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Kapitel 1

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Doktor Marigold


Erstes Kapitel

Muß gleich genommen werden

Ich bin ein fahrender Händler, und der Name meines Vaters war

Willum Marigold.

Zu seinen Lebzeiten vermuteten einige Leute, sein Name sei

William, aber mein Vater behauptete stets hartnäckig, nein, er

hieße Willum. Was mich angeht, so begnüge ich mich damit, die

Sache von folgendem Standpunkt aus zu betrachten: Wenn es

einem Mann in einem freien Lande nicht gestattet sein soll, seinen

eigenen Namen zu kennen, was kann ihm da wohl noch in einem

Land, wo Sklaverei herrscht, erlaubt sein? Wenn man die Sache

vom Standpunkt des Registers aus betrachtet, so kam Willum

Marigold auf die Welt, bevor noch Register sehr im Schwange

waren –

und ebenso verließ er sie auch wieder. Außerdem würden sie

ihm sehr wenig zugesagt haben, wenn sie zufälligerweise schon

vor ihm aufgekommen wären.

Ich wurde an der Staatsstraße geboren, und mein Vater holte

einen Doktor zu meiner Mutter, als das Ereignis auf einer

Gemeindewiese eintrat. Dieser Doktor war ein sehr freundlicher

Gentleman und wollte als Honorar nichts annehmen als ein

Gentleman und wollte als Honorar nichts annehmen als ein

Teetablett, und so wurde ich aus Dankbarkeit und als besondere

Aufmerksamkeit ihm gegenüber Doktor genannt. Da habt ihr

mich also, Doktor Marigold.

Ich bin gegenwärtig ein Mann in mittleren Jahren, von

untersetzter Gestalt, in Manchesterhosen, Ledergamaschen und

einer Weste mit Ärmeln, an der hinten stets der Riegel fehlt. Man

kann ihn so oft ausbessern, wie man will, er platzt immer wieder,

wie die Saiten einer Violine. Ihr seid sicher schon im Theater

gewesen und habt gesehen, wie einer der Violinspieler, nachdem

er an seiner Violine gehorcht hatte, als flüstere sie ihm das

Geheimnis zu, sie fürchte, nicht in Ordnung zu sein, an ihr

herumdrehte, und auf einmal hörtet ihr, wie die Saite platzte.

Genauso geht es auch mit meiner Weste, soweit eine Weste und

eine Violine einander gleich sein können.

Ich bevorzuge einen weißen Hut und liebe es, um den Hals ein

lose und bequem geschlungenes Tuch zu tragen. Sitzen ist meine

Lieblingsstellung, und was meinen Geschmack in bezug auf das

Tragen von Schmuck angeht, so habe ich etwas für

Perlmuttknöpfe übrig. Da habt ihr mich wieder, in Lebensgröße.

Da der Doktor ein Teetablett annahm, so werdet ihr vermuten,

daß bereits mein Vater vor mir ein fahrender Händler war. Darin

habt ihr ganz recht; er war auch einer.

Es war ein hübsches Tablett. Man sah darauf eine gewichtige

Dame, die auf einem gewundenen Kiesweg zu einer kleinen

Dame, die auf einem gewundenen Kiesweg zu einer kleinen

Kirche auf einer Anhöhe hinaufging. Auch zwei Schwäne waren

in derselben Absicht herbeigeflattert. Wenn ich sie eine

gewichtige Dame nenne, so meine ich damit nicht, daß sie

besonders breit gewesen wäre; denn in dieser Beziehung war

meiner Ansicht nach nicht viel mit ihr los, aber sie war dafür um

so höher: ihre Höhe und Schlankheit war, mit einem Wort

gesagt, die Höhe von Höhe und Schlankheit.

Ich habe dieses Tablett oft gesehen, seitdem ich die unschuldig

lächelnde (oder, was wahrscheinlicher ist, quäkende) Ursache

dafür war, daß der Doktor es in seinem 5

Sprechzimmer auf einem Tisch gegen die Wand gelehnt

aufstellte. Stets, wenn mein Vater und meine Mutter in diesem

Teil des Landes waren, steckte ich meinen Kopf (ich hatte

damals flachsblonde Locken, wie ich meine Mutter habe

erzählen hören, obwohl ihr ihn jetzt nicht eher von einem alten

Besen unterscheiden könntet, als bis ihr an den Stiel kämet und

entdecktet, daß dieser nicht ich bin) zu des Doktors Tür hinein,

und der Doktor freute sich stets über meinen Besuch und sagte:

»Aha, mein Herr Kollege! Komm herein, kleiner Dr. med. Hast

du Lust, ein Sechspencestück einzustecken?«

Man kann nicht ewig weitermachen, wie ihr wißt, und das konnte

auch mein Vater nicht, ebensowenig wie meine Mutter. Falls ihr

aber nicht, wenn eure Zeit gekommen ist, auf einmal abrückt,

aber nicht, wenn eure Zeit gekommen ist, auf einmal abrückt,

dann werdet ihr es stückweise tun, und es ist zwei gegen eins zu

wetten, daß euer Kopf das erste Stück ist. Nach und nach verlor

mein Vater den seinen, und meine Mutter verlor den ihren. Es

war ganz harmlos, aber es versetzte die Familie, wo ich sie

untergebracht hatte, in Unruhe. Das alte Paar begann, obwohl es

sich zur Ruhe gesetzt hatte, sich gänzlich und ausschließlich dem

fahrenden Handelsgeschäft zu widmen und war ständig damit

beschäftigt, den Besitz der Familie auszuverkaufen. Wenn das

Tischtuch zum Essen aufgelegt wurde, begann mein Vater mit

den Tellern und Schüsseln zu rasseln, wie wir es bei unserem

Geschäft tun, wenn wir Geschirr zum Ausschreien aufsetzen;

bloß hatte er das Geschick dafür verloren und ließ sie meist

fallen, so daß sie zerbrachen. So wie die alte Dame gewohnt

gewesen war, im Karren zu sitzen und dem alten Herrn auf dem

Trittbrett die Gegenstände einen nach dem anderen zum Verkauf

hinauszureichen, in genau der gleichen Weise händigte sie ihm

jeden Posten aus dem Besitz der Familie aus, und sie verkauften

die Ware in ihrer Phantasie von morgens bis abends.

Schließlich ruft der alte Herr, als er und die alte Dame im selben

Zimmer krank im Bett liegen, in der alten marktschreierischen

Weise aus, nachdem er zwei Tage und zwei Nächte lang kein

Wort gesprochen hatte:

»Nun, guckt einmal her, meine wackeren Burschen – als der

Nachtigall-Klub im Dorfe legt' Ios, im Wirtshaus zum Kohlkopf

und Hasen; sie hätten gar prächtig gesungen bloß, daß sie Stimm'

und Hasen; sie hätten gar prächtig gesungen bloß, daß sie Stimm'

und Gehör nicht besaßen – nun, guckt einmal her, meine

prächtigen Burschen alle, hier ist ein Arbeitsmodell eines

verbrauchten alten Händlers, ohne einen Zahn im Mund und mit

einem Leiden in jedem Knochen: so lebensähnlich, daß es

ebenso gut wäre, wenn es nicht besser wäre, ebenso schlimm,

wenn es nicht schlimmer wäre, und ebenso neu, wenn es nicht

abgenutzt wäre. Bietet für das Arbeitsmodell des alten Händlers,

der zu seiner Zeit mehr Tee mit den Damen getrunken hat, als

nötig wäre, um den Deckel von einem Waschkessel abzuheben

und ihn um so viel tausend Meilen höher als der Mond in die Luft

zu führen als nichts mal nichts, geteilt durch die Nationalschuld,

übertrage nichts auf die Armensteuer, drei ab und zwei dazu.

Nun, meine Eichenherzen und Strohmänner, was bietet ihr für die

Partie? Zwei Schilling, einen Schilling, zehn Pence, acht Pence,

sechs Pence, vier Pence. Zwei Pence? Wer hat zwei Pence

gesagt? Der Gentleman in dem Vogelscheuchenhut? Ich schäme

mich für den Gentleman in dem Vogelscheuchenhut. Ich schäme

mich wirklich für ihn wegen seines Mangels an Patriotismus. Nun

will ich euch mal sagen, was ich mit euch machen werde. Guckt

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her! Ich gebe euch noch ein Arbeitsmodell von einer alten Frau

dazu, die den alten Händler heiratete vor so langer Zeit, daß es

auf ein Ehrenwort in Noahs Arche stattfand, bevor das Einhorn

hereinkommen konnte, das Aufgebot zu verhindern, indem es ein

Lied auf seinem Horn blies. Nun denkt einmal an! Guckt her!

Was bietet ihr für beide zusammen? Ich will euch sagen, was ich

Was bietet ihr für beide zusammen? Ich will euch sagen, was ich

mit euch machen werde.

Ich bin gar nicht böse auf euch, weil ihr's euch so lange überlegt.

Guckt her! Wenn ihr mir bloß ein Angebot macht, das eurer

Stadt ein wenig Ehre einbringt, gebe ich euch noch eine

Wärmflasche umsonst dazu und borge euch eine Röstgabel fürs

ganze Leben. Nun, was sagt ihr zu dieser glänzenden Offerte?

Sagt zwei Pfund, sagt dreißig Schilling, sagt ein Pfund, sagt zehn

Schilling, sagt fünf, sagt zweieinhalb. Ihr sagt nicht einmal

zweieinhalb? Ihr sagt zweieinviertel? Nein. Für zweieinviertel

kriegt ihr die Partie nicht. Eher würde ich sie euch schenken,

wenn ihr bloß hübsch genug wärt.

Heda! Frau! Schmeiß den alten Mann und die alte Frau in den

Karren, spann den Gaul vor und fahre sie fort und begrabe sie!«

Das waren Willum Marigolds, meines Vaters, letzte Worte, und

sie wurden von ihm und von seinem Weib, meiner Mutter, an ein

und demselben Tag wahrgemacht, was ich am besten wissen

muß, da ich als Leidtragender hinter ihnen hergegangen bin.

Mein Vater ist zu seiner Zeit ein reizender Kerl im

Geschäftszweig des fahrenden Handels gewesen, wie seine

Worte vor dem Tod bewiesen haben. Aber ich bin noch

tüchtiger als er. Das sage ich nicht, weil ich von mir selbst rede,

sondern weil es von allen, die die Möglichkeit hatten, Vergleiche

zu ziehen, allgemein anerkannt worden ist. Ich habe meine Sache

studiert. Ich habe mich mit anderen öffentlichen Sprechern

studiert. Ich habe mich mit anderen öffentlichen Sprechern

verglichen – Parlamentsmitgliedern, Volksrednern,

Kanzelpredigern, Advokaten –, und wo ich sie gut fand, habe ich

ein Stückchen Phantasie von ihnen geborgt, und wo ich sie

schlecht fand, habe ich sie in Ruhe gelassen. Nun will ich euch

aber was sagen. Ich bin entschlossen, in mein Grab zu steigen mit

der Erklärung, daß von allen Berufen, denen in Großbritannien

unrecht geschieht, die Hausierer am schlimmsten dran sind.

Warum bilden wir nicht einen Stand? Warum besitzen wir keine

Privilegien? Warum zwingt man uns, einen Hausierschein zu

lösen, während von den politischen Hausierern nichts dergleichen

verlangt wird? Wo ist denn der Unterschied zwischen ihnen und

uns? Abgesehen davon, daß wir billig sind, während sie dem

Land sehr teuer zu stehen kommen, sehe ich keinen Unterschied,

der nicht zu unseren Gunsten ausfiele.

Denn seht einmal her! Nehmen wir an, es ist Wahlzeit. Ich stehe

am Samstagabend auf dem Trittbrett meines Karrens. Ich hole

eine Partie gemischter Artikel hervor. Ich sage:

»Guckt her, meine freien und unabhängigen Wähler, ich will euch

so eine Gelegenheit geben, wie ihr sie alle euer Lebtag noch nicht

gehabt habt, und auch in den Tagen davor nicht. Jetzt will ich

euch mal zeigen, was ich mit euch machen werde. Hier ist ein

Rasiermesser, das euch noch ratzekahler rasieren wird als die

Armenbehörde; hier ist ein Bügeleisen, das sein Gewicht in Gold

wert ist; hier ist eine Bratpfanne, die kunstvoll mit dem Geruch

von Beefsteak-Essenz imprägniert ist, so daß ihr für den Rest

von Beefsteak-Essenz imprägniert ist, so daß ihr für den Rest

eures Lebens bloß Brot und Schmalz darin zu braten braucht,

und ihr werdet bis an den Hals mit Fleisch angefüllt sein; hier ist

eine echte 7

Chronometer-Taschenuhr in einem so starken Silbergehäuse,

daß ihr damit an die Tür klopfen könnt, wenn ihr aus einer

Gesellschaft spät nach Hause kommt, und euer Weib und eure

Kinder aufwecken, sodaß der Klopfer für den Briefträger

reserviert bleibt; und hier habt ihr ein halbes Dutzend Teller, die

ihr als Zimbeln verwenden könnt, um das Baby zu beruhigen,

wenn es schreit. Halt! Ich tue noch einen anderen Artikel dazu

und schenke ihn euch, und das ist ein Teigholz; und wenn das

Baby dieses bloß gut in den Mund hineinbekommen kann, wenn

es Zähne kriegt, und sich das Zahnfleisch einmal damit reibt,

dann werden die Zähne doppelt durchkommen und das Baby

wird dabei lachen, als würde es gekitzelt. Haltet noch einmal! Ich

tue noch einen Artikel dazu, weil mir eure Gesichter nicht

gefallen, denn ihr seht mir nicht wie Käufer aus. Ich weiß, ich

verliere an euch, und weil ich lieber verlieren will, als heute abend

kein Geld einzunehmen, ist da noch ein Spiegel, in dem ihr sehen

könnt, wie häßlich ihr ausseht, wenn ihr nicht bietet. Na, was

sagt ihr jetzt?

Also los! Sagt ihr ein Pfund? Ihr nicht, denn ihr habt keins. Sagt

ihr zehn Schilling?

Ihr nicht, denn ihr seid mehr im Abzahlungsgeschäft schuldig.

Ihr nicht, denn ihr seid mehr im Abzahlungsgeschäft schuldig.

Nun, dann will ich euch mal sagen, was ich mit euch machen

werde. Ich lege alles auf einen Haufen auf das Trittbrett des

Karrens – hier habt ihr es! Rasiermesser, Bügeleisen,

Bratpfanne, Chronometer-Taschenuhr, Teller, Teigholz und

Spiegel – nehmt es mit für vier Schilling und ich gebe euch ein

Sechspencestück für eure Plackerei!«

So rede ich, der billige Hausierer. Aber am Montagmorgen steigt

auf diesem selben Marktplatz der teure Hausierer auf die

Rednerbühne – seinen Karren –, und was sagt er?

»Nun, meine freien und unabhängigen Wähler, ich will euch so

eine Gelegenheit geben« (er fängt genauso an wie ich), »wie ihr

alle euer Lebtag noch nicht gehabt habt, und das ist die

Gelegenheit, mich ins Parlament zu schicken. Nun will ich euch

sagen, was ich für euch tun werde. Hier habt ihr die Interessen

dieser prächtigen Stadt, die ich über die ganze zivilisierte und

unzivilisierte Erde erheben werde. Hier ist der Bau eurer

Eisenbahn durchgesetzt und die Eisenbahn eurer Nachbarstadt

abgelehnt. Hier sind alle eure Söhne bei der Post angestellt. Hier

ist Britannia, die euch zulächelt. Hier sind die Augen Europas, die

auf euch ruhen. Hier ist allgemeine wirtschaftliche Blüte für euch,

Fleisch in Hülle und Fülle, goldene Kornfelder, fröhliche

Heimstätten und zufriedene Herzen, alles in einem, und das bin

ich selbst.

Wollt ihr mich nehmen, wie ich hier stehe? Ihr wollt nicht? Gut,

Wollt ihr mich nehmen, wie ich hier stehe? Ihr wollt nicht? Gut,

dann will ich euch sagen, was ich mit euch machen werde. Guckt

her! Ich tue alles dazu, was ihr verlangt. Hier! Kirchensteuern,

Abschaffung der Kirchensteuern, höherer Malzzoll, kein

Malzzoll, allgemeine Schulbildung bis zur höchsten Stufe oder

allgemeine Unwissenheit bis zur tiefsten, vollständige

Abschaffung der Prügelstrafe im Heer oder ein Dutzend

Stockschläge für jeden Soldaten regelmäßig einmal im Monat.

Unrechte der Männer oder Rechte der Frauen – ihr braucht bloß

zu sagen, was es sein soll, nehmen oder lassen, und ich bin ganz

und gar eurer Meinung und die Partei gehört euch zu euren

eigenen Bedingungen. Nun, ihr wollt sie immer noch nicht

nehmen? Gut, dann will ich euch sagen, was ich mit euch machen

werde. Hört zu! Ihr seid so freie und unabhängige Wähler, und

ich bin so stolz auf euch, und ihr seid ein so edler und

erleuchteter Wahlkreis, und ich ersehne so sehr die Ehre und

Würde, 8

euer Abgeordneter zu sein, was bei weitem das Höchste ist, zu

dem sich der menschliche Geist aufschwingen kann – daß ich

euch sagen will, was ich mit euch machen werde. Ich tue noch

alle Schenken in eurer prächtigen Stadt umsonst dazu.

Seid ihr jetzt zufrieden? Immer noch nicht? Ihr wollt die Partie

immer noch nicht nehmen? Nun denn, ehe ich den Gaul

einspanne und davonfahre und das Angebot der nächsten

allerprächtigsten Stadt mache, die entdeckt werden kann, will ich

euch nochmals sagen, was ich mit euch machen werde. Nehmt

euch nochmals sagen, was ich mit euch machen werde. Nehmt

die Partie, und ich will zweitausend Pfund in den Straßen eurer

prachtvollen Stadt verstreuen, sodaß jeder das Geld aufheben

kann. Genügt noch nicht? Dann seht einmal her. Das ist das

Alleräußerste, was ich tun werde. Es sollen

zweitausendfünfhundert sein. Und ihr wollt immer noch nicht?

Heda, Frau! spanne den Gaul – doch nein, noch einen

Augenblick, ich möchte euch schließlich nicht wegen einer

Kleinigkeit den Rücken kehren – es sollen

zweitausensiebenhundertundfünfzig Pfund sein. Da! Nehmt die

Partie zu euren eigenen Bedingungen, und ich zähle

zweitausendsiebenhundertundfünfzig Pfund auf das Trittbrett des

Karrens hin, die in den Straßen eurer prächtigen Stadt verstreut

werden sollen, so daß jeder das Geld aufheben kann. Was sagt

ihr jetzt? Nun kommt! Besser könnt ihr es nicht mehr treffen,

höchstens schlimmer. Ihr nehmt es? Hurra! Wieder hineingelegt,

und der Sitz ist mein!«

Diese teuren Hausierer seifen das Volk schändlich ein, während

wir billigen das niemals tun. Wir sagen den Leuten die Wahrheit

ins Gesicht und verschmähen es, ihnen zu schmeicheln. Was

Verwegenheit beim Anpreisen der Ware angeht, so sind wir die

reinen Waisenkinder gegen die teuren Hausierer. In unserem

Handel gilt es als Regel, daß man über eine Flinte besser

schwadronieren kann als über jeden anderen Artikel, den wir aus

dem Karren hervorholen, mit Ausnahme von einem Paar

Brillengläser. Aber wenn ich einen Vortrag halte, was die Flinte

vermag und was mit der Flinte schon alles geschossen worden

vermag und was mit der Flinte schon alles geschossen worden

ist, dann gehe ich doch nicht halb so weit wie die teuren

Hausierer, wenn sie nicht über ihre Flinten, wohl aber über ihre

Kanonen reden – ihre großen Kanonen, die ihre Drahtzieher

sind. Außerdem bin ich ein selbständiger Geschäftsmann – ich

werde von niemandem mit einem Auftrag auf den Markt

geschickt, wie es bei denen der Fall ist. Und ferner wissen meine

Flinten nichts von dem, was ich zu ihrem Lob sage, während ihre

Kanonen es wissen, und die ganze Gesellschaft sollte sich in

Grund und Boden schämen. Das sind einige meiner Gründe für

die Behauptung, daß die Hausierer in Großbritannien schlecht

behandelt werden; und deshalb gerate ich in Wut, wenn ich an

die großen Leute denke, die glauben, sie dürften auf uns

herabsehen.

Ich warb um meine Frau von dem Trittbrett des Karrens aus. So

war es tatsächlich.

Sie war ein junges Mädchen von Suffolk, und es geschah auf

dem Marktplatz von Ipswich, dem Laden des Kornhändlers

genau gegenüber. Ich hatte sie schon am Sonnabend zuvor an

einem Fenster stehen sehen und hatte sie gleich hoch

eingeschätzt. Sie gefiel mir, und ich sagte mir: »Falls sie noch

nicht vergeben ist, will ich diese Partie nehmen.« Am nächsten

Sonnabend stellte ich den Karren auf demselben Fleck auf. Ich

war bester Laune, das Publikum lachte in einem fort, und die

Sachen gingen ab wie geschmiert. Schließlich zog ich aus meiner

Westentasche 9

Westentasche 9

eine kleine, in Fließpapier eingewickelte Partie hervor und

begann folgendermaßen, wobei ich zu dem Fenster, an dem sie

stand, emporblickte:

»Nun hier, ihr blühenden Mädels von England, ist ein Artikel, der

letzte Artikel vom heutigen Verkauf, den ich nur euch, ihr

lieblichen Kinder von Suffolk, die ihr vor Schönheit überströmt,

anbiete, und den ich keinem lebendigen Manne für tausend Pfund

überlassen würde. Was mag das wohl sein? Ich will euch sagen,

was es ist. Es ist aus gediegenem Gold, und es ist nicht

zerbrochen, obwohl es in der Mitte ein Loch hat, und es ist

stärker als jede Fessel, die je geschmiedet wurde, obgleich es

schmäler ist als der dünnste Finger unter meinen zehn. Weshalb

gerade zehn? Weil, als meine Eltern mir mein Vermögen

vermachten, wie ich euch wahrheitsgemäß versichere, zwölf

Laken, zwölf Handtücher, zwölf Tischdecken, zwölf Messer,

zwölf Gabeln, zwölf Eßlöffel und zwölf Teelöffel da waren, aber

bei meinen Fingern fehlten zwei am Dutzend, und ich habe sie

niemals beschaffen können. Nun, was ist es sonst noch? Hört zu,

ich will's euch sagen. Es ist ein Reif aus massivem Gold,

eingewickelt in ein silbernes Haarwickelpapier, das ich mit

eigener Hand von den glänzenden Locken der unvergänglich

schönen alten Dame in Threadneedle Street in der Londoner

City (*Die Bank von England*) genommen habe – ich würde

das nicht behaupten, wenn ich euch nicht das Papier vorzeigen

könnte, sonst würdet ihr es selbst von mir nicht glauben. Nun,

könnte, sonst würdet ihr es selbst von mir nicht glauben. Nun,

was ist es sonst noch? Es ist eine Männerfalle und eine

Handschelle, ein Schließeisen und eine Beinfessel, alles in Gold

und alles in einem. Nun, was ist es sonst noch? Es ist ein Ehering.

Nun will ich euch sagen, was ich damit machen werde. Ich

werde diesen Artikel nicht für Geld anbieten, sondern ich will ihn

derjenigen unter euch Schönen geben, die jetzt lachen wird. Bei

dieser will ich morgen früh Punkt halb zehn mit dem

Glockenschlag einen Besuch machen und mit ihr spazierengehen,

um das Aufgebot zu bestellen.«

Sie lachte, und der Ring wurde ihr hinaufgereicht. Als ich am

nächsten Morgen zu ihr komme, sagt sie:

»Du lieber Himmel! Da seid Ihr ja! Es kann Euch doch nicht

Ernst gewesen sein?«

»Da bin ich«, sage ich, »und ich bin für immer der Eurige, und es

ist mein heiliger Ernst.«

So wurden wir getraut, nachdem wir dreimal aufgeboten worden

waren – was, nebenbei bemerkt, ganz unseren

Geschäftsgebräuchen entspricht und wieder einmal zeigt, wie

sehr diese Gebräuche die ganze Gesellschaft durchdringen.

Sie war kein böses Weib, aber sie hatte ein reizbares

Temperament. Wenn ich diesen Artikel unter Preis hätte

loswerden können, so hätte ich sie für kein anderes Weib in ganz

England hergegeben. Das soll nicht heißen, daß ich sie in

Wirklichkeit hergegeben habe, denn wir lebten zusammen, bis sie

starb, und das waren dreizehn Jahre. Nun, meine Lords und

Ladies und mein ganzes verehrtes Publikum, ich will euch in ein

Geheimnis einweihen, wenn ihr mir auch nicht glauben werdet.

Dreizehn Jahre reizbares Temperament in einem Palast würden

die Schlimmsten unter euch auf eine harte Probe stellen, aber

dreizehn Jahre reizbares Temperament in einem Karren würden

die Besten unter euch auf die Probe stellen. In einem Karren ist

man so sehr aufeinander angewiesen, müßt ihr verstehen. Es gibt

Tausende von Ehepaaren unter euch, die in fünf und sechs

Stockwerke hohen Häusern wie Öl auf dem Wetzstein 10

miteinander auskommen und die in einem Karren zum

Scheidungsrichter laufen würden. Ob das Rütteln des Karrens es

vielleicht schlimmer macht, das weiß ich nicht; aber in einem

Karren geht es einem auf die Nerven und läßt einen nicht los.

Böse Worte in einem Karren sind noch böser und Ärger in

einem Karren ist noch ärgerlicher.

Und dabei hätten wir ein so schönes Leben haben können! Ein

geräumiger Karren, an dem die großen Artikel draußen

aufgehängt waren, während das Bett, wenn wir auf der Fahrt

waren, zwischen den Rädern untergebracht war; ein eiserner

Topf und ein Kessel, ein Kamin für die kalten Tage, ein Ofenrohr

für den Rauch, ein Hängesims und ein Schrank, ein Hund und ein

Pferd. Was kann man noch mehr verlangen? Man macht halt auf

Pferd. Was kann man noch mehr verlangen? Man macht halt auf

einem Rasenplatz an einem Feldweg oder an der Landstraße,

man fesselt dem alten Gaul die Beine und läßt ihn grasen, man

zündet sein Feuer auf der Asche des vorigen Besuchers an, man

schmort seinen Braten, und man möchte den Kaiser von China

nicht zum Vater haben. Aber wenn man ein reizbares

Temperament im Karren hat, das einem böse Worte und die

härtesten Handelsartikel an den Kopf wirft, wie ergeht es einem

dann? Versucht einmal, eure Gefühle in diesem Fall

auszudrücken!

Mein Hund wußte genauso gut wie ich, wann sie in der richtigen

Verfassung war.

Noch bevor sie loslegte, pflegte er einmal aufzuheulen und

auszureißen. Woher er es wußte, war mir schleierhaft; aber er

wußte es so sicher und bestimmt, daß er aus dem tiefsten Schlaf

erwachte, aufheulte und davonlief, wenn es wieder einmal soweit

war.

Zu solchen Zeiten wünschte ich, ich steckte in seiner Haut.

Das Schlimmste aber war dies: Wir hatten eine Tochter, und ich

liebe Kinder von ganzem Herzen. Wenn sie nun wütend war, so

schlug sie das Kind, und das wurde so unerträglich, als das Kind

vier oder fünf Jahre alt war, daß ich oft mit der Peitsche über der

Schulter neben dem alten Gaul hergegangen bin, schlimmer

weinend und schluchzend als die kleine Sophy. Denn wie konnte

weinend und schluchzend als die kleine Sophy. Denn wie konnte

ich dagegen einschreiten? Mit einem solchen Temperament und

in einem Karren ist nicht daran zu denken, wenn es nicht zu einer

Prügelei kommen soll. Es liegt an der natürlichen Größe und den

Raumverhältnissen eines Karrens, daß es dann zu einer Prügelei

kommen muß.

Passierte das dann wirklich einmal, so wurde das arme Kind

noch mehr geängstigt als zuvor, und es erging ihm in der Regel

auch noch übler, und seine Mutter beklagte sich bei den

Nächstbesten, die uns begegneten, und da hieß es dann: »Da hat

dieser gemeine Kerl von einem Händler sein Weib geschlagen.«

Und dabei war die kleine Sophy so ein braves Kind! Wie sie

aufwuchs, fühlte sie sich immer mehr ihrem armen Vater zugetan,

obwohl er so wenig tun konnte, um ihr beizustehen. Sie hatte

wunderbar dichtes, glänzendes Haar, das in natürlichen Locken

ihr Gesicht umrahmte. Ich staune jetzt über mich selbst, daß ich

nicht in Raserei verfiel, wenn ich zusehen mußte, wie sie vor ihrer

Mutter um den Karren davonlief, und wie ihre Mutter sie dann

bei diesem Haar packte, zu Boden riß und auf sie losschlug.

Ich sagte, sie sei so ein braves Kind gewesen, und ich habe

Grund dazu.

»Mache dir das nächstemal nichts daraus, Vater«, pflegte sie mir

zuzuflüstern, während ihr Gesichtchen noch gerötet und ihre

leuchtenden Augen noch feucht 11

waren. »Wenn ich nicht laut schreie, dann kannst du wissen, daß

es nicht sehr weh tut. Und selbst wenn ich laut schreie, dann will

ich Mutter bloß dazu bringen aufzuhören und mich in Ruhe zu

lassen.«

Was habe ich das liebe kleine Wesen ertragen sehen – um

meinetwillen –, ohne aufzuschreien!

Doch kümmerte sich in anderen Dingen ihre Mutter sehr um sie.

Ihre Kleider waren stets sauber und nett, und ihre Mutter war

unermüdlich dabei, sie in Ordnung zu halten. So unlogisch geht es

im Leben zu. Ich glaube, unser Aufenthalt in sumpfigen

Gegenden bei schlechtem Wetter war die Ursache, daß Sophy

schleichendes Fieber bekam. Aber wie dem auch sei, sowie sie

es bekam, wandte sie sich für immer von ihrer Mutter ab, und

nichts konnte sie dazu bewegen, sich von ihrer Mutter Hand

anrühren zu lassen. Sie erschauerte und sagte: »Nein, nein, nein«,

wenn diese ihr einen Dienst leisten wollte; sie verbarg dann ihr

Gesicht an meiner Schulter und klammerte sich fest an meinen

Hals.

Das Geschäft ging aus verschiedenen Gründen schlechter als je,

am meisten aber war die Eisenbahn daran schuld, und ich glaube,

daß sie uns Händlern zuletzt noch vollends den Garaus machen

wird. So war denn zur Zeit, als die kleine Sophy so krank war,

an einem Abend kein Heller mehr in der Kasse; wollte ich es

nicht so weit kommen lassen, daß wir nichts mehr zu essen und

nicht so weit kommen lassen, daß wir nichts mehr zu essen und

zu trinken kaufen konnten, so mußte ich den Karren aufstellen.

Das tat ich also.

Ich konnte das liebe Kind nicht dazu bringen, sich hinzulegen

oder mich loszulassen, und ich hatte auch gar nicht das Herz

dazu; so stellte ich mich denn auf das Trittbrett, während sie sich

an meinem Hals festklammerte. Sie lachten alle, als sie uns so

sahen, und ein Schafskopf von einem Bauer (den ich deswegen

haßte) machte das Angebot: »Zwei Pence für sie!«

»Nun, ihr Bauerntölpel«, sage ich, mit einem Gefühl, als hinge

mein Herz wie ein schweres Gewicht am Ende einer zerrissenen

Fensterleine, »ich warne euch, daß ich im Begriff bin, euch das

Geld aus der Tasche zu zaubern. Denn ich will euch so viel mehr

geben, als euer Geld wert ist, daß ihr in Zukunft, wenn ihr am

Sonnabend euren Lohn ausgezahlt kriegt, immer nach mir

Ausschau halten werdet, um das Geld bei mir anzulegen. Aber

ihr werdet vergeblich warten, und warum? Weil ich mein Glück

dadurch gemacht habe, daß ich meine Waren en gros um

fünfundsiebzig Prozent unter Einkaufspreis losgeschlagen habe,

und infolgedessen nächste Woche als Herzog ins Oberhaus

berufen werde. Nun laßt mich wissen, was ihr heute abend

braucht, und ihr sollt es kriegen. Aber vor allem, soll ich euch

sagen, warum ich diese Kleine an meinem Hals hängen habe? Ihr

wollt das nicht wissen? Nun sollt ihr's erst recht hören. Sie ist

eine von den Elfen. Sie kann wahrsagen. Sie kann mir alles über

euch zuflüstern und mir genau sagen, ob ihr eine Sache kaufen

euch zuflüstern und mir genau sagen, ob ihr eine Sache kaufen

wollt oder nicht.

Braucht ihr zum Beispiel eine Säge? Nein, sie sagt, ihr braucht

keine, weil ihr zu ungeschickt seid, um mit ihr umzugehen. Sonst

wäre hier eine Säge, die für einen tüchtigen Mann ein Segen fürs

ganze Leben wäre – für vier Schilling, für dreieinhalb, für drei, für

zweieinhalb, für zwei, für achtzehn Pence. Aber keiner von euch

soll sie zu irgendeinem Preis kriegen, wegen eurer bekannten

Ungeschicklichkeit, deretwegen die Sache reiner Mord würde.

Dasselbe gilt für diesen Satz von drei 12

Hobeln, die ich euch auch nicht verkaufen werde; so bietet also

nicht darauf. Nun will ich sie einmal fragen, was ihr braucht.«

(Dabei flüsterte ich: »Dein Kopf ist so heiß, daß ich fürchte, er

tut dir sehr weh, mein Liebling«, worauf sie, ohne ihre

festgeschlossenen Augen zu öffnen, antwortete: »Ein klein wenig,

Vater.«) »Oh, diese kleine Wahrsagerin sagt mir, ihr bräuchtet

ein Notizbuch. Weshalb habt ihr es denn nicht gleich gesagt?

Hier ist es. Guckt es euch an. Zweihundert Seiten extrafeines

satiniertes Velinpapier – wenn ihr's mir nicht glaubt, so zählt sie

nach –, vollständig liniiert für eure Ausgaben, ein wenig gespitzter

Bleistift, um sie niederzuschreiben, ein Federmesser mit

doppelter Klinge, um sie auszuradieren, ein Buch mit gedruckten

Tabellen, um euer Einkommen danach zu berechnen, und ein

Feldstuhl zum Hinsetzen, während ihr damit beschäftigt seid.

Halt! Noch etwas! Ein Sonnenschirm, um den Mondschein

abzuhalten, wenn ihr in einer pechfinsteren Nacht damit

beschäftigt seid. Nun will ich euch nicht fragen, wieviel für die

Partie, sondern wie wenig. Wie wenig denkt ihr wohl? Sprecht

nur ohne Scham, weil meine Wahrsagerin es bereits weiß.« (Ich

tat so, als flüsterte ich, aber ich küßte sie, und sie mich.) »Nun,

sie sagt, ihr denkt an so wenig wie drei Schilling und drei Pence!

Ich hätte es nicht glauben können, selbst von euch nicht, wenn

sie es mir nicht gesagt hätte. Drei Schilling und drei Pence! Und

gedruckte Tabellen mit dabei, die euer Einkommen bis zu

vierzigtausend Pfund im Jahr berechnen! Bei einem Einkommen

von vierzigtausend Pfund im Jahr geizt ihr mit drei Schilling und

drei Pence. Nun, dann will ich euch meine Meinung sagen. Ich

verachte die drei Pence so, daß ich lieber drei Schilling dafür

nehme. Hier. Für drei Schilling, drei Schilling, drei Schilling.

Zugeschlagen. Gebt sie dem glücklichen Mann dort.«

Da überhaupt niemand geboten hatte, sah sich jedermann um

und einer grinste den andern an, während ich das Gesicht meiner

kleinen Sophy betastete und sie fragte, ob sie sich schwach oder

schwindlig fühle.

»Nicht sehr, Vater. Es wird bald vorüber sein.«

Dann wandte ich mich von den hübschen, geduldigen Augen, die

jetzt offen waren, ab und wieder meinen Kunden zu. Ich sah

nichts als grinsende Gesichter beim Schein meiner Talgpfanne

und fuhr fort, sie in meinem Stil anzureden.

»Wo ist der Schlächtergeselle?« (Mein kummervolles Auge hatte

»Wo ist der Schlächtergeselle?« (Mein kummervolles Auge hatte

gerade einen fetten jungen Schlächtergesellen am äußeren Rand

der Menge wahrgenommen.) »Sie sagt, der Schlächtergeselle

wäre der glückliche Mann. Wo ist er?«

Die Leute stießen den errötenden Schlächtergesellen nach vorn,

und es gab ein Gelächter, und der Schlächtergeselle fühlte sich

verpflichtet, die Hand in die Tasche zu stecken und die Partie zu

nehmen. Wenn man so einen aus der Menge heraussucht, fühlt er

sich meistens verpflichtet, die Partie zu nehmen. Dann hatten wir

noch eine Partie, die Wiederholung der ersten, und verkauften

sie um sechs Pence billiger, was den Leuten immer großen Spaß

macht. Dann kamen die Brillengläser dran. Sie sind keine

besonders einträgliche Partie, aber ich setze sie auf, und ich sehe,

um wieviel der Finanzminister die Steuern senken wird, und ich

sehe, was der Liebste des jungen Mädels mit dem Tuch gerade

zu Hause treibt, und ich sehe, was beim Bischof zu Mittag

aufgetragen wird, und noch allerhand andere Sachen, die selten

verfehlen, sie gut gelaunt zu machen; und je besser die Laune,

desto besser die Angebote. Dann 13

kam die Damenpartie dran – die Teekanne, die Teebüchse, die

Zuckerdose aus Glas, ein halbes Dutzend Löffel und der

Warmbierbecher –, und die ganze Zeit über gebrauchte ich

ähnliche Vorwände, um nach meinem armen Kind zu sehen und

ihm ein paar Worte zuzuflüstern. Gerade als die zweite

Damenpartie das Publikum gefesselt hielt, fühlte ich, wie die

Kleine sich an meiner Schulter ein wenig aufrichtete, um über die

Kleine sich an meiner Schulter ein wenig aufrichtete, um über die

finstere Straße zu blicken.

»Was fehlt dir, Liebling?«

»Nichts fehlt mir, Vater. Ich fühle mich ganz ruhig. Aber sehe ich

nicht dort drüben einen hübschen Friedhof?«

»Ja, mein Kind.«

»Küsse mich noch einmal, Vater, und lege mich dann auf das

Friedhofsgras zum Schlafen hin, das so weich ist.«

Ihr Haupt sank auf meine Schulter nieder, und ich wankte in den

Karren hinein und sagte zu ihrer Mutter:

»Rasch. Schließ die Tür! Damit es diese lachenden Leute nicht

sehen!«

»Was gibt's?« schreit sie.

»O Weib, Weib«, sage ich zu ihr, »du wirst meine kleine Sophy

niemals wieder bei den Haaren reißen, denn sie ist von dir

weggeflogen!«

Vielleicht klangen diese Worte härter, als ich sie gemeint hatte;

aber von dieser Zeit an begann mein Weib tiefsinnig zu werden.

Sie konnte stundenlang mit gekreuzten Armen und die Augen auf

den Boden geheftet im Karren sitzen oder neben ihm hergehen.

Wenn ihre Wutanfälle kamen (und sie waren jetzt seltener als

Wenn ihre Wutanfälle kamen (und sie waren jetzt seltener als

früher), so nahmen sie jetzt eine neue Form an, und sie schlug auf

sich selbst los in einer Weise, daß ich sie festhalten mußte. Auch

trank sie ab und zu ein wenig, was nicht dazu beitrug, daß es

besser mit ihr wurde. So pflegte ich denn in den folgenden

Jahren, während ich neben dem alten Gaul herschritt,

Betrachtungen darüber anzustellen, ob es wohl viele Karren auf

der Landstraße gäbe, die so viel Traurigkeit wie meiner

enthielten, obwohl man zu mir als dem König der fahrenden

Händler emporblickte.

So traurig ging unser Leben weiter bis zu einem Sonnabend, als

wir aus dem Westen Englands nach Exeter hineinkamen. Da

sahen wir, wie eine Frau grausam auf ein Kind einschlug,

während das Kind schrie: »Schlag mich nicht! O Mutter, Mutter,

Mutter!« Da hielt sich mein Weib die Ohren zu und lief wie von

Sinnen davon, und am nächsten Tag zog man sie aus dem Fluß.

Ich und mein Hund waren jetzt die einzigen Bewohner, die im

Karren zurückgeblieben waren. Ich brachte dem Hund bei, ein

kurzes Bellen auszustoßen, wenn sie nicht bieten wollten, und

noch einmal zu bellen und mit dem Kopf zu nicken, wenn ich ihn

fragte:

»Wer hat eine halbe Krone gesagt? Sind Sie der Gentleman, Sir,

der eine halbe Krone geboten hat?«

Er wurde ungeheuer beliebt, und man wird mich nicht von dem

Er wurde ungeheuer beliebt, und man wird mich nicht von dem

Glauben abbringen, daß er es sich ganz von selbst beibrachte,

jeden in der Menge anzuknurren, der bloß sechs Pence bot.

Aber er war schon sehr bejahrt, und eines Abends, als ich ganz

York mit den Brillengläsern in Lachkrämpfe versetzte, verfiel er

gerade auf dem Trittbrett neben mir in einen Krampf von ganz

anderer Art, und das war sein Ende.

14

Da ich von Natur ein zartes Gemüt habe, so fühlte ich mich jetzt

schrecklich einsam. Wenn ich auf dem Trittbrett stand und

verkaufte, konnte ich zwar meine Gefühle unterkriegen, denn ich

hatte einen Namen aufrechtzuerhalten (ganz abgesehen davon,

daß ich mich selbst zu erhalten hatte). Aber im Privatleben

drückten sie mich nieder und fielen über mich her. So geht es oft

mit uns Leuten der Öffentlichkeit. Wenn ihr uns auf dem

Trittbrett seht, dann möchtet ihr gleich alles, was ihr habt,

hingeben, um an unserer Stelle zu sein. Seht uns aber einmal an,

wenn wir abgetreten sind, und ihr würdet noch eine Kleinigkeit

zugeben, um von dem Handel wieder loszukommen. So war

meine Stimmung, als ich mit einem Riesen Bekanntschaft machte.

Ich wäre vielleicht ein bißchen zu fein dafür gewesen, um mich

mit ihm zu unterhalten, wären nicht meine Einsamkeitsgefühle

gewesen. Denn bei uns fahrenden Leuten ist die Scheidelinie

dort, wo die Verkleidung anfängt.

Wenn ein Mann sich nicht auf seine unverkleideten Fähigkeiten

Wenn ein Mann sich nicht auf seine unverkleideten Fähigkeiten

verlassen kann, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, dann

sieht man ihn als auf einer tieferen Stufe stehend an. Und wenn

dieser Riese auf den Brettern stand, so trat er als Römer auf.

Er war ein junger Mann von schlaffem Wesen, was meiner

Meinung nach von dem großen Abstand zwischen seinen

Extremitäten herrührte. Er hatte einen Kopf von geringem

Umfang und noch geringerem Inhalt; er hatte schwache Augen

und schwache Knie, und man konnte sich, wenn man ihn ansah,

des allgemeinen Gefühls nicht erwehren, daß sowohl für seine

Gelenke wie für seinen Geist zuviel von ihm da war. Aber er war

ein freundlicher, wenn auch schüchterner junger Mensch (seine

Mutter vermietete ihn und gab das Geld für sich aus), und wir

wurden miteinander bekannt, als er zu Fuß von einem Jahrmarkt

zum anderen ging, um dem Pferd ein wenig Ruhe zu gönnen.

Man nannte ihn Rinaldo di Velasco, doch sein wirklicher Name

war Pickleson.

Dieser Riese namens Pickleson vertraute mir unter dem Siegel

der Verschwiegenheit an, daß er sich erstens selbst zur Last

wäre und daß ferner das Leben ihm zur Last gemacht würde

durch die Grausamkeit seines Herrn gegen eine taubstumme

Stieftochter. Ihre Mutter war tot, sie hatte keine Menschenseele,

die sich ihrer annahm, und wurde schändlich behandelt. Sie reiste

nur deshalb mit der Karawane seines Herrn, weil man sie

nirgends lassen konnte, und dieser Riese namens Pickleson ging

sogar so weit zu glauben, daß sein Herr oft den Versuch machte,

sie auf dem Weg zu verlieren. Er war ein so schlaffer junger

Mann, daß es unendlich lange dauerte, bis er diese Geschichte

von sich gegeben hatte, aber sie gelangte doch allmählich zu

seiner obersten Extremität.

Als ich diesen Bericht von dem Riesen namens Pickleson

vernahm und er mir ferner erzählte, daß das arme Mädchen

schönes, langes schwarzes Haar habe und oft daran zu Boden

gezogen und geschlagen werde, da konnte ich den Riesen durch

das, was feucht in meinen Augen stand, nicht mehr sehen.

Nachdem ich sie mir gewischt hatte, schenkte ich ihm ein

Sechspencestück (denn man hielt ihn so kurz, wie er lang war),

und er leistete sich zwei Gläschen Gin mit Wasser dafür. Diese

machten ihn so munter, daß er das beliebte komische Lied: »Ist's

nicht kalt?« vortrug – eine vom Publikum sehr begehrte

Nummer, die sein Herr durch zahllose andere Mittel vergeblich

aus ihm herauszukriegen versucht hatte, wenn er als Römer

auftrat.

15

Sein Herr hieß Mim. Er war ein sehr heiserer Mann, und ich

kannte ihn von früheren Unterhaltungen her. Ich ging als bloßer

Zuschauer zu diesem Jahrmarkt, nachdem ich den Karren

außerhalb der Stadt untergebracht hatte, und ich sah mich

während der Vorstellung an der Rückseite der Wohnwagen um.

Endlich traf ich auf das arme taubstumme Mädchen, das im

Halbschlaf an ein kotiges Wagenrad gelehnt dasaß. Beim ersten

Halbschlaf an ein kotiges Wagenrad gelehnt dasaß. Beim ersten

Blick hätte ich beinahe geglaubt, sie sei aus einer Menagerie

wilder Tiere ausgebrochen; aber beim zweiten hatte ich einen

günstigeren Eindruck und dachte, man müsse sie bloß besser

versorgen und freundlicher behandeln, dann würde sie meinem

verlorenen Kind ähnlich sein. Sie war gerade in dem Alter, in

dem meine Tochter gewesen wäre, wenn ihr hübsches Köpfchen

an jenem unseligen Abend nicht auf meine Schulter

niedergesunken wäre.

Kurz, ich sprach vertraulich mit Mim, während er draußen

zwischen zwei Partien die Glocke läutete, und ich sagte zu ihm:

»Sie liegt Euch schwer auf der Tasche; was wollt Ihr für sie

haben?«

Mim pflegte stets entsetzlich zu fluchen. Wenn ich diesen Teil

seiner Antwort, der bei weitem der längste war, übergehe, so

lautete sie:

»Ein Paar Hosenträger.«

»Nun, ich will Euch sagen«, sage ich, »was ich mit Euch machen

werde. Ich werde euch ein halbes Dutzend der feinsten

Hosenträger im Karren holen und das Mädchen dann mit mir

fortnehmen.«

Darauf Mim (wieder mit einigen Flüchen):

»Ich werde es glauben, wenn ich die Sachen habe, und nicht

früher.«

Ich lief, so rasch ich konnte, damit er es sich nicht etwa noch

anders überlegte, und der Handel kam zustande. Pickleson freute

sich so sehr darüber, daß er der Länge nach, wie eine Schlange,

zu seiner kleinen Hintertür herauskam und uns »Ist's nicht kalt?«

zwischen den Rädern zum Abschied flüsternd vortrug.

Es waren glückliche Tage für uns beide, als Sophy und ich in

dem Karren zu reisen begannen. Ich hatte ihr ein für allemal den

Namen Sophy gegeben, damit sie für immer mir gegenüber die

Stellung meiner leiblichen Tochter einnehmen sollte. Durch die

Güte des Himmels gelang es uns bald, uns zu verständigen,

sobald sie zu der Überzeugung gekommen war, daß ich es

ehrlich und freundlich mit ihr meinte. In ganz kurzer Zeit hatte sie

eine wunderbare Zuneigung zu mir gefaßt. Ihr könnt euch nicht

denken, wie es ist, wenn jemand einem wunderbar zugetan ist,

wenn nicht die Einsamkeitsgefühle, von denen ich euch erzählt

habe, euch nicht schon niedergedrückt haben und über euch

hergefallen sind.

Ihr hättet gelacht – oder das Gegenteil, das hängt von eurem

Gemüt ab –, wenn ihr bei meinen Versuchen, Sophy zu

unterrichten, hättet dabeisein können. Zuerst halfen mir dabei –

ihr würdet das nie erraten – die Meilensteine. Ich verschaffte mir

einige große Alphabete in einer Schachtel, jeder Buchstabe für

einige große Alphabete in einer Schachtel, jeder Buchstabe für

sich auf einem kleinen Stäbchen, und angenommen, wir fuhren

nach Windsor, so setzte ich die Buchstaben zu diesem für sie

zusammen, machte sie dann auf jeden Meilenstein aufmerksam,

auf dem die Buchstaben in derselben Reihenfolge standen, und

wies schließlich auf die königliche Residenzstadt, der wir uns

näherten. Ein andermal stellte ich die Buchstaben KARREN für

sie zusammen und schrieb dann dasselbe Wort mit Kreide 16

auf den Karren. Ein andermal gab ich ihr DOKTOR

MARIGOLD und heftete ein Schildchen mit der entsprechenden

Aufschrift auf meine Weste. Die Leute, die uns begegneten,

starrten uns zwar an und lachten, aber was machte ich mir

daraus, wenn sie die Sache nur begriff. Sie begriff sie, nachdem

ich viel Geduld und Mühe aufgewendet hatte, und von da an ging

es wie geschmiert, das könnt ihr mir glauben.

Zu Anfang war sie zwar ein wenig geneigt, mich für den Karren

zu halten und den Karren für die königliche Residenzstadt, aber

das war bald vorüber.

Wir hatten auch unsere privaten Zeichen, und es waren viele

Hunderte. Bisweilen saß sie, den Blick auf mich gerichtet, da und

überlegte eifrig, wie sie sich über etwas Neues mit mir

verständigen könnte – wie sie mich etwas fragen könnte, was sie

erklärt zu haben wünschte –, und dann war sie (oder es schien

mir zumindest so) meinem Kind, wenn es ebenso alt gewesen

wäre wie sie, so ähnlich, daß ich halb glaubte, es sei es wirklich

und wäre nur gekommen, um mir zu erzählen, wo es im Himmel

gewesen wäre und was es seit jener unseligen Nacht gesehen

hätte, nachdem es davongeflogen war. Sie hatte ein hübsches

Gesicht, und jetzt, wo sie niemand mehr an ihrem glänzenden

schwarzen Haar zerrte und es in Ordnung war, lag etwas

Rührendes in ihren Blicken, das den Karren ruhig und friedlich,

aber nicht im mindesten melancholisch machte.

Es war wirklich zum Staunen, wie sie jeden meiner Blicke zu

verstehen lernte.

Wenn ich abends mit dem Verkaufen beschäftigt war, saß sie,

vom Publikum ungesehen, im Wagen drinnen, sah mir scharf in

die Augen, wenn ich einen Blick hineinwarf, und reichte mir dann

ohne Zögern genau den Artikel oder die Artikel, die ich

brauchte. Und dann klatschte sie vor Freude in die Hände und

lachte. Und was mich angeht, so mußte ich immer daran denken,

wie sie ausgesehen hatte, als ich ihr zum erstenmal begegnet war:

wie sie schlafend gegen das kotige Karrenrad gelehnt

dagesessen hatte, halb verhungert, verprügelt und in Lumpen

gehüllt. Und sie jetzt dagegen so glücklich zu sehen, das stimmte

mich so froh, daß mein Ruf besser denn je wurde. Aus

Dankbarkeit aber vermachte ich Pickleson (unter dem Namen

»Mims reisender Riese, sonst Pickleson geheißen«) in meinem

Testament eine Fünfpfundnote.

Dieses glückliche Leben im Wohnwagen ging so weiter, bis

Sophy sechzehn Jahre alt war. Um diese Zeit befielen mich

Sophy sechzehn Jahre alt war. Um diese Zeit befielen mich

Zweifel, ob ich meine volle Pflicht an ihr getan hätte und ob sie

nicht einen besseren Unterricht haben müßte, als ich ihn ihr geben

konnte. Es gab viele Tränen auf beiden Seiten, als ich anfing, ihr

diese meine Meinung auseinanderzusetzen; aber was recht ist, ist

recht, und man kann weder durch Tränen noch Lachen darum

herumkommen.

So faßte ich sie eines Tages bei der Hand und ging mit ihr zur

Taubstummenanstalt in London, und als der Gentleman kam, um

mit uns zu sprechen, sagte ich zu ihm:

»Nun will ich Ihnen mal sagen, was ich mit Ihnen machen werde,

Sir. Ich bin bloß ein Hausierer, aber in den letzten Jahren habe

ich trotzdem etwas für einen regnerischen Tag zurückgelegt. Das

hier ist meine einzige Tochter (durch Adoption), und Sie können

bestimmt kein tauberes oder stummeres Mädchen finden. Lehren

Sie sie alles, was ihr in der kürzesten Trennungszeit, die Sie mir

nennen können, beigebracht werden kann – bestimmen Sie den

Preis dafür – und ich zahle Ihnen den 17

Preis auf den Tisch. Ich werde Ihnen nicht einen einzigen Penny

davon abziehen, Sir, sondern lege Ihnen das Geld hier und jetzt

auf den Tisch und ich gebe Ihnen aus Dankbarkeit noch ein

Pfund zu. Das ist alles!«

Der Gentleman lächelte und sagte dann:

»Gut, gut. Erst muß ich aber wissen, was sie bereits gelernt hat.

Wie verständigt Ihr Euch mit ihr?«

Daraufhin zeigte ich es ihm und sie schrieb mit Druckbuchstaben

viele Bezeichnungen von Gegenständen und so weiter auf.

Außerdem hatten sie und ich eine lebhafte Unterhaltung über eine

kleine Geschichte in einem Buch, die der Gentleman ihr zeigte

und die sie zu lesen vermochte.

»Das ist ja ganz außerordentlich«, sagte der Gentleman. »Ist es

möglich, daß Ihr ihr einziger Lehrer wart?«

»Ich bin ihr einziger Lehrer gewesen, Sir«, sagte ich, »abgesehen

von ihr selbst.«

»Dann«, sagte der Gentleman, und angenehmere Worte habe ich

nie vernommen,

»seid Ihr ein gescheiter Mann und ein guter Mann.«

Das machte er Sophy verständlich, die ihm die Hände küßte, die

ihrigen zusammenschlug und dazu weinte und lachte.

Wir sprachen im ganzen viermal mit dem Gentleman, und als er

meinen Namen aufschrieb und mich fragte, woher in aller Welt

ich den Vornamen Doktor hätte, da stellte es sich heraus, daß er

der leibliche Neffe der Schwester ebendesselben Doktors war,

nach dem man mich genannt hatte. Das brachte uns einander

noch näher, und er sagte zu mir:

noch näher, und er sagte zu mir:

»Nun, Marigold, sagt mir, was soll Eure Adoptivtochter noch

mehr lernen?«

»Ich möchte, Sir, daß sie durch ihre Gebrechen so wenig wie

möglich von der Welt abgeschnitten ist, und deshalb soll sie alles

Geschriebene ganz leicht und gut lesen können.«

»Was wollt Ihr nachher mit ihr machen?« fragte der Gentleman

mit einem etwas zweifelnden Blick. »Wollt Ihr sie im Land

herumführen?«

»Im Karren, Sir, lediglich im Karren. Sie wird im Karren ein

privates Leben führen, verstehen Sie. Es würde mir niemals

einfallen, ihre Gebrechen vor das Publikum zu bringen. Kein

Geld der Welt sollte mich dazu bewegen, sie öffentlich zu

zeigen.«

Der Gentleman nickte und schien meinen Worten Beifall zu

zollen.

»Schön«, sagte er. »Könnt Ihr Euch für zwei Jahre von ihr

trennen?«

»Um ihr diese Wohltat zuteil werden zu lassen – ja, Sir.«

»Noch eine Frage«, sagte der Gentleman, die Augen auf sie

gerichtet – »kann sie sich für zwei Jahre von Euch trennen?«

gerichtet – »kann sie sich für zwei Jahre von Euch trennen?«

Ich weiß nicht, ob das an sich eine härtere Sache war (denn die

andere war hart genug für mich), aber es war härter, damit fertig

zu werden. Sie fand sich jedoch schließlich darein, und die

Trennung zwischen uns wurde beschlossen. Wie weh es uns

beiden tat, als sie stattfand und als ich sie an einem dunklen

Abend an der Tür verließ, davon will ich nicht reden. Aber das

weiß ich bestimmt: In Erinnerung an jenen Abend werde ich

niemals an dieser Anstalt vorbeigehen können, ohne daß das

Herz mir weh tut und die Kehle sich mir zuschnürt; auch könnte

ich an diesem Ort nicht einmal die beste Partie mit meiner

gewohnten guten Laune anbieten – selbst die 18

Flinte und die Brille nicht –, mag mir auch der Minister des

Innern fünfhundert Pfund Belohnung dafür bieten und die Ehre,

hinterher meine Beine unter seinen Mahagonitisch zu strecken,

als Zugabe.

Trotzdem empfand ich die Einsamkeit im Wagen, die jetzt folgte,

nicht mehr so stark wie früher. Denn sie hatte ihre festgesetzte

Frist, wie lange das Ende auch noch anstehen mochte, und wenn

ich ein wenig bedrückt war, so konnte ich mich mit dem

Bewußtsein trösten, daß sie zu mir und ich zu ihr gehörte. Immer

mit Plänen für die Zukunft beschäftigt, in der sie wieder dasein

würde, kaufte ich nach einigen Monaten einen zweiten

Wohnwagen, und was glaubt ihr wohl, was ich damit

beabsichtigte?

beabsichtigte?

Ich will es euch sagen. Ich beabsichtigte, ihn mit Regalen und

Büchern für ihre Lektüre auszustatten und für mich selbst einen

Sitz darin anzubringen, wo ich sitzen, ihr beim Lesen zusehen und

mich über den Gedanken freuen konnte, daß ich ihr erster Lehrer

gewesen war. Ohne die Sache zu übereilen, ließ ich unter meiner

eignen Aufsicht die einzelnen Teile mit allerhand Kunstgriffen

zusammenschlagen. Hier war ihr Bett in einer Koje mit

Vorhängen, dort war ihr Lesepult, hier ihr Schreibtisch, und an

einer anderen Stelle befanden sich ihre Bücher, Reihe auf Reihe,

mit und ohne Bilder, gebunden und ungebunden, mit Goldrand

und einfach, so wie ich sie partienweise für sie zusammenlas,

während ich im Land herumzog, in Nord und Süd und Ost und

West, soweit der Wind im Land bläst, hier und da und an jedem

Ort, über die Berge und weiter fort. Und als ich den Karren so

ziemlich mit Büchern gefüllt hatte, fiel mir ein neuer Plan ein, der,

wie sich dann herausstellte, meine Zeit und Aufmerksamkeit für

eine gute Weile in Anspruch nahm und mir über die beiden Jahre

hinweghalf.

Ohne habgierig zu sein, habe ich es doch gern, wenn meine

Sachen mir gehören.

Zum Beispiel möchte ich nicht einmal euch als Partner an meinem

Händlerkarren haben. Nicht etwa, daß ich euch mißtraue, aber

mir ist es lieber, ich weiß, daß er mein eigen ist. Ebenso wäre es

euch wahrscheinlich lieber, ihr wüßtet, daß er euch gehört.

Nun gut! Eine Art Eifersucht begann sich meiner zu bemächtigen,

wenn ich daran dachte, daß alle diese Bücher schon lange, bevor

sie von ihr gelesen wurden, von anderen Leuten gelesen worden

waren. Mir schien es, als ob das ihr Besitzrecht daran

beeinträchtigte. So tauchte denn folgender Gedanke in mir auf:

Könnte ich nicht ein ganz neues Buch, das eigens für sie gemacht

wäre, herstellen lassen, so daß sie die erste sein würde, die es

liest?

Dieser Gedanke gefiel mir, und da ich niemals derjenige gewesen

bin, der einen Gedanken in sich schlafen ließ (denn in meinem

Beruf muß man die ganze Gedankenfamilie, die man hat,

aufwecken und ihre Nachthauben verbrennen, oder man kommt

unter die Räder), so machte ich mich sogleich an die Ausführung.

Da ich so weit im Land herumkam und es meine Aufgabe sein

würde, je nach Gelegenheit mit verschiedenen Schriftstellern

einen Handel abzuschließen, entwarf ich den Plan, daß dieses

Buch eine gemischte Partie sein sollte. Es sollte so etwas sein wie

das Rasiermesser, das Bügeleisen, die Chronometer-

Taschenuhr, die Dinnerteller, das Teigholz und der Spiegel

zusammen und nicht wie die Brillengläser oder die Flinte als ein

einzelner, individueller Artikel angeboten werden. Als ich zu

diesem 19

Entschluß gekommen war, faßte ich gleichzeitig einen zweiten,

den ich euch ebenfalls mitteilen will.

Ich hatte schon oft bedauert, daß sie mich noch niemals gehört

hatte, wenn ich auf dem Trittbrett stand, und daß sie mich

niemals würde hören können. Nicht daß ich eitel bin, aber wer

stellt gern sein Licht unter einen Scheffel? Was hat man von

seinem Ruf, wenn man dem Menschen, von dem man am

meisten geschätzt werden möchte, nicht verständlich machen

kann, worauf er beruht? Entscheidet die Frage selbst. Ist er dann

sechs Pence, fünf Pence, vier Pence, drei Pence, zwei Pence,

einen Penny, einen halben Penny, einen Farthing wert? Nein, das

ist nicht der Fall. Er ist keinen Farthing wert. Schön! Ich faßte

deshalb den Entschluß, ihr Buch mit einem Bericht über mich

selbst zu beginnen. Sie sollte einige Proben von mir auf dem

Trittbrett zu lesen bekommen, so daß sie sich einen Begriff von

meinem Talent machen könnte. Dabei war ich mir vollkommen

darüber klar, daß ich mir selbst nicht Gerechtigkeit widerfahren

lassen könnte. Ein Mensch kann seinen Blick nicht

niederschreiben (wenigstens weiß ich nicht, wie ich das tun

sollte), noch kann ein Mensch seine Stimme niederschreiben,

noch seine Art zu sprechen, noch die Lebhaftigkeit seiner

Bewegungen, noch sein ganzes Auftreten. Aber er kann seine

Redewendungen niederschreiben, wenn er ein öffentlicher

Redner ist – und ich habe schon oft gehört, daß manche das

auch tun, bevor sie sie vortragen.

Na ja! Als dieser Entschluß bei mir feststand, erhob sich die

Frage des Titels. Wie hämmerte ich dieses heiße Eisen zu einer

brauchbaren Form? Auf folgende Weise: Die schwierigste

brauchbaren Form? Auf folgende Weise: Die schwierigste

Erklärung, die ich ihr jemals zu geben versucht hatte, war die

gewesen, wie ich zu dem Namen Doktor kam und doch keiner

war. Schließlich hatte ich das Gefühl gehabt, daß ich es ihr trotz

der größten Mühe nicht richtig hatte beibringen können. Ich

baute aber auf ihre Fortschritte in den zwei Jahren und hoffte, sie

würde es verstehen, wenn sie es von meiner eigenen Hand

niedergeschrieben lesen würde. Darauf kam ich auf den

Gedanken, sie mit einem Scherz auf die Probe zu stellen und

darauf zu achten, wie sie ihn aufnahm, wonach ich mir dann

schon ein Urteil bilden könnte, ob sie es verstanden hatte oder

nicht. Ich hatte das Mißverständnis, das zwischen uns bestand,

zuerst entdeckt, als sie mich bat, ihr ein Rezept auszustellen;

denn sie hatte geglaubt, ich wäre ein medizinischer Doktor.

Deshalb dachte ich: »Wenn ich jetzt dieses Buch meine

›Rezepte‹ betitle, und wenn sie den Gedanken erfaßt, daß meine

Rezepte einzig und allein für ihr Vergnügen und ihren Nutzen

gedacht sind – um sie auf angenehme Weise lachen oder auf

angenehme Weise weinen zu machen –, so wird das ein

köstlicher Beweis für uns beide sein, daß wir die Schwierigkeit

überwunden haben.« Mein Plan hatte den glänzendsten Erfolg.

Denn als sie das Buch sah, das ich hatte herstellen lassen – das

gedruckte und gebundene Buch, das auf ihrem Pult im Karren

lag –, und den Titel sah. »Doktor Marigolds Rezepte«, blickte

sie mich eine Sekunde lang erstaunt an, schlug dann schnell die

Blätter um, brach in der reizendsten Weise in Lachen aus, fühlte

Blätter um, brach in der reizendsten Weise in Lachen aus, fühlte

ihren Puls und schüttelte den Kopf, blätterte dann die Seiten um

mit einer Miene, als läse sie sie mit der größten Aufmerksamkeit,

küßte das Buch mit dem Blick zu mir und drückte es mit den

beiden Händen an ihre Brust. In meinem ganzen Leben habe ich

mich nicht mehr gefreut!

20

Aber ich will den Ereignissen nicht vorgreifen. (Ich entnehme

diesen Ausdruck einer Partie Romane, die ich für sie gekauft

hatte. Ich habe nie einen davon aufgeschlagen – und ich habe

viele aufgeschlagen –, ohne daß der Verfasser nicht irgendwo

schrieb: »Ich will den Ereignissen nicht vorgreifen.« Da das so ist,

wundert es mich nur, weshalb er dann doch vorgriff, oder wer es

von ihm verlangte.) Ich will also den Ereignissen nicht vorgreifen.

Dieses Buch nahm meine ganze freie Zeit in Anspruch. Es war

kein Kinderspiel, die anderen Artikel in der gemischten Partie

zusammenzubekommen, aber als es zu meinem eigenen Artikel

kam! Du lieber Himmel! Ich hätte nie geglaubt, wieviel man

wieder auszustreichen hatte, wie sehr man sich Mühe geben

mußte und welche Summe von Geduld dazu nötig war. Es ist

geradeso wie auf dem Trittbrett: das Publikum hat keine Ahnung,

was alles dazu gehört.

Schließlich war es fertig, und die zwei Jahre waren, wie die

ganzen anderen Jahre vorher, dahingegangen, und wer weiß,

wohin sie alle gekommen sind? Der neue Wagen war fertig –

wohin sie alle gekommen sind? Der neue Wagen war fertig –

gelb angestrichen mit roten Streifen und Messingbeschlägen –,

der alte Gaul war davorgespannt, ein neuer, und ein Junge für

den Verkaufskarren eingestellt, und ich machte mich recht sauber

zurecht, um sie abzuholen. Das Wetter war kalt und klar, die

Wagenkamine rauchten, die Wagen selbst waren auf einem

Stück Brachland in Wandsworth privat aufgestellt, wo man sie

von der Südwest-Eisenbahn aus sehen kann, wenn sie nicht auf

der Tour sind. (Ihr müßt zum Fenster rechter Hand hinaussehen,

wenn ihr von London wegfahrt.)

»Marigold«, sagte der Gentleman, indem er mir herzlich die

Hand drückte, »ich freue mich sehr, Euch zu sehen.«

»Und doch zweifle ich, Sir«, sagte ich, »ob Sie sich halb so

freuen können, mich zu sehen, wie ich mich freue, Sie zu sehen.«

»Die Zeit schien so lang zu sein – nicht wahr, Marigold?«

Ach will das nicht sagen, Sir, in Anbetracht ihrer wirklichen

Länge;doch ...«

»Welche Überraschung, mein guter Freund!«

Oh, und was für eine Überraschung! So erwachsen, so hübsch,

so verständig, so ausdrucksvoll! In diesem Augenblick wußte

ich, daß sie wirklich meinem Kind gleichen mußte, denn sonst

hätte ich sie niemals zu erkennen vermocht, wie sie so still an der

Tür stand.

Tür stand.

»Ihr seid bewegt«, sagte der Gentleman.

»Ich fühle, Sir«, sagte ich, »daß ich bloß ein rauher Bursche in

einer Weste mit Ärmeln bin.«

»Und ich fühle«, erwiderte der Gentleman, »daß Ihr es wart, der

sie aus Elend und Niedrigkeit emporhob und ihr die Möglichkeit

gab, mit ihren Mitmenschen in Beziehung zu treten. Aber

weshalb unterhalten wir beide uns hier allein, wo wir doch so gut

mit ihr sprechen können? Redet sie in Eurer Art an.«

»Ich bin so ein rauher Bursche in einer Weste mit Ärmeln, Sir«,

sagte ich, »und sie ist ein so anmutiges Mädchen und steht so still

an der Tür!«

»Versucht einmal, ob sie auf das alte Zeichen antwortet«, sagte

der Gentleman.

Sie hatten es mit Absicht so unter sich ausgemacht, um mir eine

Freude zu bereiten!

Denn als ich ihr das alte Zeichen machte, stürzte sie zu meinen

Füßen hin und 21

streckte, auf den Knien liegend, die Hände zu mir empor,

während Tränen der Liebe und des Glücks über ihr Gesicht

strömten. Und als ich sie bei den Händen faßte und aufhob,

schlang sie die Arme um meinen Hals und blieb so still. Ich war

so närrisch vor Freude, daß ich wirklich nicht weiß, was ich alles

anstellte, bis wir uns alle drei hinsetzten und eine lautlose

Unterhaltung begannen, als ob eine sanfte Stille über die ganze

Welt für uns ausgebreitet wäre.

22

Zweites Kapitel

Muß fürs ganze Leben genommen werden

So war denn mein Plan in jeder Beziehung erfolgreich. Das

Leben, das wir nach unserer Wiedervereinigung führten, war

schöner als alles, was wir erwartet hatten.

Freude und Zufriedenheit gingen mit uns, wenn die Räder der

beiden Wagen sich drehten, und sie machten mit uns halt, wenn

die beiden Wagen haltmachten. Ich war so stolz wie ein Mops,

dem man für eine Abendgesellschaft den Maulkorb geschwärzt

und den Schwanz mit einer Maschine gekräuselt hat.

Aber ich hatte etwas bei meiner Rechnung übersehen. Nun, was

hatte ich übersehen? Um euch beim Raten zu helfen, will ich

sagen, eine Größe. Also los.

Ratet und ratet richtig. Null? Nein. Neun? Nein. Acht? Nein.

Sieben? Nein. Sechs?

Nein. Fünf? Nein. Vier? Nein. Drei? Nein. Zwei? Nein. Eins?

Nein. Nun will ich euch mal sagen, was ich mit euch machen

werde. Ich will so viel mitteilen, daß es eine ganz andere Art von

Größe ist. Also? Dann muß es eine sterbliche Größe sein, sagt

ihr. Nein, es ist keine sterbliche Größe. Auf diese Weise werdet

ihr. Nein, es ist keine sterbliche Größe. Auf diese Weise werdet

ihr in die Enge getrieben, und ihr könnt nicht anders, als auf eine

unsterbliche Größe zu tippen. Da seid ihr auf der richtigen Spur.

Warum habt ihr das nicht gleich gesagt?

Ja. Es war eine unsterbliche Größe, die ich bei meiner Rechnung

gänzlich übersehen hatte. Es war kein Mann und keine Frau,

sondern ein Kind. Ein Knabe oder ein Mädchen? Ein Knabe.

Der Knabe mit Pfeil und Bogen. Jetzt habt ihr es erraten.

Wir waren unten in Lancaster und das Geschäft war zwei

Abende lang viel besser als durchschnittlich gegangen, obwohl

ich die Leute dort, um der Wahrheit die Ehre zu geben, nicht

gerade als eine leicht zu gewinnende Zuhörerschaft empfehlen

kann.

Mims reisender Riese mit Namen Pickleson war zufällig

gleichzeitig in der Stadt und versuchte, das Publikum zu blenden.

Er hatte sich die vornehme Art zugelegt. Keine Spur von

Reisewagen. Durch einen mit grünem Tuch ausgeschlagenen

Eingang ging es in ein Auktionslokal hinein zu Pickleson.

Gedrucktes Plakat: »Freikarten aufgehoben, mit Ausnahme des

stolzen Ruhmes eines freien Landes, der freien Presse. Für

Schulen ermäßigter Eintritt nach Vereinbarung. Nichts, um die

Jugend erröten zu machen oder selbst die Feinfühligsten zu

verletzen.« Mim hinter einer mit rosa Tuch überzogenen Kasse,

in der fürchterlichsten Weise über die Schwerfälligkeit des

Publikums fluchend. In den Läden Zettel aufgehängt, mit der

ernsthaften Versicherung, es wäre so gut wie unmöglich, die

ernsthaften Versicherung, es wäre so gut wie unmöglich, die

Geschichte Davids richtig zu verstehen, wenn man Pickleson

nicht gesehen habe.

Ich ging in das fragliche Auktionslokal und fand nichts darin als

Echos und modrige Luft, mit einziger Ausnahme Picklesons, der

auf einem roten Teppich stand.

Das kam mir gerade recht, da ich ein paar vertrauliche Worte mit

ihm zu sprechen hatte, und so begann ich:

»Pickleson, da ich Euch ein großes Glück verdanke, habe ich

Euch in meinem Testament mit einer Fünfpfundnote bedacht;

aber, um die Sache kurz zu machen, hier 23

habt Ihr vier Pfund auf der Stelle, was Euch wohl ebenso lieb ist,

und damit wollen wir das Geschäft abmachen.«

Pickleson, der vor dieser Bemerkung das trübselige Aussehen

einer langen römischen Kerze gehabt hatte, erhellte sich an

seinem oberen Ende und drückte seinen Dank aus in einer

Weise, die (für ihn) parlamentarische Beredsamkeit war. Er fügte

noch hinzu, er hätte als Römer nicht mehr gezogen, und Mim

hätte ihm deshalb den Vorschlag gemacht, als Indianerriese

aufzutreten, der durch »Des Milchmanns Tochter« bekehrt

worden wäre. Pickleson aber hatte erklärt, ihm sei das nach

dieser jungen Dame benannte Traktätchen vollkommen

unbekannt, auch verbiete ihm die ernste Auffassung seines

unbekannt, auch verbiete ihm die ernste Auffassung seines

Berufes derartige Scherze, worauf es zu einem Wortwechsel

kam, der für den unglücklichen jungen Mann die gänzliche

Entziehung des Biers zur Folge hatte. All das wurde während des

ganzen Gesprächs durch das wilde Brummen Mims unten an der

Kasse bestätigt, und dieser Ton ließ den Riesen wie dürres Laub

erbeben.

Derjenige Teil meiner Unterhaltung mit dem reisenden Riesen

namens Pickleson, der sich auf mein gegenwärtiges Thema

bezog, war folgender:

»Doktor Marigold« – ich wiederhole seine Worte, ohne einen

Versuch zu machen, dem Leser einen Begriff von der Schwäche

zu geben, mit der sie vorgebracht wurden

– »wer ist der Fremde, der sich bei Euren Karren herumtreibt?«

»Der Fremde?« wiederhole ich seine Frage, in der Meinung, daß

er sie meint, sich aber in seinem schwachen Zustand im Artikel

vergriffen hat.

»Doktor«, sagt er darauf, mit einem rührenden Nachdruck, der

selbst einem Mannesauge eine Träne entlockt hätte, »ich bin

zwar schwach, aber doch noch nicht so schwach, daß ich nicht

wüßte, was ich sage. Ich wiederhole deshalb, Doktor, der

Fremde.«

Es stellte sich nun heraus, daß Pickleson, der seine Glieder nur

Es stellte sich nun heraus, daß Pickleson, der seine Glieder nur

dann strecken durfte, wenn man ihn nicht umsonst sehen konnte

(nämlich zu später Nachtzeit und gegen Tagesanbruch), in dieser

selben Stadt Lancaster, in der ich mich erst zwei Abende lang

aufhielt, diesen selben Fremden zweimal in der Nähe meiner

Wagen beobachtet hatte.

Das versetzte mich in Unruhe. Was es im einzelnen zu bedeuten

hatte, das ahnte ich ebensowenig, wie ihr es jetzt ahnen könnt,

aber es machte mir Sorgen. Trotzdem tat ich Pickleson

gegenüber so, als wäre die Sache nicht ernst zu nehmen, und ich

verabschiedete mich von ihm mit dem Rat, sein Vermächtnis zur

Kräftigung seiner Gesundheit zu verwenden und sich seine

Religion nach wie vor nicht nehmen zu lassen. Gegen Morgen

hielt ich nach dem Fremden Ausschau, und – was mehr war –

ich sah ihn. Er war ein gutgekleideter, hübscher junger Mensch.

Er ging ganz nahe bei meinen Wagen hin und her, so als ob er sie

bewachte, und kurz nachdem es Tag geworden war, drehte er

sich um und ging davon. Ich rief hinter ihm her, aber er fuhr

weder zusammen noch drehte er sich um und nahm auch nicht

die geringste Notiz davon.

Etwa ein oder zwei Stunden später verließen wir Lancaster, um

nach Carlisle zu fahren. Am nächsten Morgen gegen

Tagesanbruch hielt ich wieder nach dem fremden jungen Mann

Ausschau. Ich bekam ihn nicht zu sehen. Aber am folgenden

Morgen 24

paßte ich abermals auf, und diesmal war er wieder da. Ich rief

wiederum hinter ihm her, aber, wie das erstemal, gab er nicht das

geringste Zeichen, daß er irgendwie betroffen war. Das brachte

mich auf einen Gedanken. Ich folgte meinem Einfall und

beobachtete ihn in verschiedener Weise und zu verschiedenen

Zeiten – die Einzelheiten tun nichts zur Sache –, bis ich

herausfand, daß dieser fremde junge Mann taubstumm war.

Diese Entdeckung brachte mich ganz aus dem Häuschen. Ich

wußte, daß in einem Teil der Anstalt, wo sie gewesen war, junge

Männer untergebracht waren (einige darunter in guten

Verhältnissen), und ich dachte mir: »Wenn sie ihn vorzieht, wo

bleibe dann ich? Und wo bleibt alles, wofür ich Pläne gemacht

und gearbeitet habe?«

In der Hoffnung – ich muß gestehen, daß ich so selbstsüchtig war

–, daß sie ihn nicht vorzöge, machte ich mich daran, die

Wahrheit herauszufinden. Schließlich wurde ich zufällig Zeuge

einer Zusammenkunft zwischen ihnen. Es war im Freien, und ich

stand hinter einer Fichte verborgen, ohne daß sie von meiner

Anwesenheit etwas ahnten. Es war ein rührendes

Zusammentreffen für uns alle drei. Ich verstand jede Silbe, die

zwischen ihnen gewechselt wurde, ebensogut wie sie selbst. Ich

belauschte sie mit meinen Augen, die es gelernt hatten, eine

Taubstummenunterhaltung ebenso rasch und sicher aufzufassen,

wie meine Ohren gesprochene Worte verstanden. Er war im

Begriff, als kaufmännischer Angestellter nach China zu gehen zu

Begriff, als kaufmännischer Angestellter nach China zu gehen zu

einer Firma, wo früher sein Vater beschäftigt gewesen war. Sein

Einkommen erlaubte es ihm, eine Frau zu ernähren, und er

wollte, daß sie ihn heiraten und mit ihm gehen sollte. Sie sagte

hartnäckig nein. Er fragte sie, ob sie ihn nicht liebe. Doch, sie

liebe ihn von ganzem Herzen, aber sie könnte niemals ihrem

geliebten, guten, edlen, großmütigen und ich weiß nicht was noch

alles Vater (damit meinte sie mich, den fahrenden Hausierer in

der Ärmelweste) die Enttäuschung bereiten, ihn zu verlassen, und

sie wolle bei ihm bleiben, der Himmel segne ihn!, und wenn ihr

das Herz darüber bräche.

Hier fing sie bitterlich zu weinen an, und damit war mein

Entschluß gefaßt.

Solange ich mir über ihre Gefühle zu diesem jungen Mann im

unklaren gewesen war, hatte ich eine so unvernünftige Wut auf

Pickleson gehabt, daß es gut für ihn war, sein Vermächtnis gleich

ausgezahlt gekriegt zu haben. Denn ich hatte oft gedacht:

»Wenn dieser schwachköpfige Riese nicht gewesen wäre, so

wäre es vielleicht nie dazu gekommen, daß ich mir wegen dieses

jungen Mannes den Kopf zerbreche und die Seele aus dem Leib

ärgere.« Aber, sobald ich einmal wußte, daß sie ihn liebte –

sobald ich gesehen hatte, wie sie Tränen um ihn vergoß – da war

es eine ganz andere Sache. Ich bat Pickleson auf der Stelle im

Geiste alles ab, und nahm mich zusammen, um allen gegenüber

Geiste alles ab, und nahm mich zusammen, um allen gegenüber

das Rechte zu tun.

Inzwischen hatte sie den jungen Mann verlassen (denn es dauerte

einige Minuten, bevor ich mich gänzlich zusammengenommen

hatte), und er stand gegen eine andere Fichte gelehnt und hatte

das Gesicht auf den Arm gepreßt. Ich berührte ihn am Rücken.

Er blickte auf, und als er mich wahrnahm, sagte er in der

Taubstummensprache: »Seid nicht böse.«

»Ich bin nicht böse, guter Junge. Ich bin Euer Freund. Kommt

mit mir.«

Ich ließ ihn an den Stufen des Bibliothekswagens stehen und ging

allein hinauf. Sie wischte sich die Augen.

25

»Du hast geweint, mein Kind.«

»Ja, Vater.«

»Weshalb?«

»Mir tut der Kopf weh.«

»Nicht das Herz?«

»Ich sagte der Kopf, Vater.«

»Doktor Marigold muß für diesen Kopfschmerz ein Rezept

ausstellen.«

Sie nahm das Buch mit meinen »Rezepten« auf und hielt es mit

einem gezwungenen Lächeln in die Höhe. Da sie mich aber so

ernst und ruhig sah, legte sie es sacht wieder hin, und ihre Augen

blickten mich mit größter Aufmerksamkeit an.

»Das Rezept ist nicht da drin, Sophy.«

»Wo ist es denn?«

»Hier, mein Kind.«

Ich führte ihren jungen Gatten herein, und ich legte ihre Hand in

die seine, und die einzigen Worte, die ich noch an die beiden

richten konnte, lauteten:

»Doktor Marigolds letztes Rezept. Muß fürs ganze Leben

genommen werden.«

Darauf lief ich davon.

Zur Hochzeit trug ich zum ersten und letzten Mal in meinem

ganzen Leben einen Rock (blau mit Metallknöpfen) und ich gab

Sophy mit eigener Hand hinweg. Die Gesellschaft bestand bloß

aus uns dreien und dem Gentleman, unter dessen Obhut sie

während der vergangenen zwei Jahre gestanden hatte. Das

Hochzeitsmahl für vier Personen fand im Bibliothekswagen statt.

Hochzeitsmahl für vier Personen fand im Bibliothekswagen statt.

Taubenpastete, gepökelter Schweinebraten, ein Geflügel, dazu

passendes Gemüse und das Schönste und Beste zu trinken. Ich

hielt eine Rede, der Gentleman hielt eine Rede, alle unsere Späße

hatten Erfolg, und das Ganze nahm seinen Gang wie eine Rakete.

Während des Mahles erklärte ich Sophy, daß ich den

Bibliothekswagen als meinen Wohnwagen benutzen würde,

wenn ich nicht auf der Fahrt wäre, und daß ich alle Bücher für

sie, so wie sie standen, aufbewahren würde, bis sie zurückkäme,

um sie zu verlangen. So ging sie also mit ihrem jungen Gatten

nach China, nachdem wir unter heißen Tränen bitter schweren

Abschied genommen hatten; ich verschaffte dem Jungen, den ich

hatte, eine andere Stelle, und nun schritt ich wie früher, als mein

Kind und mein Weib gestorben waren, mit der Peitsche über der

Schulter allein neben dem alten Gaul her.

Sophy schrieb mir viele Briefe, und ich schrieb ihr viele Briefe.

Gegen Ende des ersten Jahres erhielt ich einen von ihr, der mit

unsicherer Hand geschrieben war:

»Liebster Vater, vor nicht ganz einer Woche wurde mir ein süßes

kleines Töchterchen geschenkt, aber ich bin so wohlauf, daß

man mir gestattet hat, diese Worte an Euch zu schreiben.

Liebster und bester Vater, ich hoffe, mein Kind wird nicht

taubstumm sein, aber ich weiß es noch nicht.«

In meiner Antwort bat ich in vorsichtigen Worten um baldige

Nachricht darüber; da aber Sophy niemals darauf zurückkam, so

Nachricht darüber; da aber Sophy niemals darauf zurückkam, so

merkte ich, daß dies ein schmerzlicher Punkt war, und äußerte

die Bitte nicht wieder. Lange Zeit wechselten wir regelmäßig

Briefe, aber dann begannen sie unregelmäßig zu werden, denn

Sophys Gatte war in eine andere Stelle versetzt worden, und ich

war immer unterwegs. Aber wir dachten immer aneinander,

dessen war ich sicher, mochten nun Briefe kommen oder nicht.

26

Fünf Jahre und einige Monate waren es her, seit Sophy die

Heimat verlassen hatte.

Ich war immer noch der König der fahrenden Händler und meine

Beliebtheit beim Publikum war größer denn je. Das Geschäft

war im Herbst prachtvoll gegangen, und am dreiundzwanzigsten

Dezember des Jahres eintausendachthundertvierundsechzig

befand ich mich in Uxbridge in Middlessex mit gänzlich

ausverkauftem Karren. So trabte ich froh und leichten Herzens

mit dem alten Gaul nach London, um den Weihnachtsabend und

Weihnachtstag allein neben dem Kamin in dem Bibliothekswagen

zu verbringen. Darauf wollte ich mich vollkommen neu mit allen

nötigen Artikeln eindecken, um sie wieder zu verkaufen und das

Geld einzustecken.

Ich habe eine geschickte Hand im Kochen, und ich will euch

sagen, was ich für mein Mahl am Weihnachtsabend in dem

Bibliothekswagen zustande brachte. Es war ein BeefsteakBibliothekswagen

zustande brachte. Es war ein Beefsteak-

Pudding mit zwei Nieren, einem Dutzend Austern und ein paar

Pfifferlingen als Zugabe. Das ist ein Pudding, um einen Menschen

mit allem auf der Welt auszusöhnen, nur mit den beiden untersten

Knöpfen an seiner Weste wird er Schwierigkeiten haben.

Nachdem ich mich an dem Pudding gütlich getan und den Tisch

abgedeckt hatte, schraubte ich die Lampe niedrig und setzte

mich an den Kamin, die Augen auf Sophys Bücher gerichtet, die

das Feuer mit seinem Schein erhellte.

Sophys Bücher stellten mir so lebhaft Sophy selbst vor die Seele,

daß ich ihr rührendes Gesicht ganz deutlich vor mir sah, bevor

ich neben dem Feuer einschlummerte. Das mag der Grund dafür

sein, daß Sophy mit ihrem taubstummen Kind im Arm während

meines ganzen Schläfchens schweigend neben mir zu stehen

schien. Ich war auf der Landstraße, neben der Landstraße, an

allen möglichen Orten, in Nord und Süd und Ost und West,

soweit der Wind im Lande bläst, hier und dort und am anderen

Ort, über die Berge und weiter fort, und noch immer stand sie

schweigend neben mir mit ihrem schweigenden Kind in den

Armen. Erst als ich aus dem Schlaf auffuhr, schien sie zu

verschwinden, als hätte sie noch einen einzigen Augenblick zuvor

an dieser selben Stelle neben mir gestanden.

Ich war durch ein wirkliches Geräusch geweckt worden, und

dieses Geräusch kam von den Karrenstufen. Es war der leichte,

rasche Schritt eines Kindes, das hinaufkletterte. Dieser

Kinderschritt war mir einst so vertraut gewesen, daß ich einen

halben Augenblick lang glaubte, ich würde einen kleinen Geist zu

Gesicht bekommen.

Aber wirkliche Kinderhände berührten die äußere Klinke der

Tür, die Klinke wurde niedergedrückt, die Tür öffnete sich ein

wenig, und ein wirkliches Kind guckte herein. Ein hübsches

kleines Mädchen mit großen dunklen Augen.

Die Kleine blickte mich voll an und nahm ihren winzigen Strohhut

ab, wobei dichte schwarze Locken um ihr Gesichtchen fielen.

Dann öffnete sie ihre Lippen und sagte:

»Großvater!«

»O mein Gott!« rief ich aus. »Sie kann sprechen!«

»Ja, lieber Großvater. Und ich soll dich fragen, ob ich dich an

jemand erinnere.«

Im nächsten Augenblick hing Sophy, ebenso wie die Kleine, an

meinem Hals, und ihr Gatte preßte mir die Hand, während er

sein Gesicht zu verbergen suchte, und wir mußten uns alle

zusammennehmen, bevor wir uns fassen konnten. Aber als wir

27

allmählich ruhiger wurden und ich sah, wie die hübsche Kleine

freudig und rasch und eifrig mit ihrer Mutter sprach in denselben

Zeichen, die ich diese zuerst gelehrt hatte, da rollten mir die

glücklichen und doch mitleidvollen Tränen über das Gesicht.

glücklichen und doch mitleidvollen Tränen über das Gesicht.

28

Mrs. Lirripers Fremdenpension

29

Erstes Kapitel

Wie Mrs. Lirriper das Geschäft führte

Daß sich jemand mit Zimmervermieten abplagen wollte, wenn es

nicht eine alleinstehende Frau ist, die für ihren Lebensunterhalt

sorgen muß, das ist mir gänzlich unverständlich, meine Liebe;

entschuldigen Sie die Freiheit, aber die Anrede kommt mir ganz

natürlich über die Lippen, wenn ich in meinem kleinen

Wohnzimmer mein Herz allen denen öffnen möchte, denen ich

trauen kann. Ich wäre dem Himmel ewig dankbar, wenn das die

ganze Menschheit wäre, aber leider ist das nicht der Fall, denn

Sie brauchen bloß einen Zettel »Zimmer zu vermieten« im

Fenster haben und Ihre Uhr auf dem Kaminsims liegen zu lassen,

und schon ist sie auf Nimmerwiedersehen verschwunden, wenn

Sie sich bloß eine Sekunde lang umwenden. Aber auch die

Zugehörigkeit zu Ihrem eigenen Geschlecht ist noch lange keine

Garantie, wie ich am Beispiel der Zuckerzange gesehen habe,

denn jene Dame (und hübsch sah sie aus) ließ mich nach einem

Glas Wasser laufen, unter dem Vorwand, sie käme demnächst

nieder, was sich auch als richtig erwies, aber sie kam zur

Polizeiwache nieder.

Nummer einundachtzig Norfolk Street, Strand, auf halbem Weg

zwischen der City und dem St.-James-Park und nur fünf Minuten

von den besuchtesten öffentlichen Vergnügungsstätten entfernt –

von den besuchtesten öffentlichen Vergnügungsstätten entfernt –

das ist meine Adresse. Ich wohne in diesem Haus schon seit

langen Jahren zur Miete, wie das Grundsteuerbuch bezeugen

kann; und ich wünschte, mein Hauswirt wüßte diese Tatsache

ebenso zu würdigen wie ich selbst, aber nein, nicht für ein halbes

Pfund Neuanstrich, und wenn es ihm ans Leben ginge; nicht

einen neuen Ziegel aufs Dach, meine Liebe, und wenn Sie auf

den Knien vor ihm lägen.

Sie werden noch niemals Nummer einundachtzig Norfolk Street,

Strand, in Bradshaws Kursbuch gefunden haben, meine Liebe,

und so Gott will, werden Sie es auch niemals darin finden. Es

gibt zwar Leute, die keine Selbsterniedrigung darin sehen, ihren

Namen so zu verunehren, und sie gehen sogar bis zu einem Bild

von ihrem Haus, das dem Original jedoch ganz unähnlich ist, mit

einem Klecks in jedem Fenster und einer vierspännigen Kutsche

vor der Tür. Aber was Miß Wozenham weiter unten auf der

anderen Seite der Straße recht ist, ist mir noch lange nicht billig,

da Miß Wozenham ihre Anschauungen hat und ich die

meinigen. Obwohl es ja darauf ankommt, wie Sie es vor Ihrem

Gewissen zu verantworten gedenken, wenn es bis zum

systematischen Unterbieten kommt – wie es unter Eid vor

Gericht bewiesen werden kann – und das die Form annimmt:

»Wenn Mrs. Lirriper achtzehn Schilling die Woche verlangt,

dann verlange ich fünfzehneinhalb.« Und was luftige

Schlafzimmer betrifft und einen Portier, der die ganze Nacht über

auf ist, so ist es um so besser, je weniger darüber geredet wird,

da die Schlafzimmer muffig und der Portier blauer Dunst ist.

da die Schlafzimmer muffig und der Portier blauer Dunst ist.

Es sind jetzt vierzig Jahre her, seit ich und mein armer Lirriper in

der St.-Clement's Danes-Kirche getraut wurden, wo ich jetzt in

einem sehr hübschen Stuhl unter lauter vornehmer Nachbarschaft

meinen Sitz und mein eigenes Kniekissen habe und wo ich 30

nicht zu volle Abendgottesdienste bevorzuge. Mein armer

Lirriper war eine stattliche Erscheinung, mit leuchtenden Augen

und einer Stimme, so weich wie ein Musikinstrument aus Honig

und Stahl. Aber er hatte stets ein freies Leben geführt, da er von

Beruf Geschäftsreisender war und eine besonders staubige Tour

hatte, wie er sagte – »eine trockene Straße, meine liebe Emma«,

sagte mein armer Lirriper stets zu mir, »wo ich den ganzen Tag

über und die halbe Nacht dazu immer mal einen Schluck tun

muß, um den Staub hinunterzuspülen, und das nimmt mich mit,

Emma«

– und das führte dazu, daß er durch eine Menge Dinge

hindurchrannte. Er wäre wohl auch durch den Schlagbaum

hindurchgerannt, als dieses schreckliche Pferd, das keinen

einzigen Augenblick stillstehen wollte, durchbrannte. Aber es war

Nacht und der Schlagbaum geschlossen. So wurde das Rad

erfaßt und der Wagen und mein armer Lirriper zu Atomen

zerschmettert. Er hat kein Wort mehr gesprochen. Er war eine

stattliche Erscheinung und ein Mann von fröhlicher Gemütsart

und sanftem Wesen; aber wenn Photographien damals schon

üblich gewesen wären, so hätten sie Ihnen doch niemals eine

üblich gewesen wären, so hätten sie Ihnen doch niemals eine

Vorstellung von der Weichheit seiner Stimme geben können.

Überhaupt fehlt es meiner Ansicht nach Photographien im

allgemeinen an Weichheit. Man sieht darauf aus wie ein frisch

gepflügtes Feld.

Mein armer Lirriper hinterließ ein zerrüttetes Vermögen, und als

er auf dem Friedhof zu Hatfield in Hertfordshire begraben

worden war, nicht etwa, weil das sein Geburtsort war, sondern

weil er eine Vorliebe für das »Salisbury-Wappen« hatte, wohin

wir uns am Hochzeitstag begeben und glücklich vierzehn Tage

zugebracht hatten, machte ich bei den Gläubigern die Runde und

sagte zu ihnen: »Gentlemen, ich weiß wohl, daß ich für die

Schulden meines verstorbenen Gatten nicht aufzukommen

brauche, aber ich will sie bezahlen, denn ich bin sein angetrautes

Weib, und sein guter Name ist mir teuer. Ich will eine Pension

aufmachen, und wenn es mir glückt, soll jeder Penny, den mein

verstorbener Gatte schuldig geblieben ist, um der Liebe willen,

die ich zu ihm trug, zurückerstattet werden. Das schwöre ich bei

dieser meiner Rechten.« Es dauerte lange, bis ich es vollbracht

hatte, aber schließlich war es vollbracht, und als mir die

Gentlemen die silberne Rahmkanne verehrten, die, unter uns

gesagt, in meinem Schlafzimmer oben zwischen dem Bett und

der Matratze steckt und die eingravierte Widmung trägt: »Für

Mrs. Lirriper als ein Zeichen dankbarer Hochachtung für ihr

ehrenwertes Verhalten«, da gab es mir einen Ruck, der zuviel für

meine Gefühle war, bis Mr. Betley, der gern seinen Spaß

machte, zu mir sagte:

machte, zu mir sagte:

»Fassen Sie sich, Mrs. Lirriper! Sie sollten die Sache so

ansehen, als wäre es bloß Ihre Taufe und dies wären Ihre Paten,

die für Sie gelobten.«

Das brachte mich wieder zu mir selbst, und ich gestehe offen,

meine Liebe, daß ich darauf ein Butterbrot und ein wenig Sherry

in ein Körbchen tat und auf dem Außensitz der Postkutsche zum

Friedhof in Hatfield fuhr. Dort küßte ich meine Hand und legte

sie, während mein Herz von einer Art stolzen Liebe geschwellt

war, auf meines Gatten Grab. Dabei hatte es, bis ich seinen guten

Namen wiederherstellen konnte, wahrhaftig so lange gedauert,

daß mein Ehering ganz dünn und glatt war, als ich die Hand auf

das grüne, wogende Gras legte.

31

Ich bin jetzt eine alte Frau und mein gutes Aussehen ist dahin,

aber das dort über dem Tellerwärmer, meine Liebe, bin trotzdem

ich, auch wenn die Leute oft rot und verlegen werden, weil sie

meistens auf jemand ganz anderes tippen. Aber einmal kam ein

gewisser Jemand, der sein Geld in ein Hopfengeschäft gesteckt

hatte, um seine Miete zu bezahlen und einen Besuch abzustatten,

und er wollte es durchaus vom Haken runternehmen und in seine

Brusttasche stecken – Sie verstehen, meine Liebe –

aus L..., sagte er, zu dem Original –, bloß besaß er keine

Weichheit in seiner Stimme, und ich wollte es nicht zulassen.

Weichheit in seiner Stimme, und ich wollte es nicht zulassen.

Aber, was er davon hielt, können Sie daraus entnehmen, daß er

zu dem Bild sagte: »Sprich zu mir, Emma!« Das war zweifellos

alles andere als eine vernünftige Bemerkung, aber doch ein

Beweis dafür, daß das Bild mir ähnlich war, und ich glaube

selbst, ich habe wirklich so ausgesehen, als ich jung war und

diese Art Mieder trug.

Aber meine Absicht war, von der Pension zu sprechen, und ich

muß wirklich was von dem Geschäft verstehen, da ich schon so

lange darin bin. Es war zu Beginn des zweiten Jahres meiner Ehe,

daß ich meinen armen Lirriper verlor, und gleich darauf ließ ich

mich in Islington nieder und kam danach hierher, was im ganzen

zwei Häuser und achtunddreißig Jahre, einige Verluste und eine

gute Menge Erfahrung ausmacht.

Nach den Zahlungsterminen sind Dienstmädchen Ihre größte

Plage, und sie plagen Sie sogar schlimmer als die Leute, die ich

die wandernden Christen nenne, obgleich es für mich ein

Geheimnis ist (für dessen Aufklärung, wenn es durch irgendein

Wunder geschehen könnte, ich dankbar wäre), weshalb sie auf

der Erde umherwandern, nach Vermieterzetteln Ausschau halten

und dann hereinkommen, sich die Zimmer ansehen und über den

Preis handeln, obwohl sie sie gar nicht brauchen und im Leben

nicht daran denken, sie zu nehmen. Es ist verwunderlich, daß sie

so lange leben und dabei wohlauf sind, aber vermutlich erhält sie

die viele Bewegung gesund, da sie so viel klopfen und von Haus

zu Haus gehen und den ganzen Tag die Treppen hinauf und

zu Haus gehen und den ganzen Tag die Treppen hinauf und

hinunter laufen. Und dann ist es im höchsten Grade erstaunlich,

wenn sie so tun, als ob sie so überaus genau und pünktlich

wären.

Sie blicken auf ihre Uhr und sagen: »Könnten Sie mir die Zimmer

bis übermorgen vormittag zwanzig Minuten nach elf reservieren,

und angenommen meine Freundin vom Lande legt Wert darauf,

könnten Sie dann eine kleine eiserne Bettstelle in das kleine

Zimmer oben stellen?«

Als ich noch ein Neuling im Geschäft war, meine Liebe, pflegte

ich mir's zu überlegen, bevor ich zusagte; ich verwirrte mich ganz

mit Berechnungen und ermüdete mich mit nutzlosem Warten,

aber jetzt pflege ich zu sagen: »Gewiß; ganz bestimmt«, da ich

genau weiß, es ist eine wandernde Christin und sie kommt nie

wieder. Ja, jetzt kenne ich die meisten wandernden Christen

persönlich, ebenso wie sie mich, da jedes derartige Individuum,

das in London unherwandert, die Gewohnheit hat, etwa zweimal

jährlich zu erscheinen, und es ist ein sehr bemerkenswerter

Umstand, daß das Übel erblich ist und die heranwachsenden

Kinder es auch annehmen. Aber selbst wenn es anders wäre, so

brauche ich nur von der Freundin vom Lande zu hören – was ein

sicheres Zeichen ist –, um zu nicken und zu mir selbst zu sagen:

Sie sind eine wandernde Christin, obwohl ich nicht wagen kann

zu behaupten, daß es, wie ich gehört habe, Personen mit einem

kleinen Vermögen 32

sind, die eine Vorliebe für eine regelmäßige Beschäftigung und

häufigen Wechsel des Schauplatzes haben.

Dienstmädchen, wie ich meine Bemerkung begann, sind eine

Ihrer größten und dauernden Plagen, und es geht einem mit ihnen

wie mit den Zähnen, die mit Krämpfen anfangen und niemals

aufhören, Sie zu quälen, von der Zeit, wo sie durchbrechen, bis

aufhören, Sie zu quälen, von der Zeit, wo sie durchbrechen, bis

zur Zeit, wo sie abbrechen, und dabei erscheint es einem hart,

sich von ihnen zu trennen, aber wir müssen alle unterliegen oder

künstliche kaufen. –

Selbst wenn man ein williges Mädchen bekommt, dann bekommt

man in neun von zehn Fällen ein schmutziges Gesicht mit dazu,

und natürlicherweise lieben es die Mieter nicht, wenn vornehme

Besucher mit einem schwarzen Fleck über der Nase oder

schmierigen Augenbrauen eingelassen werden. Wo sie das

Schwarz herkriegen, ist für mich ein unergründliches Geheimnis,

wie in dem Fall des willigsten Mädchens, das je in ein Haus kam,

sie war halb verhungert, das arme Ding, und ein so williges

Mädel, daß ich sie die willige Sophy nannte, früh und spät auf

den Knien scheuernd und immer fröhlich, aber stets mit einem

schwarzen Gesicht lächelnd. Ich sagte zu Sophy:

»Nun, Sophy, mein gutes Mädchen, setze dir einen bestimmten

Tag für die Kamine fest, gehe stets der Schuhwichse aus dem

Weg, kämme dein Haar nicht mit Pfannenböden und rühre die

abgebrannten Kerzendochte nicht an, dann muß es doch

notwendigerweise ein Ende nehmen.«

Doch das Schwarz blieb, und stets auf ihrer Nase; und da diese

aufgeworfen und an der Spitze breit war, so hatte es den

Anschein, als ob sie damit prahlte, und es hatte auch eine

Warnung zur Folge von einem ruhigen, aber ein wenig reizbaren

Gentleman und ausgezeichneten wöchentlichen Mieter mit

Frühstück und Benutzung eines Wohnzimmers auf Verlangen,

Frühstück und Benutzung eines Wohnzimmers auf Verlangen,

der zu mir sagte:

»Mrs. Lirriper, ich bin so weit gekommen zuzugestehen, daß die

Schwarzen Menschen und Brüder sind, aber nur wenn die Farbe

natürlich ist und nicht abgerieben werden kann.«

Infolgedessen gab ich der armen guten Sophy andere Arbeit und

verbot ihr strikt, die Tür zu öffnen, wenn es klopfte, oder auf ein

Klingelzeichen herbeizulaufen, aber 33

unglücklicherweise war sie so willig, daß sie nichts davon

zurückhalten konnte, die Küchentreppe hinaufzufliegen, so oft

eine Klingel ertönte. Schließlich fragte ich sie.

»O Sophy, Sophy, um des lieben Himmels willen, woher kommt

es bloß?«

Darauf brach dieses arme, unglückliche, willige Geschöpf in

Tränen aus und erwiderte:

»Ich nahm eine Menge Schwarz in mich auf, Ma'am, als ich ein

kleines Kind war, da sich damals niemand um mich kümmerte,

und ich denke, das muß es sein, was da herauskommt.«

Da es nun bei dem armen Ding immer weiter herauskam und ich

andererseits sonst nichts an ihr auszusetzen hatte, sagte ich zu ihr:

»Sophy, was hältst du von dem Vorschlag, daß ich dir nach

»Sophy, was hältst du von dem Vorschlag, daß ich dir nach

New South Wales verhelfe, wo es vielleicht nicht bemerkt

werden wird?«

Und ich habe es nie bereut, dieses Geld ausgegeben zu haben.

Es erwies sich als gut angelegt, denn sie heiratete auf der Fahrt

den Schiffskoch (er war selbst ein Mulatte), und sie lebte gut und

glücklich, und soviel ich gehört habe, wurde es unter jenen neuen

gesellschaftlichen Zuständen bis zu ihrem Todestag nicht

bemerkt.

Wie es Miß Wozenham weiter unten auf der anderen Seite der

Straße vor ihren Gefühlen als Dame (was sie nicht ist)

verantworten konnte, Mary Anne Perkinson aus meinem Dienst

abspenstig zu machen, das muß sie selbst am besten wissen – ich

weiß es nicht, und mir liegt auch nichts daran, zu erfahren, was

für Lebensansichten Miß Wozenham hat. Aber diese Mary Anne

Perkinson, wenn sie sich auch so häßlich gegen mich benahm,

während ich stets gut zu ihr war, war ihr Gewicht in Gold wert,

wenn es sich darum handelte, den Mietern Respekt einzuflößen,

ohne sie zu vertreiben. Denn die Mieter klingelten viel weniger

nach Mary Anne, als sie nach meiner Erfahrung je nach

Mädchen oder Herrin geklingelt hatten, was viel bedeuten will,

besonders wenn schielende Augen und eine Gestalt wie ein Sack

voll Knochen dazukommen, aber es war ihre unerschütterliche

Ruhe, die jene einschüchterte, und diese Ruhe kam daher, weil

ihr Vater im Schweinehandel Unglück gehabt hatte.

Mary Annes respekteinflößendes Äußeres und ihre strenge

Weise wurden sogar mit dem pingeligsten Tee-und-Zucker-

Gentleman fertig (denn er wog beides jeden Morgen in einer

Waagschale), mit dem ich es je zu tun gehabt habe, und kein

Lamm war nachher sanfter als er. Aber später erfuhr ich, daß

Miß Wozenham einmal zufällig an meinem Haus vorüberging und

zusah, wie Mary Anne die Milch von einem Milchmann

übernahm, der jedes Mädel in der Straße in die rosigen Wangen

kniff (ich denke deshalb nichts Böses von ihm), aber von ihr so

eingeschüchtert wurde, daß er so steif wie die Statue bei Charing

Cross war. Miß Wozenham begriff sofort, welchen Wert Anne

für das Pensionsgeschäft hatte, und ging so weit, ein Pfund mehr

Vierteljahrslohn zu bieten. Infolgedessen sagte Mary Anne, ohne

daß es den geringsten Wortwechsel zwischen uns gegeben hätte,

auf einmal zu mir: »Wenn Sie sich für den nächsten Ersten nach

einer Neuen umsehen wollen, Mrs. Lirriper, ich habe es bereits

getan.« Das kränkte mich, ich sagte es ihr, und daraufhin kränkte

sie mich noch mehr, indem sie andeutete, daß das Unglück ihres

Vaters im Schweinehandel sie zu derartigen Handlungsweisen

gebracht habe.

34

Meine Liebe, ich versichere Ihnen, es ist bitter schwer zu

entscheiden, welcher Art Mädchen man den Vorzug geben soll,

denn wenn sie rasch sind, werden sie von ihren Beinen geklingelt,

und wenn sie langsam sind, haben Sie selbst darunter zu leiden,

und wenn sie langsam sind, haben Sie selbst darunter zu leiden,

weil in einem fort Klagen kommen, und wenn sie hübsche Augen

haben, so stellen ihnen die Herren nach, und wenn sie auf ihr

Äußeres halten, dann setzen sie die Hüte der Mieterinnen auf,

und wenn sie musikalisch sind, dann probieren Sie es bloß

einmal, sie von Musikkapellen und Leierkastenmännern

wegzubringen, und gleichgültig, welche Köpfe Sie an ihnen

bevorzugen, ihre Köpfe werden stets zum Fenster hinausgucken.

Und dann, was den Herren an den Mädchen gefällt, das gefällt

den Damen nicht, was für alle Beteiligten ein ständiger Zankapfel

ist, und dann kommt den Mädchen die Wut, obwohl ich hoffe,

daß es nicht oft in dem Maße der Fall ist wie bei Caroline

Maxey.

Caroline war ein hübsches, schwarzäugiges Mädchen und hatte

ein Paar kräftige Fäuste, wie ich zu meinem Schaden erfuhr, als

sie losbrach und um sich schlug. Das geschah zum ersten und

letzten Mal durch die Schuld eines jungen Ehepaares, das sich

London ansehen wollte und im ersten Stock wohnte. Die Dame

war sehr hochmütig, und es hieß, sie mochte Caroline wegen

ihres hübschen Äußeren nicht leiden, da sie selbst in dieser

Beziehung nichts übrig hatte, aber auf jeden Fall machte sie

Caroline das Leben schwer, obwohl das keine Entschuldigung

war. So kommt Caroline eines Nachmittags mit gerötetem

Gesicht in die Küche und sagt zu mir:

»Mrs. Lirriper, dieses Weib im ersten Stock hat mich ganz

unerträglich geärgert.«

Ich sage darauf: »Caroline, unterdrücke deine Wut.«

Darauf antwortet Caroline mit einem Lachen, das mir das Blut in

den Adern erstarren läßt:

»Meine Wut unterdrücken? Da haben Sie recht, Mrs. Lirriper,

das will ich tun.«

»Gott verd ... sie!« bricht Caroline darauf los (man hätte mich mit

einer Feder bis in den Mittelpunkt der Erde hineinschmettern

können, als sie das sagte). »Ich will ihr mal zeigen, welche Wut

ich in mir unterdrückt habe!«

Caroline zieht den Kopf ein, meine Liebe, schreit auf und stürzt

die Treppe empor, ich, so schnell mich meine zitternden Beine

tragen können, hinter ihr her. Aber bevor ich noch im Zimmer

anlange, ist schon das Tischtuch mit dem Geschirr in Rosa und

Weiß krachend auf den Boden geflogen und das junge Ehepaar

liegt mit den Beinen in der Luft im Karnin, er mit Schaufel und

Feuerzange und einer Schüssel voll Gurkensalat quer über dem

Bauch. Ein Glück, daß es Sommer war!

»Caroline«, rufe ich, »beruhige dich!«

Aber als sie an mir vorbeikommt, zerrt sie mir die Haube vom

Kopf und zerreißt sie mit den Zähnen, fällt dann über die

jungverheiratete Dame her, macht ein Bündel Bänder aus ihr,

faßt sie an beiden Ohren und schlägt sie mit dem Hinterkopf

faßt sie an beiden Ohren und schlägt sie mit dem Hinterkopf

gegen die Wand. Die Dame schreit während der ganzen Zeit

zetermordio, Schutzleute rennen die Straße entlang, während

Miß Wozenhams Fenster (denken Sie sich meine Gefühle, als ich

das erfuhr) aufgerissen werden und Miß Wozenham vom Balkon

aus mit Krokodilstränen herunterschreit:

»Es ist Mrs. Lirriper, die jemand durch Überforderung zum

Wahnsinn getrieben hat

– man wird sie ermorden – ich habe es schon lange erwartet –

Schutzleute, rettet sie!«

35

Meine Liebe, denken Sie sich: vier Schutzleute und Caroline

hinter der Kommode, die mit dem Schüreisen auf sie losfährt.

Als man sie entwaffnet hatte, boxte sie mit beiden Fäusten um

sich, hin und her und her und hin, ganz entsetzlich! Aber ich

konnte es nicht mit ansehen, daß sie das arme junge Ding rauh

anpackten und ihr das Haar herabrissen, als sie sie überwältigt

hatten, und ich sage:

»Meine Herren Schutzleute, bitte denken Sie daran, daß ihr

Geschlecht das Geschlecht Ihrer Mütter und Schwestern und

Ihrer Liebsten ist, und Gott segne diese und Sie selbst!«

Und da saß sie nun auf dem Boden, mit Handschellen gefesselt,

und lehnte sich, nach Atem ringend, gegen die Wandleiste, und

die Schutzleute kühl und gelassen mit zerrissenen Röcken, und

alles, was sie sagte, war:

»Mrs. Lirriper, es tut mir leid, daß ich Sie angerührt habe, denn

Sie sind eine gute, mütterliche alte Dame.«

Ich mußte daran denken, wie oft ich gewünscht hatte, ich wäre

wirklich eine Mutter, und welche Gefühle mein Herz bewegt

hätten, wenn ich die Mutter dieses Mädchens gewesen wäre!

Auf der Polizeiwache stellte sich dann heraus, daß es nicht das

erstemal bei ihr war, und man nahm ihr die Kleider weg und

steckte sie ins Gefängnis. Als sie wieder herauskommen sollte,

ging ich am Abend ans Gefängnistor mit einem bißchen Gelee in

meinem kleinen Körbchen, um sie ein wenig für den erneuten

Lebenskampf zu stärken, und dort traf ich eine sehr ehrbare

Mutter, die auf ihren Sohn wartete. Er war durch schlechte

Gesellschaft dorthin gekommen, und es war ein verstockter

Schlingel, der seine Halbschuhe aufgeschnürt trug. Da kommt

nun meine Caroline heraus und ich sage zu ihr:

» Caroline, komm mit mir und setze dich unter die Mauer, wo

niemand hinkommt, und iß eine Kleinigkeit, die ich für dich

mitgebracht habe.«

Darauf schlingt sie die Arme um meinen Hals und sagt:

»Oh, weshalb sind Sie keine Mutter, wo es solche Mütter gibt,

wie es sie gibt!«

So spricht sie, und in einer halben Minute beginnt sie zu lachen

und fragt:

»Habe ich wirklich Ihre Haube in Fetzen gerissen?«

Und als ich erwidere: »Gewiß hast du das getan, Caroline«, lacht

sie wieder und sagt, während sie mir das Gesicht streichelt:

»Weshalb tragen Sie aber auch solche altmodischen Hauben, Sie

liebes, altes Wesen? Wenn Sie nicht so eine altmodische Haube

aufgehabt hätten, dann glaube ich nicht, daß ich es selbst damals

getan hätte.«

Denken Sie sich, so ein Mädel! Ich konnte sie auf keine Weise

dazu bringen, mir zu sagen, was sie nun anfangen wollte. Sie

sagte bloß immer, oh, es würde ihr schon nicht schlechtgehen,

und wir schieden, nachdem sie mir aus Dankbarkeit die Hände

geküßt hatte. Ich habe niemals mehr etwas von dem Mädchen

gesehen oder gehört, aber ich bin fest überzeugt, daß eine sehr

vornehme Haube, die auf Veranlassung eines ungenannten

Absenders an einem Samstagabend in einem Wachstuchkorb

gebracht wurde, von Caroline kam. Der Überbringer war ein

höchst unverschämter junger Sperling von einem Affen, mit

schmutzigen Schuhen, der auf der gescheuerten Treppe laut pfiff

und an dem Geländer mit einem Reifenstock Harfe spielte.

und an dem Geländer mit einem Reifenstock Harfe spielte.

36

Welch unchristlichen Verdächtigungen man sich aussetzt, wenn

man sich auf das Pensionsgeschäft wirft, das kann ich Ihnen nicht

mit Worten schildern. Aber ich bin niemals so ehrlos gewesen,

doppelte Schlüssel zu haben, noch möchte ich das gern von Miß

Wozenham weiter unten auf der anderen Seite der Straße

glauben; ja, ich hoffe sogar aufrichtig, daß das nicht der Fall sein

möge, obwohl man andererseits nie wissen kann. Es ist im

höchsten Grade verletzend für die Gefühle einer

Pensionsinhaberin, daß die Mieter stets denken, man versuche

sie zu übervorteilen, und niemals auf den Einfall kommen, daß

vielleicht grade sie es sind, die einen übervorteilen möchten.

Aber, wie Major Jackman oft zu mir gesagt hat:

»Ich kenne die Gewohnheiten auf diesem runden Erdball, Mrs.

Lirriper, und das ist eine davon, die sich überall findet.«

Und manchen kleinen Ärger hat mir der Major schon

ausgeredet, denn er ist ein kluger Mensch und hat schon vieles zu

sehen bekommen.

Du lieber Gott, sollte man es denken, dreizehn Jahre sind

darüber hingegangen, obwohl es mir wie gestern erscheint, daß

ich an einem Augustabend am offenen Wohnzimmerfenster saß

(denn das Wohnzimmer war gerade frei) und mit der Brille auf

der Nase die Zeitung vom vorigen Tag las. Denn meine Augen

der Nase die Zeitung vom vorigen Tag las. Denn meine Augen

waren für Druckschrift zu schwach geworden, obwohl ich, dem

Himmel sei Dank, gut in die Ferne sehen kann. Auf einmal höre

ich einen Gentleman die Straße herauflaufen kommen, der in

einer fürchterlichen Wut mit sich selbst spricht und jemand zu

allen Teufeln wünscht.

»Bei Sankt-Georg!« sagt er laut und packt seinen Spazierstock

fester, »jetzt gehe ich zu Mrs. Lirriper. Wo wohnt Mrs.

Lirriper?«

Darauf blickt er sich um, und wie er mich sieht, zieht er den Hut

so tief, als wäre ich die Königin, und sagt:

»Verzeihen Sie die Störung, Madam, aber können Sie mir bitte

sagen, Madam, in welcher Nummer in dieser Straße eine

weitbekannte und allgemein geachtete Dame namens Lirriper

wohnt?«

Ein wenig verlegen, obwohl, wie ich gestehen muß, angenehm

berührt, nehme ich die Brille ab und sage mit einer Verbeugung:

»Sir, Mrs. Lirriper ist Ihre ergebene Dienerin.«

»Das ist ja erstaunlich!« sagt er darauf. »Bitte tausendmal um

Verzeihung! Madam, darf ich Sie bitten, einen Ihrer Bedienten

anzuweisen, einem wohnungsuchenden Herrn namens Jackman

die Tür zu öffnen?«

Ich hatte den Namen nie zuvor gehört, aber einen höflicheren

Gentleman werde ich sicher niemals vor mir sehen, denn er sagte:

»Madam, es ist mir peinlich, daß Sie persönlich die Tür für

keinen würdigeren Zeitgenossen als Jemmy Jackman öffnen.

Nach Ihnen, Madam. Ich trete niemals vor einer Dame ein.«

Darauf tritt er ins Wohnzimmer, zieht die Luft tief ein und sagt:

»Ah, das ist ein Wohnzimmer! Kein muffiger Schrank«, sagt er,

»sondern ein Wohnzimmer, und kein Geruch nach

Kohlensäcken.«

Nämlich, meine Liebe, es ist von einigen Leuten, die unseren

ganzen Stadtteil nicht mögen, behauptet worden, daß es hier

immer nach Kohlensäcken rieche. Und da das 37

geeignet wäre, die Mieter abzuschrecken, wenn man nicht

Einspruch dagegen erhebt, sage ich in freundlichem, aber festem

Tone zu dem Major, er meine damit wohl Arundel oder Surrey

oder Howard, aber nicht Norfolk.

»Madam«, sagt er darauf, »ich meine Miß Wozenhams Pension

weiter unten auf der anderen Seite – Madam, Sie können sich

keinen Begriff machen, wie es dort zugeht –

Madam, die ganze Pension ist ein kolossaler Kohlensack und

Miß Wozenham hat die Grundsätze und Manieren eines

Miß Wozenham hat die Grundsätze und Manieren eines

weiblichen Kohlenträgers – Madam, aus der Art, wie ich sie von

Ihnen habe sprechen hören, weiß ich, daß sie eine Dame nicht zu

schätzen weiß, und aus der Art, wie sie sich mir gegenüber

aufgeführt hat, weiß ich, daß sie einen Gentleman nicht zu

schätzen weiß – Madam, mein Name ist Jackman – sollten Sie

noch eine weitere Referenz wünschen, so nenne ich die Bank

von England – sie ist Ihnen vielleicht bekannt!«

So kam es, daß der Major die Zimmer nach vorn hinaus bezog,

und von jener Stunde bis zur heutigen sitzt er darin und ist ein

äußerst liebenswürdiger und in jeder Hinsicht pünktlicher Mieter,

abgesehen von einer kleinen Unregelmäßigkeit, auf die ich nicht

besonders einzugehen brauche. Doch dafür ist er ein Schutz und

zu jeder Zeit bereit, die Steuererklärung und dergleichen Sachen

auszufüllen. Einmal erwischte er sogar einen jungen Mann mit der

Stehuhr aus dem Salon unter dem Rock, und ein andermal

löschte er mit seinen eigenen Händen und Bettüchern den

Schornstein auf dem Dach; und hinterher bei der Verhandlung

sprach er äußerst beredt gegen die Gemeindeverwaltung und

ersparte mir die Kosten für die Feuerspritze. Er ist stets ein

vollendeter Gentleman, obgleich leicht aufgebracht. Und

sicherlich hat Miß Wozenham nicht freundlich darin gehandelt,

daß sie seine Koffer und den Regenschirm zurückbehielt, wenn

sie auch das gesetzliche Recht dazu haben mochte. Ja, vielleicht

hätte ich das selbst auch getan, obwohl der Major so sehr ein

Gentleman ist, daß er, obgleich durchaus nicht von hoher Gestalt,

doch fast so aussieht, wenn er seinen Gehrock mit der

doch fast so aussieht, wenn er seinen Gehrock mit der

herausgesteckten Hemdkrause an- und seinen Hut mit runder

Krempe aufhat. Freilich, in welchem Dienst er war, das kann ich

Ihnen nicht mit Bestimmtheit sagen, meine Liebe, ob zu Hause

oder in den Kolonien, denn ich habe nie gehört, daß er von sich

selbst als Major sprach, sondern er nannte sich immer nur

einfach »Jemmy Jackman«. Einmal, kurze Zeit nachdem er

eingezogen war, hielt ich es für meine Pflicht, ihm mitzuteilen,

Miß Wozenham hätte das Gerücht ausgestreut, er wäre gar kein

Major, und ich nahm mir die Freiheit hinzuzufügen: »Was Sie

doch sind, Sir.«

Darauf meinte er:

»Madam, auf jeden Fall bin ich kein Minor, und jeder Tag hat

seine Plage.«

Auch kann man nicht leugnen, daß das die reine Wahrheit ist,

und dafür spricht auch seine soldatische Gewohnheit, daß ihm

seine Stiefel, bloß vom Schmutz gesäubert, jeden Morgen auf

einer sauberen Platte ins Zimmer gebracht werden müssen,

worauf er sie stets nach dem Frühstück mit einem kleinen

Schwamm und einer Untertasse, leise vor sich hin pfeifend, selbst

wichst. Das macht er so geschickt, daß er sich niemals die

Wäsche dabei beschmutzt, die mit peinlicher Sorgfalt im Stande

gehalten ist, obwohl sie mehr durch ihre gute Beschaffenheit als

durch ihre Menge hervorsticht; und ebensowenig den

Schnurrbart, der, wie ich fest überzeugt 38

Schnurrbart, der, wie ich fest überzeugt 38

bin, zur selben Zeit besorgt wird und der denselben

tiefschwarzen Glanz aufweist wie seine Stiefel, während sein

Haupthaar schön weiß ist.

Der Major wohnte schon seit etwa drei Jahren bei mir, als eines

Morgens, früh im Februar, kurz vor Beginn der

Parlamentssitzung (und Sie können sich denken, daß um diese

Zeit eine Masse Betrüger umherlaufen, bereit, alles einzustecken,

dessen sie habhaft werden können) ein Gentleman und eine

Dame vom Lande vorsprachen, um sich das zweite Stockwerk

anzusehen. Ich erinnere mich noch ganz gut, daß ich am Fenster

saß und sie und den schweren Hagel draußen beobachtete, wie

sie sich nach Vermietungszetteln umsahen. Das Gesicht des

Gentleman wollte mir nicht recht gefallen, obwohl er gut aussah,

aber die Dame war eine sehr hübsche junge Frau und so zart,

daß das Wetter viel zu rauh für sie zu sein schien, obwohl sie

bloß von dem Adelphi Hotel kam, das bei weniger schlechtem

Wetter nicht viel mehr als eine Viertelmeile zu Fuß entfernt war.

Nun hatte es sich gerade so gefügt, meine Liebe, daß ich genötigt

war, auf das zweite Stockwerk fünf Schilling wöchentlich

aufzuschlagen. Denn ich hatte einen Verlust gehabt, weil jemand

im Abendanzug, als ginge er zu einem Dinner, davongelaufen

war, und das ist ein sehr hinterlistiges Verfahren und hatte mich

reichlich mißtrauisch gemacht, da ich es mit dem Parlament in

Verbindung brachte. Als deshalb der Gentleman drei Monate

fest und mit Vorauszahlung vorschlug und sich außerdem das

fest und mit Vorauszahlung vorschlug und sich außerdem das

Recht vorbehielt, nach Ablauf dieser Zeit auf weitere sechs

Monate zu denselben Bedingungen zu verlängern, da sagte ich,

mir käme es so vor, als habe ich mich bereits einem anderen

Mieter gegenüber verpflichtet; ich wüßte es aber nicht bestimmt

und wollte deshalb einmal nach unten gehen und nachsehen; sie

möchten so lange bitte Platz nehmen. Sie nahmen Platz, und ich

ging nach unten vor die Tür des Majors, den ich bereits

angefangen hatte um Rat zu fragen, da ich das sehr nützlich fand.

Ich erkannte an seinem leisen Pfeifen, daß er dabei war, seine

Stiefel zu wichsen, wobei er in der Regel nicht gestört werden

wollte; jedoch rief er freundlich: »Wenn Sie es sind, Madam,

dann treten Sie ein«, und ich trat ein und erzählte ihm die Sache.

»Nun, Madam«, sagte der Major, sich die Nase reibend – ich

fürchtete im Augenblick, er täte es mit dem schwarzen

Schwamm, aber es war bloß sein Handgelenk, da er mit seinen

Fingern immer geschickt und sauber war – »nun, Madam, ich

vermute, daß Sie das Geld ganz gern annehmen würden?«

Ich scheute mich, gar zu rasch »ja« zu sagen, denn die Wangen

des Majors hatten sich ein wenig tiefer gefärbt und es lag eine

Unregelmäßigkeit, auf die ich nicht weiter eingehen will, in bezug

auf einen Teil vor, den ich nicht nennen will.

»Ich bin der Ansicht, Madam«, sagte der Major, »daß, wenn

Geld für Sie da ist –

wenn es für Sie da ist, Mrs. Lirriper –, Sie es annehmen sollten.

wenn es für Sie da ist, Mrs. Lirriper –, Sie es annehmen sollten.

Was spricht in dem Falle im zweiten Stockwerk dagegen?«

»Ich kann wirklich nicht sagen, daß etwas dagegen spricht, Sir;

doch dachte ich, ich wollte mich erst mit Ihnen beraten.«

»Sie sagten, glaube ich, ein jungverheiratetes Paar, Madam?«

fragte der Major.

Ich antwortete:

»Ja-a, anscheinend. Die junge Dame bemerkte mir gegenüber

jedenfalls beiläufig, sie wäre erst seit ein paar Monaten

verheiratet.«

39

Der Major rieb sich wiederum die Nase und rührte die Wichse in

der kleinen Untertasse mit seinem Stückchen Schwamm um und

um, während er auf seine Art leise pfiff. Das dauerte einige

Augenblicke, dann sagte er:

»Es wäre eine günstige Vermietung, Madam?«

»O ja, eine recht günstige Vermietung, Sir.«

»Angenommen, sie verlängern für die übrigen sechs Monate.

Würde es Ihnen sehr viel Schererei machen, Madam, wenn –

wenn das Schlimmste sich ereignen sollte?«

wenn das Schlimmste sich ereignen sollte?«

fragte er.

»Nun, ich weiß nicht recht«, sagte ich zu dem Major. »Es kommt

darauf an.

Würden Sie zum Beispiel etwas dagegen einzuwenden haben,

Sir?«

»Ich?« fragte der Major. »Etwas dagegen einwenden? Jemmy

Jackman? Mrs.

Lirriper, nehmen Sie an.«

So ging ich also wieder hinauf und nahm an, und am folgenden

Tag, einem Sonnabend, zogen sie ein. Der Major war so

freundlich, mit seiner hübschen runden Handschrift eine

schriftliche Vereinbarung aufzusetzen, deren Wendungen, meiner

Ansicht nach, ebenso juristisch wie militärisch klangen, und Mr.

Edson unterzeichnete sie am Montagmorgen. Am Dienstag

machte der Major Mr. Edson einen Besuch, und Mr. Edson

machte dem Major am Mittwoch seinen Gegenbesuch, und der

zweite und der erste Stock standen auf so freundschaftlichem

Fuße, wie man es nur wünschen konnte.

Die drei Monate, für die die neuen Mieter vorausbezahlt hatten,

waren vorüber, und wir waren ohne irgendwelche neue

Vereinbarungen über die Bezahlung in den Mai hineingekommen,

Vereinbarungen über die Bezahlung in den Mai hineingekommen,

meine Liebe, als Mr. Edson plötzlich genötigt war, eine

Geschäftsreise quer durch die Insel Man zu unternehmen. Das

kam für das hübsche kleine Weibchen gänzlich unerwartet, und

die Insel Man ist meiner Meinung nach auch kein Ort, mit dem

besonders viel los wäre, aber das mag nun Ansichtssache sein.

Das Ganze war so plötzlich gekommen, daß er schon am

nächsten Tag abreisen mußte, und die hübsche kleine Frau

weinte zum Herzzerbrechen, und ich weinte mit ihr, als ich sie in

dem scharfen Ostwind – der Frühling hatte sich in diesem Jahr

stark verzögert – auf dem kalten Straßenpflaster stehen sah, wie

sie noch einen letzten Abschied von ihm nahm. Der Wind

zerzauste ihr schönes blondes Haar, und ihre Arme waren um

seinen Nacken geschlungen, während er sagte:

»Nun, nun, nun. Jetzt laß mich, Peggy.«

Und jetzt sah man ganz deutlich, daß das, wogegen der Major

freundlicherweise nichts einzuwenden haben wollte, wenn es

einträte, wirklich eintreten würde, und ich mahnte sie daran, als

er fort war und ich sie mit meinem Arm beim Treppensteigen

stützte.

»Es wird bald jemand anders da sein, für den Sie sich schonen

müssen, mein hübsches Frauchen«, sagte ich, »und Sie müssen

stets daran denken.«

Als schon längst ein Brief von ihm hätte da sein sollen, wartete

sie immer noch vergebens, und was sie jeden Morgen

sie immer noch vergebens, und was sie jeden Morgen

durchmachte, wenn der Briefträger nichts für sie hatte, das flößte

am Ende sogar dem Briefträger selbst Mitleid ein, wie er sie so

an die Tür gerannt kommen sah; und doch können wir uns nicht

wundern, daß es die Gefühle abstumpft, die ganze Mühe und

nichts von dem Vergnügen mit den Briefen 40

anderer Leute zu haben, und dabei meistenteils im Schmutz und

Regen herumzulaufen und für eine Bezahlung, die mehr an Kleinals

an Großbritannien denken läßt. Endlich aber eines Morgens,

als sie sich zu schlecht fühlte, um die Treppe herabzulaufen, sagt

er zu mir mit einer freudigen Miene, die mich den Mann in seinem

Beamtenrock fast lieben ließ, obwohl er von Nässe triefte:

»Ich habe heute morgen von der ganzen Straße zuerst ihr Haus

drangenommen, Mrs. Lirriper, denn hier ist der Brief für Mrs.

Edson.«

Ich lief, so schnell mich meine Beine tragen wollten, mit dem

Brief in ihr Schlafzimmer hinauf, und als sie ihn sah, setzte sie sich

im Bett auf und küßte ihn.

Dann riß sie ihn rasch auf und las, und ich sah, wie ihr Gesicht

leichenblaß wurde und erstarrte.

»Er ist sehr kurz!« sagte sie, ihre großen Augen zu meinem

Gesicht erhebend. »Oh, Mrs. Lirriper, er ist sehr kurz!«

Ich sage darauf:

Ich sage darauf:

»Meine liebe Mrs. Edson, zweifellos hatte Ihr Gatte gerade keine

Zeit, mehr zu schreiben.«

»Zweifellos, zweifellos«, anwortet sie, schlägt beide Hände vors

Gesicht und dreht sich nach der Wand um.

Ich schloß sacht ihre Tür zu, kroch hinunter und pochte an die

Tür des Majors, und als er, der gerade dabei war, seine dünnen

Schinkenschnitte auf seinem eignen kleinen Bratrost zu rösten,

mein Gesicht sah, stand er von seinem Stuhl auf und ließ mich auf

das Sofa niedersitzen.

»Still!« sagte er. »Ich sehe, es ist etwas vorgefallen. Sprechen

Sie nicht – lassen Sie sich Zeit.«

Ich erwiderte darauf:

»Oh, Major, ich fürchte, oben wird eine Seele grausam gequält.«

»Ja, ja«, sagte er, »ich hatte angefangen, es zu befürchten –

lassen Sie sich Zeit.«

Und dann beginnt er im Widerspruch zu seinen Worten

fürchterlich zu toben und sagt:

»Ich werde es mir niemals verzeihen, Madam, daß ich, Jemmy

Jackman, die ganze Sache nicht gleich an jenem Morgen

Jackman, die ganze Sache nicht gleich an jenem Morgen

durchschaute – daß ich nicht mit meinem Stiefelschwämmchen in

der Hand hinaufging, es ihm in den Hals stopfte und ihn auf der

Stelle damit erstickte!«

Als wir uns einigermaßen gefaßt hatten, kamen der Major und

ich überein, daß alles, was wir im Augenblick tun konnten, darin

bestand, uns so zu stellen, als argwöhnten wir nichts, und dafür

zu sorgen, daß die arme junge Frau möglichst viel Ruhe hätte.

Was ich aber ohne den Major angefangen hätte, als es unter den

Leierkastenmännern bekannt wurde, daß wir Ruhe haben

wollten, das weiß ich wirklich nicht. Denn er führte einen

erbitterten Krieg mit ihnen, in dem Grade, daß ich, hätte ich es

nicht mit eigenen Augen gesehen, niemals hätte glauben können,

ein Gentleman könne derartig mit Schüreisen, Spazierstöcken,

Wasserkannen, Kohlen, Kartoffeln aus der Schüssel, ja sogar

mit dem Hut von seinem Kopf um sich werfen; und dabei tobte

er dermaßen in fremden Sprachen, daß sie mit dem Griff in der

Hand erstarrt stehenblieben.

41

Sooft ich jetzt den Briefträger sich dem Haus nähern sah, geriet

ich in derartige Angst, daß es wie die Gewährung einer

Galgenfrist war, wenn er vorüberging. Aber etwa zehn oder

vierzehn Tage später sagt er wiederum:

»Hier ist einer für Mrs. Edson. Befindet sie sich einigermaßen

wohl?«

wohl?«

»Sie befindet sich soweit wohl, Briefträger, aber nicht wohl

genug, um so früh wie sonst aufzustehen.« Und das entsprach

schließlich auch vollkommen der Wahrheit.

Ich brachte den Brief zum Major, der bei seinem Frühstück saß,

und ich sagte bebend:

»Major, ich habe nicht den Mut, ihn zu ihr hinaufzutragen.«

»Es ist ein übelaussehender Schurke von einem Brief«, sagt der

Major.

»Ich habe nicht den Mut, Major«, sagte ich wiederum zitternd,

»ihn zu ihr hinaufzutragen.«

Nachdem er einige Augenblicke lang nachgedacht zu haben

schien, sprach er, während er den Kopf aufrichtete, als ob ihm

ein neuer und zweckdienlicher Gedanke gekommen sei:

»Mrs. Lirriper, ich werde es mir niemals verzeihen, daß ich,

Jemmy Jackman, an jenem Morgen nicht mit meinem

Stiefelschwämmchen in der Hand hinaufging, es ihm in den Hals

stopfte und ihn auf der Stelle damit erstickte.«

»Major«, sagte ich ein wenig rasch, »Sie haben es nicht getan,

und das ist ein Glück, denn es wäre nichts Gutes dabei

herausgekommen, und ich glaube, Sie haben besser daran getan,

herausgekommen, und ich glaube, Sie haben besser daran getan,

Ihr Schwämmchen für Ihre Stiefel zu benutzen.«

So kamen wir denn dahin, die Sache vernünftig zu betrachten,

und faßten den Plan, daß ich an ihre Schlafzimmertür anklopfen,

den Brief auf die Matte davor niederlegen und auf dem oberen

Treppenabsatz abwarten sollte, was sich ereignen würde. Das tat

ich nun, und nie hat ein Mensch vor Schießpulver,

Kanonenkugeln, Granaten oder Raketen mehr Angst gehabt als

ich vor diesem entsetzlichen Brief, als ich ihn in das zweite

Stockwerk hinauftrug.

Ein furchtbarer Aufschrei gellte durch das Haus, wenige

Augenblicke nachdem sie den Brief geöffnet hatte, und ich fand

sie wie leblos auf dem Boden liegen. Meine Liebe, ich warf

keinen Blick auf den geöffnet neben ihr liegenden Brief, denn ich

hatte keine Zeit dazu.

Alles, was ich brauchte, um sie wieder zu sich zu bringen, trug

der Major mit eignen Händen herbei. Außerdem lief er nach

dem, was wir nicht im Hause hatten, zum Apotheker, und

schließlich bestand er das wildeste aller seiner vielen Scharmützel

mit einem Leierkasten, auf dem ein Tanzsaal dargestellt war, ich

weiß nicht in welchem Land, und darauf tanzende Paare, die mit

rollenden Augen durch eine Flügeltür aus und ein walzten. Als ich

nach langer Zeit wahrnahm, wie sie sich zu erholen begann, glitt

ich auf den Treppenabsatz hinaus, bis ich sie weinen hörte, und

dann ging ich hinein und sagte mit munterer Stimme: »Mrs.

dann ging ich hinein und sagte mit munterer Stimme: »Mrs.

Edson, Sie sind nicht wohl, meine Liebe, und das ist nicht zu

verwundern«, als wäre ich zuvor gar nicht drin gewesen. Ob sie

es mir glaubte oder nicht, das kann ich nicht sagen, und es

kommt auch nicht darauf an, aber ich blieb stundenlang bei ihr,

und dann flehte sie Gottes Segen auf mich herab und meinte, sie

wolle zu schlafen versuchen, denn der Kopf tue ihr weh.

42

»Major«, flüsterte ich, zum ersten Stock hereinblickend, »ich

bitte Sie und flehe Sie an, gehen Sie nicht aus.«

Der Major flüsterte:

»Madam, seien Sie versichert, ich werde hierbleiben. Wie geht

es ihr?«

Ich sage darauf:

»Major, Gott der Herr über uns weiß allein, was in ihrer armen

Seele brennt und tobt. Ich verließ sie, während sie an ihrem

Fenster saß. Ich gehe, um mich an das meinige zu setzen.«

Es wurde Nachmittag, und es wurde Abend. In der Norfolk

Street wohnt es sich sehr schön – mit Ausnahme von weiter

unten –, aber an Sommerabenden, wenn die Straße staubig ist

und weggeworfenes Papier darauf herumliegt, wenn die Kinder

dort spielen und die staubig-heiße Luft still brütend darüberliegt,

während in der Nachbarschaft ein paar Kirchenglocken läuten,

ist sie ein wenig langweilig. Seit jenem Vorfall habe ich niemals zu

einer solchen Zeit auf die Straße blicken können und werde es in

alle Zukunft niemals tun können, ohne daß mir der langweilige

Juniabend in der Erinnerung aufsteigt, als dieses verlassene junge

Geschöpf an ihrem offenen Eckfenster im zweiten Stock und ich

an meinem offnen Eckfenster (an der andern Ecke) im dritten

Stock saß. Eine gnädige Macht, eine Macht, die bei weitem

weiser und besser war als ich selbst, hatte mir eingegeben,

solange es noch hell war, in Hut und Schal dazusitzen. Als die

Schatten fielen und die Flut stieg, konnte ich bisweilen sehen –

wenn ich den Kopf zum Fenster hinausstreckte und nach ihrem

Fenster unter mir blickte –, daß sie sich ein wenig hinauslehnte

und die Straße hinabschaute. Es wurde gerade dunkel, als ich sie

auf der Straße sah.

Von einer solchen Angst erfüllt, ich könnte sie aus den Augen

verlieren, daß sie mir noch jetzt, wo ich es erzähle, fast den Atem

benimmt, rannte ich, schneller als ich je in meinem ganzen Leben

gelaufen bin, die Treppe hinunter. Ich schlug nur einmal im

Vorübergehen mit der Hand an die Tür des Majors und schlüpfte

auf die Straße. Ich sah sie nicht mehr. Ich lief mit derselben

Schnelligkeit die Straße hinunter, und als ich an der Ecke der

Howard Street anlangte, sah ich, daß sie in diese eingebogen

war und vor mir nach Westen zu ging. Oh, mit welch

dankerfülltem Herzen sah ich sie dahinschreiten!

London war ihr gänzlich unbekannt, und sie war selten über die

London war ihr gänzlich unbekannt, und sie war selten über die

Umgebung unseres Hauses hinausgekommen. Sie hatte mit ein

paar kleinen Kindern aus der Nachbarschaft Bekanntschaft

gemacht, stand bisweilen bei ihnen auf der Straße und blickte

nach dem Wasser. Sie ging jetzt aufs Geratewohl, wie ich wußte,

aber dabei schlug sie doch immer die richtigen Seitenstraßen ein,

bis sie an den Strand kam. An jeder Ecke sah ich, wie ihr Kopf

beständig einer bestimmten Richtung zugekehrt war, und das war

stets die Richtung nach dem Fluß.

Vielleicht war es nur die Dunkelheit und Stille der

AdelphiTerrasse, die sie veranlaßte, in diese einzubiegen, aber

sie tat es so entschlossen, als ob diese von Anfang an ihr Ziel

gewesen wäre. Vielleicht war es auch wirklich so. Sie ging

geradewegs auf die Terrasse zu und an ihr entlang und blickte

dabei über das Geländer, und noch oft in späterer Zeit fuhr ich in

meinem Bett aus einem Angsttraum empor, indem ich sie wie in

jenem Augenblick vor mir sah. Die 43

Verlassenheit des Kais unterhalb und das rasche Strömen der

hohen Flut an dieser Stelle schienen sie zu locken. Sie warf einen

Blick um sich, wie um den Weg nach unten herauszufinden, und

schlug den richtigen oder den falschen Weg ein – ich weiß nicht

welchen, denn ich bin vorher oder nachher nie dort gewesen –,

während ich ihr folgte.

Es war bemerkenswert, daß sie während dieser ganzen Zeit nicht

ein einziges Mal zurückblickte. Aber in ihrem Gang war jetzt eine

ein einziges Mal zurückblickte. Aber in ihrem Gang war jetzt eine

große Veränderung wahrzunehmen; denn während sie bisher

einen gleichmäßigen raschen Schritt eingehalten hatte, wobei ihre

Arme auf der Brust gekreuzt waren, lief sie unter den unheimlich

finsteren Wölbungen in wilder Eile mit weitgeöffneten Armen

dahin, als wären es Flügel und sie flöge zum Tod.

Wir befanden uns jetzt auf dem Kai, und sie blieb stehen. Auch

ich machte halt. Ich sah, wie ihre Hände nach ihren Hutbändern

griffen – im nächsten Augenblick war ich zwischen ihr und dem

Kairand und faßte sie mit beiden Armen um den Leib. Sie hätte

mich mit in die Tiefe reißen können, aber unter keinen

Umständen wäre es ihr gelungen, sich von mir loszumachen –

das sichere Gefühl hatte ich.

Bis zu diesem Augenblick war es in meinem Kopf ganz wirr

gewesen, und ich hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, was

ich zu ihr sagen sollte, aber sowie ich sie berührte, kam es wie

ein Zauber über mich, und ich war im Besitz meiner natürlichen

Stimme und meines Verstandes und konnte fast wieder ruhig

atmen.

»Mrs. Edson!« sage ich. »Meine Liebe! Sehen Sie sich vor. Wie

konnten Sie sich bloß verirren und an einem so gefährlichen Ort

wie diesen geraten? Sie müssen doch wirklich durch die

verwickeltsten Straßen in ganz London hierhergekommen sein.

Kein Wunder, daß Sie sich verirrt haben. Und gerade an diesem

Kein Wunder, daß Sie sich verirrt haben. Und gerade an diesem

Ort! Ich dachte wahrhaftig, hier käme nie ein Mensch hin,

ausgenommen ich selbst, um meine Kohlen zu bestellen, und der

Major aus dem ersten Stock, um seine Zigarre zu rauchen!« –

denn ich sah diesen gesegneten Mann ganz in der Nähe, wie er

so tat, als rauche er.

»Ha – Ha – Hum!« hustet der Major.

»Und wahrhaftig«, sage ich, »da ist er!«

»Hallo! Wer da?« sagt der Major in militärischem Ton.

»Nun!« antwortete ich. »Das ist doch die Höhe! Kennen Sie uns

nicht, Major Jackman?«

»Hallo!« sagt der Major. »Wer ruft Jemmy Jackman an?« Und

dabei war er ganz außer Atem und spielte seine Rolle weniger

natürlich, als ich es erwartet hätte.

»Hier ist Mrs. Edson, Major«, sage ich. »Sie hat einen

Spaziergang gemacht, um ihren armen Kopf zu kühlen, der ihr

sehr weh getan hat; sie ist dabei vom Weg abgekommen und hat

sich verirrt, und Gott weiß, wohin sie noch geraten wäre, wenn

ich nicht gerade des Wegs dahergekommen wäre, um in den

Briefkasten meines Kohlenlieferanten eine Bestellung

einzuwerfen, und Sie nicht hier herumspazierten, um Ihre Zigarre

zu rauchen! – Und Sie sind wirklich nicht wohl genug, meine

Liebe«, sage ich zu ihr, »um sich ohne mich auch nur halb so weit

Liebe«, sage ich zu ihr, »um sich ohne mich auch nur halb so weit

von zu Hause zu entfernen. – Und Ihr Arm wird sicherlich sehr

willkommen sein, Major«, sage ich zu ihm, »ich weiß, sie darf

sich, so schwer sie will, darauf lehnen.«

44

Und mittlerweile hatten wir es soweit gebracht – dem

Allmächtigen sei Dank! –, daß sie zwischen uns beiden

dahinschritt.

Ein kalter Schauer schüttelte sie vom Kopf bis zu den Füßen,

und das Zittern hörte nicht auf, bis ich sie auf ihr Bett legte. Bis

zum frühen Morgen hielt sie meine Hand fest und jammerte und

jammerte: »Oh, der Elende, der Elende, der Elende!« Aber als

ich schließlich so tat, als ob der Kopf mir schwer würde und ein

tiefer Schlaf mich übermannte, hörte ich, wie das arme junge

Weib mit so rührenden und demutsvollen Worten dem Himmel

dankte, daß sie davor bewahrt geblieben sei, sich in ihrer Raserei

das Leben zu nehmen, daß ich glaubte, ich müßte mir auf der

Bettdecke die Augen ausweinen, und ich wußte, daß sie es nicht

wieder versuchen würde.

Da es mir gutging und ich die Ausgabe tragen konnte,

schmiedete ich am folgenden Tag mit dem Major meine Pläne,

während sie den tiefen Schlaf der Erschöpfung schlief; sobald es

anging, sagte ich zu ihr:

»Mrs. Edson, meine Liebe, als Mr. Edson mir die Miete für

»Mrs. Edson, meine Liebe, als Mr. Edson mir die Miete für

diese weiteren Monate bezahlte ...«

Sie fuhr empor, und ich fühlte, wie ihre großen Augen auf mich

gerichtet waren, aber ich fuhr mit meiner Rede und meiner

Nadelarbeit fort.

»... ich bin nicht ganz sicher, ob ich die Quittung richtig datierte.

Könnten Sie sie mir einmal zeigen?«

Sie legte ihre eiskalte Hand auf die meine und sah mich

durchbohrend an, als ich genötigt war, von meiner Nadelarbeit

aufzublicken. Aber ich hatte die Vorsicht gebraucht, meine Brille

aufzusetzen.

»Ich habe keine Quittung«, sagte sie darauf.

»Ah! Dann hat er sie«, sagte ich in gleichgültigem Ton. »Es

kommt nicht darauf an.

Eine Quittung ist eine Quittung.«

Von dieser Zeit an hielt sie stets meine Hand in der ihrigen, wenn

ich sie ihr reichen konnte, und das war in der Regel nur dann der

Fall, wenn ich ihr vorlas. Denn natürlich hatten sie und ich viel mit

der Nadel zu tun, und keine von uns beiden hatte ein besonderes

Geschick für diese kleinen Wäschestückchen, obwohl ich in

Anbetracht der Umstände auf meinen Anteil daran ziemlich stolz

bin. Und obwohl sie auf alles achtete, was ich ihr vorlas, so

bin. Und obwohl sie auf alles achtete, was ich ihr vorlas, so

schien es mir doch, daß neben der Bergpredigt es sie am meisten

fesselte, wenn ich von dem sanften Mitleid unseres Herrn mit uns

armen Frauen las und von seiner Jugend, und wie seine Mutter

stolz auf ihn war und alle seine Reden in ihrem Herzen bewahrte.

In ihren Augen lag ein dankbarer Ausdruck, der niemals bis an

mein Lebensende meinem Gedächtnis entschwinden wird, und

wenn ich sie zufällig ansah, so traf ich stets auf diesen dankbaren

Blick.

Oft bot sie mir auch ihre zitternden Lippen zum Kuß, viel mehr

wie ein liebevolles Kind, dessen Herz vom Kummer halb

gebrochen ist, als wie ich es mir von einem erwachsenen

Menschen denken könnte.

Einmal war das Zittern dieser armen Lippen so stark, und ihre

Tränen strömten so reichlich, daß ich glaubte, sie wolle mir all ihr

Leid erzählen; deshalb nahm ich ihre beiden Hände zwischen die

meinen und sagte:

»Nein, mein liebes Kind, nicht jetzt. Es ist am besten, wenn Sie

jetzt nicht davon sprechen. Warten Sie auf bessere Zeiten, wenn

Sie darüber hinweggekommen sind 45

und sich wieder kräftig fühlen; dann sollen Sie mir erzählen,

soviel Sie wollen. Soll das zwischen uns ausgemacht sein?«

Während wir uns noch an den Händen hielten, nickte sie viele

Male hintereinander mit dem Kopf, hob meine Hände hoch und

Male hintereinander mit dem Kopf, hob meine Hände hoch und

drückte sie an Lippen und Herz.

»Nur noch ein Wort jetzt, mein liebes Kind«, sagte ich. »Gibt es

jemand?«

Sie blickte mich fragend an.

»Zu dem ich gehen kann?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Niemand, den ich zu Ihnen bringen kann?«

Sie schüttelte den Kopf.

» Ich brauche niemand, meine Gute. Das ist jetzt alles vorbei und

dahin.«

Etwa eine Woche später – denn als diese Unterredung stattfand,

hatte sie schon lange so dagelegen – beugte ich mich über ihr

Bett mit meinem Ohr an ihren Lippen, abwechselnd auf ihren

Atem lauschend und nach einem Zeichen des Lebens in ihrem

Gesicht spähend. Schließlich kam dieses ersehnte Zeichen in

einer feierlichen Weise

– nicht wie ein Aufzucken, sondern wie eine Art blasses,

schwaches Licht, das ganz allmählich das Gesicht erhellte.

Sie sagte etwas zu mir, das keinen Laut gewann, aber ich sah,

daß sie mich fragte:

»Ist dies der Tod?«

Worauf ich erwiderte:

»Mein armes, liebes, gutes Kind, ich glaube, es ist so.«

Ich wußte irgendwie, daß sie den Wunsch hatte, ihre schwache

rechte Hand zu bewegen. Ich nahm sie also, legte sie ihr auf die

Brust und faltete ihre Linke darüber, und sie betete ein inniges

Gebet, in das ich arme alte Frau einstimmte, obwohl kein Wort

gesprochen wurde. Dann brachte ich das Kindchen in den

Windeln herbei und sagte:

»Mein liebes Kind, dies ist einer kinderlosen alten Frau gesendet.

Dies ist mir anvertraut.«

Zum letzten Male streckte sich die zitternde Lippe mir entgegen,

und ich küßte sie innig.

»Ja, mein Kind«, sagte ich. »So Gott will! Mir und dem Major.«

Ich weiß nicht, wie ich es mit den rechten Worten schildern soll,

aber ich sah ihre Seele sich erhellen und froh werden, und mit

einem letzten Blick wurde sie frei und flog davon.

Das ist also das Wie und Warum, meine Liebe, daß wir ihn nach

Das ist also das Wie und Warum, meine Liebe, daß wir ihn nach

seinem Paten, dem Major, Jemmy nannten; sein Familienname

aber war Lirriper nach mir selbst. Und niemals ist ein Kind solch

ein Sonnenschein in einer Pension und solch ein lieber

Spielkamerad für seine Großmutter gewesen, wie es Jemmy für

dieses Haus und für mich war. Er war immer gut und hörte auf

das, was man ihm sagte (meistens), er wirkte besänftigend aufs

Gemüt und machte alle Dinge angenehmer, mit Ausnahme des

Falles, als er alt genug war, um seine Mütze in Miß Wozenhams

Luftschacht hinunterfallen zu lassen, und sie sie ihm nicht

hinaufreichen wollten. Da geriet ich in Wut, nahm meinen besten

Hut, Handschuhe und Sonnenschirm, und mit dem Kind an der

Hand sage ich:

46

»Miß Wozenham, ich habe nicht erwartet, jemals Ihr Haus zu

betreten, aber wenn die Mütze meines Enkels nicht

augenblicklich zurückgegeben wird, so sollen die Gesetze dieses

Landes, die die Eigentumsrechte der Untertanen regeln,

schließlich zwischen mir und Ihnen entscheiden, koste es, was es

wolle.«


Weihnachtserzählungen - 308 Seiten

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