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Kapitel 1

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Sommer 1965: Ein krakeelendes Quartett, allesamt in kurzen Lederhosen steckend, saß fröhlich spielend auf einem schwäbischen Sandhaufen. Dieser war eigentlich gar nicht zum Spielen da – vielmehr diente er als Ingredienz für die graue Pampe, die die fleißigen Erwachsenen davon anrührten. Speis nannten die das Zeug und pappten Stein auf Stein damit.

Tagsüber war die Baustelle ganz in den Händen von Lene, Wolfi, Gerd und Enno – da die Ritters, die Eltern der beiden Erstgenannten, immer erst um fünf kamen, wenn auch Onkel Hans Feierabend hatte bei HALTER u. Co. Dann hieß die Devise: Fliege machen – ansonsten lief man Gefahr, womöglich mithelfen zu dürfen.

Bis dahin jedoch war noch jede Menge Zeit für jede Menge Blödsinn. Das Springen oder "Jumpen", wie die Älteren sagten, die bereits Englisch hatten in der Schule, vom bedrohlich wackelnden, aus jungen Tannenstämmchen und Holzdielen zusammengezurrten Gerüst mitten auf den immer flacher werdenden Sandhügel – das trauten sich natürlich nur die Mutigsten. Und selbst bei denen brauchte es stets eine ganze Weile, bis sie sich gegenseitig so aufgestachelt hatten, dass ein Rückzieher einen kaum wieder gutzumachenden Verlust des Ansehens bedeutet hätte.

Kurz vor vier war es dann wieder einmal soweit. Mit hochroten Köpfen machten sich Wolfi und Gerd daran, die erste Etage des Gerüsts zu erklimmen. Die für legale Besteigungen vorgesehene Holzleiter war selbstverständlich sicherheitshalber weggesperrt in der schon fertigen Garage. Dort lag sie gut, und ihre Unverfügbarkeit machte das Unterfangen erst zur richtigen Mutprobe.

Die beiden weniger Mutigen fingen schon mal an, den Haufen wieder in seine ursprüngliche Form zu bringen, indem sie den weit verstreuten Sand zurückschaufelten. Vielleicht wollten die zwei Jüngsten und Kleinsten auch nur ein paar Zentimeter mehr des weichen Materials zwischen den harten Erdboden und die Helden da oben bringen. Wie auch immer – mit dem sofortigen Absprung der beiden war erfahrungsgemäß sowieso nicht zu rechnen, da die Festlegung der Reihenfolge, ein unumgänglicher Bestandteil der Zeremonie, meist ewig dauerte.

So sah denn der renovierte, in der Sonne glitzernde Sandberg aus, als sei er gerade eben von der Ladefläche eines Kieslasters gerutscht, wie endlich Bewegung in die Sache kam.

„Es ist bald fünf, du musst jetzt runter, Wolfgang!“

Die eher unübliche Verwendung seines vollständigen Vornamens bedeutete ihm die Ernsthaftigkeit der Lage.

„So, wie die den Sand hoch geschippt haben, ist’s ja nicht mal mehr halb so gefährlich wie das Hochklettern!“

Was hätte auch passieren können, wenn zwei solche Hänflinge aus bestenfalls fünf Metern Höhe auf einen annähernd mannshohen Berg allerfeinsten Rheinsandes herunterhüpften? Nix, wie sich ein jeder zu glauben zwang.

Trotzdem sah Wolfi nicht eben glücklich aus, als er dann endlich unter dem Geländer durchschlüpfte und ohne eine weitere Verzögerung in dieses Meer aus funkelnden Sandkörnern hineinplumpste.

Bis zu den Knien steckte er mitten im Haufen, grinsend wie ein Honigkuchenpferd. Nur die dicken Schweißperlen, die durch den sanft gebremsten Aufprall von der Stirn über Wangen und Nase hinuntergelaufen waren und nun drohten, vom Kinn herabzutropfen, verrieten noch die immense Anspannung, die auch den beiden Kleinen nicht verborgen geblieben war. Dennoch zollten sie dem Akrobaten gehörig Respekt, indem sie ihm halfen, seine Beine wieder ans Tageslicht zu befördern und vom anhaftenden Sand zu befreien.

Die abrupte Einstellung der Adrenalin-Produktion führte auch umgehend zur Wiederauflockerung seines keinesfalls zu klein geratenen Mundwerks.

„Auf, spring jetzt, du Flasche!“

Drei weit aufgerissene Augenpaare fixierten nun den armen Gerd, dem jetzt wirklich nichts anderes mehr übrig blieb, als zu springen. Seine pfeilschnellen Gedanken kreisten einzig um die Tatsache, dass er sich wohl auf unbestimmte Zeit Wolfis Willen zu unterwerfen hätte, wenn er jetzt den Schwanz einzöge.

„Da kann ich mich ja gleich im Weidenbach ersäufen!“, dachte er – wohl wissend, wie ihn Wolfi schon früher drangsaliert hatte, wenn er in irgendeiner Disziplin nicht mindestens gleichzuziehen vermochte.

„Was du kannst, kann ich schon lange!“, murmelte Gerd – mehr zu sich als zum Gemeinten, während er sich unter der Brüstung durch duckte, um sich davor wieder vollständig aufzurichten.

Nur mehr mit den Absätzen stand er auf den mit ihm zitternden Dielen, und seine feuchten Finger krallten sich in die trockene Borke des Tannenholzes, als wollten sie’s nie mehr loslassen. Seine Schweißtropfen schillerten noch über den Augenbrauen, darauf wartend, bei der Landung ebenso schöne Salzwasserbächlein wie bei Wolfi im Gesicht zu hinterlassen.

Dessen Visage war zwar immer noch rot wie ein Feuermelder, die Spuren des Angstschweißes hatten Sonne und Wind jedoch schnell auf ein paar dünne, weißliche Streifen reduziert.

Keiner ahnte in diesem Augenblick, dass man in Gerds Gesicht alsbald nicht mehr würde unterscheiden können – zwischen Schweiß und Tränen.

„Ich springe jetzt!“, rief er eher kleinlaut – nicht ahnend, den gesamten Rest der Ferien im Weidenbacher Kreiskrankenhaus verbringen zu müssen.

Obwohl allen Zuschauern einzig nur einleuchten mochte, dass doch eigentlich rein gar nichts passiert sein könne, starrten sie wortlos in Gerds Antlitz, aus dem in wenigen Sekunden die Farbe entwich – und es kam ihnen dennoch wie eine Ewigkeit vor, bis der dann ein noch nie gehörtes Geschrei anstimmte.

In Windeseile erklommen die drei den Sandhaufen, auch wenn die Schmerzensschreie des armen Spielkameraden kaum zu ertragen waren. Die beiden Jungen packten ihn unter den Achseln und zerrten ihn nicht gerade vorsichtig aus dem Sand. Sie bemerkten auch nicht, dass Gerds Gebrüll dabei wohl noch lauter geworden war, um dann mit einem Mal zu verstummen, angesichts dessen, was sie da – und er vor allem – zu sehen bekamen.

Ein etwa sechzig Zentimeter langes, rostiges Moniereisen ragte aus des Geschockten linker Wade, und sein Blut strömte in rhythmischen Schüben den pulvrigen Abhang hinunter, bildete kleine, rotbraune Kügelchen, die, vorbei an der kreidebleichen Lene, zu Tal kullerten und vor den Füßen von Antonio und Miguel zum Stillstand kamen. Diese beiden waren nämlich, alarmiert vom erbarmenswerten Gekreische, herbeigeeilt und durften auch gleich helfend eingreifen, indem sie das kleine Mädchen auffingen, das urplötzlich seine grünen Äuglein verdreht hatte, mit dem Popo in den Sand gesackt war und dann mittels einer ungewollten Rolle rückwärts auf eben jenen blutigen Murmeln zu landen drohte, die wahrscheinlich seine Ohnmacht ausgelöst hatten.

An Händen und Füßen trugen die beiden Gastarbeiterkinder Lene in den Schatten, unter den einzigen noch auf dem Grundstück verbliebenen Baum, wo die dann gerade noch rechtzeitig wieder zu sich kam, um mit anzusehen, wie ihr Vater, mit beiden Armen wild umherfuchtelnd, auf die Baustelle stürmte.

Als der den Ort des Geschehens erreicht hatte, landeten zunächst einmal eine nicht mehr nachvollziehbare Anzahl von Schlägen an Wolfis Kopf. Mit beiden Händen trommelte er auf den Ärmsten ein. Erst als der flüchten wollte, halbierte sich die Schlagzahl – weil er ja dann eine Hand brauchte, um den Delinquenten festzuhalten.

Unterdessen waren auch Mama Ritter und ihr Bruder Hans eingetroffen, die sich jedoch nicht an der wüsten Hauerei beteiligten, sondern dem Verunglückten zu Hilfe eilten, der wohl den ersten Schock überwunden hatte und anfing, zu stöhnen und zu jammern. Ein Mal schrie er noch auf, als sie ihm das Bein am Oberschenkel abbanden, direkt über dem Knie – mit dem hastig abgerissenen Träger von Mutter Ritters Küchenschürze.

Onkel Hans trug Gerd zur Straße und wuchtete ihn auf den Rücksitz seines "Goggomobils" – natürlich nicht ohne seiner Schwester die spätere Reinigung des Fahrzeugs zu befehlen. Seinen Schwager, der dann doch nicht mehr länger auf das winselnde Häuflein Sohn eindreschen wollte, zitierte er auf den Beifahrersitz, zwängte seinen eigenen, für dieses kleine Vehikel viel zu groß erscheinenden Körper daneben und startete den unfreiwilligen Krankentransporter. Der gab selbstverständlich eine dem Ereignis gerecht werdende Qualmwolke von sich.

Der Zweitaktmotor des rollenden Winzlings war schon lange nicht mehr zu hören, da weilten die Zurückgebliebenen noch immer reglos inmitten der grässlich stinkenden Auspuffgase – und außer dem Gewimmer von Wolfi herrschte eine gespenstische Ruhe. Es schien, als hätten selbst die Vögel eine Schweigeminute eingelegt – für den Verletzten und den Geschlagenen sowie für die beiden Kleinen, deren restliche Ferientage nun gewisslich auch kein Zuckerschlecken mehr werden sollten.

Das große Schweigen beendete dann die unbeschürzte Rittersfrau – und der strohblonden Lene wurde schnell klar, dass sie wieder einmal, eine noch nicht abzuschätzende Zeit lang, auf ihren selbst gewählten und ungleich mehr geliebten Spitznamen würde verzichten müssen.

„Magdalena! Wolfgang! Sofort ab nach Hause! Ich bring noch Enno zu seiner Oma und sag schnell Gerds Eltern Bescheid. Die werden eine Freude haben!“

Magdalena ging noch einmal zum Sandhaufen und half ihrem daneben kauernden und schluchzenden Bruder auf die von Schlägen verschonten Beine – und so trotteten sie Hand in Hand von dannen. Beide sollten das Grundstück Bachweg Nr. 15 erst am Tage des Einzugs wieder betreten.

Strohblondchen

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