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Viertes Kapitel Scotland-Yard.

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Scotland-Yard ist ein kleiner – ein sehr kleiner Strich Landes, auf der einen Seite durch die Themse, auf der andern durch die Gärten von Northumberland House begrenzt, und am einen Ende an den Anfang der Northumberland Street, am andern an die Rückseite von Whitehall-Place stoßend. Als dieses Gebiet zuerst von einem Landedelmann, der sich auf dem Strand verirrt hatte, vor mehreren Jahren zufälligerweise entdeckt worden war, ergab sich, daß die ersten Ansiedler ein Schneider, ein Zolleinnehmer, zwei Speisewirthe und ein Obstpastetenbäcker waren; auch ergab sich, daß der Platz von einem kräftigen Schlage Männer besucht wurde, welche regelmäßig jeden Morgen zwischen fünf und sechs Uhr auf den Löschplätzen von Scotland-Yard erschienen, um schwere Wagen mit Kohlen zu beladen, welche sie in die Umgegend verführten, um die Einwohner mit dem nöthigen Brennstoffe zu versehen. Wenn sie ihre Wagen abgeladen hatten, fuhren sie wieder zurück, um neuen Succurs zu holen, und dieser Handel dauerte das ganze Jahr hindurch fort.

Da die Ansiedler diesen ersten Handelsleuten ihre Bedürfnisse lieferten, um ihren Unterhalt dadurch zu gewinnen, so sah man es den zum Verkauf ausgestellten Gegenständen und den Verkaufsplätzen von Außen deutlich an, daß sie ausdrücklich dem Geschmack und dem Wunsche derselben angemessen waren. Der Schneider legte an seinem Fenster ein liliputisches Paar Ledergamaschen und eine runde Miniaturjacke aus, während jeder Thürpfosten mit einem angemessenen Modell eines Kohlensacks verziert war. Die beiden Speisewirthe stellten ZiemerA4 von einer Größe und Puddinge von einer Solidität aus, welche nur Kohlenträger zu schätzen vermögen, und der Obstpastetenbäcker entfaltete auf seinem wohlgescheuerten Fenstergesimse weißes Backwerk aus feinem Mehl und Bratenfett, mit fleischfarbenen Karten dekorirt, welche das Obst, das darin war, auf eine Weise anpriesen, daß den Vorübergehenden der Mund wässerte und die Füße beinahe den Dienst aufkündeten.

Aber der besuchteste Platz in ganz Scotland-Yard war das alte Wirthshaus im Winkel. Hier saßen in einem dunklen getäfelten Zimmer von altväterischem Aussehen, das durch die Flamme eines gewaltigen Feuers erheitert wurde und mit einer ungeheuren Uhr geziert war, welche ein weißes Zifferblatt mit schwarzen Figuren hatte, die kräftigen Kohlenträger, lange Züge des besten Barkleytabaks in sich trinkend und Rauchmassen hervorstoßend, welche sich über ihren Köpfen kräuselten und das Zimmer in eine dichte, finstere Wolke einhüllten. Von diesem Gemach aus drang der Laut ihrer Stimmen in einer Winternacht bis an das Ufer des Stroms, wenn sie einen vollen Chor anstimmten oder den Schlußreim eines Volksliedes brüllten, auf den letzten wenigen Worten mit einem starken, lang gehaltenen Nachdruck verweilend, welcher die Decke über ihnen erbeben machte.

Hier erzählten sie sich auch alte Legenden von dem, was die Themse in früheren Zeiten gewesen, als die Patentschrotfabrik noch nicht erbaut war und noch Niemand an die Waterloobrücke dachte; und dann schüttelten sie zur großen Erbauung des nachwachsenden Kohlenträgergeschlechts, das um sie versammelt war, mit bedeutsamen Blicken die Köpfe und waren begierig, was das Alles noch für ein Ende nehmen würde; worauf der Schneider seine Pfeife feierlich aus dem Mund nahm und sagte: er hoffe, es möchte ein gutes Ende nehmen, obgleich es sehr zweifelhaft wäre, ob dieß der Fall sein würde oder nicht; und er könne nicht mit Bestimmtheit angeben, was er davon denken solle – eine geheimnißvolle Meinungsäußerung, und dazu mit einer halb prophetischen Miene vorgebracht, welche nicht ermangelte, der versammelten Gesellschaft ihre vollste Beistimmung zu entlocken. Und so tranken sie denn und waren begierig, bis die zehnte Stunde herbeikam und mit ihr des Schneiders Ehefrau, um ihren Gemahl heim zu holen, worauf denn die kleine Gesellschaft aufbrach, um am folgenden Abend zur nämlichen Stunde in der nämlichen Stube wieder zusammen zu kommen und wieder ganz das Nämliche zu sprechen und zu thun.

Um diese Zeit begannen die Barken, welche den Fluß heraufkamen, unbestimmte Gerüchte nach Scotland-Yard zu bringen, es habe Jemand in der Stadt davon reden hören, daß der Lordmayor einige Worte habe fallen lassen, als wolle er die alte Londoner Brücke abbrechen und eine neue aufrichten. Anfangs achtete man wenig auf diese Gerüchte; man hielt sie für müßige Mährchen, die aller Begründung ermangelten, denn in Scotland-Yard zweifelte Niemand daran, der Lordmayor würde, wenn er solche schwarze Pläne hegte, unfehlbar acht bis vierzehn Tage lang in den Tower gesetzt und dann wegen Hochverrats hingerichtet werden.

Nach und nach jedoch wurden die Berichte bestimmter und häufiger, und endlich brachte eine Barke, die mit unzähligen ChaldronsF1 der besten WallsendkohlenA5 beladen war, die positive Nachricht, daß mehrere Bogen der alten Brücke bereits gesperrt wären und die Vorbereitungen zu einer neuen ihren Fortgang nähmen. Welch' eine Aufregung zeigte sich an diesem denkwürdigen Abend in der alten Schenkstube! Jeder sah seinem Nachbar in das schreckensbleiche Gesicht und las darin den Abdruck der Gefühle, die seine eigene Brust schwellten. Der älteste anwesende Kohlenträger suchte darzuthun, daß im Augenblicke, wo man die Pfeiler abtrüge, alles Wasser der Themse rein verschwinden würde, um das Bette trocken liegen zu lassen. Was sollte aus den Kohlenbarken, aus dem Handel von Scotland-Yard, aus der ganzen Existenz seiner Bevölkerung werden? Der Schneider schüttelte den Kopf mit einer weiseren Miene, als gewöhnlich, und sagte, finster auf ein vor ihm liegendes Messer deutend, sie mögen nur der Dinge warten, die da kommen sollen; er sage nichts – gar nichts; aber wenn der Lordmayor als ein Opfer der Volkswuth fallen sollte, so würde es ihn nicht sehr Wunder nehmen, und damit Punktum.

Sie warteten; Barke um Barke kam an und immer noch keine Nachricht von der Ermordung des Lordmayors. Der Grundstein war gelegt; es war durch einen Herzog – des Königs Bruder geschehen. Jahre gingen vorüber, und die Brücke ward von dem Könige selbst eingeweiht. Im Laufe der Zeit wurden die Pfeiler abgetragen; und als die Bewohner von Scotland-Yard am folgenden Morgen in der zuversichtlichen Erwartung hinauf gingen, trockenen Fußes nach Pedlar's Acre hinüber zu kommen, fanden sie zu ihrem unbeschreiblichen Erstaunen, daß das Wasser immer noch an derselben Stelle war, an der es von jeher gewesen.

Ein Resultat, das von demjenigen, welches sie von dieser ersten Verbesserung unfehlbar erwartet hatten, so unendlich weit abwich, übte seine volle Wirkung auf die Einwohner von Scotland-Yard. Einer von den Speisewirthen begann der öffentlichen Meinung zu huldigen und sich in der neuen Klasse der Bevölkerung nach Kunden umzusehen. Er legte weiße Tischtücher auf seine kleinen Speisetafeln und gewann einen Malerlehrling, der ihm etwas »von warmen Fleischspeisen zwischen zwölf und zwei Uhr« auf eine der kleinen Scheiben seines Ladenfensters malen mußte. Die Verbesserung schritt rasch bis an die Schwelle von Scotland-Yard vor. Ein neuer Markt erhob sich zu Hungerford und die Polizeicommissäre errichteten ihr Bureau auf dem Whitehall-Place. Der Handel in Scotland-Yard nahm zu; die Zahl der Abgeordneten in das Haus der Gemeinen wurde vermehrt, die Repräsentanten der Hauptstadt fanden, daß der Weg über Scotland-Yard näher sei, und eine Menge Fußgänger folgten ihrem Beispiele.

Wir bemerkten die Fortschritte der Civilisation und betrachteten sie mit einem Seufzer. Der Speisewirth, welcher der Neuerung mit den Tischtüchern einen so mannhaften Widerstand entgegengesetzt hatte, verlor jeden Tag mehr Boden, während sein Gegner ihn eroberte, und eine tödtliche Fehde entbrannte zwischen Beiden. Der Vornehmere nahm seinen Abendtrunk nicht mehr in Scotland-Yard, sondern wässerte seinen Wachholder in einem »Gastzimmer« der Parlamentsstraße. Der Obstpastetenbäcker besuchte immer noch die alte Stube, aber er rauchte jetzt Cigarren, nannte sich Tortenkoch und las die Zeitung. Die alten Kohlenträger versammelten sich noch um die alte Feuerstätte, aber ihr Gespräch war düster, und der laute Gesang und das fröhliche Geschrei ließ sich nicht mehr hören.

Und was ist Scotland-Yard jetzt? Wie haben sich seine alten Gewohnheiten verändert; und wie ist die alte Einfalt seiner Bewohner hinweggestorben! Das alte, baufällig gewordene Wirthshaus ist in ein geräumiges und hohes »Weingewölbe« verwandelt; bei den Buchstaben, welche die Außenseite verzieren, ist goldenes Laub verwendet und die Dichtkunst in Requisition gesetzt worden, um die Gäste darauf aufmerksam zu machen, daß sie sich nach dem Genusse einer gewissen Art von Ale fest am Geländer halten müßten. Der Schneider hat an seinem Fenster ein Exemplar von einem ausländisch aussehenden, braunen Ueberrock mit seidenen Knöpfen, einem Pelzkragen und ditto Aufschlägen ausgehängt. Er trägt Streifen auf beiden Seiten seiner Beinkleider, und wir sahen seine Gehülfen (denn er hat jetzt Gehülfen) in derselben Uniform auf dem Schneiderstisch sitzen.

Am andern Ende der kleinen Häuserreihe hat sich ein Stiefelmacher in einem backsteinernen Häuschen, das seit neuerer Zeit mit einem ersten Stocke versehen ist, etablirt, und hier stellt er Stiefel – leibhafte Wellingtonstiefel – einen Artikel, von dem noch vor wenigen Jahren Keiner von den Ureinwohnern je etwas gesehen noch gehört hatte, zum Verkauf aus. In den jüngsten Tagen hat auch ein Damenkleidermacher eine kleine Bude mitten in der Häuserreihe aufgeschlagen, und als wir schon der Meinung waren, der Geist der Neuerung könne keine höhere Veränderung mehr hervorbringen, erschien gar noch ein Juwelier, der, nicht zufrieden, eine Unzahl vergoldeter Ringe und messingener Armspangen auszustellen, eine Karte aufsteckte, die noch an seinem Fenster zu sehen ist, des Inhalts: »hier werden den Damen die Ohrenringlöcher gestochen.« Der Damenkleidermacher hat eine junge Dame in seinen Diensten, welche eine Schürze mit Taschen trägt; und der Schneider benachrichtigt das Publikum, daß sich die Herren hier Kleider machen lassen können, wenn sie das Tuch dazu geben.

Mitten unter diesen wechselvollen, rastlosen Neuerungen steht nur noch ein alter Mann, der den Verfall des alten Platzes zu betrauern scheint. Er unterhält sich mit keiner Seele, sondern beobachtet auf einer hölzernen Bank in der Ecke der Mauer, welche mit dem Querweg von Whitehall-Place parallel läuft, stillschweigend die Sprünge seiner glatten, wohlgefütterten Hunde. Es ist der Genius loci von Scotland-Yard. Jahre und Jahre sind über seinem Haupte dahingerollt; aber bei gutem oder schlechtem, warmem oder kaltem, nassem oder trockenem Wetter, bei Hagel, Regen oder Schnee sitzt er immer an seinem gewohnten Platze. Elend und Mangel liegen auf seinem Gesichte; seine Gestalt ist vom Alter gebeugt, sein Haar von langer Trübsal grau, aber dort sitzt er Tag für Tag, brütend über der Vergangenheit; und hin wird er seine wankenden Glieder schleppen, bis sich seine Augen über Scotland-Yard und über der ganzen Welt geschlossen haben werden.

Noch einige Jahre, und der Alterthumsforscher einer anderen Generation mag bei Durchlesung einer modernden Chronik der Streitigkeiten und Leidenschaften, welche die Welt in diesen Zeiten bewegt haben, auch einen Seitenblick auf die Blätter werfen, die wir so eben ausgefüllt: denn bei all' seiner Kenntniß der Geschichte der Vergangenheit helfen ihm seine Stubengelehrtheit oder Belesenheit, alle trockene Studien eines langen Lebens oder die staubbedeckten Bände, die ihn ein Vermögen gekostet haben, nicht zu demjenigen Wissen, das man hier von Scotland-Yard oder irgend einem von den Gränzpunkten, die wir bei der Schilderung desselben angeführt haben, zu erwerben Gelegenheit hat.

1 Ein Kohlenmaaß von 36 Scheffeln.

1 Ziemer: Rückenbraten

2 Wallsendkohlen: Wallsend: eine Stadt in Nordengland

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