulter ab. „Ich weiß nicht. Vielleicht.“ Seine Lippen streifen mein Ohr. „War das ein ‚Ja, ich will‘?“

Ich nicke. Für dieses Geständnis mag es reichlich spät sein – und schlussendlich doch früh genug. Lius Brust bebt an meiner, als er in leises Gelächter ausbricht. „Wie langweilig wäre mein Leben ohne dich gewesen“, flüsterte er. „Ich hätte wohl nie eines der anderen Märchen kennengelernt.“

„Du hättest den ganzen Tag mit essen und trinken verbracht“, pflichte ich ihm bei. „Und streiten! Du wärst ein ganz fetter König geworden und ein dummer noch dazu.“

Augenrollend lehnt Liu seine Stirn gegen meine. „Jetzt werde ich ein glücklicher König werden. Sollte ich jemals in mein Reich zurückkehren, werde ich der Beste sein, den du dir für mein Volk wünschen kannst.“

„Gerecht?“, schlage ich leise vor. Er nickt. „Ehrlich?“ Ein sanfter Kuss auf meinem Wangenknochen. „Bescheiden?“

Liu gibt einen gequälten Laut von sich. „Nicht immer. Aber meistens.“

Kichernd küsse ich seine Lippen. „Bald wieder unsterblich verliebt?“

Liu zögert lange. Seine Hände hält er flach auf meinen Körper gepresst und ich kann ohne ihn weder vor noch zurück. Er hat uns verschmolzen, bis wir zu einer Person werden. „Eines Tages“, schwört er mir schließlich. „Eines Tages werde ich eine andere Frau ähnlich lieben wie dich.“

Leise seufzend sehe ich auf den See hinaus. Die beiden Schwäne halten sich selbst im Schlaf nah beieinander, wunderschön, Seite an Seite. „Wer hätte je gedacht, dass der schönste Traum so bittersüß sein muss? Ich meine, wie schwer hätte es schon sein können, uns noch ein paar Jahre mehr zu geben?“ Die altbekannte Melancholie droht, mich einzufangen. Diese Angst, diese Trauer, dieses toxische Gemisch, das in jedem Schatten auf mich zu lauern schien, seitdem Dante diese grausame Wahrheit das erste Mal aussprach. Meine Zeit, sie ist nur geborgt. Was sich für mich als Jahre erstreckt, zerfließt in Sekunden, während mein sterbender Kinderkörper in einem fernen Land an der Wand lehnt. Wir sind in der letzten Sekunde angelangt. Bereits seit Monaten.

Ich war es, die getobt und geschrien, geweint und geheult hatte, als wir von diesem Schicksal erfuhren. Es war Liu gewesen, der mein Gesicht in beide Hände nahm. „Wir sollten dankbar sein“, flüsterte er damals. „Man hat uns zehn Jahre geschenkt. Das ist so viel mehr, als Viele haben.“

„Wir durften die beste Zeit miteinander teilen“, sagt Liu auch heute. „Wir werden einander niemals vergessen und wenn ich eines Tages sterbe, dann werde ich an dich denken. An das kleine, kichernde Mädchen, das über seine eigenen Füße stolperte, als es meiner Mutter die Krone stehlen wollte.“

In Erinnerung an diesen Moment steigt mir die Hitze in die Wangen. Augenrollend strecke ich ihm die Zunge raus. „Du solltest mir dankbar sein. Sonst wärst du längst ein fetter Prinz und viel zu eingebildet, als dass dich irgendeine Prinzessin haben wollen würde.“

„Ich bin dir jeden Moment meines Lebens dankbar“, sagt Liu ernst. „Und, wer weiß? Vielleicht stimmt es ja, dass mein Märchen nie aufgeschrieben wurde und nur in deinem Kopf existierte.“

Ich halte ihn so fest ich kann. Will ich mir das wünschen? Wenn sich niemand an uns erinnern kann, würde unser eigenes, persönliches Märchen für immer unangetastet bleiben? Ich müsste bei dem Gedanken an eine andere Prinzessin nicht in Eifersucht vergehen und Liu müsste nicht ohne mich bleiben. Ich würde ihn nicht im Stich lassen. Niemals.

Schwer atmend lausche ich in Richtung des Festes. Die Sehnsucht, schon jetzt entflammend, liegt mir schwer im Magen. Wenn wir nur ein paar Minuten länger allein bleiben, dann verbringen wir unsere letzten gemeinsamen Stunden tränenreich. Wollen wir das wirklich? Ertrinken im Schmerz, wenn uns doch noch einmal der Himmel offen steht?

„Liu“, flüstere ich, „wir sollten tanzen.“ Bei seinem irritierten Zusammenziehen der Brauen nicke ich in Richtung des Festsaals. „Dort drinnen. Wir können uns ein letztes Mal verlieren.“ Welche Gefahr soll auf uns lauern? Eine wütende Stiefmutter? Eifersüchtige Schwestern? Ich muss Aschenputtel nicht retten. Ich kann es nicht. Dieses Märchen gehört ganz allein ihr. Mir ist lediglich dieser erste Ball gegeben. Den übrigen Weg muss sie allein bestreiten. Ich kann nicht immer der Figuren rettender Engel sein.

„Wir sollten tanzen“, pflichtet Liu mir bei. Entschlossen löst er sich von mir und führt mich von dem See fort, hin zu dem tobenden Fest. „Wenn du nicht endlich mit Aschenputtel über das Parkett fegst, bekomme ich dich heute nicht mehr zurück.“

Kichernd stehle ich mir im Laufschritt einen Kuss. Mit diesen Schuhen bin ich beinahe so groß wie Liu und ich genieße es. Wir befinden uns auf Augenhöhe und das bedeutet mir alles. Ich bin nicht mehr das kleine Mädchen und er nicht mehr der hochnäsige Junge. Ich bin nicht mehr das Kind, das krampfhaft versuchte, das Gute zu finden, um das Böse zu akzeptieren. Wir beide sind von dem sicheren Pfad abgekommen und haben einen neuen Weg gefunden. Wir sind erwachsen geworden.

Wir haben nichts zurückgelassen als stabile Brücken, die wir jederzeit zurückverfolgen könnten. Es gibt nichts zu bereuen. Wir haben alles richtig gemacht.

Heute krönen wir unseren gemeinsamen Weg mit diesem Tanz. Mit dieser Gesellschaft.

Die Geigen schwellen an und das Spinett perlt. Die Hitze der Kerzen empfängt uns, während wir auf einem zarten Kiesweg entlang zu dem strahlenden Schloss huschen. Eindringlinge sind wir im Festgewand, leise tuschelnd und aufgeregt lachend, während man uns grinsend beobachtet. Für die Herren sind wir nur ein Paar, das sich für einige private Minuten in den Garten geflüchtet hat. Und ist das gelogen?

Liutwin zieht mich mit sich, regelmäßig einen aufgeregten Blick über seine Schulter werfend. Die Kerzen malen weiche Schatten auf sein Gesicht und zaubern Liu noch unwirklicher, als er es ohnehin schon ist.

„Das wird einer der aufregendsten Tage unseres Lebens“, flüstere ich ihm zu, als wir die Schwelle überschreiten.

Der blanke Überfluss empfängt uns. Von der gewölbten, mit Putten und Ranken geschmückten Decke, hängen schwere Kristalllüster. Auf ihnen flackert das Feuer und von ihnen geht die Hitze aus, die die Kälte der Nacht erfolgreich bekämpft. An den Wänden hinab fließen Bibelszenen und dazwischen verschleiern schwere Vorhänge die Fenster. Man dunkelte den Saal ab, als wäre die vollmondbeschienene Nacht den Gastgebern noch zu hell, und füllte ihn mit tausend schimmernden und glitzernden Farbklecksen. Uns gegenüber baut sich ein gigantisches Buffet auf. Die Torten sind groß wie ich selbst, das Federvieh sitzt zu Teilen noch in seinem schönsten Kleid auf der Tafel. In großen Behältnissen schimmert der Alkohol und die Anwesenden geben sich Völlerei und Tanz gleichermaßen hin.

Mädchen, zu einfach, um außerhalb eines Märchens in ein Schloss geladen zu werden, wirbeln kichernd herum, den Blick auf einen jungen Mann geheftet, der nur Augen für eine Schönheit hat. Aschenputtel tanzt in seinen Armen in einem roséfarbenen Kleid und strahlt mit den Kirschblüten im königlichen Garten um die Wette. Ihre gesamte Aufmerksamkeit gilt dem Mann vor ihr.

„Lass mich raten“, murmelt Liutwin. Ein keckes Lächeln umspielt seine weichen Lippen. „Sie wird sich unsterblich in ihn verlieben, dann heiraten sie und zum Schluss versucht man, ihnen das Kind zu stehlen.“

„Fast“, flüstere ich und finde kaum ein Wort. Da ist sie. Die Prinzessin, die meine Träume von diesem ersten Moment an gefüllt hatte. Die einzige Prinzessin, deren Geschichte ich mehr liebte als meine eigene und die einzige, der ich meine letzte Nacht widmen würde. „Die Stiefschwestern versuchen, ihr den Prinzen auszuspannen, indem sie sich die Fersen und Zehen abhacken.“

Liu verzieht angewidert das Gesicht. „Nenn mich oberflächlich, aber ich würde es vorziehen, wenn meine Braut vollständige Füße hat.“

„So wie ich?“

Er streckt mir die Zunge heraus und das Lachen flutet meinen Körper wie das warme Licht der Kerzen.

Der Marmor liegt weiß und geädert da. Über ihn schweben tausende Mädchen. Manche tragen kaum mehr als einen einfachen Rock, andere können sich in ihren vier Meter breiten Kleidern nicht mehr rühren. Jede heiratswillige Frau hatte man in das Schloss gebeten und einige von ihnen sind so jung, dass es mir die Schamesröte in die Wangen treibt. Jung und Alt schmachten den Prinzen an. Er hat nur Augen für eine der Anwesenden. Die Gleiche, die auch mir den Atem raubt.

„Sie ist wunderschön“, hauche ich. „Sie ist noch schöner, als ich sie mir vorgestellt habe. Sieh dir nur an, wie sie sich bewegt! Sie ist so elegant.“

Liu gibt einen zustimmenden Laut von sich und schlingt beide Arme um mich. „Wenn du mit ihr tanzen möchtest, solltest du auf sie zugehen.“

Sollte ich das? Allein der Anblick der jungen Frau erfüllt mich mit Ehrfurcht. Das braune Haar fließt ihr in Wellen über den Rücken und jede ihrer Bewegungen strotzt vor unbewusster Anmut. Wenn sie lächelt, scheinen alle Lichter heller zu leuchten, und wenn sie sich dreht, dann hält die Erde ehrfürchtig den Atem an.

„Das war dein Traum, Adeline“, flüstert Liu. „Nimm ihn dir. Es ist an der Zeit, nach den Sternen zu greifen.“ Ja. Es wird sich keine weitere Chance eröffnen. Als mir der Mut schwindet, fängt Liu ihn ein und gibt ihn mir zurück. Mit einem sicheren Grinsen umfasst er meine Hand und führt mich in das Zentrum des Geschehens. Mit schlagendem Herzen klammere ich mich an Liu fest, die Augen ungläubig auf Aschenputtel geheftet. Sie ist hier.

Wie viele Märchen habe ich bereits besucht? Dieses hier fühlt sich so unwirklich an wie das Erste. Es scheint ebenso schillernd, ebenso überwältigend wie das, in dem ich Liutwin kennengelernt habe. Ich spüre meine Beine nicht, während wir uns durch die Anwesenden schlängeln, immer auf das Herz des Treibens zu. Liu lässt meine Hand nicht für eine Sekunde los, während das Blut mir in den Ohren rauscht.

Ich glaube das Parfum zu riechen, das Aschenputtel aufgelegt hat, und meine Fingernägel graben sich in Lius Handgelenk. Der Erfüllung des größten Sehnens so nah zu sein, das ist seltsam. Als würde man nach dem Feuer tasten, wohlwissend, dass es einen verbrennen wird, während man nicht mehr ohne es sein will.

„Genieß den Tanz“, sagt Liu leise und streicht mit seinen Lippen über meinen Nacken. „Vergiss nicht, dass der Letzte mir gehört.“

Tausend Frauenblicke scheinen sich auf ihn zu richten, als er meine Hand loslassen will. Ich umklammere seine Finger fester. Eine dumpfe Eifersucht sticht mir ins Herz. Wird eine von den hier Anwesenden meinem Liutwin den Kopf verdrehen, nachdem ich gehen musste? Wird es das Mädchen mit den wallenden, roten Locken sein oder das mit den weichen, grünen Augen? Vielleicht die, die schüchtern durch ihre langen Wimpern zu Liu hinüberblinzelt.

Ich wollte einen Tanz mit Aschenputtel. Nie habe ich behauptet, dass ich ihn allein bestreiten möchte, während die ausgehungerten Geier sich auf meinen Liebsten stürzen.

Ich glaube das Sprechen verlernt zu haben, als ich mich heiser räuspere. Sie hört mich nicht, zu verloren ist Aschenbrödel in dem Anblick des Prinzen. Liu drückt ermutigend meine Hand und ich atme tief durch.

„Hallo.“ Mehr weiß ich nicht zu sagen. Ich glaube schwerelos zu sein. Ich glaube tonnenschwer zu sein. Einen stirnrunzelnden Blick wirft der Prinz mir zu, ehe er Aschenputtel elegant herumwirbelt und mit dem Rücken zu mir steht. Meine Wangen glühen fiebrig-nervös. Was? Glaubt der Prinz, ich würde mit ihm sprechen wollen? Mit einem Mann, der sich jede Frau des Landes kommen lässt, um binnen von drei Tagen eine Wahl für sein Leben zu treffen?

Ich beiße mir auf die Unterlippe und sehe Liu ratlos an. Er hebt eine Schulter.

„Hallo“, wiederhole ich, dieses Mal lauter. Die Geigen stimmen ein neues Lied an.

Der Prinz wirft mir ein nachsichtiges Lächeln zu. „Dir werde ich den nächsten Tanz widmen“, sagt er.

Ratlos kichernd schüttle ich den Kopf. „Nein. Ich will gar nicht mit dir – mit Euch! Ich will gar nicht mit Euch tanzen, Eure Hoheit. Es wäre mir aber eine unglaubliche Ehre, mit Ihrer Gesellschaft ein paar Minuten verbringen zu dürfen.“ Auf dem Tanzparkett. Lachend und sorgenfrei.

Aschenputtel, endlich bemerkt sie mich. Sie lächelt mich schief an. Die Wärme strahlt von ihren Augen wie von den flackernden Kerzenflammen, die den Raum in das schönste aller Lichter tauchen.

Der Prinz räuspert sich. Die Perücke ist verrutscht und offenbart einen schmalen Streifen ungepuderte Haut. Sie wirkt kränklich bleich. Enttäuscht atme ich aus. Jedes Märchen hat seinen Haken. Das ist wohl der meines Liebsten. Der Prinz ist kein romantischer Held, sondern ein langweiliger, abgepuderter Gockel. „Natürlich möchtest du mit mir tanzen“, sagt er im Brustton der Überzeugung. „Meinetwegen bist du hier.“

Neben mir schnaubt Liu abfällig. Wer, wenn nicht er, weiß, wohin Narzissmus einen Menschen bringen kann. „Also eigentlich bin ich ihretwegen hier“, nuschle ich und deute auf Aschenbrödel.

„Sie ist meine Frau“, ergänzt Liu. Ein seltenes, gefährliches Funkeln hat sich in seine bernsteinklaren Augen gestohlen. „Eure Mutter ließ uns eine Einladung zukommen.“ Liu verneigt sich kaum merklich. „Gestatten? Liutwin, Prinz und Thronerbe von Mirlando. Dem Land, in dem Milch und Honig fließen und Träume wahr werden.“

Ich beiße mir auf die Unterlippe, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Mein Wunderland. Dass er meine unerfüllten Hoffnungen an diesen Ort aufgreift, amüsiert mich bis ins Blut. Sein Königreich mag schön sein. Was Liu hier anpreist, entspricht purer Fantasie.

„Mirlando.“ Der Prinz lächelt Aschenputtel entschuldigend zu und verschränkt die Arme vor der Brust. „Nie davon gehört.“

„Zu schade.“ Lius Grinsen ist ähnlich hinterhältig wie die Puderschicht des Prinzen dick. „In Mirlando müsstet Ihr keine fünfhundert Frauen auf Euer Schloss laden, um eine wie sie zu finden.“

Liu nickt auf Aschenbrödel, die ratlos dabeisteht. Ein Stich durchfährt mich. Das sollte ihr perfekter Abend werden. Wollte ich den Traum nicht mit ihr teilen, anstatt ihn zu zerstören?

Der Prinz lacht leise, die grau-grünen Augen fest auf mich geheftet. „Vielleicht möchte ich eine wie sie haben“, sagt er leise. „Ich biete Euch einen Friedenspakt und einen beachtlichen Teil des königlichen Goldschatzes.“

Ich glaube, Liu bricht mir die feinen Knochen in den Fingern. „Meine Ehefrau bittet um einen Tanz mit Eurer reizenden Dame. Derweil können wir verhandeln.“

„Meine Wenigkeit bietet Euch ein Geschäft an oder beansprucht Eure Begleitung kommentarlos. Das schönste Mädchen im Saal sollte mir gehören und das ist sie zweifelsohne.“

Peinlich berührt erinnere ich mich an den Froschkönig zurück. Und wie der Prinz sich schlussendlich den schwellenden Kiefer hielt, während Liu mich wutschnaubend aus dem Märchen führte. Liu mag kein Mensch sein, der anderen Schaden zufügen möchte. Gleichzeitig ist er jemand, der schamlos Anspruch auf das erhebt, was er zu besitzen glaubt. Selbst wenn ich ihm zahlreich vor Augen führte, dass ich nicht sein nächstes Spielutensil sein werde, hielt er dennoch an der absurden Vorstellung fest, ich könnte ihm gehören.

In Momenten, in denen fremde Prinzen mich erwerben wollen, ist mir das ganz recht.

„Das schönste Mädchen steht hinter Euch und verliert soeben das Interesse“, sagt Liu mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen.

„Sie will ich nicht.“

„Gut!“ Liu wirft mir einen angespannten Blick zu. „Genieß deinen Tanz.“ Er küsst mich vor aller Augen und als er mich loslässt, glaube ich seine Anspannung mit mir zu nehmen. An dem Prinzen vorsichtig vorbeigehend, als wäre er die weiße Schlange, husche ich an Aschenbrödels Seite.

Verzaubert betrachtet sie den Prinzen. Als ich zu ihr trete, scheine ich in ihre kleine Zauberwelt eingeladen zu werden. Sie greift nach meinen Händen, die Haut weich wie die eines Pfirsichs. „Er ist unglaublich“, wispert sie, die Augen funkelnd. „Er ist ein unglaublicher Tänzer und so charmant und“, seufzend wirbelt sie um ihre eigene Achse und ihr Kleid bauscht sich auf, „ich wünschte, es bestünde nur der Hauch einer Chance, dass er mich wählen könnte. Ich meine, sieh ihn dir an!“

Und das tue ich. Genauestens. Der märchenhafte Glanz war in der Sekunde von dem Prinzen gefallen, als er seine Aufmerksamkeit von Aschenputtel nahm. Seine Kleidung sitzt tadellos, aber ein dumpfer Gestank umgibt ihn, ein unterschwelliges, beißendes Stechen, das die zahlreichen Parfums und Tinkturen nicht zu übertünchen wissen. Jeder Zentimeter seiner Haut wurde abgepudert, außer einem dünnen Streifen unter seiner verrutschten Perücke. Die Leberflecke müssen unecht sein und die Farbe auf seinen Lippen wirkt zu intensiv.

Dieser Prinz ähnelte den Meisten, denen ich begegnet bin, und ich begreife nicht, was Aschenputtel an ihm findet. Wenn er aber ihr Märchen ist, dann soll dem so sein. Solange er sie glücklich macht, bin ich es auch.

„Ja. Er ist toll“, pflichte ich ihr bei und beginne mich mit der Musik zu bewegen. Verträumt fällt sie mit ein, immer einen Fuß vor den nächsten setzend, herumwirbelnd und sich in der Schönheit des scheinbar makellosen Moments verlierend. Ihre Begeisterung reißt mich mit.

„Du bist eine Prinzessin?“, flüstert Aschenbrödel aufgeregt und greift kichernd nach meinen Händen. „Wie ist das so? Auf dem Thron zu sitzen? Über ein Land zu herrschen?“

Langweilig. „Man rettet, wen man retten kann“, weiche ich ihr aus und als sie herumwirbelt, tue ich es ihr gleich. Die braunen Locken fliegen. Ich bewundere sie zutiefst. Jede ihrer Bewegungen. Jedes Zucken, jedes Lächeln. Sie ist wirklich perfekt. Wenn ich früher gekommen wäre, vielleicht hätten wir beste Freundinnen werden können. So verlieren wir uns gemeinsam in den Klängen der Musik.

„Ich stelle mir das so schön vor. So aufregend!“ Als ihr Blick für einige Sekunden auf Liutwin verharrt, erwacht in mir ein eifersüchtiger Funke. Wenn dieser Prinz sie nicht will, wird sie eines Tages meinen Platz in Lius Herzen einnehmen? Sie wäre wohl eine gute Wahl, lieb und süß und hübsch. Sie lacht ähnlich viel wie ich und bestimmt weiß auch sie, mit Liutwin zurechtzukommen, seine Launen zu ertragen und sein beizeiten hitziges Gemüt zu beruhigen. Kein Märchen ist perfekt und während ich sehe, wie ihr die Röte in die Wangen steigt, als Liu für einen Sekundenbruchteil ihren Blick erwidert, bekommt auch mein eigenes Risse, bis nur noch spindeldürre Hoffnungen es zusammenhalten.

„Seid ihr beide wirklich verheiratet oder eher Geschwister?“, fragt Aschenputtel mich wie gebannt. Der Funke wächst zu einem Feuer heran und ich versuche es zu schüren, bevor das Inferno mich verzehrt. Ich atme tief durch und folge ihrem Blick. Tiefe Falten haben sich in Lius Stirn gegraben und die langen Spitzenbesätze an seinen Ärmeln zucken unkontrolliert, während er wild gestikuliert. Sollten diese beiden gemeinsam enden, es wäre wohl in Ordnung. Sie würde ihn anbeten und Liu wäre bestimmt gut bei ihr aufgehoben.

Aber noch bin ich nicht tot. Noch ist mein Märchen nicht kollabiert. Sie sollte ihre schönen Finger von meinem Freund lassen.

„Verheiratet“, lüge ich glatt. „Schon seit Jahren. Wir wurden einander versprochen, da waren wir noch Kinder!“ Und haben einander die übelsten Schimpfwörter an den Kopf geworfen. Uns durch das halbe Königreich gehetzt.

Auf mich hatte Liu ein übles Kopfgeld aussetzen lassen. Die Narbe über meinem Bauchnabel verdanke ich wohl ihm.

„Ihr klingt nach einem echten Traumpaar“, seufzt sie.

Die wievielte war ich anfänglich auf seiner Interessenliste? Die Hundertste? Oder eher Tausendste? „Liebe auf den ersten Blick“, erwidere ich verträumt und fächle mir frische Luft zu. „Wir konnten vom ersten Moment an nicht ohneeinander.“ Irgendwie stimmt das wohl.

„Davon träume ich schon mein ganzes Leben lang. Von dieser Liebe“, flüstert Aschenputtel.

Obwohl es mir im Herzen wehtut, nicke ich in Richtung des Prinzen. Dieses Märchen war nicht grundlos mein liebstes. Es ging gut aus. In jeder Hinsicht. „Er wird diese Liebe sein“, verspreche ich ihr. „Er wird dich nach dem dritten Ball wählen. Dabei ist es völlig egal, was geschieht. Du kannst dir sicher sein, du wirst seine Königin werden.“

Unsicher lächelt Aschenputtel. „Das wäre traumhaft schön“, haucht sie. In der Ferne läuten die Glocken. Ein leiser Schatten legt sich über ihr Gesicht. Unsere Füße kommen zum Stehen und sie lässt meine Hände los. „Ich sollte gehen. Der morgige Tag wird lang, diese Nacht endet bald.“

Ja. Und ich habe jemandem einen letzten Tanz versprochen. Ich glaube zu spüren, wie diese Sekunden mir wie Sand durch die Finger rinnen. Verzweifelt versuche ich sie festzuhalten. Zurück bleibt ein einziges Korn. Es wird mich an diesen flüchtigen, viel zu kostbaren Moment erinnern – sollte ich im Tod fähig sein, zu denken.

„Danke“, sage ich. „Danke, dass ich dich kennenlernen durfte.“

Aschenputtel lacht leise. „Ich danke dir für die gespendete Hoffnung.“ Sie ist wie ein kleiner Vogel im Rosengarten. In der einen Sekunde stehen wir noch beieinander, in der nächsten taucht sie in der Menge unter. Ich atme tief ein. Der Rauch der Kerzen brennt mir ein Mal in die Lungen.

„Wo geht sie hin?“, ruft der Prinz. „Das Fest ist noch nicht vorüber. Sie sollte sich dem Tanz weiter hingeben.“

„Wahrscheinlich tun ihr die Füße weh“, murmelt Liu. Das dunkle Haar fällt ihm wirr in die Stirn, als er nach meiner Hand greift. Er wirft dem Prinzen ein eisiges Lächeln zu. „Es war mir eine zweifelhafte Ehre, Eure Bekanntschaft zu machen.“

Der Prinz lacht leise. Ewig beherrscht schüttelt er den Kopf. „Wenn das andere Mädchen vertrieben ist, verlange ich dieses hier.“

Mir entgleiten die Gesichtszüge, während ich auf den Finger starre, der auf mich deutet. Schützend schiebt Liu sich vor mich. An diesem ersten Ball sollte nichts geschehen. Was könnte ein Märchen besser verkörpern als Aschenputtels erster Tanz?

Und wie könnte ein Märchen jemals unschuldig sein.

Liu wusste es. Von Beginn an ahnte er, dass hinter jedem Gemälde zu jeder Zeit ein Ungeheuer lauert. Manchmal getarnt hinter Puder und einem blasierten Lächeln. Manchmal mit langen Reißzähnen und im Wolfspelz.

„Dieses hier hat noch einen anstrengenden Abend vor sich“, sage ich.

„Dieses hier steht nicht zur Diskussion“, bestätigt Liu. Die unterschwellige Wut vibriert in seiner Kehle. Es gibt einen guten Grund, dass man keine Märchen über ihn schrieb. Er war für das Träumen nie gemacht.

„Dieses hier wird mir überlassen oder Euer Blut wird fließen.“

„Ich fechte nicht mehr.“

Ich nicke bestärkend und sehe Liu an. Ganz genau. Und sollte er doch wieder damit beginnen, verlasse ich ihn, bevor man mich dazu zwingt. Mir wird ein letzter Streit gleichgültig sein. Im Tod wartet vermutlich nur Vergessen. Liu hingegen? Ihm wird dieser Moment in der Seele wehtun. Womöglich genug, um den Degen für immer ruhen zu lassen und nie im Kampf zu fallen.

„Nicht einmal um sie?“ Der Prinz nickt in meine Richtung. „Um Eure eigene Ehre?“

Liu blinzelt angespannt. Die zwei Dinge, die ihm am meisten bedeuten und er ist gezwungen, die Demütigung regungslos zu inhalieren.

Dieser Märchenprinz wirkt nicht, als könnte er gut kämpfen. Die Spitzenbesätze an seinen Handgelenken sind noch ausschweifender als Lius und die Schuhe bald so hoch wie meine eigenen. Wenn ich auf jemanden wetten müsste, würde ich augenblicklich auf Liu setzen.

Liu rollt die Augen. „Ich fechte nicht mehr.“

„Dann sollte es Euch recht sein, mir die Dame zu überstellen.“

Die Dame bereut zutiefst, sich diesen Tanz seit ihrer jüngsten Kindheit gewünscht zu haben. Ich hätte es wissen müssen. Kein Märchen ist perfekt. Am wenigsten das Schönste von allen. Ich hätte Aschenbrödel raten sollen, zu fliehen. Das Märchen endet mit der Eheschließung. Weil danach die Hölle losbricht?

„Darf ich ihn treten?“, flüstere ich in Erinnerung an Lius und meine erste handgreifliche Auseinandersetzung.

Er wirft mir einen kurzen Blick zu, in dem das Lachen steht. „Du darfst ruhig sein.“

„Ich biete Euch einen beachtlichen Anteil unseres Goldschatzes“, wiederholt der Prinz und fährt sich mit einer Hand über die schneeweißgepuderte Perücke. Allein in Gedanken daran, dass diese ungewaschenen Finger mich anfassen könnten … Ich kämpfe gegen bodenlosen Ekel an.

Unruhig schiebt Liu sich vollständig vor mich. „Wir werden gehen“, sagt er mit der Autorität des Prinzen, dem kein Wunsch verwehrt wird.

„Ihr werdet gehen.“ Mit großer Geste wedelt der Prinz in der Luft herum, als versuchte er Fliegen zu verscheuchen. Plötzlich ist das Fest nicht mehr schön, nicht mehr zauberhaft. Es strotzt vor Überfluss und verhöhnt jede hungernde Seele in einem einfachen, groben Kleid.

„Wir.“

„Wenn du zufällig einen Degen dabeihaben und das Bedürfnis verspüren solltest, ihn umzubringen, dann wäre das voll okay für mich“, murmle ich. „Überleg nur, wie vielen Frauen du damit einen Gefallen erweisen würdest. Aschenputtel findet jemand besseren.“

Liu wirft mir einen vernichtenden Blick zu. Ich presse die Lippen fest aufeinander. Vermutlich wäre es besser, zu schweigen.

Er hat den Degen nicht freiwillig zurückgelassen. Nein. Ich habe ihn förmlich dazu gezwungen.

„Ihr.“

„Wir.“ Allein Lius verspannte Muskulatur verrät seinen kaum gebändigten Zorn. Er ist wie ein wildes Tier, das sich Bahn brechen will, und Liu setzt ihm alles entgegen, was er aufzubringen weiß.

Als der Prinz sich in Richtung der Wachposten umdreht, ergreifen wir den kurzen Moment für eine Flucht. Ungeniert zerrt Liu mich in das bunte Treiben hinein. Kichern und Glucksen umgibt uns und die Kerzen flackern nervös, während ich fast über meine eigenen Füße falle.

„Ich kann nicht glauben, dass wir schon wieder fliehen.“ Ein irrationales Lachen blubbert aus meiner Kehle. „Das hier war mein Traum, seitdem ich denken konnte, und wir müssen die Flucht ergreifen! Ist das nicht verrückt?“

„Ich hasse Prinzen“, flucht Liu. „Ich hasse sie. Wenn dich auch nur noch einer schief ansieht, dann drehe ich durch.“

„Du bist selbst einer“, merke ich geistesgegenwärtig an.

Er schüttelt wütend den Kopf. „Ich bin enterbt und jage hinter Gemälden die Fehler im Märchen. Ich bin kein Prinz. Ich sehe sogar ein, dass die Angewohnheit der Armen, sich zu waschen, eher klug erscheint. Der Thron könnte für mich nicht unerreichbarer sein.“

Ich beiße mir auf die Unterlippe, während Liu mich über die Schwelle nach draußen zieht. Die Kälte der Nacht schlägt uns entgegen und der Mond lächelt mich an. Aus großen Augen scheint er uns zu betrachten. Ob er uns beschützt? Vor dem Folgenden warnt?

„Es tut mir leid“, flüstere ich.

„Was?“ Verständnislos sieht Liu über seine Schulter zu mir. Das Summen und Rauschen der Geigen schwindet, den See lassen wir hinter uns zurück. Ich nehme nichts wahr außer seiner Hand in meiner. Außer der frischen Luft, die ich inhaliere, als wäre es das letzte Mal.

„Es tut mir leid, dass du meinetwegen so ziemlich alles verloren hast, was dir je etwas bedeutet hat“, spreche ich die Worte aus, die wohl von Anbeginn an wie dunkle Schatten zwischen uns hingen. „Ich meine, klar, damals dachte ich, wir hätten die Ewigkeit und könnten einfach durchbrennen und alles wäre romantisch und märchenhaft, aber jetzt, da wir wissen, dass nichts für immer ist, da dachte ich“, kleinlaut zucke ich die Schultern, „dass es Zeit für eine Entschuldigung wäre.“

Schwer atmend bleibt Liu stehen und sieht mich stirnrunzelnd an. „Ich komme nicht mit.“

Meine Brauen schießen in die Höhe. „Wie, du kommst nicht mit? Ich habe mich hier gerade für all die Katastrophen, die ich angerichtet habe, entschuldigt. Und du kommst nicht mit?“

„Also, ich meine, ich komme mit.“ Liu schüttelt den Kopf und zieht mich tiefer in den Schatten des alten Baumes hinein. Eine Linde? Wie damals? „Ich verstehe nur nicht, warum du dich dafür entschuldigst. Das waren meine Entscheidungen und ich bin dankbar für jede wahnsinnige Sekunde, die wir miteinander verbracht haben.“

„Wenn ich mich recht entsinne, hat dein Vater dich mit den Worten aus dem Land gejagt, dass er dich eigenhändig erdolcht, solltest du noch einen Fuß über seine Schwelle setzen“, sage ich nüchtern.

Liu verzieht das Gesicht. „Das sind nur unwichtige Details.“ „Oder, dass du keinen Anspruch auf dein Erbe hast.“

„Unwichtig.“

„Deine Auswahl an möglichen Ehefrauen wurde gestrichen.“

Ein sanftes Lächeln stiehlt sich auf seine Lippen. „Ich verbringe diesen Moment wohl mit der einzigen, die von Bedeutung ist.“

„Dir wurde dein Pferd weggenommen?“, frage ich hilflos und weiß selbst nicht, warum ich ihm jedes schmerzhafte Detail unserer Beziehung vor Augen führe. Um uns den Abschied zu erleichtern?

„Ja“, sagt Liu gedehnt. „Das war wirklich hart. Das habe ich dir auch eine Weile übelgenommen.“

Mit Recht. Habe ich nicht von ihm verlangt, er solle zwischen mir und dem Pferd wählen? Und wenn die Worte auch im Zorn gesagt waren, Liu pflegt es, zu seinen Entscheidungen zu stehen. Wenn das beinhaltet, dass er alles von Bedeutung zurücklässt, dann ist dem so.

„Du vergisst das Wichtigste“, sagt Liu sanft und streicht mir mit dem Daumen über den Kiefer. „Du hast mir gezeigt, was es bedeutet zu leben. Ohne dich hätte ich eine Frau, die ich nicht liebe, und fünf Mätressen, die mich eigentlich nicht interessieren.“ Bedächtig küsst Liu mich. „Ich würde den Tag mit Essen und Feiern verbringen, hin und wieder einer Hinrichtung beiwohnen und die meiste Zeit über darüber sinnieren, welchen Zweck das Leben hat.“

„So bist du fast fünfzig Mal um ein Haar gestorben“, wispere ich an seinen Lippen.

„Und deswegen liebe ich dich.“ Er küsst mich. „Ich liebe dich und ich liebe dich und werde niemals damit aufhören, dich zu lieben.“

Meine Wangen glühen. „Du bist mir nicht böse?“

„Ich will dich heiraten“, flüstert Liu. „Ich möchte dich zu meiner Frau machen und ich möchte, dass uns nichts mehr trennen kann.“ Er nimmt meine Hand in seine und haucht mir einen Kuss auf die Fingerknöchel. „Das ist mein Traum. Mein tiefster Wunsch. Dass uns nicht einmal der Tod trennt und all unsere Fehler schlussendlich keine Rolle mehr spielen. Weil ich mich ihnen nicht alleine werde stellen müssen.“ Er sieht mir fest in die Augen und sie schimmern schwarz wie Ebenholz.

„Dann lass uns deinen Traum wahrmachen“, murmle ich. „Verleugnen wir die unumstößlichen Tatsachen noch einen Moment länger und geben uns nur dem Unmöglichen hin.“

Lius leises Lachen gesellt sich zu seinem Seufzen in mein Herz. Dort werde ich mich selbst im Tod noch an ihn erinnern.

„Das klingt nach uns“, sagt er leise und zupft sanft mit den Zähnen an meiner Unterlippe. „Leugnen, bis es nichts mehr zu leugnen gibt.“

„Jung“, ergänze ich. „Naiv. Niemals erwachsen. Darum geht es doch, oder? Dass wir niemals älter als neunzehn werden müssen. Ewig hier bleiben. Ewig leben.“

„Und wenn nicht, dann hat es doch einen Sinn gemacht.“ Liu atmet tief ein. „Wie viel Zeit bleibt uns noch?“

Bis die Sonne aufgeht. Noch hängt die Nacht schwer über uns. Mit dem ersten Sonnenstrahl werde ich verschwinden und es wird sein, als hätte es nichts hiervon je gegeben. Als wären wir beide nur schwachsinnige Hirngespinste eines kleinen Mädchens, das für zehn Sekunden im Sterben lag.

„Genug“, sage ich und grinse ihn schief an. „Mehr als genug, um noch irgendwas Dummes zu machen.“

„Was schwebt dir vor?“ Liu zieht mich an sich, bis kein Atemzug mehr zwischen uns passt und ich fühle, wie sein Herz über meinem pulsiert. Sein warmer Atem streift meine Lippen und ich bin verloren in diesem Augenblick. In der Sekunde. Könnte ich sie doch nur anhalten und für immer darin leben. Grinsend zupft er mir die Haare aus dem Gesicht. „Ein nächtliches Bad im See?“

„Das klingt nach dir. Nicht nach mir.“

Empört zieht er die Brauen in die Höhe. „Warum klingt das nach mir? Schwimmend im Mondschein, dem Erfrieren nahe, während man uns womöglich sucht und niederstechen will. Das ist doch eigentlich deine Welt.“

Ich gebe einen zustimmenden Laut von mir. „Das stimmt wohl. Nur wären wir bei meinem Vorschlag nicht nackt.“

In der silbrigen Finsternis erahne ich, wie Liu die Augen rollt. „Ein schnelles Huschen in ein anderes Märchen?“

„Welches?“

„Eines deiner Wahl“, antwortet Liu ohne zu zögern. „Wollen wir Dornröschen besuchen? Schneewittchen? Man vermisst uns dort bestimmt schon.“

„Meinst du?“ Ich drücke das Gesicht gegen seine Schulter und inhaliere seinen Duft, gemischt mit einer zarten Note der Kiefer und einem Hauch von Gebäck und Kerzen.

„Meine ich.“ Lius Küsse entführen mich an fremde Orte, während der Wind durch das dichte Blätterdach über uns spielt. Im Himmel. Genau dort bin ich angekommen. Seine Hände wandern über meinen Körper und ich genieße jede Berührung. Als würde ich das erste Mal leben. Das letzte Mal?

„Beides“, entscheide ich. „Beides. Wir wollen doch nichts verpassen.“

Lius teuflisches Lächeln geht mir unter die Haut. „Man soll die Dinge beenden, wenn sie am schönsten sind, nicht wahr?“

„Ganz genau. Und damit das funktioniert, muss es zuerst am schönsten sein.“ Ich habe keine Angst vor einer Lungenentzündung. Sie wird keine Zeit mehr haben, mich zu befallen. Keine Erfrierungen könnten mich ewig plagen.

Als ich Anstalten mache, mein Kleid zu öffnen, hält Liu meine Hände fest. „Nicht hier. Ich möchte die letzten Stunden mit dir und ohne blaue Lippen genießen.“

Ich würde sie überall verbringen, solange er bei mir ist. In den letzten Wochen wurde es zu einer unwillkommenen Gewohnheit: Erneut überlasse ich Liu intuitiv die Oberhand. Leise lachend hebt er mich hoch und haucht mir einen Kuss auf die Lippen. Protestierend strample ich mit den Füßen. Sein Glucksen entwaffnet mich.

„Schneewittchen oder Dornröschen?“, fragt Liu.

„Schneewittchen“, flüstere ich. Zwar erträumte ich mir Dornröschens Tod, aber wie Schneewittchen wollte ich begraben werden. Ich sollte mehr hierin sehen als nur eine letzte Reise. Ich sollte mir mehr erhoffen, als nur ein Ende, aber während wir weiter durch die Unmöglichkeiten tollen, glaube ich die Uhr ticken zu hören. Alle zwei Sekunden stirbt ein Mensch. Tick, tot, tick, tot.

Wir wollten noch so viel erleben. Hat Liu mich nicht mit seinem Kinderwunsch geneckt? Hatte er nicht von den Bergen geträumt und ich vom Meer? Von den unendlichen Weiten des Ozeans, der hier scheinbar nicht existiert?

Mein Herz zieht sich in Gedanken an die Orte zusammen, die wir gleichzeitig geraten haben, und an die Ausstattung eines Hauses, das wir nie bauen werden. Wir gaben vor, eines Tages Freunde zu haben, mit denen wir dämliche Spiele spielen könnten und wir wisperten über die unendlichen Möglichkeiten einer Märchenwelt. Hinter jeder Ecke entdeckten wir den Regenbogen, selbst dann noch, wenn zuvor die Gewitterwolken uns zu ersticken drohten.

Unsere letzte Reise. Sie wartet, sobald wir die Hände miteinander verschränken und die Augen schließen. Unsere letzten Stunden, vielleicht nur Minuten.

„Zeit zu weinen, bleibt noch, wenn es vorbei ist.“ Behutsam fängt Liu eine meiner Tränen mit den Lippen auf. „Womit könnte ich dich zum Lachen bringen?“

In der Ferne kichern zwei Mädchen. Ob eine von ihnen Lius Herz gewinnen wird? Ob sie es sein darf, die ihre Träume mit ihm teilt und eine Facette seines unglaublichen Wesens wird?

Liu ist schon so lange mehr als nur ein jähzorniger, verzogener Prinz. Mirlando, sein einstiges Reich, unser Wunderland, liegt in Scherben. Natürlich tut es das. Es wurde für Kinder geschaffen.

„Vergiss das mit Schneewittchen“, platzt es aus mir heraus. Eine glühende Eifersucht auf ein gesichtsloses Mädchen treibt mich, als ich blind meine Lippen auf seine presse. „Vergiss alles. Verzaubre mich ein letztes Mal. Ich gebe dir freie Hand. Such dir aus, wohin wir gehen.“

Liu zögert. In diesem silbrigen Mondlicht wirkt er realer denn je. Brennt unser Märchen längst nieder? Das am Himmel, sind es noch Sterne oder schon feurige Funken? „Bist du dir sicher?“, fragt er.

„Ja.“ Nie wollte ich etwas mehr. Liu wird mir einen seiner Träume zeigen und ich möchte, nein ich muss, Teil dessen sein.

„Ganz gleich, was mir in den Sinn kommt, du möchtest dorthin?“, vergewissert Liu sich.

Ich nicke nur. Ein Kloß liegt mir schwer im Hals und ich weiß ihn nicht zu schlucken. „Ich folge dir bis ans Ende der Welt“, hauche ich an seinen warmen Lippen.

Ein kleiner Laut entflieht Lius Kehle, irgendetwas zwischen Lachen und Weinen, als er mich unmöglich fester hält und seine Stirn gegen meine lehnt. „Hast du auch nur den Hauch einer Ahnung davon, wie lange ich darauf gewartet habe, dass du das sagst?“

Ich schüttle stumm den Kopf. Nein. Habe ich nicht. Das möchte ich auch nicht. Denn schlussendlich spielt es keine Rolle.

Bebend sehe ich ihn an. „Erzähl mir Märchen, Liu“, wispere ich. Ein letztes Mal. Mein Herz schlägt für heute und immer, als er mit mir in den Armen zu Boden sinkt. Der Mond steht noch hoch am Himmel, aber er reist zu schnell. Stehenbleiben müsste er. Für die Ewigkeit.

„Schließ die Augen“, bittet Liu mich leise. Ich vertraue ihm blind. Seufzend presse ich die Stirn gegen seine Schulter und atme tief ein. In unendlicher Sicherheit bin ich geborgen. „Erinnere dich an die schönsten Momente deines Lebens.“ Lius Herz schlägt an meinem. „Ich liebe dich und ich liebe dich und ich werde dich für immer lieben“, flüstert er, während die kühle Nachtluft schwindet und durch die Wohltemperierte des Korridors ersetzt wird. Mir bleibt keine Zeit, nach einer letzten Tür zu suchen.

Wir versinken in einem bunten Strudel. Bunt wie der Regenbogen, der uns von Märchen zu Märchen geleitete und aus dem mein Westkorridor gemacht worden war.

Und für das erste Mal sind wir gänzlich frei.

Das leise Knistern und Knacken eines Wäldchens verzaubert mich. Als ich die Augen öffne, sind wir allein. Seufzend inhaliere ich die würzige, weiche Luft und verliere mich in den zarten Schatten, die sich um die Stämme weben wie durchscheinende Tücher. Jede Wahrnehmung scheint stechend real, als versuchten die Bilder, sich mit Nadeln in mein Gedächtnis zu drängen und dort zu verankern. Als der eisige Winterwind meine Hand küsst, da schmerzt er, und das Rauschen in der Ferne trotzt dem träumerischen Nebel.

„Das hier ist kein Märchen, oder?“, flüstere ich. Meine Stimme klingt winzig klein und verloren. Ganz so, als wäre ich nicht der Mittelpunkt dieser Welt.

Über uns bersten bunte Sterne. Ein Feuerwerk. Nie habe ich eines gesehen. Nie durfte ich eines hören. Nie wurde eines nur für mich gezündet.

Liu schüttelt den Kopf. „Nein. Das ist das, wohin der Regenbogen führt.“

Und am Ende des Regenbogens erwartete sie ein Schatz. „Kennst du diesen Ort?“

Noch ein Kopfschütteln. „Aber er ist wunderschön.“ Liu schlingt beide Arme um meine Taille. Die eisige Winterluft beißt sich in meine Haut. Dass ich das Kleid aus meinem ersehnten Traum noch trage, bemerke ich erst, als ich mich frierend an Liu schmiege. Die Schmetterlingsärmel bedecken kaum meine Schultern. Der Wind kriecht tückisch unter den Rock und kratzt über meine Beine.

„Wir hätten in Betracht ziehen sollen, dass es kalt sein könnte“, bringt Liu zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich nicke. Der Winter greift mit Eisfingern nach mir und schüttelt mich.

„Ich glaube nicht“, bibbere ich, „dass wir zurückkönnen. Es fühlt sich nicht so an.“ Das Prickeln in den Venen ist verschwunden, das leichte Summen auch. Ich fühle mich seltsam leer und schwer. Als hätte ich nichts Besonderes an mir, nichts Magisches. Als wäre ich nur ein Mensch. Dabei bin ich seit Sekundenbruchteilen in Sekundenbruchteilen tot. Liu nickt und zieht mich auf die Beine. Seine farbenfrohe Weste und das gelbe Hemd scheinen ebenso mäßig zu wärmen wie mein langes Ballkleid. „Schön ist es“, zittert er, „aber es war trotzdem eine blöde Idee.“ Das kann ich nicht abstreiten.

„Immerhin“, murmle ich, „meine Zeit lief ohnehin gerade ab, das heißt, wenn ich mich auflöse, habe ich zumindest eine gute Entschuldigung, mich an dich zu schmiegen und dir zu schwören, dich nie wieder loszulassen.“

Liu nickt bibbernd. „Wenn wir allerdings nicht wollen, dass ich dich direkt bis in den finstersten Winkel des Totenreichs begleite, sollten wir in Bewegung bleiben.“

Das farbenfrohe Donnern des Feuerwerks brennt sich in meine Netzhäute. Ein magisches Schauspiel. Phantastischer als jedes Märchen und jede Prinzessin, jeder sprechende Vogel und jeder falsche Prinz.

„Glaubst du, Aschenputtel wird glücklich werden mit ihrem Prinzen?“, frage ich in die atemlose Stille zwischen zwei Funkenregen hinein.

„Keine Ahnung. Vielleicht ist er ja so nett zu ihr wie ich zu dir.“

Ich verziehe den Mund. „Bedeutet das, dass er nun damit aufhört, den Schmetterlingen die Flügel auszureißen, den Degen vergräbt und die Freundin auf Händen trägt?“

„Ganz genau.“

Meine Gänsehaut wirft mich in ein Säurefass. Fluchend schmiege ich mich enger an Liu und versuche einen Teil seiner Körperwärme zu stehlen.

„Zumindest ist dieser letzte Ausflug unvergesslich“, sage ich. „Romantisch, wunderschön. Es duftet hier so gut! Nach Nacht und Schnee.“ Und einem Detail, das ich nicht einzuordnen weiß. Bis ich das Meer gegen die Küste branden höre. Das Meer. Die ewigen Weiten, die in die Welt hinausführen und die Erde in den Händen halten. Salz. Diese letzte Note, das ist Salz und Nässe. Die Ewigkeit, blau und gekräuselt, gekrönt von Schaum, sie ist zum Greifen nah. Liu hat mich hierher gebracht. Liu hat mir mein letztes Sehnen zu Füßen gelegt, während grüne Funken über uns zu Boden regnen.

Ich breche haltlos in Tränen aus.

„Was ist?“, fragt Liu. Zwischen klappernden Zähnen hervor klingt es fast ängstlich.

„Das Meer!“ Ich bleibe stehen und schlinge ihm die Arme um den Hals. „Du hast mich ans Meer gebracht, Liu.“ Meine Sicht verschwimmt, während der Mond über uns hängt, groß und staunend, während um ihn herum der Himmel auf schönste Weise explodiert. „Wir sind am Meer“, schluchze ich und presse meine Lippen auf seine, um endlich wieder atmen zu können. „Wir sind am Meer.“

„Ja.“ Seine braunen Augen wirken schwarz in der blitzenden Finsternis. Zwischen den Nadeln und letzten Blättern der Bäume tanzen die Farbreflexe und malen zauberhafte Muster auf den weißen Boden. „Wir sind wohl am Meer.“ Er lacht ungläubig auf. „Denkst du, der Regenbogen bringt uns an den perfekten Ort?“

„Ich weiß es nicht.“ Aber wohin er uns auch führte, wir befinden uns fernab von meinem Wolkenschloss. Der Korridor wurde versiegelt und von nun an werden die Ölgemälde an den Wänden nur das sein: Gemälde. Kein Leben dahinter. Keine Erzählungen. Die Kraft, die sie antrieb und existent machte, ist erwachsen geworden.

Meine Finger graben sich in Lius kanariengelbes Hemd. Und er ist noch hier. Er ist hier, als würde er ohne meine Phantasie existieren, und er ist hier und führt mich aus der Finsternis hinaus an das Licht eines neuen Jahres. Ich darf ihn schmecken. Den Neubeginn.

„Mir ist kalt“, bringe ich bibbernd über die Lippen und stolpere neben Liu aus dem Wald hinaus. Ich kann es sehen. Das Meer. Das Wasser, das um die Felsen spielt. So nah. So unglaublich. Es ist weiter und unendlicher, als ich es mir vorgestellt habe. Darin spiegelt sich das Leuchten des Himmels. Ich glaube auf Wolken zu gehen.

„Mir auch. Die Hose hält nicht wirklich warm.“

„Strumpfhose“, verbessere ich Liu. „Das ist keine echte Hose, das sind Strümpfe aus Samt.“

„Hör auf“, gluckst er bebend. Mit bläulichen Händen drückt Liu ein hölzernes Tor auf. Protestierend quietscht es in den Angeln. Ein weiter Garten erstreckt sich dahinter bis hin zu den tosenden Fluten. Frierende Gräser wiegen sich und ich höre Kinder lachen. Das perlende Geräusch wirkt tausendmal erstrebenswerter als eine weite Ballrobe, die mich unter Tonnen von Stoff erfrieren lässt.

„Es ist immer wieder erstaunlich“, bringe ich irgendwie hervor, ohne mir vor Kälte die Zunge abzubeißen, „da ist man so eitel wie du und trägt Strumpfhosen.“

„Die sind modern!“

„Die sind selbst für Frauen nicht mehr schön“, lache ich. Leuchtet im Inneren des weißgestrichenen Holzhauses wirklich Licht? Wir tauschen einen kurzen Blick. Die Kälte nimmt uns die Perspektiven. Sie raubt mir die Fähigkeit, zu denken.

„Wir sollten anklopfen“, sagt Liu mit tauben Lippen. Sie wirken dunkelviolett. Bin ich ähnlich blass wie Liu? Ähnlich verfroren? So schnell taumelt man aus einem kerzengewärmten Festsaal in einen winterlichen Wald. Ich glaube das Essen noch zu riechen und die Musik weiterhin zu hören.

Langsam verglühen letzte Funken. Pink und grün und gelb. Liu hämmert gegen das Holz. Die Antwort ertönt nicht aus dem Inneren des Hauses.

„Habt ihr euch verirrt?“

Ich wirble erschrocken herum, einen Aufschrei unterdrückend, während Liu sich schützend vor mich schiebt. Das zweite Mal an diesem Tag bin ich dankbar für seine Besessenheit, mich vor allem Übel dieser und jeder anderen Realität zu bewahren. Ein unruhiges Rauschen sticht mir in die Ohren, als sich die Schatten unter einem schlanken Baum bewegen.

Gähnend streckt sich eine schemenhafte Gestalt unter Decken auf einer Holzliege. Lius Hand zuckt automatisch zu seiner Hüfte. Der Degen baumelt dort nicht mehr.

„Habt ihr verpasst, dass es mitten in der Nacht ist?“ Der junge Mann steht stöhnend auf und drückt den Rücken durch. Als er uns entdeckt, verharrt er mitten in der Bewegung. Dieses Mal presse ich mich nicht nur wegen der Kälte enger an Liu. Er schlingt die Arme um mich, seine Hände ruhen auf meinen Hüften. Selbst jetzt, dem Ende unseres Märchens so nah, hält er mich noch. Beschützt er mich. Ob er es selbst dann noch tun wird, wenn ich leblos vor ihm liege?

„Seid ihr von irgendeinem Filmset abgehauen, von dem ich nichts mitbekommen habe?“ Das Licht aus dem Inneren des Hauses streckt sich mit Spinnenhänden in seine Richtung und verleiht dem Fremden, der die Feuerwerkskörper scheinbar ähnlich bezirzt beobachtete wie wir, Farbe. Seine roten Haare stehen ihm wild vom Kopf ab, die grünen Augen funkeln intensiv. In der linken Hand hält er eine Tasse, in der rechten einen blütenweißen Briefumschlag. „Entschuldigt, dass ich euch nicht die Hand gebe, aber ich bin voll beschäftigt.“ Lächelnd schiebt er sich an uns vorbei und betätigt die Klinke mit dem Ellbogen. „Wenn ihr wollt“, ruft er über seine Schulter, „dürft ihr gern reinkommen. Draußen ist es eiskalt.“

Eiskalt trifft es nicht annährend. Es fühlt sich an, als müssten Wasser und Luft gleichermaßen gefrieren. Liu und ich tauschen einen knappen Blick, dann betritt er das Haus, mich direkt hinter sich wissend. Ein kurzer Korridor empfängt uns. Er duftet nach Wärme und Holz. Zu meiner Rechten hängt ein Ölgemälde. Der darauf abgebildete winterliche Wald wirkt wild und harsch.

„Von wo seid ihr abgehauen?“, fragt der Fremde unumwunden und schließt die Tür. Lieblos stellt er die Tasse auf eine rustikale Holzkommode neben ein winziges Tannenbäumchen und kickt sich die schwarzen Turnschuhe von den Füßen.

„Wir sind nicht abgehauen“, antwortet Liu steif.

„Warum steht ihr dann vor meiner Tür? Ohne unhöflich klingen zu wollen.“ Der Fremde lächelt gequält. „Ich glaube nur, dass ich sehr bald sehr viel zu tun haben werde und die Gästebetten sind nicht gemacht. Ihr wisst schon. Die alten Problemchen.“ Sein Lachen schneidet mir nervös in die Ohren, während seine Augen uns abtasten. Mit jeder Sekunde scheint die Anspannung des jungen Mannes mit den Sommersprossen zu steigen.

„Wir sind durch Zufall hier vorbeigekommen“, sagt Liu.

„Ist ja auch ein schönes Plätzchen.“ Der Fremde rührt sich nicht. Er starrt mich nur an, als stünde ihm sein persönlicher Albtraum gegenüber. „Ich meine, hier gibt es Bäume. Bäume sind cool. Und das Meer.“ Die Hand, die den Briefumschlag umklammert hält, zittert unkontrolliert. Fürchtet er sich vor uns? Glaubt er, wir könnten ihm Leid zufügen?

„Scheiße“, flüstert der Fremde und verriegelt die Tür. „Kommt, lassen wir das Laientheater bleiben. Weiß irgendjemand, dass ihr hier seid?“

„Ja“, sagt Liu, wie eh und je der geborene Lügner. „Unsere Eltern warten Daheim auf uns.“

„Ihre Eltern?“ Der Mann deutet mit dem Daumen auf mich. „Im Ernst?“

„Im Ernst. Ebenso wie meine.“

„Lasst mich raten.“ Er bedeutet uns mit einem knappen Nicken, ihm zu folgen. Da die Kälte vor der Tür lauert, tun wir ihm den Gefallen. Jeder Schritt fühlt sich unwirklich an. Zu steif, zu hart, als könnte jeder mich das Leben kosten und jeder falsche Atemzug mein Herz zum Stocken zwingen. Meine Augen brennen, wenn ich länger als einige Sekunden nicht blinzle, und schlucke ich, dann spüre ich ein leises Kitzeln in der Kehle.

Wir betreten ein Kaminzimmer. Im Zentrum flackert ein schwaches Feuer, das sich zu größten Teilen in die Kohlen zurückgezogen hat, und ein Hauch des Qualms liegt in der Luft. Ich inhaliere den würzigen Geruch. Darunter mischt sich der Duft von Harz und frischem Holz. Ich möchte mich in den Eindrücken verlieren. Kleine Bildchen von Meer und Wald hängen verteilt im Raum und selbst in dieser Sicherheit glaube ich die Wellen rauschen zu hören.

„Setzt euch“, sagt der Fremde und lässt die zwei Worte wie einen strikten Befehl klingen.

Liu verschränkt die Arme vor der Brust, mich mit seinem eigenen Körper schützend. Wir rühren uns keinen Zentimeter. Der junge Mann wirkt zunehmend nervös. Hektisch leckt er sich über die Lippen.

„Setzt ihr euch, wenn ich euch Schokolade anbiete?“ Er wirkt nicht bedrohlich. Vielmehr durcheinander. In den grünen Augen ruht eine dumpfe Verzweiflung und die Sommersprossen scheinen verzerrt. Als er sich durch die Haare fährt, beben seine Finger.

„Cam“, stellt er sich vor, als Liu und ich nicht reagieren. „Eigentlich Cameron Izaret. In wenigen Stunden werde ich zu einer wichtigen Geschäftsreise aufbrechen und“, er stockt, „wie auch immer sie ausgeht, ich brauche jemanden, der auf das Haus aufpasst.“

„Unsere Eltern warten“, wiederholt Liu und ich nicke bekräftigend. Niemals sollte man einen Fremden glauben lassen, man wäre schutzlos. Obwohl die Wahrheit nicht unwahrer sein könnte. Auf der anderen Seite des Regenbogens wird niemand zu seiner Familie zurückkehren können. Wir haben unsere Entscheidung gefällt und sind geradewegs aus dem Himmel gepurzelt.

„Klar.“ Cameron rollt die Augen und stößt angespannt zwischen den Zähnen die Luft hervor. „Ich meine, sternenklar. So klar wie es nur sein kann und so aber, mir liegt eine Sache wirklich auf dem Herzen.“ Schwer atmend hebt der junge Mann eine Hand und deutet auf mich. „Adeline, dir ist schon klar, dass du seit einigen Jahrzehnten mausetot bist, oder?“

Ich erstarre. „Ich bin nicht …“

„… Adeline?“, unterbricht Cam mich harsch. „Die kleine, niedliche Schwester, die Nathaniel wie aus dem Gesicht geschnitten ist, der der Vater den Schädel an der Heizung zertrümmert hat und deren neunjähriger Kinderkörper von Ratten abgenagt wurde bis auf die Knochen?“ Ich bekomme kaum noch Luft, während Lius Muskeln sich anspannen. Seine Finger tasten nach einem Holzscheit zu seiner Rechten. Wenn er sich auf Cam stürzt, werde ich ihm zur Seite stehen. „Ich weiß nicht, was das hier soll. Ich habe keine Ahnung, was für ein Scherz das ist, okay? Aber ich habe im Moment mehr zu tun, als mich um tote Geschwister zu kümmern. Mausetote Geschwister!“ Seine Worte klingeln in meinen Ohren, während Cam einen verzweifelten Schrei ausstößt. Er presst sich den Briefumschlag gegen die Wange. „Du bist tot! Du kannst nicht hier sitzen. Entweder ich verliere langsam den Verstand oder jemand spielt uns hier einen ganz üblen Streich.“

Cam greift nach einer Flasche Wein, entkorkt sie und trinkt gierig wie ein Verdurstender. Uns bietet er keinen Tropfen an. Vor dem Fenster kehrt Stille ein. Neujahr. Ein leises Stöhnen entflieht Cams Kehle. „Wer bist du eigentlich?“, fragt Cameron, die Flasche noch am Mund, und deutet auf Liu. „Der beste Zauberer aller Zeiten? Der neue Gott? Arias vergessener Bruder?“

Liu räuspert sich. Die Unsicherheit verschluckt er. Seine Arme schließen sich fest um meine Taille. „Liutwin von Mirlando“, stellt er sich steif vor, während wir im Herzen unserer Mäusefalle sitzen.

„Wie ein von Mirlando siehst du auch aus. Nette Strumpfhosen.“ Cam nickt auf den Samt, der Lius Beine bedeckt. „Und nette Freundin. Wann bist du gestorben? Bist du schon gestorben? Gedenkst du demnächst aus dem Koma zu erwachen?“

Meine Ohren klingeln. Ich glaube, kaum noch ein Wort zu verstehen. Unwillkürlich schmiege ich mich an Liu. Wenn jemand mich vor dem kommenden Grauen beschützen kann, dann er.

Nie vertraute ich einem Menschen unwiderruflicher. Nie wusste ich sicherer, dass man mich unter keinen Umständen zurücklässt. Die Holzvertäfelungen, der Kamin, beides wirkt warm und vertraut. Das rote Leder der Couch nimmt diesen Eindruck gekonnt.

„Die einzige Frage von Bedeutung ist, wer sind Sie?“, fragt Liu.

Cam schnauft schwer und nimmt einen weiteren, tiefen Schluck. „Ein Mann mit zu vielen Problemen. Und nun rennen mir auch noch zwei Leichen durch das Haus! Zwei erwachsene Leichen. Was soll ich eurer Meinung nach davon halten?“

Er kann von meinem Tod nicht wissen. Ist ihm mein Pakt mit Dante bekannt? Dass ich zehn Jahre in zehn Sekunden erleben darf und dann auf Dante vertrauen soll?

„Ist eigentlich auch egal“, murmelt Cam. „Tatsache ist, dass ich bald verschwinden werde und niemanden habe, der das Haus übernimmt. Solltet ihr den Sonnenaufgang überleben“, ächzend steht er auf, „gehört euch dieses Anwesen. Fackelt es nicht ab, kümmert euch um meinen Garten, seid nett zu den Nachbarn. Organisiert meine verdammte Beerdigung.“ Noch ein Schluck aus der Flasche. „Eigentlich ist mir echt egal, was mit euch passiert. Andererseits erwachen mir in der letzten Stunde eindeutig zu viele Tote zum Leben.“

„Noch jemand außer uns?“, entfährt es mir. Liu wirft mir einen warnenden Blick zu. Das Blut rauscht mir in den Adern. Ein Name, den ich lange nicht mehr ausgesprochen habe, geistert mir durch den Sinn. „Wer?“

„Meine“, überfordert vergräbt Cameron das Gesicht in den Händen, „tote Frau und mein totes Kind? Ich weiß nicht, was das alles werden soll. Ich weiß nur, dass, wenn ihr nicht Teil des Spektakels werden wollt, ihr ganz genau an diesem Ort bleiben solltet. Gebt euch neue Namen, macht euch ein schönes Leben. Der Giftschrank ist voll und die Nachbarn sind freundlich.“

Als Cam das nächste Mal aufsteht, tut er es nicht, um sich eine neue Weinflasche zu holen. Unruhig tigert er auf und ab. „Ich bekomme Gedächtnislücken“, stottert er. „Ihr taucht hier auf und ihr solltet sowas von tot und begraben sein und ich könnte einfach kotzen.“

„Passiert bei zu viel Wein in zu kurzer Zeit“, murmelt Liu mir ins Ohr. Ich werfe ihm einen warnenden Blick zu.

„Halt die Klappe. Ich muss denken. Ihr müsst“, erneut stockt der Fremde. Die rotblonden Haare stehen ihm vom Kopf, als wollten sie seinen Wahnsinn unterstreichen. „Ich überschreibe euch das Haus“, setzt Cam erneut an.

„Das wird nicht nötig sein“, bringe ich hervor. Treibt ihn die Panik, weil seine Tage ebenso gezählt sind wie meine eigenen? Trug man mich von einer Traumwelt in die nächste? „Wird es. Zumindest für unseren vermeintlichen Komapatienten.“ Cam schlägt mit der Faust gegen die Wand. Ich fahre erschrocken zusammen, während das Donnern sich bedrohlich durch die Holzvertäfelung zieht. Über ihm biegen sich auf Leinwand gebannte Kiefern im aufkommenden Sturm.

„Warum solltest du das tun?“, stellt Liu eine Frage, die mir nicht in den Sinn gekommen ist. Zu überfordert ist mein Gehirn von dieser Situation. Zu gelähmt von einem Mann, der mir soeben meinen Tod beschrieben hat.

„Gute Frage.“ Cam klatscht aggressiv in beide Hände. „Vielleicht, weil ich eh totgeweiht bin. Sie bringen mich zurück zu meiner Frau und sie hätte jeden Grund, mich zu hassen. Ich habe ihr alles genommen. Ich bin zu ihrem Teufel geworden.“ Er atmet schwer aus. „Und Nathaniel ist ein enger Freund von mir. Er könnte es mir nie vergeben, wenn ich seine tote, kleine Schwester vor die Tür setze.“

Nathaniel. Ist es möglich? Breitete ein Engel seine schützenden Schwingen über ihm aus und schenkte Nathaniel das Leben? Ich erinnere mich vage an Schatten, an Schemen und an Schreie und daran, wie er aus dem Mund blutend, den Blick hoffnungslos, auf dem Boden lag. Ich konnte ihn nicht ansehen. Die Schuld lastete erdrückend auf mir. Wie kann es sein, dass die cholerischen Fäuste unseres Vaters nicht den letzten Atem aus Nathaniel prügelten?

Ich schlucke schwer. Liu hält mich fester. „Das mit dem Haus, es ist nett. Aber das wird niemandem etwas nutzen“, wispere ich. „An meinem Todestag habe ich in meinem Kopf zehn Sekunden bekommen, die sich wie zehn Jahre anfühlen sollten.“

„Großartige Neuigkeiten, dass Aria die Nummer wirklich durchgezogen und augenscheinlich ein Hintertürchen gefunden hat. Das sind jetzt vielleicht keine Wahnsinnsneuigkeiten, aber du bist seit fast dreißig Jahren tot, Adeline.“ Dreißig Jahre? Ich spähe aus dem Fenster. Aber die Welt, sie sieht aus wie damals. Intensiver. Sauberer. Dreißig Jahre? „Also tu uns allen einen Gefallen und denk dir einen neuen Namen für dich aus, solltest du den Sonnenaufgang wider Erwarten überleben. Ich kann mir mindestens eine Person vorstellen, die mit dir gern ihre schmutzigen Spiele treiben würde.“

Cam wirkt kreidebleich. Liu räuspert sich. „Wir sollten gehen.“ Ich nicke bestärkend. Kein eisiger Winter kann furchteinflößender sein als dieser Mann, der vor unseren Augen die Sinne verliert.

Cam antwortet uns nicht. Er starrt nur an die Wand. Seine Glieder zittern. Er meidet unseren Blick und dann, von der einen Sekunde auf die nächste, ist er verschwunden wie ein Geist. Gerissen aus seiner Traumwelt?

Ich schreie erschrocken auf. So wird es mir ergehen. Genau so wird es mir ergehen!

Liu umklammert meine Hand fester. „Wir sollten verschwinden“, wiederholt er. Die Angst hat sich bebend in seine Stimme gefressen. Ich erkenne den panischen Funken in seinen bernsteinklaren Augen.

„Was meinte er damit?“, flüstere ich, während Liu mich aus dem Zimmer zieht. Meine Füße scheinen mir nicht mehr zu gehorchen. „Wie kann ich seit dreißig Jahren tot sein? Es waren nur zehn Sekunden. Wie kann das sein? Wie kann ich dreißig Jahre einfach so verpasst haben?“ Ein schrilles Pfeifen frisst sich durch meine Ohren in mein Hirn. Dreißig Jahre. Ich habe Nathaniel im Stich gelassen. Er hat mein Traumreich nie betreten. Während Liu und ich die Märchen gerettet haben, die mit unserem Verschwinden sinnlos gestorben sind, litt Nathaniel. Ich hatte ihm versprochen, dass ich bei ihm bleibe. Dreißig Jahre. Wie können dreißig Jahre binnen von zehn Sekunden vergehen? Warum hat meine Traumwelt mich wieder ausgespuckt?

Der Regenbogen, wohin hat er uns geführt? Ahnte Liu, dass es diesen Ausweg gibt? Wenn es denn einer ist. Wenn wir nicht inmitten einer kollabierenden, fremden Traumwelt stehen, deren Kopf vor unseren Augen starb.

„Ich kann nicht seit dreißig Jahren tot sein!“ Ich verliere die Fassung und die panischen Tränen brennen sich in meine Haut. „Ich meine, ich bin doch keine Leiche!“ Zittrig sehe ich Liu an. „Ich bin doch nicht tot! Ich kann doch hier nicht rumlaufen, wenn ich schon lange tot bin. Das geht doch nicht. Das kann doch nicht …“

Liu verschluckt mein hysterisches Toben mit einem Kuss. Er küsst mich, bis ich keine Luft mehr bekomme und meine Sinne sich quälend langsam beruhigen. Ich kann nicht tot sein. Weil ich längst nicht mehr lebe. Das, diese Zeit mit Liu zwischen den Märchen, in diesem Korridor, das waren nur Gedanken. Nur Gedanken! Nichts davon war wirklich. Jedes Detail ist meiner Phantasie entsprungen.

„Ich kann nicht …“, setze ich erneut an. Seine heißen Lippen, seine verzweifelte Nähe verschleiern meine Ängste. Seufzend vergrabe ich das Gesicht an seiner Brust, als der Kuss endet. Dieser ewige, kurze, wundervolle Kuss, der mich jedes Zeitgefühls beraubt.

„Lass uns bis zum Sonnenaufgang warten“, flüstert Liu schließlich, „danach sehen wir weiter.“

„Danach bin ich fort“, erwidere ich heftig. „Weil meine zehn Sekunden dann um sind.“

„Deine zehn Sekunden sind seit dreißig Jahren um, wenn der Mann Recht hatte!“, ruft Liu ungehalten aus. Hoffnung und Verzweiflung fechten in seinen Augen einen ungleichen Kampf.

„Wenn du mir jetzt sagen willst, dass Dante gelogen hat und ich eigentlich immer gelebt habe, dann glaube ich dir das nicht!“ Ich blinzle gegen die Tränen an. „Ich erinnere mich an meinen Tod, Liu. Ich erinnere mich an meine Schmerzen. Ich wusste, was kommt. Ich wusste es! Das hier ist unmöglich.“

„Gut! Ist es. Von mir aus.“ Liu zieht mich erneut an sich. „Es ist unmöglich und vielleicht befinden wir uns in einem gigantischen Zufall, der sich jeden Moment als riesiger Fehler entpuppt. Oder wir haben ein Schlupfloch gefunden.“ „Ein Schlupfloch? Wie in: ein verrückter Regenbogen hat mich wieder zum Leben erweckt? So ein Schlupfloch?“

„Woher soll ich das wissen? Ich bin nur Teil deiner Phantasie!“

Seine Worte wirken wie ein Schlag in die Magengrube. Meine Augen brennen. Ja. Das ist meine größte Angst. Und die einzige Wahrheit? Liu ist nur ein Teil meiner Phantasie. Ein Teil von mir. Wenn ich verschwinde, dann wird es nichts für ihn geben. Kein Neu. Kein Weiter. Keine Hoffnung. Ich habe sein Leben an mich gebunden, ihm nie eine Chance gegeben.

„Es ist mir egal, was ich bin“, flüstert er und nimmt verzweifelt mein Gesicht in beide Hände, während die Tränen mir vom Kinn tropfen. „Es ist mir gleichgültig, Adeline. Ich bin glücklich. Ich war es immer und ich werde es immer sein und das nicht, weil du mich dazu gezwungen hast.“

„Ich weiß“, flüstere ich heiser und in Erinnerung an hitzige Diskussionen. „Ich weiß.“

Es wird ihn trotzdem umbringen. Niemanden wird er heiraten. In keine grünen Augen sich verlieben. Er kann nicht mehr zurück. Man hat uns die Flügel abgetrennt und aus unserem Himmel gestoßen. Ich habe ihn mit mir in die Hölle gerissen.

Wir hätten in dem See baden sollen. Wir hätten im Korridor warten sollen.

„Adeline“, flüstert Liu und sieht mich eindringlich an. Sind das die ersten Sonnenstrahlen, die sich über den Horizont stehlen? Ich versteife mich. „Nur für den Fall, dass wir das überleben, was dann?“

Ich hebe eine Schulter. „Dann ist unser Märchen vorbei. Dann geht das Leben los.“

„Was würde das für uns bedeuten?“

Ich schniefe leise und presse mich an seinen Körper. Lius Herz pulsiert gegen meines und ich höre seinen regelmäßigen Atem. „Ich weiß es nicht“, wispere ich. Daran habe ich nie gedacht. Was ist schon das Leben? Nie schien etwas ferner, irrealer als das. Nie sehnte ich mich weniger nach einer Sache. „Ich habe keine Ahnung.“

„Wirst du bei mir bleiben? Wollen wir uns gemeinsam verstecken und nie wieder auftauchen?“

Ich lache heiser und fahre mit den Lippen seinen Kiefer entlang. Ein leises Seufzen entweicht seiner Kehle. „Das klingt eher nach einer meiner Ideen als nach dir“, flüstere ich.

„Macht es das schlechter?“

Ich schüttle den Kopf. Es lohnt sich nur nicht, einen zweiten Gedanken daran zu verschwenden.

Der erste Sonnenstrahl stiehlt sich uns entgegen. Ich glaube, an meinen Tränen zu ersticken, als ich Liu ein letztes Mal küsse, sein Leben inhaliere und seine Wärme. Seine Energie. Ich glaube, mich in ihm zu verlieren und ihn nie wieder gehen lassen zu müssen. Für einen ewigflüchtigen Moment scheint alles möglich.

Eines Tages könnten wir Kinder haben, wir könnten in diesem Haus wohnen und im Sommer das Schwimmen lernen. Vielleicht pflanzen wir einen Kirschbaum. Wir würden uns streiten und wir würden uns lieben und schlussendlich würden wir einander nie verlassen. Weil wir zueinander gehörten.

Ich glaube zu fühlen, wie die Sonne mich verbrennt, mich Liu direkt aus den Armen reißt. Schluchzend halte ich ihn fester. Zehn Sekunden, zehn Jahre, nicht einmal zehn Jahrhunderte mit ihm wären genug.

Als der Schmerz mich zerfrisst, fängt Liu mich auf. Der Geruch von verbranntem Fleisch liegt schwer in der Luft. „Komm vom Kamin weg“, murmelt Liu an meinen Lippen. „Du tust dir weh.“

Meine Finger graben sich in seine Schultern. Als ich die Augen öffne, stelle ich mich meinen furchtbarsten Ängsten. „Wo sind wir?“, wispere ich. Die Sonne badet uns in lebendigem Licht. Ein neues Jahr. Neues Glück. Das unendlich klare Blau des Meeres blendet mich, während die kahlen Bäume sich ächzend im Wind biegen.

Tiefe Falten haben sich in Lius Stirn gegraben und seine Augen schimmern hell wie Honig.

„In diesem Haus“, flüstert er.

„Sind wir tot?“

„Ich habe keine Ahnung.“ Staunend wandern seine Finger über meine nackten Unterarme. „Du bist wunderschön.“ Ich betrachte meine blasse Haut. Für ihn war ich das immer.

„Sind wir tot?“

„Ich weiß es nicht.“ Liu hält mich so fest, dass ich keine Luft mehr bekomme. „Ich weiß es nicht.“

Der Tag bricht herein und keiner von uns beiden wagt es, sich zu bewegen. „Löse ich mich auf?“, flüstere ich.

Er schüttelt stumm den Kopf. Der seltsame Schimmer, der von Beginn an um uns lag, ist verschwunden. Erstmals wirkt Liu absolut real, absolut greifbar. Und ich? Das Herz donnert mir gegen die Rippenbögen wie ein Vogel, der seinem Käfig entfliehen will. Aber die Tür bleibt verschlossen.

„Was, wenn wir nicht gestorben sind?“, hauche ich an seinen Lippen.

Lius Küsse bringen mich um den Verstand. Sie fühlen sich neu an. Intensiver. Facettenreicher. Ich weiß nicht, was er tut, aber es raubt mir die Sinne. „Wenn wir nicht gestorben sind?“, fragt er heiser und berührt mich wie besessen. Tränen schwimmen ihm in den stark geröteten Augen. „Dann richten wir eine Beerdigung aus.“

Ich verstehe nicht ganz, was er da sagt. Ich begreife nicht, was geschieht. Strauchelnd kämpfe ich mich auf die Beine und betaste meine brennende und pochende Schulter. „Wessen Beerdigung?“

Seine Daumen streicheln mir über die Wangen, über den Hals, über die Schultern, über den Rücken. Schließlich verharren seine Hände an den Knöpfen meines Kleides. „Camerons. Unsere.“ Noch mehr Küsse. Schniefend drücke ich die Nase gegen seine Kehle. Alles hieran ist unmöglich. Alles.

„Warum?“

Liu lacht leise. Das Geräusch klingt gleichzeitig seltsam frei und verhalten. Als glaubte er die Ewigkeit schmecken zu dürfen, unsicher, ob man ihm die Gelegenheit geben wird, sie zu ergreifen.

„Weil ich“, er sucht meinen Blick und ich ertrinke in seinen intensiven Augen, „voll und ganz beabsichtige mit dir und nur mit dir“, seine Lippen streicheln über meine Kehle, „glücklich bis ans Lebensende zu leben.“

„Ist das ein Versprechen?“, frage ich leise.

Liu schüttelt den Kopf. „Nicht nur. Ich habe das Gefühl, dass das unser Schicksal ist.“

Außerhalb einer Zeit, zu der das Wünschen noch geholfen hat?


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