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Kapitel 4

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Nachdem ich sechs Stunden Schule hinter mich gebracht habe und mir, zum Glück, Harry oder Misses Heath nicht mehr über den Weg läuft, fahre ich mit dem Schulbus nach Hause, wo mich auch schon meine kleine Schwester in Empfang nimmt.

„Du hast schon wieder deinen Schlüssel vergessen", sind die ersten sieben Worte, die sie heute zu mir spricht und das in einem Meckerton, den normalerweise nur eine Mutter so gut drauf hat.

„Schön, Rosy, du solltest Empfangsdame bei der Queen werden", erwidere ich sarkastisch und schließe hinter mir die Haustür, während Rosy wütend in die Küche stampft.

Rosy ist wahrscheinlich das anstrengendste und pubertierendste Kind, das ich kenne. Und das mit neun Jahren. Und ohne, dass es überhaupt schon die Pubertät richtig erreicht hat. Sie benimmt sich wie eine kleine, garstige Erwachsene, die mitten in den Wechseljahren steckt. Manchmal ist sie strenger als meine Mutter. Ja, tatsächlich ist sogar streng das richtige Adjektiv für sie. An manchen Tagen versucht sie mir zu verbieten, zu kurze Röcke zu tragen, und an anderen Tagen will sie nicht, dass ich alleine abends rausgehe, um Benja zu besuchen, der nur eine Straße weiter wohnt. Es ist seltsam. Rosy ist seltsam.

Ich schmeiße meine Schultasche in den Flur und gehe in die Küche, in der Mom am Herd steht und eine Suppe umrührt. „Ich bin zu Hause."

„Das nächste Mal denkst du an deinen Schlüssel", meckert Rosy weiter, die mittlerweile mit geschwellter Brust am Essenstisch sitzt und ihre blonden Haare zusammenbindet, wie sie es immer vor dem Essen tut, damit bloß kein Haar in ihr Essen gelangt. „Ich will nicht immer aufstehen, um dir die Tür aufzumachen."

Mom und ich werfen uns vielsagende Blicke zu. Auch sie findet es mindestens genauso merkwürdig wie ich, dass Rosy sich mütterlicher verhält als unsere eigene Mutter. Sogar gegenüber Mom ist sie manchmal eine Mom.

„Ich versprech's", sage ich zu Rosy, als ich mich ihr gegenüber an den Tisch setze. „Ich will doch nicht, dass deine alten Knochen strapaziert werden."

Rosy sieht mich giftig an. „Ärger mich nicht."

„Tue ich nicht. Tue ich nie."

„Mom!", ruft Rosy jetzt mit verschränkten Armen zu Mom, die seufzend die Suppe umrührt. „Sieh doch, wie Violet mich wieder ärgert!"

„Rosy", sagt sie und hebt den Topf hoch, um ihn auf den Tisch zu stellen. „Wenn du dich vielleicht mal wie ein neunjähriges Mädchen verhalten würdest, könnte ich deine Situation echt besser verstehen, aber so …''

„Also willst du einfach zulassen, dass Violet so mit mir umgeht?", unterbricht sie Mom entsetzt.

Ich sage: „Komm mal runter. Ich wollte dich nicht kränken. Außerdem – hach, vergessen wir das." Es ist sowieso immer wieder das Gleiche. Rosy und ich sehen in den Topf, den Mom auf den Tisch gestellt hat, und verziehen gleichzeitig das Gesicht.

„Was soll das sein?", fragt Rosy angewidert und betrachtet die grüne, blubbernde Grütze.

„Bitte sag mir nicht, dass du wieder irgendwelche vegetarischen Rezepte ausprobiert hast", sage ich zu Mom und rühre, genauso wenig begeistert wie Rosy, in der Suppe rum.

Mom setzt sich an den Tisch und schöpft uns was auf den Teller. „Nun stellt euch mal nicht so an. Das ist mit Sicherheit total lecker. Jamie Oliver meinte, dass das das gesündeste Essen für Kinder ist, weil alle Vitamine und Nährstoffe vorhanden sind."

Rosy runzelt die Stirn. „Aber wir sind doch keine Kinder mehr."

Ich lache. „Genau, Mom. Wir sind schon neun und siebzehn!"

„Hey", sagt Mom und stellt den Topf wieder hin. „Esst es einfach. Wenn es euch nicht schmeckt, dann esst es trotzdem. Es gibt nichts anderes."

Tief atmen Rosy und ich durch. Wir kennen das schon. Mom denkt tatsächlich, sie wäre die beste Köchin der Welt, nur weil sie täglich Jamie Oliver guckt und noch dazu jedes Buch von ihm in der Küche stehen hat. Manchmal kommt akzeptables Essen dabei raus und manchmal abscheuliches wie heute. Sie versucht immer, uns von McDonald’s oder anderem Fast Food fernzuhalten, denn wenigstens etwas Ordentliches zu essen sollen wir bekommen. Sie muss das nicht tun, das sage ich ihr immer wieder, doch trotzdem steht sie stundenlang in der Küche.

Um sechs Uhr abends ziehe ich mir meine kuschligsten Kniestrümpfe an, die mit schwarzen Kätzchen bestickt sind. Diese sind meine absoluten Chillersocken und ich ziehe sie nur an, wenn ich weiß, niemand Wichtiges könnte mich heute damit sehen. Darüber trage ich noch meinen zu großen Pullover, den Dad mir hinterlassen hat, und eine kurze Shorts, damit ich nicht zu aufreizend aussehe. Für einen sechsjährigen Jungen und ein vierjähriges Mädchen muss man nicht gut aussehen.

Ich verabschiede mich von Mom und steuere Misses Heaths Zuhause ein paar Straßen weiter, an. Ich babysitte für sie schon seit der siebten Klasse, was merkwürdig sein mag, doch gleichzeitig auch ein gutes Taschengeld für mich bedeutet. Noch dazu bekomme ich in der Schule Pluspunkte, denn niemand sonst traut sich, ihre Kinder zu betreuen, vor lauter Angst, man könnte sie verärgern und Misses Heath könnte einen dadurch von der Schule werfen. Aber ich habe keine Angst. Ich liebe es, denn ich liebe Kinder und vor allem ihre Kinder.

Jeden Montag geht Misses Heath abends mit ihrem Mann essen, weswegen ich einmal die Woche – manchmal zweimal – hier aufkreuze, um mich um ihre Kinder zu kümmern.

Ich laufe an dem weißen Gartenzaun vorbei und blicke schon durch die Dunkelheit zum Haus, in dem bereits Licht brennt und ich Misses Heaths braunen Haarschopf entdecke, während sie hektisch umherläuft, wie sie es jeden Montag tut, wenn sie spät dran sind.

Ich klingele und höre von drinnen schon ihre Stimme. Die Tür wird geöffnet und ich setze mein nettestes Lächeln auf.

Doch mein Lächeln erstarrt, als mich zwei dunkelblaue Augen anstarren, die mir nur allzu bekannt sind.

Und noch bevor ich etwas sagen kann, wird die Tür vor meiner Nase wieder zugeschmissen, worauf ich einen Schritt zurückschrecke.

„Hey!", rufe ich durch die Tür. „Geht's noch? Mach die Tür auf!"

Ich verschränke die Arme, als die Tür wieder geöffnet wird und erneut Harrys Gestalt vor mir steht. Er sieht genauso unglücklich aus wie ich darüber, dass er hier ist, während ich auch hier bin.

„War eine Kurzschlussreaktion", sagt er und mustert mich skeptisch. „Was tust du hier?"

Ich hebe eine Braue. „Die bessere Frage ist doch wohl, was tust du hier?"

„Ich muss mich um Heaths Kinder kümmern. Also was tust du hier?"

Mir klappt die Kinnlade herunter. Wie bitte? Das kann er doch nicht ernst meinen. Beziehungsweise das kann Misses Heath doch nicht ernst meinen! Wie oft soll ich diesen Kerl noch in meinem Leben sehen? Erst die Partys, dann die Schule, dann mein Theaterkurs und jetzt auch noch hier? Irgendwas geht hier gewaltig schief, ich spüre das.

„Ich kümmere mich um Misses Heaths Kinder", erwidere ich sofort. „Und das schon seit Jahren!"

Auch Harry scheint die Situation gerade erst geblickt zu haben und mit einem Mal wirkt er noch genervter. „Nein. Einfach, verdammt noch mal, nein. Geh wieder."

Als er wieder die Tür vor meiner Nase zumachen will und ich entsetzt zurückbleibe, hält Misses Heath ihn auf, die neben ihm auftaucht. „Hey, ich sagte zwar, du sollst die Tür aufmachen, aber nicht, dass du Violet wieder wegschicken sollst." Sie lächelt mir zu. „Violet, komm doch rein, endlich bist du da."

Konsterniert gehe ich durch den Türrahmen und sehe erst Harry und dann Misses Heath an. „Misses Heath, Sie sagten doch, ich solle heute kommen, um auf die Kinder aufzupassen. Wieso …''

Sie schnappt sich ihre Handtasche auf der Kommode. „Du hast auch alles richtig gemacht. Allerdings konnte ich Harry nicht ganz ohne kleine Strafe davonkommen lassen, als er einfach wieder aus dem Theaterkurs abgehauen ist, deswegen leistet er dir heute Abend Gesellschaft."

Ich lasse meine kleine Tasche, die ich um die Schulter hängen ließ, einfach zu Boden plumpsen, weil ich nicht glauben kann, wie oft mich diese Frau noch in irgendwelche bescheuerten Situationen mit diesem Kerl stecken will. „Was? Aber ..."

„Moment mal", sagt Harry und hält sich nachdenklich die Hand an die Stirn. „Sie sagten, ich solle auf Ihre Kinder aufpassen und das bis zehn Uhr. Und weil das nicht schon Strafe genug ist, muss ich es auch noch mit Violet tun?" Er sieht Misses Heath an. „Ich würde gerne die endgültige Suspendierung von der Schule annehmen."

Misses Heath jedoch winkt nur ab und hakt sich bei ihrem Mann unter, als sie zur Tür laufen. „Ach, stellen Sie sich nicht so an, Mister Perlman. Das ist nur ein Abend, das wird jeder von euch überleben."

Schnell laufe ich ihr hinterher, als sie sich zur Tür begeben. „Misses Heath, können wir das nicht anders klären?"

Heath und ihr Mann schreiten aus der Tür hinaus und ich kralle mich verzweifelt an den Türrahmen. Heath lächelt mich nur an. „Violet, ich bin mir sicher, dass ihr euch einen schönen Abend machen könnt. Wir haben alles, was ihr braucht."

Am liebsten würde ich auf Knien rutschen. „Sie verstehen das nicht. Harry und ich ... Wir ... Also – bitte, Misses Heath!"

Doch ich habe keine Chance, denn sie und ihr Mann laufen gelassen die Treppen herunter zum Hof. „Viel Spaß, Violet! Ihr packt das!"

Ich seufze und sehe ihnen verstohlen hinterher. Da geht also meine letzte Chance auf einen wohligen Abend. So langsam bekomme ich das Gefühl, mein Karma muss unglaublich schlecht sein, damit ich so was verdient habe. Ist das vielleicht die Strafe dafür, dass ich Harry in der Schule einfach so habe auflaufen lassen?

Langsam und trotzig schließe ich die Tür, doch traue mich noch nicht, mich zu Harry umzudrehen, der noch im Wohnzimmer steht. Niedergeschlagen lasse ich meine Schultern hängen.

„Du kannst wieder gehen", sagt Harry hinter mir und ich höre, wie er meine Tasche vom Boden aufhebt.

Ich drehe mich um und direkt wird mir die Tasche vor die Brust gedrückt. „Ich soll gehen?"

„Natürlich sollst du gehen. Ich kann nicht gehen, sonst werde ich von der Schule geschmissen, deswegen wirst du diejenige sein, die geht."

Ich runzle die Stirn und nehme ihm die Tasche ab. „Du hast das nicht zu bestimmen. Das hier ist zufällig schon seit Jahren mein Nebenverdienst und Misses Heath verlässt sich auf mich."

Er schnaubt und geht in die Küche. „Was erwartest du von ihr? Einen Gute-Nudel-Stern? Es wird schon nicht so schlimm sein, wenn du verschwindest. Außerdem ist es besser für jeden von uns."

„Äh." Ich folge ihm in die Küche, wo er gerade eine Schublade öffnet, um einen Topf hervorzukramen. „Also erstens lasse ich mir von dir ganz bestimmt nichts sagen und zweitens bin ich nicht so wie du und tue einfach das, was ich will. Misses Heath will, dass ich mich um ihre Kinder kümmere, also tue ich das auch."

„Wie vorbildlich von dir." Er holt noch einen Topf hervor und ich sehe ihm skeptisch dabei zu. „Aber heute zählt dieser Mist nicht. Ich werde keinen Abend mit dir hier verbringen und von der Schule werde ich auch nicht fliegen, deswegen wirst du wohl gehen müssen."

Für ein paar Sekunden schweige ich und sehe zu, wie er ein paar Zutaten aus dem Kühlschrank holt. „Sag mal, was hast du vor? Ist es schon so weit gekommen, dass du die Küche unserer Rektorin verwüsten willst?"

„Sei nicht dumm. Heath meinte, ich solle kochen, weil du es nicht kannst."

Ich hebe die Brauen und lache ungläubig auf. „Wie bitte? Das hat sie nie im Leben gesagt."

Auf Harrys Lippen schleicht sich ein genugtuendes Grinsen, als er gerade Wasser in den Topf füllt. „Sie hat es genau so gesagt. Der Kleine hätte eine Lebensmittelvergiftung gehabt, nachdem sie dein Essen gegessen haben oder so."

Ich reiße die Augen auf. „Nein, du lügst! So war das nicht!"

„Okay, vielleicht hat sie es nicht genau so gesagt, aber es ging in diese Richtung." Harry dreht sich zu mir, als er beginnt, Wasser zu kochen. „Also wirst du jetzt gehen?"

Als ich gerade sagen will, dass er sich selbst mal vom Acker machen kann, damit ich meine Arbeit in Ruhe vollbringen kann, kommen jedoch zwei kleine Kinder die Treppe runtergestürzt.

„Vio!", freut sich die kleine Coco mit den beneidenswert langen, braunen Haaren und krallt sich an mein Bein. „Du trägst heute die Katzensocken!"

Ich grinse schlagartig, weil ich wusste, wie sich Coco über diese Strümpfe freuen wird. Ich trug sie einmal und sofort hat sie sich in sie verliebt. „Klaro, du sagtest doch, dass du sie magst, also blieb mir gar nichts anderes übrig."

„Ich find sie scheußlich", brummt jedoch Mikey, der sechsjährige Stinkstiefel und Cocos Zwilling, und zupft verächtlich an dem Stoff meiner rechten Socke. „Das sieht echt dumm aus mit den ganzen Katzen."

Harry lacht gehässig in sich hinein, während er eine Tomatensoße anrührt.

Ich funkle ihn an. „Lach nicht so doof, sondern konzentrier dich lieber auf dein doofes Essen."

„Genau!", stimmt mir Coco sofort zu und ich weiß jetzt schon, dass ich einen Kameraden auf meiner Seite stehen habe. Alles, was ich nämlich doof finde, findet sie auch doof und da ich Harry ganz schön doof finde, bin ich mir sicher, dass sie mir helfen wird, mit Harry diesen Abend zu überstehen.

„Ich wette, der kocht besser als du", meckert Mikey und stellt sich auf Harrys Seite. Er verschränkt die Arme.

Harry tut es ihm gleich und auch seine Arme sind verschränkt. „Tja, Kumpel, das denke ich auch."

Genervt von den beiden verziehen Coco und ich die Gesichter und steuern das Wohnzimmer an, in der wir es uns auf der Couch bequem machen. Das Doofe an der ganzen Sache ist, dass ich ganz genau weiß, dass Harry besser kochen kann als ich. Bedeutend besser. Ich erinnere mich, wie er früher immer für mich gekocht hat, weil er es liebte. Sogar gebacken hat er gerne. Ja, das würde man ihm heute nicht mehr zutrauen, aber es war tatsächlich so. Am liebsten waren mir immer seine Tortellini mit Carbonarasoße. Oh, Gott, es war so unglaublich lecker, dass ich ihn manchmal regelrecht dazu zwingen musste, für mich Tortellini zu kochen. Mindestens einmal die Woche.

Doch ob er heute noch immer so leidenschaftlich kocht, ist eine andere Sache. Ich denke, nicht. In der Schule wird immer erzählt, dass er nach der Highschool irgendwo im Supermarkt arbeiten wird, weil er keine Lust auf studieren hat. Es wird auch erzählt, dass er mit dem Soccerspielen weiterkommen will, denn das hat er auch schon immer gerne gemacht. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich all diesen Gerüchten glauben kann, denn ich kenne Harrys Eltern und schon von klein auf wollten sie, dass aus ihm mal etwas ganz Großes wird. Und da ist Anwalt zu werden nur das kleinere Übel. Ich will gar nicht wissen, wie viel Ärger seine Eltern machen, weil er in der Schule so schlechte Noten schreibt.

„Ich werde Mama fragen, ob sie mir auch solche Strümpfe kauft", holt mich Coco aus meinen Gedanken und streicht über meine Katzensocken. „Ich find die echt schön."

„Ich kann dir gerne welche kaufen", biete ich ihr schmunzelnd an, weil sie supersüß ist. „Als Entschuldigung dafür, dass dieser Kotzbrocken in der Küche heute da ist."

Sofort verzieht Coco wieder das Gesicht, weil sie merkt, wie ich auf Harry reagiere. „Ja, echt voll der Kotzbrocken. Und Mikey ist auch ein Kotzbrocken."

Ich flüstere ihr zu: „Versprich mir, dass du sagen wirst, dass mein Essen besser ist als seins, egal wie gut es schmeckt, ja?"

Sie nickt. „Versprochen."

„Was sagst du?", höre ich Harrys Stimme aus der Küche.

Mikey sagt irgendwas, doch ich verstehe es nicht.

„Du musstest davon brechen? Man, das muss echt abartig gewesen sein."

Wieder sagt Mikey etwas Unverständliches.

„Oh, Gott, hör lieber auf, davon zu reden, mir wird gleich übel."

Beleidigt presse ich die Lippen aufeinander und versuche, ihr Gerede in der Küche zu ignorieren, zumal ich ganz genau weiß, dass Harry extra laut spricht, damit er mir noch mal unter die Nase reiben kann, wie schlecht ich koche. Idiot. Beide. Er und Mikey. Heute heißt es also zwei gegen zwei. Das ist fair.

„Und dann habt ihr alles wieder weggeschmissen?", fragt Harry Mikey wieder extra laut.

Ich will ihn treten.

„Was für eine Verschwendung. Da hat wohl jemand keine Ahnung von richtigem Umgang mit Lebensmitteln."

Jetzt reicht es mir. Zickig rufe ich zur Küche: „Mal so nebenbei: Wir können euch hören!"

„Ups." Ich höre Harrys Belustigung klar und deutlich. „Das war nicht unsere Absicht."

Ich murre leise: „Klar, du Vollidiot."

Coco sieht mich neugierig von der Seite an und ihre großen blauen Augen strahlen mir entgegen. Ein Wunder, dass sie so hübsch ist. Sie sieht kein Stück aus wie Misses Heath. Zumal Misses Heath sowieso viel zu alt für solch kleine Kinder ist. Zumindest verhältnismäßig.

„Wieso mögen wir ihn nicht?", fragt die Kleine mich.

Ich sehe weg und versuche, eine gute Antwort darauf zu finden. „Weil er doof ist."

„Aber wieso ist er doof?"

„Weil er gemein ist."

„Was hat er Gemeines getan?"

„Er ... Er ist ständig gemein. Sogar jetzt gerade ist er gemein."

„Weil er sagt, dass du nicht kochen kannst?"

„Zum Beispiel."

Nickend sieht sie nachdenklich weg. „Oh ... Also magst du ihn nur nicht, weil er sagt, dass du nicht kochen kannst?"

„Nein. Ich mag ihn nicht, weil er fies und gemein und unausstehlich ist." Ich würde ihn gerne als Arschloch betiteln, doch vor einer Sechsjährigen sollte ich solche Ausdrücke lassen.

„Hat er noch etwas anderes getan?"

Ich lache auf. „Sogar eine ganze Menge."

„Was denn?"

„Er hat …''

„Violet Lotta Berrymore", werde ich jedoch von Mikey unterbrochen, der mit erhobenem Kinn und gestreckter Brust vor der Couch steht, als wäre er ein Soldat. „Ich soll Sie bitten, Coco zum Tisch zu führen, damit sie das beste Essen der Welt essen kann."

„Und ich darf nichts essen?", frage ich.

Er schüttelt vehement den Kopf. „Ich tue nur, was mir gesagt wurde."

Wieder will ich Harry treten. Nicht nur, weil er mir sein Essen verweigern will, sondern weil er tatsächlich jemanden meinen Zweitnamen verraten hat. Er weiß ganz genau, dass ich diesen Namen hasse, und jetzt verwendet er ihn als Waffe gegen mich. Aber na gut. Das Spiel kann ich auch spielen. Ich habe noch genug Dinge, mit denen ich ihn genauso ärgern kann.

„Okay", sage ich deswegen entschlossen und stehe auf. „Violet Lotta Berrymore und Coco werden kommen. Sag doch bitte Harold Jermaine-René Perlman Bescheid, ja?"

Ich erreiche genau das, was ich wollte. Mikey und Coco kichern genauso wie jeder andere, der Harrys vollen Namen zum ersten Mal hört. Ich habe mich damals auch totgelacht. Doch was er kann, kann ich auch. Sein Pech.

Als wir in die Küche kommen, sitzt auch schon der besagte Harold Jermaine-René Perlman mit bösem Ausdruck am Tisch und starrt mich niederschmetternd an. Ich bin mir sicher, dass er mitbekommen hat, wie ich eins seiner intimsten Geheimnisse ausgeplaudert habe. Gut so. Er hätte ja nicht verraten müssen, dass mein Zweitname Lotta ist.

„Guck doch nicht so beleidigt", ziehe ich ihn zufrieden auf und muss mich beherrschen, nicht gleich über das Essen herzufallen, weil es so wunderbar riecht.

„Ich hab dir gesagt, du sollst es niemandem verraten", knurrt er, als sich Mikey neben ihn setzt und Coco neben mich auf den Stuhl.

„Ach ja?" Ich sehe ihn mit erhobener Braue an. „Soweit ich mit entsinnen kann, habe ich dir auch gesagt, dass du meinen Zweitnamen für dich behalten sollst. Du hast angefangen."

„Du Kotzbrocken", verteidigt mich Coco noch nachdrücklich und verschränkt halbstark die Arme.

Harry sieht sie fast schon fassungslos an. „Was?"

„Sie nannte dich Kotzbrocken", wiederhole ich zufrieden mit Cocos Benehmen ihre Worte. „So wie es sich gehört."

Jedoch schaltet Mikey sich ein. „Und ihr seid komische Mädchen, die auf komische Katzenstrümpfe stehen!"

Jetzt grinst Harry selbstgefällig zu Mikey, auf den er bestimmt genauso stolz ist wie ich auf Coco. „Gut gemacht. Lass dich bloß nicht unterkriegen."

„Lass ich nicht", sagt Mikey erschreckend ernst und starrt uns an. „Das ist dafür, dass ich beim letzten Mal brechen musste, weil Violet nicht kochen kann!"

„Hey, so schlimm war es auch nicht. Du hast einfach einen zu empfindlichen Magen."

„Genau!", steht mir wieder Coco zur Seite. „Ich wette, das Essen hier schmeckt total ekelig!"

„Ich wette nicht", wirft Harry ein, worauf ich ihn wieder böse ansehe.

Ich wette doch!", sage ich.

„Und ich wette nicht."

„Es schmeckt bestimmt wie Omas alte Füße!", meckert Coco weiter, jedoch nicht in Harrys Richtung, sondern in Mikeys, der wahrscheinlich am wenigsten für den Geschmack des Essens kann.

Aber Mikey kämpft tapfer zurück und beugt sich weiter über den Tisch. „Dann musst du ja oft von Omas alten Füßen probiert haben, du doofe Kuh!"

Beleidigt streckt Coco die Zunge heraus und ruft: „Wohl eher du! Du doofer Sack!"

So langsam bekomme ich das Gefühl, es läuft aus dem Ruder. Eigentlich wollte ich den Abend nicht damit verbringen, dass Coco und Mikey sich Schimpfworte an den Kopf werfen. Und Harry scheint das auch nicht zu wollen, denn auch er sieht etwas überfordert zwischen den beiden hin und her.

„Nenn mich nicht doofer Sack, du Blöde!", keift Mikey wieder und so langsam macht mir sein ernster Ausdruck Angst.

Coco lässt das nicht auf sich sitzen und beugt sich ebenfalls weiter über den Tisch. „Nenn du mich nicht doofe Kuh, du Doofer!"

„Hey", sage ich jetzt und hebe beschwichtigend die Hände. „Ist doch alles gut. Lasst uns lieber essen, bevor …''

„Genau", sagt Mikey, allerdings wieder in Cocos Richtung. „Lass uns das Essen essen, das viel besser als Violets Essen ist!"

„Nimm das zurück!", wütet Coco.

„Nö!"

„Doch!"

Und dann geht es zu schnell, bevor Harry oder ich reagieren können.

Coco greift in die Schüssel mit Nudeln und beschmeißt Mikey damit.

Wir halten alle inne.

Bitte, bitte, bitte lass das jetzt nicht ausarten.

„Okaaaay", sagt jetzt Harry und nimmt Mikey schnell die Nudeln aus den Haaren. „Ich denke, wir …''

„Ich zeig's dir!" Schließlich schmeißt sich Mikey auf den Topf mit Soße, hält seine Faust rein und bespritzt Coco damit, die aufkreischt.

Heilige Scheiße. Das artet definitiv aus!

„Mikey!", mahne ich ihn und wische Coco die Soßenspritzer vom Gesicht.

Misses Heath wird uns umbringen. Tomatensoße geht unmöglich wieder aus den Klamotten raus, noch dazu sind genug Spritzer auf den Boden gekommen, manche auf den Holztisch, wo ich schon sehen kann, wie sich die Soße von dem Holz eingesogen wird.

„Blödmann!", meckert Coco Mikey an, während ich ihre Hände zurückhalte, mit der sie ebenfalls in die Soße greifen wollte.

„Eure Mutter wird so sauer auf euch sein!", sage ich überfordert und blicke auf die vielen Soßenspritzer auf dem Tisch und dem Boden. Hastig bücke ich mich um ein paar Flecken aufzuwischen. Ich kann es nicht glauben. Da ist man mal einen Abend mit Harry zusammen, schon passiert so etwas. War ja klar, dass es eskalieren muss.

Ich richte mich wieder auf.

Und kneife sofort die Augen zusammen, denn jetzt habe ich einen Flatschen Soße mit Nudeln ins Gesicht bekommen.

Schockiert halte ich den Atem an und halte inne, während ich die warme Soße in meinem Gesicht spüre und die Nudeln langsam ihren Weg von meiner Nase auf meinen Schoß machen.

Für ein paar Sekunden herrscht Stille am Tisch. Sogar Mikey und Coco haben aufgehört zu streiten. Und auch, wenn ich nicht gesehen habe, wer mich mit den Nudeln beschmissen hat, bin ich mir sehr sicher, dass es der gehässig grinsende Kotzbrocken vor mir war.

Innerlich auf hundertachtzig schmiere ich mir die Soße von den Augen und sehe unmittelbar in Harrys Gesicht, der mich mit erhobenem Mundwinkel mustert.

„Das hast du nicht getan", zische ich ihn an.

Doch er scheint sich keiner Schuld bewusst und zuckt nur mit einer Schulter. „Mikey war's."

Nicht belustigt lache ich auf und schüttle den Kopf, während ich mir noch ein wenig Soße aus dem Gesicht wische. Mikey war es. Wer es glaubt, wird selig, du Vollspaten.

„War ich gar nicht", flüstert Mikey Harry zu, worauf ich Harry wieder böse ansehe.

Meine ganzen Klamotten sind versaut und noch dazu können wir hier nach Misses Heaths Küche sauber machen, der Kinder eingeschlossen. Cocos Haare sind voll mit Soße und Mikey sieht nicht weniger schlimm aus.

„Ich würde sagen, das Essen hat sich gelohnt", sagt Harry nach einer kurzen Pause und steht auf, um die schmutzigen Sachen wegzuräumen.

Ungläubig sehe ich ihm hinterher, wie er einfach verschwindet, als wäre nichts. Als hätte ich gerade keine Nudeln auf dem Schoß und der Rest am Tisch keine Soße im Gesicht. Und das lasse ich nicht auf mir sitzen. Er denkt, er kann mich mit Essen beschmeißen und vorher noch über Verschwendung von Lebensmitteln predigen?

Nein, da hat er sich geschnitten.

Mutig nehme ich meinen Löffel und mache Soße darauf. Ich will es nicht direkt übertreiben, ich will ihm einfach nur klarmachen, dass ich auch zurückschlagen kann. Coco und Mikey gebe ich ein Zeichen, dass sie mich nicht verraten sollen, und dann schleiche ich mich von hinten an Harry ran, der die beschmutzten Teller in die Spüle stellt.

„Hey, Harry."

Er dreht sich um – und schon landet die Soße von meinem Löffel mitten in seinem Gesicht.

Selbstgefällig grinse ich ihn an, während er genauso innehält wie ich vorhin und leicht auflacht, als könnte er es nicht glauben.

„Tja", sage ich nur und wende mich selbst an die Spüle, als er einen Schritt zur Seite geht. „Du hast angefangen, also wage es dich bloß nicht, dich zu beschweren." Ich lasse Wasser über die schmutzigen Teller laufen, um sie zu reinigen. „Außerdem kannst du das alles hier sauber machen. Und ich werde dir nicht helfen. Du hast – verdammte Scheiße!"

Weil mich plötzlich eine seltsame Wärme von Kopf bis Fuß trifft und es sich alles andere als angenehm und natürlich anfühlt, schreie ich auf und hüpfe einen Schritt zurück.

Beinahe rutsche ich auf dem Fußboden aus, der jetzt in roter Soße getränkt ist, und muss mich am Küchentresen festhalten, um nicht auf das Hinterteil zu knallen.

Mikey und Coco beginnen zu lachen, als ich zum zweiten Mal heute innehalte, um zu kapieren, was, zur verdammten Hölle, hier gerade passiert ist.

Außer mir sehe ich Harry an, der zufrieden mit dem Topf in der Hand neben mir steht. „Sag mal, hast du sie noch alle?", brülle ich ihn an und wische wieder durch mein Gesicht, allerdings tropft mir daraufhin sofort Soße von meinen Haaren auf meine Stirn und Nase. „Was ist nur los mit dir?"

Harry zuckt wieder resigniert mit den Schultern. „Du hättest es nicht provozieren dürfen. Dein Pech."

„Mein Pech?", keuche ich entsetzt. „Du glaubst doch nicht, dass –"

Diesmal überlege ich nicht lange. Ich schnappe mir den Topf, der noch gefüllt mit dem verkochten Wasser der Nudeln ist und hebe ihn über Harry, um ihn hemmungslos über seinen Kopf zu schütten.

„Das wagst du nicht!", wehrt sich Harry jedoch und will meine Arme weghalten.

„Und wie ich das wage!", keife ich und kämpfe gegen seine Stärke an.

„Los, Vio!", feuert mich Coco an und beugt sich neugierig über den Stuhl.

Für die beiden ist das wahrscheinlich die beste Abendunterhaltung der Welt, nicht mal Fernsehgucken könnte da mithalten, aber das ist nebensächlich. Ich konzentriere mich nur auf Harry, um endlich die Chance zu ergreifen, die zwei Liter Wasser über seinen Kopf zu kippen.

„Violet!", beschwert sich Harry, während wir miteinander rangeln und ich immer wieder versuche, den Topf für mich zu gewinnen.

Doch endlich schaffe ich es. Ihm rutscht der Topf aus der Hand, ich hebe ihn an und im nächsten Moment ist Harry komplett durchnässt.

„Ha!", freue ich mich und zeige mit dem Finger auf ihn. Dass ich auch etwas abbekommen habe, ist nicht wichtig, denn Harry hat mehr abbekommen. Er ist klitschnass.

Allerdings fackelt er nicht lange, sondern will einen Schritt auf mich zumachen, aber der nasse Boden macht ihm einen Strich durch die Rechnung.

Er rutscht mit seinem rechten Fuß aus, flutscht nach vorne und hinten. Harry will sich an mir festhalten, wogegen ich mich versuche zu wehren, damit er mich nicht mit sich in den Abgrund reißt, doch es ist zwecklos.

Wir knallen beide wie zwei eingelegte Heringe auf den Boden unter uns und liegen mitten in der Suppe aus Soße und warmem Wasser.

Harry fällt auf den Rücken und ich lande bäuchlings quer über ihm, sodass wir ein Kreuz darstellen. Wenigstens bin ich einigermaßen weich gelandet.

Doch wir scheinen beide total perplex zu sein, denn niemand bewegt sich. Meine Augen sind vor Erschöpfung geschlossen und auch Harry liegt ruhig, atmet nur tief durch.

So hatte ich mir das Babysitten nicht vorgestellt. Und noch weniger hatte ich mir vorgestellt, heute Abend noch mit Harry vollgeschmiert mit Lebensmitteln auf dem Boden zu liegen, weil wir einfach nicht miteinander klarkommen.

Es ist, als wären wir kleine Kinder. Fast noch schlimmer.

„Oh, Gott, Mama wird das nicht gefallen", holt mich Cocos Stimme aus meinem kurzen Koma und ich öffne die Augen, blicke direkt auf den schmutzigen Boden unter mir.

Ich blinzle. Gott, Misses Heath wird uns so was von umbringen. Es würde mich nicht mal wundern, wenn sie auch noch mich von der Schule schmeißt.

Harry murrt unter mir. „Geh runter." Kurzerhand schubst er mich von sich und wie ein nasser Sack rolle ich auf den Rücken in das Nass unter uns.

Mein Kopf tut höllisch weh, als ich mich aufrichte. Gott, wieso habe ich mich nur durch diesen Idioten zu so einem Mist verleiten lassen? Nicht mal den Anstand, mir aufzuhelfen, bringt er auf.

Als Harry wieder steht und ich mich neben ihn stelle, betrachten wir uns. Wir sehen beide schrecklich aus. Seine Haare sind nass und gefärbt durch die rote Soße. Sein olivgrünes T-Shirt klebt ihm auf der Haut und seine dunkle Jeans scheint noch enger zu sein, dadurch dass sie nass ist. Seine Haut ist ebenfalls befleckt mit roten Punkten. Man könnte meinen, er hätte eine Krankheit.

„Ihr seht echt witzig aus", kichert Coco und mustert uns beide.

Doch Harry scheint das gar nicht witzig zu finden. Er dreht sich wieder vorsichtig zur Spüle, damit er nicht ausrutscht. „Gut gemacht, Violet. Ich hoffe, Heath schmeißt nicht nur mich von der Schule."

Ich hebe die Brauen. „Was? Du gibst mir die Schuld?"

„Würdest du etwa nicht? Guck dir die Sauerei doch an. Du hättest das Wasser einfach stehen lassen sollen. Der Boden ist komplett nass."

„Du hast angefangen!"

Harry wird ebenfalls wütender und deutet auf den Boden unter uns. „Und das war dein Zeichen, die ganze Küche unter Wasser zu setzen?"

„Harry, du –'' Mir fehlen die Worte. Was soll ich auch darauf sagen? Ich bin doch nicht die Schuldige hier, sondern er! Er hätte mich nicht mit den Nudeln beschmeißen sollen! Wenn er nicht angefangen hätte, wäre es nie so ausgeartet!

Wieder ruhiger beginnt Harry, sich am Wasserhahn die Soße aus dem Gesicht zu waschen. „Du wusstest noch nie, wann eine Grenze überschritten ist, also wundert es mich nicht."

Ich wusste noch nie, wann eine Grenze überschritten ist? Das sagt mir derjenige, der mindestens zwanzig Einträge im Schulregister hat und außerdem mit achtzehn noch nicht den wahren Ernst des Lebens verstanden hat? Harry Perlman sagt mir das?

In mir braut sich eine unangenehme Wut zusammen und ich versuche, sie zu unterdrücken, indem ich die Fäuste balle, doch sollte er noch einen falschen Ton von sich geben, explodiere ich. Er hätte von vornherein nicht so unfreundlich in der Schule sein müssen, was ihn eine Menge Ärger erspart hätte. Aber er war unfreundlich und das schon immer, deswegen ist es seine Schuld.

Und plötzlich ertönt ein Geräusch, das mein Herz zum Bersten bringt. Die Haustür.

Scheiße, nein, bitte lass das jetzt nicht geschehen. Boden öffne dich. Bitte!

Hoffnungsvoll kneife ich die Augen zusammen.

„Was ist denn hier passiert?", ertönt die schrille Stimme von der Rektorin unserer Schule und meine Hoffnung ist verschwunden.

Ich drehe mich langsam und schuldbewusst zu ihr um. Wir müssen alle aussehen wie kleine Kinder. Beschmiert mit Tomatensoße und Nudeln in den Haaren.

Misses Heath läuft schon rot an und hält sich die Hände an den Kopf, während sie fassungslos die verdreckte Küche betrachtet. „Was habt ihr nur angerichtet? Die Wände! Der Tisch! Der Boden!" Sie sieht aus, als würde sie jeden Moment weinen. „Oh Gott, der Boden! Ihr habt alles unter Wasser gesetzt!"

„Es war Harrys Schuld!", haut Coco raus und zeigt auf Harry, der genauso stocksteif wie ich in der Küche steht. „Er ist der Kotzbrocken!"

Mickey klopft auf den Tisch. „Nein, es war Violets Schuld!"

Misses Heath schüttelt nur den Kopf und scheint ihnen gar nicht zuzuhören. „Geht sofort hoch."

Alle schweigen. Für einen Moment fühle ich mich angesprochen, weil Mom zu mir und Rosy auch immer sagt, wir sollen hochgehen, wenn wir etwas anstellen, aber Heath ist zufällig nicht meine Mom, also warten wir, bis Coco und Mickey die Treppen hochgetrottet sind.

In der Küche herrscht wieder Ruhe, als die zwei oben sind.

Ich traue mich, zuerst die Stille zu unterbrechen, weil ich es nicht mehr aushalte. „Misses Heath, wir …''

„Nein", blockt sie ab und hält ihre Hand hoch. „Ihr beide seid ..." Sie schüttelt ungläubig den Kopf. „Ihr seid unmöglich ..."

Ich schlucke schwer. Gott, das endet nicht gut.

„Ich kann das erklären", versuche ich, mich zu erklären, obwohl ich nicht mal weiß, wie ich das alles erklären soll.

„Ihr seid mir keine Erklärung schuldig." Nun richtet sich Misses Heath entschlossener auf, nachdem sie tief durchgeatmet hat. „Anscheinend habe ich mich in Ihnen getäuscht."

Weil sie zu Harry sieht, fühle ich mich erst nicht angesprochen, doch dann sieht sie mich an.

„Violet, du wirst zukünftig nicht mehr meine Kinder betreuen. Ihr beide werdet nachsitzen. Für sehr, sehr lange Zeit. Morgen nach der Schule kommt ihr in mein Büro. Pünktlich. Um drei. Eure Eltern werde ich benachrichtigen und vielleicht, aber nur vielleicht, lernt ihr daraus." Sie sieht zu Harry. „Bei Ihnen habe ich zwar schon jegliche Hoffnung aufgegeben, doch Wunder gibt es immer. Über die Suspendierung werden wir uns noch unterhalten, Mister Perlman. Und jetzt ..." Sie zeigt aus der Küche nach draußen. „Verschwindet."

Ich presse die Lippen aufeinander und kann mich nicht bewegen. Man, so wurde ich ja noch nie von Misses Heath behandelt. „Misses Heath, ich bitte Sie ... Wir können …''

„Raus hier!", kreischt sie nun wild und ist den Tränen nahe. „Bevor ich mich noch völlig vergesse!"

Daraufhin tue ich sofort, was sie sagt. Ich laufe an ihr vorbei, schnappe mir meine Tasche aus dem Flur und verlasse das Haus.

Was ein wunderbarer Start in die Woche. Und wahrscheinlich ist die Woche auch nicht darauf ausgelegt worden, besser zu werden, so wie Heath mit uns gesprochen hat.

Wütend auf mich selbst und auf Harry und allgemein jeden auf der Welt stampfe ich aus dem Hof vorbei an dem weißen Gartenzaun durch die Dunkelheit. Mit Soße beschmiert und nassen Klamotten.

Schlimmer kann es kaum werden. Kaum bin ich Harry näher als zwei Meter, habe ich jede Menge Probleme am Hals. Kein Wunder, dass er kein Bestandteil meines Lebens mehr ist.

„Violet!"

Ich drehe mich nicht um.

„Violet, jetzt warte doch mal!"

Schließlich bleibe ich doch stehen und drehe mich um. Wenn mich jemand ruft, muss ich einfach reagieren, auch wenn es nur Harry ist. Harry kommt mit schnellen Schritten auf mich zu, während ich höre, wie Misses Heath die Haustür laut zuknallt.

„Falls du dich bei mir entschuldigen willst, dann kannst du es stecken lassen", sage ich, noch bevor er bei mir ankommt. „Absolut nicht nötig, ich will es nämlich gar nicht hören."

„Ich hatte nicht vor, mich bei dir zu entschuldigen." Er bleibt vor mir stehen. „Ich soll dich nach Hause fahren."

Ich lache auf und drehe mich um, damit ich weiter den Weg nach Hause ansteuern kann. „Nie im Leben steige ich in dein Auto."

Stöhnend folgt mir Harry. „Violet, Heath bringt mich um, wenn ich dich jetzt nicht nach Hause bringe."

„Mir egal. Solange sie nicht mich umbringt."

„Wow, wie taktvoll von dir, so was zu sagen, während du gleich in meinem Auto sitzen wirst, das von mir gesteuert wird."

„Wie dumm von dir, zu denken, ich würde in dein Auto steigen."

„Dir bleibt nichts anderes übrig. Heath will sichergehen, dass du in mein Auto steigst."

„Mir egal. Du bekommst den Ärger, nicht ich."

„Ach, wirklich? Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ihr – nachdem du ihre Küche verunstaltet hast – ziemlich egal ist, ob sie dich nun drei Wochen oder das komplette Schuljahr nachsitzen lässt."

Ich verdrehe genervt, davon, dass er mir immer noch hinterherläuft, die Augen. „Ich bin sowieso gleich zu Hause, also mach mal keinen Aufstand."

Ich höre, wie er hinter mir stehen bleibt, worauf ich mich zu ihm umdrehe, jedoch nicht aufhöre, weiterzulaufen. „Stimmt", sagt Harry und sieht sich in der Gegend um. Er weiß anscheinend noch ganz genau, wo ich wohne.

Und weil ich nur noch diese eine Straße entlanglaufen will, winke ich ihm halbherzig zu und drehe mich wieder nach vorne. „Blitzmerker. Und jetzt lass mich endlich nach Hause laufen."

Ich habe zwar größten Respekt vor Heath und ich kann mir auch vorstellen, dass sie nur möchte, dass Harry mich nach Hause fährt, weil es schon dunkel ist, aber ich steige nicht in sein Auto. Vor allem nicht, wenn mein Haus gerade mal zwei Straße weiter entfernt ist. Diese Minute in seinem Wagen kann ich mir sparen, wirklich. Viel lieber steige ich in das Auto eines Serienmörders.

Okay, das war vielleicht ein wenig übertrieben.

Aber ich steige nicht in Harrys Auto.

„Okay!", ertönt Harrys Stimme und es klingt, als hätte er sich mittlerweile von mir entfernt, was mich wieder über die Schulter blicken lässt. Er läuft wieder die Straße herunter zu Misses Heaths Haus.

Etwas verdutzt davon, wie einfach es war, ihn abzuwimmeln, sehe ich wieder geradeaus durch die dunklen Straßen. Wieso wundere ich mich darüber, wie einfach er meine Bitte, mich im Dunkeln nach Hause laufen zu lassen, angenommen hat? Vielmehr sollte es mich wundern, wie er für ein paar Momente hartnäckig versucht hat, mich in sein Auto zu bringen.

Na ja, wahrscheinlich will er einfach nicht noch mehr Stress mit Heath haben, als er sowieso schon hat. Es ist nur ungewohnt für mich, dass er einfach locker lässt, denn früher war er auch nicht so. Aber es sollte mich nicht wundern. Harry ist nun mal heute anders.

Als ich schon mein Haus sehen kann und meinen Schlüssel aus meiner Tasche krame, um die Tür aufzuschließen, scheinen mir von hinten Scheinwerfer zu. Als mir dann auch noch das Auto entgegenhupt und links neben mir herfährt, erschrecke ich mich, als ich Harry hinter dem Steuer sehe.

„Was soll das werden?", frage ich ihn, als er seinen Motor stoppt und neben mir stehen bleibt.

Dadurch, dass er noch immer im Auto sitzt, höre ich seine Stimme nur gedämpft. „Ich fahre dich nach Hause!", ruft er.

Ich muss vor Belustigung lachen. „Du fährst mich nach Hause? Mein Haus ist fünf Meter von mir entfernt, falls du es noch nicht gesehen hast!"

„Das ist mir vollkommen egal, steig einfach ein, damit ich dich nach Hause fahren kann!"

„Das sind fünf verdammte Meter, Harry!"

„Steig! Ein!"

„Na-Hein!"

Harry rollt genervt die Augen. „Tu es doch einfach! Du ersparst uns beiden jede Menge Ärger!"

Ich schnaufe und schweige. Rein theoretisch hat er recht, denn Misses Heath war extrem sauer und das auf uns beide. Warum er allerdings noch immer so verrückt darauf ist, mich die letzten fünf Meter nach Hause zu fahren, verstehe ich noch immer nicht. Aber dann tue ich es halt. Ich will keinen Stress bekommen, deswegen öffne ich widerwillig die Autotür zu Harrys schwarzem Audi, um mich reinzusetzen.

Ich lasse mich in den Beifahrersitz fallen, der verdammt weich und bequem ist, und knalle die Tür zu. Es riecht nach Harry und Kokos. Ich weiß, dass Harry Kokos liebt, weswegen ich mir sicher bin, dass dieser Duft nicht von dem Parfüm eines Mädchens kommt, sondern ganz allein von ihm. Wahrscheinlich hat er auch noch irgendwo Kokosduftkerzen versteckt, damit es ständig so riecht.

„Schnall dich an", weist Harry mich an, als er den Motor startet.

„Ich muss mich nicht anschnallen, es sind, wie gesagt, nur verdammte fünf Meter."

„Violet", knurrt Harry. „Schnall dich an."

Ich stöhne auf und greife schließlich zum Gurt. Idiot.

Als ich angeschnallt bin, schaltet Harry in den ersten Gang und umgreift das Lenkrad. „Okay, halt dich fest, ich fahre los."

Ich verschränke nur die Arme und sehe gelangweilt aus dem Fenster. „Dann fahr mal die ganzen fünf Meter."

Ich höre, wie Harry ganz langsam die Kupplung kommen lässt und mit einem leichten Ruck fahren wir nach vorne.

Wir rollen.

Wir rollen.

Und eine Sekunde später tritt Harry wieder auf die Bremse und wir stehen.

„Sehr schön", sage ich und sehe ihn an, während er die Handbremse zieht. „Das hat sich fast gelohnt."

Harry ignoriert meine Worte und zieht sein Handy aus der Hosentasche. Er drückt etwas darauf herum und dann hält er es links von sich mit der Frontkamera in unsere Richtung.

„Äh", sage ich, als ich von dem Bildschirm seines Handys, wo wir beide zu sehen sind, zu ihm sehe. „Das Selfie kannst du dir sparen."

Harry hält das Handy immer noch hoch und sucht den perfekten Winkel. „Verdammt, es ist so dunkel, man sieht kaum was. Egal." Dann drückt er auf einen Knopf und schon ist ein Foto entstanden, auf dem ich ihn böse angucke.

Er hält sein Handy wieder in beiden Händen und scheint das Bild in WhatsApp verschickt zu haben. „Ist für Heath. Sie wollte einen Beweis dafür, dass ich dich nach Hause gebracht habe."

Deswegen wollte er also unbedingt die fünf Meter fahren.

„Wieso, zur Hölle, hast du ihre Nummer in deinem Handy?"

Er zuckt mit den Schultern, als er noch etwas unter das Bild schreibt. „Sie beschwert sich so verdammt oft, deswegen klären wir die meisten Dinge schon über WhatsApp."

Ich hebe eine Braue. „Das ist seltsam."

„Mag sein, aber ..." Er steckt das Handy wieder weg. „Du kannst jetzt aussteigen. Ich habe dich nach Hause gebracht."

Ohne viel über seine Worte nachzudenken, schnalle ich mich ab. Noch unfreundlicher hätte er mich auch nicht verabschieden können. Aber viel habe ich sowieso nicht erhofft, denn schlimmer kann der Abend kaum werden. Doch trotzdem fahre ich noch mal mit meiner Hand durch meine nassen, versauten Haare und schmiere es heimlich an den Sitz, damit auch er etwas von dem Abend hat.

„Ich wünsche dir eine gute Nacht", verabschiede ich mich von ihm, als ich neben dem Auto stehe. „Jermaine-René."

Harry funkelt mich von drinnen böse an, denn ich weiß, wie sehr er diesen Namen hasst. Er startet den Motor. „Gute Nacht, Lotta."

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