Читать книгу Dombey und Sohn - Charles Dickens, Чарльз Диккенс, Geoffrey Palmer - Страница 11
Sechstes Kapitel. Pauls zweite Verwaisung.
ОглавлениеAm Morgen kamen Polly so allerlei Bedenken, daß sie ohne das unaufhörliche Drängen ihrer schwarzäugigen Gefährtin alle Gedanken an den Ausflug aufgegeben und förmlich um die Erlaubnis gebeten haben würde, Nummer 147 unter dem unheimlichen Schatten von Mr. Dombeys Dach zu sehen. Aber Susanna, die persönlich auf den Spaziergang erpicht war, konnte es durchaus nicht ertragen, wenn ihre eigenen Erwartungen getäuscht würden, wie standhaft sie sich auch bei den fehlgeschlagenen Hoffnungen anderer zu benehmen wußte. Sie brachte gegen diesen späteren Gedanken so viele scharfsinnige Zweifel, dann wieder so viele sinnreiche Gründe für die ursprüngliche Absicht zum Vorschein, daß Mr. Dombey seinem Hause kaum den stattlichen Rücken gedreht hatte, um seinen täglichen Gang nach der City zu machen, als sich sein nichtsahnender Sohn schon auf dem Wege nach Staggs Gärten befand.
Die vielverheißende Lokalität lag in einer Vorstadt, die bei den Bewohnern von Staggs Gärten unter dem Namen Camberling Town bekannt war – eine Bezeichnung, die die Fremdenkarte von London, die zwecks angenehmer und bequemer Benutzung auf Taschentücher gedruckt ist, mit einigem Schein von Grund in Cambden Town zusammengezogen hat. Dahin nun lenkten die zwei Wärterinnen, von ihren Pfleglingen begleitet, ihre Schritte. Richards trug natürlich den kleinen Paul, und Susanna, die Florence an der Hand führte, versetzte ihrer Mündel von Zeit zu Zeit so viele Rucke und Stöße, als ihr zweckdienlich schienen.
Der erste Stoß eines großen Erdbebens hatte eben damals diese ganze Gegend bis in ihren Mittelpunkt auseinander gerissen. Spuren seines Verlaufs waren noch zu jeder Seite sichtbar. Man bemerkte eingestürzte Häuser, zerrissene Straßen, tiefe Furchen und Gruben in dem Boden, Aufwürfe von Erde und Lehm, unterminierte Häuser, die wankend dastanden und durch schweres Holzgebälk abgestützt wurden. Hier lag ein Chaos von übereinander gestürzten Karren unten an einem steilen unnatürlichen Hügel, dort sah man Schätze von Eisen eingeweicht und rostend an einer Stelle, die zufälligerweise ein Teich geworden war. Überall befanden sich Brücken, die nirgends hinführten, völlig unpassierbare Straßen, babylonische Türme von Schornsteinen, die die Hälfte ihrer Höhe verloren hatten, zackige Holzhütten und Verzäunungen in den unwahrscheinlichsten Lagen, Gerippe von zerrissenen Baracken, Bruchstücke unvollendeter Mauern und Bogen, Schichten von Gerüsten, eine wahre Wildnis von Backsteinen, riesige Formen von Kranen und Dreifüßen, die über nichts ihre Beine breiteten. Hunderttausend unvollendete Formen und Substanzen, wild untereinander gemengt, das Unterste zu oberst gekehrt, bald in die Erde tauchend, bald in die Luft hinausstrebend oder im Wasser modernd, zeigten sich allenthalben wie die unverständlichen Bilder eines Traumes. Heiße Quellen und feurige Eruptionen, die gewöhnlichen Begleiter von Erdbeben, trugen dazu bei, die Verwirrung der Szene zu erhöhen. Kochendes Wasser zischte und prudelte in verfallenen Mauern, aus denen auch der Glanz und das Getöse von Flammen hervorging. Aschenhaufen benahmen den Straßen ihre Rechte und veränderten ganz und gar den gewohnten regelmäßigen Gang in der Umgegend. Mit einem Worte, die noch uneröffnete und unvollendete Eisenbahn nahm ihren Fortgang, aus dem Herzen aller dieser wilden Unordnung glatt sich weiterstreckend im mächtigen Lauf der Zivilisation und des Fortschritts.
Aber bis jetzt war die Umgegend noch schüchtern und wagte es nicht, die Eisenbahn sich zuzueignen. Ein paar kecke Spekulanten hatten Straßen projektiert, einer davon sogar ein wenig gebaut, unter dem Schmutz und der Asche aber innegehalten, um sich noch eines weiteren zu besinnen. Eine Schenke, die noch nach Mörtel roch und ohne Bewurf war, hatte sich das Eisenbahn-Wappen zum Schild gewählt; die Unternehmung war vielleicht voreilig – indes stand doch zu hoffen, daß die Bahnarbeiter trinken wollten. So war eine Bierkneipe zum Zuspruchshaus für Grabarbeiter und die alte Garküche zum Eisenbahn-Speisehaus geworden, wo man täglich gebratene Schweinshaxen haben konnte; auch gab es noch weitere Umwandlungen aus eigennützigen Motiven einer ähnlich plötzlichen und populären Art. Die Vermieter von Zimmern und Schlafstätten zeigten sich ebenso wohlwollend, fanden aber aus den gleichen Gründen kein sonderliches Vertrauen, da man im allgemeinen noch nicht recht an das Ganze glaubte. Da sah man muffige Felder, Kuhställe, Dünger- und Kehrichthaufen, Gräben, Gärten und Plätze zum Teppichausklopfen sozusagen an der Tür der Eisenbahn. Zur Austernzeit Hügel von Austernschalen, oder zur Hummerzeit Berge von Hummernscheren, stets aber zerbrochenes Töpfergeschirr und welke Kohlblätter türmten sich an den hohen Plätzen auf. Pfosten, Geländer, alte Warnungstafeln für unberufene Personen, Hinterseiten von schlechten Häusern und Striche verkümmerter Vegetation stierten grimmig nach der Bahn hin; nichts war durch sie gebessert worden oder wollte um ihrerwillen besser sein. Wenn der jämmerliche Grund in der Nähe hätte lachen können, so würde er, wie so viele von den armseligen Nachbarn, seine Verachtung in dieser Weise ausgedrückt haben.
Staggs Gärten waren über die Maßen merkwürdig. Sie bestanden aus einer kleinen Reihe von Häusern mit kleinen, schmutzigen Plätzen davor, die mit alten Türen, Faßdauben, Fetzen von Teerleinwand oder abgestorbenen Hecken verzäunt waren, während die Lücken durch bodenlose Blechkessel und ausgediente eiserne Kaminschirme ausgefüllt wurden. Da zogen die Staggs-Gärtner Feuerbohnen, hielten Vögel und Kaninchen, bauten morsche Gartenhäuschen (eines aus einem alten Boot), trockneten Wäsche und rauchten Pfeifen. Einige waren der Ansicht, die Staggs-Gärten führten den Namen von einem verstorbenen Kapitalisten, einem gewissen Mr. Staggs, der sie zu seinem Vergnügen angelegt hätte. Andere von mehr ländlichem Geschmack meinten, die Bezeichnung rühre aus jenen Zeiten her, als die mit Geweihen versehene Herde, unter dem Namen Stags (Hirsche) bekannt, diese schattigen Räume besucht habe. Sei dem nun wie ihm wolle, die dortige Bevölkerung betrachtete Staggs Gärten als einen geheiligten Hain, der nicht durch Eisenbahnen verderbt werden sollte, und lebte der völligen Überzeugung, sie würden alle derartige lächerliche Erfindungen lang überleben. Ja, der Hauptkaminfeger an der Ecke, der zugestandenermaßen der erste unter den Lokal-Politikern in den Gärten war, hatte öffentlich erklärt, am Tage der Eröffnung der Eisenbahn, wenn diese je stattfinde, müßten zwei von seinen Burschen auf die Schornsteine seines Hauses steigen und von dort aus das Fehlschlagen der Unternehmung mit Spott und Hohn begrüßen.
Nach diesem ungeheiligten Platz also, dessen Namen sogar Mrs. Chicks ihrem Bruder sorgfältig verschwiegen hatte, wurde jetzt der kleine Paul vom Fatum und von Richards getragen.
»Dort ist mein Haus, Susanna«, sagte Polly, und zeigte mit dem Finger darauf.
»Das ist es wirklich, Mrs. Richards?« versetzte Susanna herablassend.
»Und wahrhaftig, ich sehe meine Schwester Jemima an der Tür,« rief Polly, »mit meinem süßen köstlichen Bübchen auf den Armen!«
Dieser Anblick beflügelte Pollys Ungeduld, so daß sie ihre Schritte zu einem eigentlichen Rennen beschleunigte. Sie stürzte auf Jemima zu und hatte im Nu die beiden Kleinen ausgewechselt – zum unaussprechlichen Erstaunen der jungen Dame, auf welche der Erbe der Dombeys wie aus den Wolken herabgefallen zu sein schien.
»Ei, Polly!« rief Jemima. »Du! Was hast du da für eine Verwechslung vorgenommen? Wer hätte das je gedacht! Komm mit herein, Polly. Und wie gut du aussiehst! Die Kinder werden ganz außer sich geraten, wenn sie dich sehen, Polly.«
Und so war es auch, wenn anders man einen Schluß ziehen durfte aus dem Geschrei, das sie jetzt anfingen, und aus der Art, wie sie auf Polly zustürzten, um sie nach einem Schemel in der Kaminecke zu zerren, wo ihr Apfelgesicht plötzlich der Mittelpunkt eines Häufleins von Borsdorferäpfeln wurde, die ihre rosigen Wangen dicht daran schmiegten – alle augenscheinlich Erzeugnisse desselben Baumes. Was Polly betraf, so war sie ebenso laut und ungestüm, wie die Kinder, und in dieser Verwirrung trat erst eine Pause ein, als sie kaum noch zu Atem kommen konnte, ihr Haar zerzaust um das glühende Gesicht hing und ihr neues Taufkleid schon recht sehr zerknittert war. Aber auch dann noch blieb der zweitjüngste Toodle auf ihrem Schoß, ihren Hals mit seinen Armen fest umfassend, während der nächst ältere Toodle auf die Stuhllehne stieg und, das eine Bein in die Luft streckend, verzweifelte Anstrengungen machte, seine Mutter um die Ecke herum zu küssen.
»Seht, da ist eine hübsche kleine Dame zu euch auf Besuch gekommen«, sagte Polly. »Und wie ruhig sie ist! Ist es nicht ein hübsches Mädchen?«
Diese Hindeutung auf Florence, die von der Tür aus der Szene zugesehen hatte, wandte die Aufmerksamkeit der jüngeren Toodles ihr zu und übte in gleicher Weise die glückliche Wirkung, eine förmliche Begrüßung der Miß Nipper herbeizuführen, die es schon wurmte, daß sie so vernachlässigt wurde.
»O kommt doch herein und nehmt ein Weilchen Platz, Susanna, ich bitte«, sagte Polly. »Das hier ist meine Schwester Jemima. Jemima, ich wüßte nicht, was ich je mit mir selbst anfangen sollte, wenn Susanna Nipper nicht wäre; ohne sie würde ich jetzt nicht hier sein.«
»O, so nehmt doch Platz, Miß Nipper, wenn ich bitten darf«, ergriff jetzt Jemima das Wort.
Susanna setzte sich mit stattlicher und zeremoniöser Miene auf das äußerste Ende eines Stuhls.
»In meinem Leben bin ich nie so erfreut gewesen, jemand zu sehen; ja wahrhaftig nicht. Miß Nipper«, sagte Jemima.
Susanna erweichte sich ein wenig, rückte auf ihrem Stuhl etwas weiter herauf und lächelte in Gnaden.
»Nehmt doch Euern Hut ab und tut, als ob Ihr zu Hause wäret. Miß Nipper«, bat Jemima. »Leider ist es nur ein armes Haus, und Ihr seid an dergleichen nicht gewöhnt; aber ich bin überzeugt, daß Ihr Nachsicht haben werdet.«
Durch dieses unterwürfige Benehmen wurde die Schwarzäugige so erweicht, daß sie die kleine Miß Toodle, welche an ihr vorbeiging, beim Händchen faßte und sie unverweilt nach Banbury-Croß führte.
»Aber wo ist mein netter Junge?« fragte Polly. »Mein armer Knabe? Ich bin hierher gekommen, um zu sehen, wie er sich in seinen neuen Kleidern ausnimmt.«
»Ach, wie schade!« rief Jemima. »Es wird ihm das Herz brechen, wenn er hört, daß seine Mutter hier war. Er ist in der Schule, Polly.«
»Schon angefangen?«
»Ja. Gestern ging er zum ersten Male hin, weil er fürchtete, von dem Lernen etwas zu verlieren. Aber es ist ein halber Vakanztag, Polly; wenn du nur hier bleiben könntest, bis er nach Hause kommt – du und Miß Nipper«, fügte Jemima bei, sich noch rechtzeitig der Würde der Schwarzäugigen erinnernd.
»Und wie sieht er aus, Jemima? Gott segne ihn!« stotterte Polly.
»Nun, er sieht wahrhaftig nicht so schlimm aus, als du wohl glauben magst«, erwiderte Jemima.
»Ah!« sagte Polly bewegt, »ich weiß, seine Beine müssen zu kurz sein.«
»Seine Beine sind freilich kurz«, erwiderte Jemima, »namentlich hinten; aber sie werden mit jedem Tag länger, Polly.«
Das war eine Art Trost von langsamer Aussicht, aber die Heiterkeit und Laune, mit welcher er angebracht ward, verlieh ihm einen Wert, den er dem Wesen nach nicht besaß. Nach einem kurzen Schweigen fragte Polly etwas aufgeräumter:
»Und wo ist der Vater, liebe Jemima?« – denn unter dieser patriarchalischen Bezeichnung wurde in der Familie Mr. Toodle verstanden.
»Da haben wir es wieder!« sagte Jemima. »Wie schade! Der Vater hat heute morgen sein Mittagessen mitgenommen und kommt vor Nacht nicht nach Hause. Aber er spricht immer von dir, Polly, und erzählt den Kindern von dir. Er ist die friedliebendste, geduldigste und frohherzigste Seele auf der Welt, wie er es stets war und sein wird!«
»Ich danke dir, Jemima«, rief die einfache Polly, erfreut über diese Mitteilung, wie sehr ihr auch seine Abwesenheit leid tat.
»O, du brauchst mir nicht zu danken, Polly«, versetzte ihre Schwester, indem sie ihr einen schallenden Kuß auf die Wangen drückte und dann wohlgemut mit dem kleinen Paul umhertanzte. »Ich sage bisweilen das nämliche auch von dir, und es kommt mir von Herzen.«
Trotz der zweifachen getäuschten Erwartung war es unmöglich, einen Besuch, der solche Aufnahme gefunden hatte, im Lichte eines Fehlgangs zu betrachten. Die Schwestern sprachen daher voll Hoffnung über Familienangelegenheiten, über Sieder und über alle seine Brüder und Schwestern, während die Schwarzäugige, nachdem sie mehrere Gänge nach Banbury-Croß und zurück gemacht hatte, das Möbelwerk, die Schwarzwälderuhr, den Wandschrank, das Schloß auf dem Kaminsims mit seinen roten und grünen Fenstern, die das Licht einer innen angezündeten Kerze durchstrahlen lassen konnten, und die paar kleinen schwarzen Samtkätzchen musterte, von denen jedes einen Damenbeutel im Munde hatte. Die letzteren Stücke galten unter den Staggs Gärtnern als wahre Wunderwerke der nachahmenden Kunst. Da die Unterhaltung bald allgemein wurde, damit der Schwarzäugigen auch ihr Anteil zukommen möchte, so erzählte diese junge Dame in sarkastischer Weise Jemima alles, was sie von Mr. Dombey, seinen Aussichten, seiner Familie, seinem Treiben und Charakter wußte. Dann ging sie auf ein genaues Inventar ihrer eigenen Garderobe und auf eine Aufzählung ihrer hauptsächlichsten Verwandten und Freundinnen über. Nachdem sie in dieser Weise ihr Herz erleichtert hatte, nahm sie teil an den Garnelen und dem Porter, und befand sich in der Stimmung, ewige Freundschaft zu schwören.
Die kleine Florence versäumte gleichfalls nicht, diese Gelegenheit zu benützen; denn nachdem sie unter der Führung der beiden jungen Toodles einige Hexenschirme und andere Merkwürdigkeiten der Gärten inspiziert hatte, ließ sie sich mit ihnen wohlgemut auf die Herstellung eines zeitweiligen Damms durch eine kleine grüne Lache ein, die sich in einer Ecke gesammelt hatte. Sie war noch eifrig in diesem Geschäft begriffen, als sie von Susanna gesucht und aufgefunden wurde. Letztere hatte selbst unter dem humanisierenden Einfluß der Garnelen ihre Pflicht nicht vergessen und ergoß sich jetzt unter vielen Daumenstößen in eine moralische Rede über ihre entartete Natur, indem sie ihr zugleich Gesicht und Hände wusch und die Prophezeiung beifügte, sie werde die grauen Haare ihrer ganzen Familie mit Leidwesen ins Grab bringen. Nach einiger Verzögerung, die ihren Grund in einem vertraulichen Gespräch zwischen Polly und Jemima über Geldangelegenheiten hatte (natürlich wurde das eine Treppe weiter oben abgemacht), fand wieder ein Austausch der Säuglinge statt, da Polly die ganze Zeit über ihr eigenes Kind für sich behalten und den kleinen Paul Jemima überlassen hatte. Dann verabschiedeten sich die Gäste.
Die jungen Toodles waren zuvor als Opfer einer frommen List insgesamt nach dem Laden eines benachbarten Spezereihändlers geschickt worden, unter dem ostensibeln Vorwand, sich für einen Penny etwas zu kaufen. Sobald die Küste frei war, flüchtete sich Polly. Jemima rief ihr noch nach, daß sie, wenn sie auf dem Rückwege die Citystraße einschlagen würden, sicher den von der Schule zurückkommenden Sieder treffen würden.
»Glaubt Ihr, wir haben noch Zeit, den kleinen Umweg in dieser Richtung zu machen, Susanna?« fragte Polly, als sie haltmachten, um Atem zu schöpfen.
»Warum nicht, Mrs. Richards?« entgegnete Susanna.
»Ihr wißt, es ist bald Mittagessenszeit«, sagte Polly.
Aber das bereits eingenommene Lunch machte ihre Begleiterin mehr als gleichgültig gegen diese gewichtige Rücksicht; sie nahm die Sache auf die leichte Achsel, und so wurde denn der Beschluß gefaßt, sich an dem kleinen Umwege nicht zu stoßen.
Des armen Sleders Leben war seit dem gestrigen Morgen durch den Umstand, daß er das Kostüm der barmherzigen Schleifer trug, sehr leidig geworden, da die Straßenjugend gewaltigen Anstoß daran nahm. Kein junger Galgenstrick konnte den Anblick desselben auch nur einen Moment aushalten, ohne sich auf den harmlosen Träger zu stürzen und ihm einen Possen zu spielen. Seine soziale Existenz glich mehr der eines Christen aus den ersten Zeiten, als der eines unschuldigen Kindes aus dem neunzehnten Jahrhundert. In den Straßen hatte man ihn gesteinigt, man warf ihn in die Gossen, besudelte ihn mit Kot oder drückte ihn ungestüm an die Eckpfosten. Wildfremde Jungen hatten ihm seine gelbe Kappe vom Kopf gerissen und sie in die Luft geworfen. Seine Beine mußten sich nicht nur Verbal-Kritiken und Schmähungen gefallen lassen, sondern wurden auch handgreiflich behandelt und gezwickt. Schon am Morgen hatte er auf seinem Wege nach der Anstalt der Schleifer ein vollkommen unerbetenes blaues Auge davongetragen und war deshalb von dem Schulmeister, einem hochbetagten alten Schleifer von wilder Gemütsart, den man zum Lehrer ernannt hatte, weil er nichts wußte, zu nichts taugte und mit seinem grausamen Rohr alle rundbäckigen kleinen Jungen in beharrlichem Schrecken erhalten konnte – in Strafe genommen worden.
So kam es denn, daß Sieder auf dem Heimwege die unbegangensten Pfade aufsuchte und durch enge Wege und Hintergassen schlich, um seinen Quälgeistern auszuweichen. Als er endlich in die Hauptstraße einbiegen mußte, führte ihn sein Mißgeschick unter einen Bubenhaufen, der unter der Anführung eines wilden Metzgerlehrlings auf der Lauer lag, ob sich nichts ergebe, wodurch sie sich eine angenehme Aufregung verschaffen könnten. Da sie nun plötzlich einen barmherzigen Schleifer mitten unter sich sahen – sozusagen unerklärlicherweise ihren Händen überantwortet – stimmten sie ein allgemeines Gejohl an und stürzten auf ihn los.
Zu gleicher Zeit fügte es sich, daß Polly des Wegs kam. Sie war bereits eine gute Stunde gegangen und hatte hoffnungslos die Straße vor sich hinaufgesehen, so daß sie schon meinte, es nütze nichts, weiter zu gehen, als sie plötzlich diese Szene gewahr wurde. Kaum hatte sie ihren Knaben erkannt, als sie einen hastigen Schrei ausstieß, Master Dombey der Schwarzäugigen aufdrang und unter den Haufen stürzte, um ihren unglücklichen Sohn zu retten.
Überraschungen kommen gleich dem Unglück selten allein. Die erstaunte Susanna Nipper und ihre beiden jungen Pflegebefohlenen mußten, noch ehe sie wußten, was um sie vorging, von den Umstehenden vor den Rädern eines vorbeifahrenden Wagens weggerissen werden, und im gleichen Augenblick (es war Markttag) ließ sich der donnernde Lärmruf »ein wütender Ochse!« vernehmen.
Die wilde Verwirrung vor sich, Leute, die schreiend auf und ab rannten, Räder, die sie überfahren wollten, sich balgende Knaben, heranjagende tolle Stiere und die Amme, welche inmitten dieser Gefahren fast in Stücke gerissen wurde – alles das war zuviel für Florence; sie fing an zu schreien und lief davon. Sie lief fort, bis sie nicht mehr konnte, und drängte Susanna, dasselbe zu tun; als sie aber endlich haltmachte und daran dachte, daß sie die andere Amme zurückgelassen hatte, machte sie unter Händeringen und mit einem Schrecken, der sich nicht beschreiben läßt, die Entdeckung, daß sie ganz allein war.
»Susanna! Susanna!« rief sie, im Übermaß ihrer Angst die Händchen zusammenschlagend. »O, wo sind sie! wo sind sie!«
»Wo sie sind?« sagte ein altes Weib, die von der andern Seite des Weges humpelnd auf sie zukam. »Warum bist du ihnen entlaufen?«
»Ich fürchtete mich«, antwortete Florence. »Ich wußte nicht, was ich tat. Ich meinte, sie seien bei mir. Wo sind sie?«
Die Alte nahm sie bei der Hand und sagte:
»Ich will es dir zeigen,«
Es war ein sehr häßliches altes Weib mit roten Augenrändern und einem Munde, der immer mummelnde Bewegungen machte, auch wenn sie nicht sprach. Ihr Anzug war erbärmlich, und sie trug einige Felle über dem Arm. Allem Anschein nach war sie, wenigstens eine Strecke weit, Florence nachgegangen, denn sie konnte fast kaum zu Atem kommen. Ihr Schnauben machte sie noch häßlicher, und ihr welkes gelbes Gesicht samt dem Halse verzog sich dabei zu allen Arten von Verzerrungen.
»Du brauchst dich jetzt nicht mehr zu fürchten«, sagte die Alte, sie fest am Handgelenk haltend, »Komm nur mit mir.«
»Ich – ich kenne Euch ja nicht. Wie heißt Ihr?« fragte Florence.
»Mistreß Brown«, sagte die Alte. »Die gute Mrs. Brown.«
»Wohnt Ihr in der Nähe?« fragte Florence, die sich wegführen ließ.
»Susanna ist nicht weit«, sagte die gute Mrs. Brown; »und die andern kommen gleich hinterher.«
»Ist jemand verletzt worden?« fragte Florence.
»O, nicht im geringsten«, entgegnete die gute Mrs. Brown.
Als die Kleine das hörte, vergoß sie Freudentränen und folgte der Alten bereitwillig, obschon sie nicht umhin konnte, im Weitergehen nach dem Gesicht und namentlich nach dem geschäftigen Mund der Alten aufzusehen, wobei sie sich Gedanken machte, ob die böse Mrs. Brown, wenn es anders eine solche Person gab, wohl eine Ähnlichkeit mit ihr haben könne.
Ihr Weg führte sie nicht sehr weit, wohl aber an manchen sehr unbequemen Plätzen, z. B. an Backsteinlagern und Ziegeleien vorbei; dann aber bog die Alte seitwärts in eine schmutzige Straße ein, wo der Kot in der Mitte des Wegs tiefe schwarze Fahrrinnen bildete. Sie machte halt vor einem schäbigen Häuschen, das so dicht verschlossen war, als es eine Hütte von Rissen und Spalten nur sein konnte. Nachdem sie mit einem Schlüssel, den sie aus ihrem Hut genommen, die Tür geöffnet hatte, schob sie das Kind vor sich her nach einem Hinterstübchen, wo ein großer Haufen von verschiedenfarbigen Lumpen auf dem Boden lag, daneben ein Berg von Knochen und ein Haufen Asche oder gesiebten Staubes. Möbelwerk war nirgends zu sehen, und Decke sowohl als Wände hatten eine völlig schwarze Farbe.
Die Kleine war so erschrocken, daß sie nicht zu sprechen vermochte und einer Ohnmacht nahe war.
»Na, sei kein Gänslein«, sagte die gute Mrs. Brown, indem sie sie durch ein tüchtiges Rütteln wieder zum Leben brachte. »Ich will dir ja nichts tun. Setze dich auf die Lumpen dort.«
Florence gehorchte und streckte in stummer Bitte die gefalteten Hände aus.
»Ich will dich nicht dabehalten, nein, nicht einmal eine Stunde«, sagte Mrs. Brown. »Hast du mich verstanden?«
Mit großer Mühe konnte das Kind nur ein einfaches Ja herausbringen.
»Dann bring' mich nicht in Ärger«, sagte die gute Mrs. Brown, indem sie sich auf den Knochenhaufen niedersetzte. »Ich sage dir, wenn du mich nicht reizest, soll dir nichts geschehen; tust du das aber, so bring' ich dich um. Ich kann dich umbringen zu jeder Zeit – ja selbst wenn du zu Haus in deinem Bette liegst. Jetzt laß hören, wer du bist, was du bist und dergleichen.«
Das Drohen und die Versprechungen der Alten, die Furcht, ihr Anstoß zu geben, und die bei einem Kind so selten vorkommende, aber bei Florence fast natürliche Gewohnheit, sich ruhig zu verhalten und ihre Gefühle, die der Furcht sowohl als die der Hoffnung, zu unterdrücken, setzten die Kleine in den Stand, der Aufforderung zu entsprechen und ihre kurze Geschichte, so weit sie ihr selbst bekannt war, vorzutragen. Mrs. Brown hörte ihr aufmerksam zu, bis sie zu Ende gekommen war.
»Du heißt also Dombey, he?« fragte Mrs. Brown.
»Ja, Madame.«
»Ich brauche dieses kleine hübsche Röcklein, Miß Dombey«, sagte Mrs. Brown, »dieses kleine Hütlein, ein paar Unterröckchen und alles was du entbehren kannst. Tummle dich! Leg' ab!«
Florence gehorchte so schnell, als ihre zitternden Hände es gestatten wollten, und hielt dabei stets ihre furchtsamen Blicke auf Mrs. Brown gerichtet. Nachdem sie sich all der von der alten Dame bezeichneten Kleidungsstücke entledigt hatte, ließ sich Mrs. Brown Zeit zu einer gemächlichen Musterung des Erworbenen und schien mit der Qualität und dem Wert der Sachen ganz zufrieden zu sein.
»Hum!« sagte sie, und ließ ihre Augen über die schmächtige Gestalt des Mädchens hingleiten. »Ich sehe sonst nichts mehr, als die Schuhe. Ich muß die Schuhe haben, Miß Dombey.«
Die arme kleine Florence nahm sie mit der gleichen Behendigkeit ab und schätzte sich überglücklich, noch einige Mittel zu besitzen, um ihre Gesellschafterin freundlich zu stimmen. Die Alte klaubte sodann aus dem Lumpenhaufen verschiedene erbärmliche Ersatzstücke heraus, dazu noch ein ganz abgetragenes und sehr altes Kindermäntelchen, nebst den zerknitterten Überresten eines Hutes, der wahrscheinlich aus einem Graben oder von einem Düngerhaufen aufgelesen war. Dann befahl sie Florence, sich in diese appetitlichen Sachen zu hüllen, und die Kleine willfahrte der Aufforderung, womöglich mit noch größerer Bereitwilligkeit, weil sie ein Vorspiel ihrer Befreiung darin sah.
Als sie hastig den Hut, der eher wie ein Bausch zum Tragen von Lasten aussah, aufsetzte, verfing sich derselbe in ihrem wallenden Haar und konnte nicht gleich wieder losgemacht werden. Die gute Mrs. Brown zog eine Schere heraus und geriet in einen unerklärlichen Zustand von Aufregung.
»Warum konntest du mich nicht gehen lassen, du kleine Närrin, nachdem ich zufrieden war?« sagte Mrs. Brown.
»Verzeiht mir«, keuchte Florence; »ich weiß ja nicht, was ich getan habe, und konnte nicht dafür.«
»Konntest du nicht dafür?« rief Mrs. Brown. »Und weshalb glaubst du, daß ich dafür kann? Ach Himmel!« sagte die Alte, indem sie mit wütender Lust die Locken der Kleinen durchwühlte, »jedermann außer mir würde es zuerst auf sie abgesehen haben.«
Florence fühlte sich erleichtert, als sie fand, daß Mrs. Brown nur nach ihrem Haar, nicht nach ihrem Kopf verlangte; sie ließ sich darum alles ohne Widerstand oder Bitte gefallen und richtete bloß ihre unschuldigen Augen zu dem Gesicht der guten Seele auf.
»Wenn ich nicht selbst einmal ein Mädel gehabt hätte – jetzt weit über dem Meer drüben – das auf ihr Haar stolz war«, sagte Mrs. Brown, »so müßte jedes Löckchen mir gehören. Sie ist weit weg! Oho! oho!«
Der Ausruf von Mrs. Brown war nicht melodisch; sie warf aber dabei voll leidenschaftlichen Grams ihre abgezehrten Arme in die Höhe, und das ging Florence so zu Herzen, daß sie sich mehr als je fürchtete. Vielleicht lag hierin auch der Grund, daß ihre Locken geschont wurden; denn nachdem Mrs. Brown sie einige Augenblicke gleich einer neuen Art von Schmetterling mit ihrer Schere umschwebt hatte, befahl sie ihr, sich den Kopf mit dem Hut zu bedecken und keine Spur von ihren Haaren blicken zu lassen, damit sie nicht in weitere Versuchung geführt werde. Nach diesem Sieg über sich selbst setzte sich die Alte wieder auf die Knochen nieder und rauchte mummelnd eine kurze schwarze Pfeife mit einer Gier, als ob sie das Rohr essen wolle.
Sobald die Pfeife ausgeraucht war, gab sie der Kleinen eine Kaninchenhaut über den Arm, damit sie sich wie ihre gewöhnliche Begleiterin ausnehmen möchte, und bedeutete ihr sodann, sie wolle sie jetzt nach einer Hauptstraße hinführen, wo sie sich nach dem Weg zu ihren Freunden erkundigen könne. Zugleich aber warnte sie Florence unter Drohungen summarischer und tödlicher Rache für den Fall eines Ungehorsams und verbot ihr, ja keine Fremden anzureden oder sich nach ihrem eigenen Hause zu begeben, das vielleicht für Mrs. Browns Bequemlichkeit zu nahe lag, sondern das Geschäftslokal ihres Vaters in der City aufzusuchen. Ferner sollte sie an der Straßenecke, wohin sie gebracht würde, warten, bis die Uhr drei geschlagen hätte. Diesen Weisungen gab Mrs. Brown noch größeren Nachdruck durch die Versicherung, daß sie mächtige Augen und Ohren im Dienst habe, die alles Tun und Treiben des Mädchens genau beobachten würden, und Florence versprach, allem, was ihr geboten worden, treu und eifrig nachzukommen.
Endlich brach Mrs. Brown auf und führte ihre so umgewandelte und zerlumpte kleine Freundin durch ein Labyrinth von engen Straßen, Gassen und Gäßchen, bis sie nach langer Zeit in einen Stallhof mit einer Einfahrt gelangten, in welchem das Getümmel einer belebten Hauptstraße hörbar war. Hier tat die Alte noch einen Abschiedsgriff nach den Locken des Kindes – ganz unwillkürlich und aus unbewältigbarem Impulse, wie es schien – deutete aber dann nach dem Tore hin und teilte Florence mit, wenn es drei geschlagen habe, solle sie sich nach links wenden; sie wisse jetzt, was sie zu tun habe, und solle danach handeln, aber dabei nicht vergessen, daß sie aufs schärfste beobachtet werde.
Mit leichterm Herzen, aber noch immer in großer Angst fühlte sich Florence nun befreit und eilte nach der Ecke hin. Dort angelangt schaute sie zurück und bemerkte noch den Kopf der guten Mrs. Brown, der zu dem niedrigen hölzernen Gang heraussah, wo die Abschiedseinschärfungen erteilt worden waren, zugleich aber auch die Faust, mit der die gute Mrs. Brown ihr drohte. Sooft sie aber auch später wieder zurückschaute – und sie tat das in ihrer erschreckten Erinnerung an die Alte jede Minute – konnte sie nichts mehr von ihr entdecken.
Florence blieb, wo sie war, und schaute in das Gewühl auf der Straße, durch das sie immer noch mehr verwirrt wurde. Mittlerweile schienen die Glocken darauf versessen zu sein, nie und nimmermehr drei Uhr zu schlagen. Endlich klang es von dem Kirchturme herab – einer davon war ganz in der Nähe, und es konnte keine Täuschung obwalten. Die Kleine schaute oft über ihre Schulter zurück, ging oft ein Streckchen weit und kam ebensooft wieder nach der alten Stelle, damit die allgewaltigen Spione der Mrs. Brown keinen Anstoß nehmen sollten; dann aber eilte sie, so schnell es in ihren Schlappschuhen möglich war, mit ihrem Kaninchenfell in der Hand weiter.
Von den Geschäftslokalen ihres Vaters wußte sie weiter nichts, als daß sie Dombey und Sohn gehörten und daß diese Firma eine große zur City gehörige Macht war. Sie konnte daher nur nach Dombey und Sohn in der City fragen und erhielt, da sie sich hauptsächlich mit ihren Erkundigungen an Kinder wendete, weil sie sich scheute, erwachsene Personen um Auskunft zu bitten, sehr ungenügende Erwiderungen. Es gelang ihr aber doch durch ihre Nachfragen, die sie vorderhand nur auf den Weg nach der City beschränkte, allmählich dem Herzen jener großen Region näher zu kommen, die durch den schrecklichen Lord-Mayor beherrscht wird.
Müde vom Gehen, allenthalben hin und her gestoßen, betäubt von dem Lärm und der Verwirrung, voll Angst um ihren Bruder und die Wärterinnen, erschreckt durch das Vorgefallene und durch die Aussicht, ihrem zornigen Vater in einem so veränderten Zustand entgegenzutreten, wankte Florence mit tränenvollen Augen auf ihrem Wege weiter und konnte sich's nicht erwehren, ein- oder zweimal haltzumachen, um ihr übervolles Herz durch ein bitterliches Weinen zu erleichtern. Aber in dem Gewande, das sie trug, achteten bei solchen Gelegenheiten nur wenige Leute auf sie, oder wenn es auch geschah, so glaubte man, sie sei dazu angehalten, um Mitleid zu erregen, und ging weiter. Doch bot die Kleine all die Festigkeit und Selbstzuversicht eines Charakters, der durch traurige Erfahrungen frühzeitig geprüft und gereift ist, auf und strebte stetig dem Ziele zu, das sie im Auge hatte.
Volle zwei Stunden später, nachdem sie ihren letzten abenteuerlichen Gang angetreten, gelangte sie aus dem Lärm einer engen Straße voller Karren und Frachtwagen nach einer Art Werft oder einem Landungsplatz an der Flußseite, wo viel Gepäck, Fässer und Kisten umherlagen. Neben einer großen hölzernen Wage stand ein kleines Bretterhaus auf Rädern, vor dem ein stämmiger Mann pfeifend, die Feder hinter dem Ohr und die Hände in der Tasche, als ob sein Tagwerk bald zu Ende sei, nach den benachbarten Masten und Booten hinsah.
»Was willst du?« sagte der Mann, der sich zufällig nach ihr umdrehte. »Wir haben nichts für dich, Mädchen. Mach', daß du fortkommst!«
»Mit Erlaubnis, ist hier die City?« fragte die zitternde Tochter der Dombeys.
»Ja, freilich ist es die City, aber ich denke mir, du weißt das ebenso gut. Marsch da! Wir haben nichts für dich.«
»Ich verlange nichts, danke Euch«, lautete die schüchterne Antwort. »Ich möchte nur den Weg zu Dombey und Sohn wissen.«
Der Mann, der sorglos auf sie zugegangen war, schien über diese Antwort in Staunen zu geraten; er sah ihr aufmerksam ins Gesicht und erwiderte:
»Der Tausend, was kannst du von Dombey und Sohn wollen?«
»Nur den Weg dahin, wenn ich bitten darf.«
Der Mann sah sie noch neugieriger an und rieb sich vor Verwunderung den Hinterkopf so eifrig, daß ihm der Hut herunterflog.
»Joe!« rief er einem andern Manne, einem Arbeiter zu, während er seine Kopfbedeckung aufhob und sie wieder aufsetzte.
»Was verlangt Ihr von Joe?« versetzte der Angerufene.
»Wo ist denn der junge Bursch von Dombey, der die Aufsicht über die Einschiffung der Güter hat?«
»Eben nach dem andern Tore gegangen«, sagte Joe.
»Ruft ihn auf einen Augenblick zurück.«
Joe lief rufend einen Bogenweg hinauf und kehrte mit einem blühend aussehenden Knaben zurück.
»Ihr seid Dombeys Jockei, nicht wahr?« fragte der erste Mann.
»Ich bin in Dombeys Haus, Mr. Clark«, entgegnete der Knabe.
»So seht dahin«, sagte Mr. Clark.
Der Andeutung von Mr. Clarks Hand entsprechend, ging der Knabe auf Florence zu, wie man sich denken kann, sehr verwundert, was er mit dem Geschöpfe wohl zu schaffen haben könnte. Sie aber, sobald sie gehört hatte, was vorging, und daraus die Beruhigung entnehmen konnte, plötzlich wohlbehalten am Ziel ihrer Reise angelangt zu sein, fühlte sich über die Maßen ermutigt durch das lebhafte jugendliche Gesicht und das Benehmen des Knaben; sie eilte hastig auf ihn zu, wobei einer ihrer Schlappschuhe auf dem Boden zurückblieb, und ergriff mit ihren beiden Händchen seine Hand.
»Ich habe mich verirrt«, sagte Florence.
»Verirrt!« rief der Knabe.
»Ja; ich hab' mich heute mittag, weit weg von hier, verirrt. Man hat mich meiner Kleider beraubt, und diese Lumpen gehören nicht mir. Ich heiße Florence Dombey und bin die Schwester meines kleinen Bruders – und, ach Gott, nehmt Euch meiner an, seid so gütig!« schluchzte Florence, indem sie ihren so lang unterdrückten kindlichen Gefühlen in vollem Maße Luft machte und in Tränen ausbrach. Zu gleicher Zeit war ihr erbärmlicher Hut abgefallen, so daß die Locken ihr über das Gesicht niederwallten – welch' ein Gegenstand für die sprachlose Bewunderung und das Mitleid des jungen Walters, des Neffen von Solomon Gills, dem Schiffsinstrumentenmacher.
Mr. Clark stand im größten Erstaunen da und bemerkte halblaut vor sich hin, daß ihm auf dieser Werft nie zuvor etwas Ähnliches vorgekommen sei. Walter hob den verlorenen Schuh auf und paßte ihn dem kleinen Fuß an, wie es etwa der Prinz in dem Märchen Aschenbrödel getan haben mochte. Er hing das Kaninchenfell über seinen linken Arm, gab den rechten Florence und fühlte sich dabei, ich will nicht sagen wie Richard Whittington, denn das wäre nur ein matter Vergleich, sondern wie der heilige Georg von England, als der Drache tot zu seinen Füßen lag.
»Weint nicht, Miß Dombey«, sagte Walter im Übermaß seiner Begeisterung. »Eine wunderbare Fügung ist es, daß ich gerade hier bin. Ihr seid jetzt so sicher, als stündet Ihr unter dem Geleite einer ganzen Bootsmannschaft, der besten, die man von einem Kriegsschiff auswählen kann. O, weint nicht.«
»Ich will nicht mehr weinen«, versetzte Florence. »Ich habe es nur aus Freude getan.«
»Vor Freude geweint!« dachte Walter. »Und ich bin die Ursache davon! Kommt mit, Miß Dombey. Jetzt ist der andere Schuh auch abgefallen! Nehmt meine, Miß Dombey.«
»Nein, nein, nein«, entgegnete Florence, ihn abhaltend, als er eben im größten Eifer seine Schuhe ausziehen wollte. »Diese sind schon gut; ich komme ganz gut darin weiter.«
»Ei freilich«, erwiderte Walter, indem er seinen Fuß ansah, »meine sind um eine Meile zu groß. Was denke ich auch! Ihr könntet nie in meinen Schuhen gehen! Doch kommt mit, Miß Dombey. Wir wollen den Schurken sehen, der sich erdreisten wird. Euch jetzt zu belästigen.«
Bei diesen Worten schaute Walter mit unendlich wilder Miene umher und führte in der seligsten Stimmung Florence weiter. Sie gingen Arm in Arm ihrer Straße, ohne sich um das Erstaunen zu kümmern, das ihr Aussehen bei den Vorübergehenden erregte oder doch zu erregen imstande war.
Es wurde nachgerade dunkel, neblig, und am Ende fing es gar an zu regnen; aber sie kümmerten sich nicht darum. Beide waren zu sehr in die kürzlichen Abenteuer vertieft, welche Florence mit der unschuldigen Vertraulichkeit und Zuversicht ihrer Jahre erzählte, während ihr Walter zuhörte, als ergingen sie sich fern von dem Kot und Unflat der Themsestraße, allein unter den breiten Blättern und hohen Bäumen irgendeiner verlassenen Tropeninsel – ja es ist sehr gut möglich, daß er sich in diesem Augenblick sogar ein derartiges Bild vergegenwärtigte.
»Haben wir noch weit zu gehen?« fragte Florence endlich, die Augen zu dem Gesicht ihres Begleiters erhebend.
»Ah! beiläufig«, sagte Walter stehenbleibend, »laß mich sehen, wo wir sind. O! ich kenne mich aus. Aber die Geschäftslokale sind jetzt geschlossen, Miß Dombey. Es ist niemand dort. Mr. Dombey ist längst nach Hause gegangen. Vermutlich müssen wir auch nach Hause gehen – oder halt! Gesetzt, ich brächte Euch zu meinem Onkel, bei dem ich lebe – es ist ganz in der Nähe hier – und ließe mich in einer Kutsche nach Eurer Wohnung fahren, um dort zu sagen, daß Ihr wohlbehalten seid, und holte für Euch Kleider? Wäre nicht das das beste?«
»Ich denke so«, antwortete Florence. »Meint Ihr nicht? Was haltet Ihr davon?«
Während sie noch überlegend auf der Straße standen, kam ein Mann an ihnen vorbei, der Walter einen raschen Blick zuwarf, als ob er ihn erkannt hätte; er schien jedoch den ersten Eindruck für einen Irrtum zu halten und ging sogleich wieder weiter.
»Ei, ist das nicht Mr. Carter gewesen?« sagte Walter. »Carter in unserm Hause. Nicht Carter der Magazinverwalter, Miß Dombey – der andere Carter, der jüngere. – He, Mr. Carter!«
»Seid Ihr es wirklich, Walter Gay«, entgegnete der andere, indem er haltmachte und wieder umkehrte. »Ich habe es nicht glauben können, Ihr seid in so seltsamer Gesellschaft.«
Er hörte mit Erstaunen Walters hastiger Auseinandersetzung zu, und da er gerade unter einer Straßenlaterne stand, so bot er einen merkwürdigen Gegensatz zu den beiden jugendlichen Gestalten, die Arm in Arm neben ihm standen. Er war nicht alt, aber sein Haar war weiß und sein Körper gebeugt wie unter der Last einer schweren Sorge; auch zeigten sich in seinem hagern melancholischen Gesichte tiefe Linien. Das Feuer seiner Augen, der Ausdruck seiner Züge und sogar die Stimme, mit der er sprach – alles war gedämpft und erloschen, als läge der ihm inwohnende Geist in Asche. Er trug eine anständige, obgleich sehr einfache schwarze Kleidung, aber die einzelnen Teile derselben, nach dem allgemeinen Charakter seiner Figur geformt, schienen auf ihm zusammenzuschrumpfen und sich der bekümmerten Bitte anzuschließen, die der ganze Mann vom Kopf bis zu den Füßen ausdrückte – man möchte seiner nicht achten und ihn gehen lassen in seiner Geringfügigkeit.
Und doch war sein Interesse an der Jugend und den Hoffnungsvollen nicht mit den übrigen Funken seiner Seele erloschen, denn er beobachtete das eifrige Gesicht des Sprechers mit ungewöhnlicher Sympathie, zugleich aber auch mit einer nicht erklärbaren Miene von Sorge und Mitleid, wie sehr er sich auch Mühe gab, diese Äußerungen zu unterdrücken. Als Walter zum Schluß ihm die Frage vorlegte, die er eben mit Florence beraten hatte, blieb Carter noch immer stehen und sah ihn mit dem gleichen Ausdruck an, als lese er in dessen Gesichte ein Schicksal, traurig genug und nicht im Einklang mit der Heiterkeit des Augenblicks.
»Was ratet Ihr mir, Mr. Carter?« fragte Walter lächelnd. »Ihr wißt, so oft Ihr mit mir sprecht, gebt Ihr mir stets einen guten Rat, obschon es freilich nicht oft geschieht.«
»Ich denke, Euer Gedanke ist der beste«, antwortete er, von Florence auf Walter und dann wieder auf Florence zurückblickend.
»Mr. Carter«, sagte Walter, in welchem ein großmütiger Gedanke auflebte, »hier bietet sich eine Gelegenheit für Euch. Geht Ihr zu Mr. Dombey und werdet so der Bote einer guten Kunde. Es kann Euch nützlich werden, Sir. Ich will zu Hause bleiben. Geht Ihr.«
»Ich?« versetzte der andere.
»Ja. Warum nicht, Mr. Carter?« fragte der Knabe.
Er drückte ihm bloß die Hand zur Antwort, obschon es den Anschein hatte, als schäme und scheue er sich, auch nur dieses zu tun. Dann wünschte er ihm gute Nacht, riet ihm, sich zu beeilen, und ging weiter.
»Kommt, Miß Dombey«, sagte Walter, ihm im Weitergehen nachsehend, »wir wollen uns beeilen, daß wir schnell zu meinem Onkel kommen. Habt Ihr je Mr. Dombey von dem jüngeren Mr. Carter sprechen hören, Miß Florence?«
»Nein«, erwiderte das Kind sanft; »ich höre den Papa nicht oft sprechen.«
»Ach ja, es ist wahr; um so mehr Schande für ihn«, dachte Walter. Nach einer kurzen Pause, während welcher er auf das sanfte, geduldige Antlitz an seiner Seite niedergesehen hatte, bemühte er sich mit seiner gewohnten knabenhaften Lebhaftigkeit und Unruhe, den Gesprächsgegenstand zu ändern; und da ganz gelegen jetzt wieder einer von den unglücklichen Schuhen zurückblieb, machte er Florence den Vorschlag, er wolle sie auf den Armen nach dem Hause seines Onkels tragen. Trotz ihrer Ermüdung lehnte die Kleine lachend den Vorschlag ab, weil er sie fallen lassen könnte. Sie waren dem hölzernen Midshipman schon ziemlich nahe, und da Walter fortfuhr, verschiedene Vorgänge bei Schiffskatastrophen und andern ergreifenden Vorfällen zu erzählen, wo jüngere Knaben als er viel ältere Mädchen als Florence gerettet und triumphierend davongetragen hätten, so befanden sie sich noch in voller Unterhaltung darüber, als sie an der Tür der Instrumentenmacherswohnung anlangten.
»Holla, Onkel Sol!« rief Walter, in den Laden hineinstürzend und von dieser Zeit an für den ganzen übrigen Abend sehr unzusammenhängend und außer Atem redend. »Wir haben da ein wundervolles Abenteuer! Mr. Dombeys Tochter hier hat sich in den Straßen verirrt und ist durch eine alte Hexe von einem Weibsbild ihrer Kleider beraubt worden. Ich habe sie gefunden – nach unserm Hause gebracht, damit sie hier ausruhe – schaut her!«
»Gütiger Himmel!« rief Onkel Sol, gegen seinen Lieblingskompaß zurückprallend. »Es kann nicht sein! Na, das –«
»Nein, weder Ihr, noch jemand anders«, fiel ihm Walter ins Wort, dem begonnenen Satze vorgreifend. »Ihr wißt, niemand würde oder hätte es können. So! Wollt Ihr so gut sein, Onkel Sol, mir das kleine Sofa in die Nähe des Feuers rücken zu helfen? – Habt acht auf die Teller – richtet ihr etwas zum Essen her, wollt Ihr, Onkel? – werft diese Schuhe unter den Rost, Miß Florence – setzt Eure Füße zum Trocknen auf die Kaminstange – wie feucht sie sind! – ist das nicht ein Abenteuer, Onkel? Gott behüte mich, wie heiß es mir ist!«
Und Solomon Gills war es eben so heiß geworden, infolge seiner Teilnahme sowohl, als seiner großen Verwirrung. Er streichelte Florence den Kopf, drängte sie zum Essen, nötigte ihr Trinken auf, rieb die Sohlen ihrer Füße mit seinem am Feuer gewärmten Taschentuch, folgte seinem beweglichen Neffen mit Augen und Ohren, und hatte von nichts eine klare Vorstellung, ausgenommen, daß er unaufhörlich gegen diesen aufgeregten jungen Gentleman anprallte oder über ihn stolperte, wenn derselbe im Zimmer umherschoß und zwanzig Dinge auf einmal auszuführen versuchte, ohne überhaupt mit einem einzigen zustande zu kommen.
»Wartet eine Minute, Onkel«, fuhr er fort und zündete ein Licht an, »bis ich die Treppe hinaufgeeilt bin und eine andere Jacke angezogen habe; dann will ich mich sogleich auf den Weg machen. Was meint Ihr, Onkel, ist das nicht ein Abenteuer?«
»Mein lieber Junge«, sagte Solomon, der mit seiner Brille auf der Stirne und dem großen Chronometer in der Tasche unaufhörlich zwischen Florence auf dem Sofa und seinem Neffen in allen Teilen des Zimmers hin und her oszillierte, »es ist das Alleraußerordentlichste –«
»Nein, Onkel, aber eßt jetzt – und eßt auch Ihr, Miß Florence – Ihr wißt, Onkel.«
»Ja, ja«, rief Solomon, indem er unverzüglich von einer Hammelkeule ein Stück abschnitt, als müßte er einen Riesen verproviantieren. »Ich will Sorge für sie tragen, Wally! Ich verstehe das liebe Herz – natürlich ganz ausgehungert. Und du, geh jetzt und mache dich fertig. Gott behüte mich. Sir Richard Whittington, dreimal Lord-Mayor von London!«
Walter brauchte nicht lange, um nach seinem luftigen Dachstübchen hinaufzueilen und wieder herunterzukommen; aber inzwischen war Florence, von Müdigkeit überwältigt, vor dem Feuer eingeschlummert. Der kurze Zwischenraum von Ruhe, obschon er nur einige Minuten dauerte, setzte Solomon Gills in den Stand, sich so weit zu sammeln, daß er für die Bequemlichkeit seines Gasts einige kleine Vorbereitungen treffen, das Zimmer verdunkeln und den Ofenschirm zum Schutz gegen die Feuerhitze vorschieben konnte. Als der Knabe wieder zurückkehrte, lag sie in ruhigem Schlafe.
»Das ist vortrefflich!« flüsterte er, indem er Solomon in einer Weise umarmte, daß diesem ein neuer Ausdruck in sein Gesicht gepreßt wurde. »Jetzt will ich fort. Gebt mir nur noch ein Brotkrüstchen mit auf den Weg, denn ich bin sehr hungrig – und – weckt sie nicht auf, Onkel Sol.«
»Nein, nein«, entgegnete Solomon. »Das hübsche Kind.«
»Jawohl, hübsch!« erwiderte Walter. »In meinem Leben habe ich noch nie ein solches Gesicht gesehen, Onkel Sol. Jetzt geh ich.«
»Recht so«, sagte Solomon, in hohem Grade erleichtert.
»He, Onkel Sol«, rief Walter, und steckte den Kopf wieder zur Tür herein.
»Da ist er schon wieder«, sagte Solomon.
»Wie sieht sie jetzt aus?«
»Ganz glücklich«, antwortete Solomon.
»Das ist herrlich! Jetzt flugs fort.«
»Hoffentlich ist es einmal an dem«, sagte Solomon zu sich selbst.
»He, Onkel Sol«, rief Walter, wieder zur Tür hereinschauend.
»Da haben wir ihn schon wieder!« sagte Solomon.
»Wir haben Mr. Carter, den Jüngeren, auf der Straße getroffen; er sah seltsamer aus als je. Er sagte mir Adieu, kam aber hinter uns drein – das ist doch kurios! – denn als wir die Haustür erreichten, schaute ich zurück und sah, daß er ruhig wegging, wie ein Diener, der mich auf dem Wege nach Hause beaufsichtigen wollte, oder wie ein treuer Hund. Wie sieht sie jetzt aus, Onkel?«
»So ziemlich wie vorhin, Wally«, versetzte Onkel Sol.
»Das ist recht. So, jetzt gehe ich!«
Diesmal hielt er auch richtig Wort, und Solomon Gills, dem der Appetit zum Essen vergangen war, setzte sich auf die andere Seite des Ofens, und wenn man ihn so im Schatten und in der Umgebung aller seiner Instrumente sah, nahm er sich wie ein in eine welsche Perücke und in einen kaffeebraunen Anzug verkleideter Magier aus, der das Kind in einem Zauberschlaf erhielt.
Mittlerweile fuhr Walter in einem Trabe, wie ihn selten ein Droschkengaul vom Stande weg zu erreichen vermag, nach Mr. Dombeys Haus, steckte aber dabei alle zwei oder drei Minuten den Kopf zum Fenster hinaus, um dem Kutscher ungeduldige Vorhaltungen zu machen. Am Ziel seiner Fahrt angelangt, sprang er hinaus, teilte atemlos einem Diener den Zweck seiner Ankunft mit und folgte ihm geradeswegs nach dem Bibliothekzimmer, wo Mr. Dombey, seine Schwester, Miß Tox, Richards und Nipper unter gewaltigem Zungenlärm versammelt waren.
»O, ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte Walter, auf Mr. Dombey zueilend, »aber ich bin so glücklich, Euch sagen zu können, daß alles gut ist, Sir. Miß Dombey ist gefunden!«
Der Knabe mit seinem offenen Gesicht, dem wallenden Haar und den funkelnden Augen, während er vor Freude und Aufregung fast nicht zu Atem kommen konnte, bot einen wunderbaren Gegensatz zu Mr. Dombey, der in seinem Bibliothekstuhle saß.
»Ich sagte dir ja, Louisa, sie werde sich sicherlich finden«, bemerkte Mr. Dombey, indem er leicht über die Achsel nach dieser Dame hinsah, die gemeinsam mit Miß Tox weinte. »Bedeutet den Dienstboten, daß keine weiteren Schritte nötig sind. Der Knabe, der uns Nachricht bringt, ist der junge Gay aus dem Bureau. Wie ist meine Tochter gefunden worden, Sir? Ich weiß, wie sie verlorenging.« Dabei warf er einen geradezu majestätischen Blick auf Richards. »Aber wie wurde sie gefunden? Wer fand sie?«
»Je nun, ich glaube, daß ich Miß Dombey gefunden habe, Sir«, versetzte Walter bescheiden. »Freilich weiß ich nicht, ob ich Anspruch auf das Verdienst erheben kann, sie wirklich gefunden zu haben, Sir, aber ich war das glückliche Werkzeug –«
»Was meint Ihr damit, Sir«, unterbrach ihn Mr. Dombey, die Freude und den augenscheinlichen Stolz des Knaben auf seinen Anteil an dem Vorfall mit instinktartigem Widerwillen betrachtend, »wenn Ihr sagt, Ihr habet meine Tochter nicht gerade gefunden, sondern seiet nur ein glückliches Werkzeug gewesen? Faßt Euch einfach und zusammenhängend, wenn ich bitten darf.«
Aber es war zuviel gefordert, wenn man von Walter verlangte, er solle zusammenhängend reden; er gab jedoch in seinem atemlosen Zustande die Aufklärung, so gut er konnte, und fügte hinzu, warum er allein gekommen sei.
»Ihr habt es gehört, Mädchen«, sagte Mr. Dombey mit einem finsteren Blick auf die Schwarzäugige. »Nehmt das Nötige und begleitet augenblicklich diesen jungen Menschen, um Miß Florence nach Haus zu holen. Gay, Ihr werdet morgen belohnt werden.«
»O, ich danke, Sir«, versetzte Walter. »Ihr seid sehr gütig. Aber ich habe nicht entfernt an eine Belohnung gedacht, Sir.«
»Ihr seid ein Knabe«, sagte Mr. Dombey gereizt und fast in grimmigem Tone, »und was Ihr denkt oder zu denken meint, hat wenig zu bedeuten. Ihr habt Euch ordentlich benommen, Sir – macht es nicht wieder zunichte. Louisa, sei so gut, gib dem Knaben etwas Wein.«
Als Walter Gay unter dem Geleite von Mrs. Chick das Zimmer verließ, folgte ihm Dombeys Blick mit großer Ungunst, und vielleicht sah ihm dessen geistiges Auge mit noch größerem Mißbehagen nach, als der Knabe mit Miß Susanna Nipper nach der Wohnung seines Onkels zurückfuhr.
Dort fanden sie Florence sehr erfrischt von ihrem Schlafe. Sie hatte mittlerweile gespeist und in der Bekanntschaft mit Solomon Gills, gegen den sie sich ganz vertraulich benahm, große Fortschritte gemacht. Die Schwarzäugige, die inzwischen so viel geweint hatte, daß man sie jetzt wohl die Rotäugige hätte nennen können, benahm sich sehr kleinlaut und niedergeschlagen. Sie umschlang die Wiedergefundene ohne ein Wort des Tadels oder Vorwurfs mit ihren Armen, so daß sich der Anblick recht rührend ausnahm; dann wurde die Wohnstube für den Augenblick in ein Privat-Ankleidezimmer umgewandelt. Miß Nipper putzte ihren Pflegling unter großer Sorgfalt mit passenden Bekleidungsstücken heraus und führte sie bald so ganz als eine Dombey vor, wie das bei ihren natürlichen schlechten Qualifikationen dafür nur möglich war.
»Gute Nacht!« sagte Florence, auf Solomon zueilend. »Ihr seid sehr gütig gegen mich gewesen.«
Der alte Sol war hierüber ganz entzückt und küßte sie, als wäre er ihr Großvater.
»Gute Nacht, Walter! Gott befohlen!« sagte Florence.
»Gott befohlen!« entgegnete Walter, indem er ihr beide Hände hinhielt.
»Ich werde Euch nie vergessen«, fuhr Florence fort. »Nein, gewiß nicht. Gott befohlen, Walter!«
In der Unschuld ihres dankbaren Herzens hob die Kleine ihr Gesichtchen zu seinem empor. Walter beugte sich zu ihr nieder, erhob aber sein Antlitz glühend rot und brennend wieder, mit einem einfältigen Gesicht nach Onkel Sol hinsehend.
»Wo ist Walter!« »Gute Nacht, Walter!« »Gott befohlen, Walter!« »Noch einmal Eure Hand, Walter!« So hörte man Florence noch rufen, als sie bereits mit ihrer kleinen Wärterin in der Kutsche saß. Und als die Kutsche endlich abfuhr, erwiderte Walter noch auf der Türschwelle das Schwenken ihres Taschentuches, während der hölzerne Midshipman hinter ihm gleichfalls nur auf diese eine Kutsche versessen zu sein und kein Auge für alle vorüberfahrenden Equipagen zu haben schien.
Nach kurzer Zeit war Mr. Dombeys Wohnung erreicht, und aus der Bibliothek erscholl abermals der Zungenlärm. Auch die Kutsche erhielt wiederholt die Weisung, zu warten – »für Mrs. Richards«, flüsterte eine von Susannas Mitdienerinnen bedeutungsvoll, als diese mit Florence an ihr vorbeikam.
Der Eintritt des verlorenen Kindes machte einiges Aufsehen, aber nicht viel. Mr. Dombey, der sie nie gefunden haben würde, küßte sie ein einziges Mal auf die Stirn und warnte sie, nicht wieder wegzulaufen oder mit treulosen Dienstboten umherzuziehen, Mrs. Chick hielt ein mit ihren Lamentationen über die Verderbnis der Menschennatur, selbst wenn sie durch einen barmherzigen Schleifer auf den Pfad der Tugend zurückgerufen würde, und bewillkommte Florence in einer Weise, beinahe so, als wäre sie eine vollkommene Dombey. Miß Tox regulierte ihre Gefühle nach den Vorbildern, die sie vor sich hatte, und empfing sie mit einem Willkomm, der jedenfalls nicht so war, wie ihn eine vollkommene Dombey verdient haben würde. Nur Richards, die schuldige Richards, ergoß ihr Herz in gebrochenen Worten herzlicher Begrüßung und beugte sich über die Kleine nieder, als ob sie dieselbe wirklich lieb habe.
»Ach, Richards«, sagte Mrs. Chick mit einem Seufzer, »es wäre für Euch weit ziemender und für diejenigen, die von ihrem Nebenmenschen eine gute Meinung haben möchten, viel befriedigender gewesen, wenn Ihr zu rechter Zeit ein passendes Gefühl gezeigt hättet für das kleine Kind, das jetzt nur allzu früh seiner natürlichen Nahrung beraubt werden soll.«
»Abgeschnitten«, fügte Miß Tox in bedauerndem Flüstern bei, »von einer gemeinsamen Quelle.«
»Wenn ich mich eines solchen Falls von Undank schuldig gemacht hätte«, fuhr Mrs. Chick feierlich fort, »und ich an Eurer Stelle wäre, Richards, so wäre es mir immer, als ob die Tracht der barmherzigen Schleifer mein Kind verzehren und die Erziehung es ersticken müßte.«
Was das betraf – aber freilich wußte Mrs. Chick nichts davon – war der Knabe um des Anzugs willen jedenfalls schon sehr zerzaust worden, und vielleicht übte mit der Zeit auch die Erziehung die eben erwähnte vergeltende Wirkung, da sie aus nichts anderem als aus einem Sturm von Schlägen und Schmerzrufen bestand.
»Louisa!« sagte Mr. Dombey. »Es ist nicht nötig, dies Thema weiter zu verfolgen. Das Weib ist entlassen und bezahlt. Ihr verlaßt dieses Haus, Richards, weil Ihr meinen Sohn – meinen Sohn«, fügte Mr. Dombey mit erhöhtem Nachdruck der beiden letzten Worte hinzu – »in Spelunken und in eine Gesellschaft gebracht habt, an die man nicht ohne Schauder denken kann. Was den Unfall anbelangt, der heute morgen Miß Florence zustieß, so betrachte ich denselben in einem gewissen sehr bedeutungsvollen Sinn als einen glücklichen Umstand, insofern ich ohne denselben nie, und noch obendrein nicht von Euren eigenen Lippen erfahren haben würde, wessen Ihr Euch schuldig gemacht habt. Ich denke, Louisa, daß die andere Wärterin, die eine junge Person ist« – hier fing Miß Nipper an, laut zu schluchzen – »und sich deshalb natürlich von Pauls Amme verleiten ließ, im Hause bleiben kann. Sei so gut, dem Kutscher die Weisung zu erteilen, daß der Wagen für dieses Weib bezahlt ist nach –« Herr Dombey stockte und konnte das Wort fast nicht über die Lippen bringen – »nach den Staggs Gärten.«
Polly wandte sich nach der Tür; aber Florence hielt sich weinend an ihren Kleidern fest und bat sie auf das flehendlichste, nicht fortzugehen. Es war ein Dolchstoß für das Herz des hochmütigen Vaters und ein Pfeil in sein Gehirn, daß er sehen mußte, wie das Fleisch und Blut, das er sein eigen nennen mußte, in seiner Gegenwart sich an diese niedrige Fremde anklammerte. Nicht, weil er sich darum kümmerte, wen seine Tochter liebte oder mied. Das Schmerzgefühl, das ihn durchzuckte, haftete an dem Gedanken, was möglicherweise sein Sohn tun könnte.
Jedenfalls weinte sein Sohn die ganze Nacht hindurch mit Macht. In Wahrheit gesprochen, der arme Paul hatte einen weit besseren Grund für seine Tränen, als das bei Söhnen von ähnlichem Alter oft der Fall ist, denn ihm war seine zweite Mutter genommen worden – die erste, die er kannte – und zwar durch einen ebenso plötzlichen Streich, als es derjenige gewesen war, der das Band der natürlichen Liebe bei Beginn seines Lebens löste. Und in demselben Augenblicke hatte auch seine Schwester, die gleichfalls nur unter schmerzlichen Tränen ihren Schlummer fand, eine gute treue Freundin verloren. Doch das ist von gar geringem Belang; verlieren wir deshalb keine Worte mehr darüber.