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Kapitel 2
ОглавлениеSommer 1970: Es war der letzte Schultag vor den großen Ferien. Alles deutete auf einen wunderschönen Sommertag hin, als Wolf sich auf den Weg ins drei Kilometer entfernte Weidenbach machte. Dort besuchte er das Erwin-Rommel-Gymnasium und ging – nun ja, gerade mal diesen Vormittag noch – in die siebte Klasse.
Das verniedlichende "i" in seinem früheren Spitznamen hatte Wolfgang Ritter nicht mit auf die Oberschule genommen. In der zweiten Dekade seines Lebens sollte ihn keiner mehr "Wolfi" rufen – ihn, der nun bereits fast einen Meter und achtzig maß.
Kein Lüftchen war zu spüren, als er seinen Drahtesel aus der Garage schob. Die hohen Pappeln am See bewegten sich nicht einen Millimeter. Ihre Blätter hingen so schlapp an den Ästen, dass Wolf einige der Löcher erkennen konnte, die er in den letzten Tagen mit Vaters Spatzengewehr hineingeschossen hatte.
„Wolfgang, du musst jetzt los!“, rief seine Mutter hinter dem aufgeklappten Küchenfenster, und sie zeigte dabei gut ein Dutzend Mal auf ihr linkes Handgelenk, an dem sich, soweit er wusste, noch nie eine Armbanduhr befunden hatte.
Und da hörte er auch schon das unverwechselbare Gepolter auf der Treppe, mit dem sich Lene anzukündigen pflegte. Die ging noch auf die Volksschule im Weidenbacher Ortsteil Friedberg, und dabei würde es wohl auch bleiben – „weil sie zu doof ist!“, wie ihr der Papa bei jeder Gelegenheit bescheinigte.
Dabei war sie genau das Gegenteil – fand Wolf. Er selbst war fast drei Jahre älter und konnte heute noch nicht so gut mit Pflanzen und Tieren sprechen wie die allseits verkannte Schwester. Auch Geister, Dämonen und ganz besonders Feen mochten auf ihn lange nicht so gut hören wie auf Strohblondchen – wie sie seit einiger Zeit schon, aber einzig und ausschließlich in diesen illustren Kreisen genannt wurde.
Den Feen, diesen zarten Wesen, hatte sie es auch zu verdanken, dass sie nicht schon wieder, für die ersten Ferienwochen zumindest, in Magdalena umgetauft zu werden brauchte. Die Bachfeen, die freundlichsten dieser Spezies, hatten nämlich dafür gesorgt, dass die im blauen Brief dokumentierte gefährdete Versetzung dann doch noch außer Gefahr geraten sollte. Dass der nicht zu überhörende sonntägliche Besuch von Papa Ritter bei Lehrer Mönk, der gerade mal einen Steinwurf entfernt bei Witwe Görsmayer zur Untermiete wohnte, etwas mit ihren verbesserten Zensuren zu tun gehabt haben könnte, stand daher für Lene absolut außer Frage.
Er, Wolf, liebte seine Schwester wie niemand anderen, was er noch keiner Sau je erzählt hatte – und auch sonst keinem. Nichtsdestotrotz verhinderte er ein des Verquasselns verdächtiges Zusammentreffen mit ihr, indem er schnell auf sein Rad stieg und reichlich Gummi gab.
Es war ohnehin zu spät, um den kürzesten Weg über die Austraße nehmen zu können, weil jetzt sämtliche Knalltüten, die nicht weiter weg wohnten als Ecke Bahnhofstraße und deshalb zur Ludwig-Uhland-Schule nach Friedberg mussten, in einem grölenden Konvoi entgegenkommen würden. Der holprige Weg übers Zornfeld war die einzige Möglichkeit, dem zu entgehen, und gleichfalls allem, was sich mit einem Aufeinandertreffen hätte verbinden können – spätere Rache an der doofen kleinen Schwester inklusive.
Irgendwie war ihm der kleine Umweg sowieso lieber, und er nahm ihn immer öfter, auch wenn kein Gegenverkehr zu derlei Befürchtungen Anlass gab. Wolf war nämlich, vielleicht nicht so sehr wie seine Kleine, Gott erbarme, aber doch auch eher den weniger belebten Zonen auf dieser Welt zugetan. Zu keiner Zeit jedoch wäre er, zudem eine ganze Schulstunde lang, von einem jungen Salamander, dem die Hinterbeine abgefahren wurden, aufzuhalten gewesen.
„Hättest du ihn wenigstens mit in die Schule genommen – als Entschuldigung sozusagen!“
Da sie es allerdings vorgezogen, gar für ihre oberste Pflicht angesehen hatte, den Sterbenden ins Salamanderjenseits zu geleiten und an einem ihrer Lieblingsplätze am Weidenbach feierlich zu bestatten, war dieser gleichermaßen abwegige wie verspätete Ratschlag auch auf wenig bis gar kein Verständnis gestoßen.
Er, der selbst nie zu spät zum Unterricht kam, obwohl auch er gelegentlich gerne die eine oder andere Minute abseits des Wegs verbummelte, erkannte nun, wie er nochmals darüber nachdachte, dass er da wohl doch einen rechten Scheiß verzapft habe. Schließlich wäre, ebenso an seiner Schule, ein Eintrag für verspätetes Eintreffen ins Klassenbuch – auch mit einem halb toten Kriechtier im Gepäck – so gut wie gar nicht zu verhindern gewesen. Ganz zu schweigen von den spitzen Bemerkungen seiner Klassenkameraden, für die er ohnehin ein Landei war – und nicht bloß, weil auf dem Weg zwischen Schule und Bachweg 15, der zweiten Hälfte auch nur, genau vier Misthaufen vor sich hindufteten.
Die meisten seiner Mitschüler kamen entweder gar nicht aus Weidenbach oder aber wohnten auf der anderen Seite der Stadt, von wo das letzte ländliche Fäkalienen-Depot bereits 1967 verbannt worden war.
Wie erhofft, begegnete ihm erst bei der Firma "Klobrillen-Wirtz" eine menschliche Kreatur. Max, einer der zahlreichen Schluckis, die dort arbeiteten, hatte bestimmt mal wieder verschlafen und schlüpfte gerade durch ein eigens für solche Vorkommnisse herausgeschnittenes Loch im Zaun. Eilig verschwand er im Fertigteilelager zwischen den großen Holzkisten, die auch andere Produkte enthielten als Klobrillen, wohl aber keinen solch schönen Firmennamen abgegeben hätten.
Schon überholten ihn, im Zehn-Sekunden-Abstand, die Karossen der Muttis und Vatis, die ihre handgebadeten Sprösslinge, nicht nur bei schlechtem Wetter, bis vors Portal des ehrenwerten Sandsteinbaus chauffierten. Dort würden die ihn dann bei den Fahrradständern erwarten, weshalb er sein Tempo auf ein Mindestmaß drosselte. Immer die Kirchturmuhr im Blick, wollte er es schaffen, die Zeitspanne von seiner Ankunft bis zum Klingeln so kurz zu halten, dass nicht einmal Schnellschwätzer Alfons einen ganzen Satz würde formulieren können. Ohnehin war heute noch einmal mit dem vollen Programm zu rechnen; es musste ja schließlich für sechs Wochen reichen!
So kam es dann auch, dass sein Eintreffen schon von der Schulglocke begleitet wurde, wodurch sich das Landeier-Begrüßungs-Ritual mindestens bis zur ersten Pause verschob.
In der Klasse hatte Wolf den Platz neben Eva – was ihm persönlich gar nichts ausmachte, aber häufig Anlass für Spötteleien der anderen Jungs war.
Offiziell hatten sie Englisch in der ersten Stunde. Buschmann jedoch, der wegen seines komischen Ganges – er setzte beide Füße immer mit dem Absatz zuerst auf und rollte sie dann zur Spitze hin ab, sodass sein Körper stets auf- und abhüpfte – von allen heimlich Skippy genannt wurde, hatte bereits gestern angekündigt, wieder einen Schwank aus seiner Zeit als Studienreferendar in England erzählen zu wollen.
So lauschten denn auch alle den Ausführungen des Lehrers, den sie im nächsten Schuljahr, mit Ausnahme der Lateiner, auch in Französisch haben sollten, als es draußen auf dem Gang mit einem Mal mächtig laut wurde.
„Diese kommunistischen Verbrecher“, hörte man Rektor Mahnwitz brüllen, „nicht genug damit, dass die unser halbes Volk ausgerottet haben, jetzt vergiften diese russischen Schweine auch noch unsere Kinder!“
Keiner in der Klasse hatte den Hauch einer Ahnung, was denn vorgefallen sein könnte. Skippy stand regungslos in der weit geöffneten Tür und sah, wie das kleine, drahtige Männlein die Treppe zum nächsten Stockwerk hochrannte. Eva und Wolf waren, dank ihres Sperrsitzplatzes, die Einzigen im Raum, die noch sehen konnten, wie Mahnwitz’ Oberhemd, das hinten über den Hosenbund gerutscht war, nun fast bis zu seinen Kniekehlen herunterbaumelte.
Wolf hatte vom ersten Tag an Angst vor diesem Mann, von dem man sagte, er habe den Kriegshelden, der unserer Anstalt seinen Namen gab, sogar persönlich gekannt.
„Bestimmt hat er ihn mal bei einem Afrika-Urlaub kennengelernt!“, hatte sein Vater einmal gewitzelt, als sie über diesen ehrenwerten Herren redeten.
Es war anzunehmen, dass der Recht und Ordnung liebende Rektor und Oberaufseher, wie er es schon bei früheren skandalösen Ereignissen praktiziert hatte, nun von den beiden dreizehnten Klassen an abwärts sausen würde, um jede Tür unangeklopft aufzustoßen und die dahinter befindlichen Räume mit seinen gefürchteten Schimpfkanonaden zu befüllen.
Leider machte er dabei dann – über die hoch akademische Bewertung der Russischen Seele hinaus – keine weiteren Angaben, sodass für die meisten nach des Meisters Abgang immer noch nicht klar war, was denn zu diesem neuerlichen Zwergenaufstand geführt hatte.
Da an Unterricht jetzt nicht mehr zu denken war, schickten alle Pauker ihre Schüler auf den Hof – eine Art vorgezogene große Pause. Sie selbst begaben sich schleunigst ins Lehrerzimmer, in der Hoffnung, doch noch Näheres zu erfahren – aber Mahnwitz musste zuerst von seiner Sekretärin, Fräulein Keck, frisch gerichtet werden.
Inzwischen hatten die paar wenigen Wissenden unter den Schülern jeweils einen Kreis Neugieriger, und das waren heute fast alle, um sich geschart und begannen, ein jeder auf seine Art, zu berichten.
„Der Carl-Uwe Wenger isch dood“, erklärte Luise Rath, bei der Wolf in der dritten Reihe stand, mit pietätvoller Miene, „der hat sich wahrscheinlich z’viel Haschisch g’schpritzt!“
Schon hatte der nachdenkliche Schüler genug gehört und wandte sich ab. Er setzte sich auf das Geländer der mächtigen Sandsteintreppe, die vom Schulhof zur Straße hinunterführte, und versuchte, seine Gedanken wenigstens ein bisschen zu ordnen.
Da war zunächst Carmen, die jüngere Schwester des Verstorbenen, die ihn beschäftigte – die er zwar nur vom Sehen kannte, ihm aber ganz gut gefiel.
„Wenn die ihren Bruder ähnlich lieb gehabt hat, wie ich meine Lene, dann ...!“
Wolf bemühte sich, so gut er eben konnte, den Gedankenfluss, wenn er ihn schon nicht anzuhalten vermochte, wenigstens in eine andere Richtung zu lenken.
„Z’viel Haschisch g’schpritzt?“, murmelte er gleich mehrmals vor sich hin.
Zum zweiten Mal hörte er jetzt von diesem Zeug. Letztes Wochenende erst war dieses schwabenzungenfreundliche Wort gleich mehrmals gefallen, als er mit seinen beiden Cousins Gerd und Walter am Bach zelten durfte. Nicht von den beiden, sondern von Volker und Berthold, zwei älteren Nachbarjungen, die ihr Tipi ein paar Meter entfernt aufgeschlagen hatten. Die sahen sogar ein wenig aus wie Indianer, da sie beide die Haare schon weit über den Ohren trugen, was in jener Zeit eine immer stärker aufkommende Unart manch junger Menschenkinder war.
Allerdings meinte sich Wolf zu erinnern, dass vom Haschisch-Rauchen gesprochen worden sei, was ja möglicherweise nur eine andere Variante des Genusses sein mochte. Er nahm sich jedenfalls fest vor, die beiden Bachindianer bei der nächsten Gelegenheit danach zu fragen.
Bevor weitere Gedankenschübe von seinem Knobelapparat Besitz ergreifen konnten, bimmelte die Schulglocke und Wolf sprang auf. Ihm war überhaupt nicht bewusst, dass es ja jetzt erst zur Fünf-Minuten-Pause klingelte – und so wunderte er sich, warum die Pennälergruppen auf dem Hof sich nicht augenblicklich auflösten, nicht allesamt ins Gebäude stürmten. Sollten die Ereignisse des Morgens etwa eine derart anarchisierende Wirkung auf die Schüler gehabt haben?
Doch mit einem Blick auf die Uhr am Haupteingang hatte ihn die Realität wieder, und seine Schritte wurden zwar langsamer, aber er marschierte dennoch, zwischen all den mehr oder weniger schockierten Oberschülern hindurch, schnurstracks in den ersten Stock, wo er auf seinem Weg in die "7 c" allerlei Gesprächsfetzen aufschnappte, die ihm bedeuteten, dass dieses Thema wohl noch lange nicht durch sei.
Zu allem Übel saß auch noch Fräulein Schmidt, bei der sie die nächste Stunde Deutsch hatten, mutterseelenallein am Lehrerpult – und sie sah überhaupt nicht glücklich aus. Die jüngste, aber nicht nur deshalb am wenigsten hässliche Lehrkraft war, was Wolf nicht wusste und auch nie erfahren sollte, die einzige, die sich im Lehrerzimmer kritisch zu Mahnwitz’ Auftreten geäußert hatte.
„Herr Oberstudiendirektor, woher wollen Sie eigentlich so genau wissen, dass der tragische Tod des jungen Wenger in irgendeinem Zusammenhang mit dem Kalten Krieg steht?“
Diese kecke Frage, die im Übrigen für alle Zeit unbeantwortet blieb, war dann wahrscheinlich auch der Hauptgrund dafür, dass es nach den Ferien keine Ulrike Schmidt mehr gab im Lehrerkollegium des elitären Erwin-Rommel-Gymnasiums zu Weidenbach.
Sie ahnte es wohl schon – und Wolf spürte, es ging etwas in ihr vor, was jetzt so überhaupt nicht zu einem letzten Schultag passen wollte. Ohne den Hauch einer Idee, was er denn zu ihr sagen, wie er sie bloß trösten könne, stellte sich Wolf neben das Pult – und wie sich ihre Blicke trafen, realisierte er, Gleiches oder auch nur Ähnliches noch bei keinem anderen Lehrkörper unaufgeforderterweise getan zu haben. Gewiss wären beider Äuglein noch feuchter geraten, hätten sie bereits gewusst, dass sie sich im ganzen Leben nie mehr begegnen würden.
So schwiegen sie sich eine halbe Ewigkeit lang an, und Wolf wurde mal heiß, mal kalt. Er bekam, wie so oft, einen knallroten Schädel, aber bei ihr – und nur bei ihr – machte es ihm nicht das Geringste aus. Weshalb er sich auch keinesfalls befreit, erlöst oder sonst irgendwie besser fühlte, als die Tür aufging und seine Mitschüler hereinstürmten – von denen sich die meisten, allem Anschein nach, vom ersten Schock bestens erholt hatten.
Nach dem Klingeln ordnete Fräulein Schmidt zunächst einmal eine Gedenkminute zu Ehren des viel zu früh Verstorbenen an. Mit einer eher unverfänglichen Thematik, der sich Wolf dann allerdings gänzlich entzog, schleppte sie sich durch ihre wohl denkwürdigste Stunde an dieser höheren Lehranstalt.
Mit Wolfs Hirnströmen hätte man unterdessen ein mittleres Einfamilienhaus versorgen können. Sein Kopf fühlte sich an wie ein Umspannwerk. Unaufhörlich kollidierten die viel zu vielen Gedanken mitten in seinem Gehirn – und dass er sie nicht unter Kontrolle bekam, lag mit ziemlicher Sicherheit an eben dieser viel zu klein geratenen Landeier-Erbse.
Nur der unbeschreibliche, wohlmeinende Blick, den er nach dem Klingeln vom scheidenden Fräulein Schmidt noch mitbekommen hatte, und den er – für alle Zeiten – an einem ganz besonders hübschen Plätzchen in seinem schnuckeligen Oberstübchen aufbewahren wollte, erhellte und entlastete ihn noch eine Weile.
„Hey, Ritter, was machst du eigentlich in den Ferien“, hallte es durch den Raum, „kriegen wir wieder eine druckreife Story aus dem Allgäu, hä?“
Alfons, natürlich! Da müssten die Bolschewiken schon die halbe Schule vergiften, dachte der Verhöhnte, auf dass der nicht mehr die Muße hätte, irgendeinen armen Tropf niederzumachen. Auch die Unsitte, seine Mitschüler mit dem bloßen Familiennamen anzureden, missfiel Wolf in jeglicher Weise. Die das taten, konnten es sich nur von den Paukern abgeschaut haben, weil über deren Lippen lediglich dann Vornamen kamen, wenn zwei denselben Nachnamen trugen oder persönliche Bekanntschaft mit den Eltern, mitunter auch Verwandtschaft, sie dazu zwang. Im Übrigen war dies eine weitere Geisteshaltung, durch die sich Fräulein Schmidt vom restlichen Kollegium unterschied.
Alfons war der älteste Sohn des größten, weil einzigen Verlegers am Ort, der unter anderem auch den "Weidenbacher Anzeiger" herausgab. Besonders unbesonnen Herausgegebenes war dem vorlauten Journalistenspross vor nicht allzu langer Zeit Anlass und unterwürfigste Verpflichtung gewesen, tatsächlich einmal, sogar mehrere Tage lang, seine große Schnauze zu halten.
Der Staufenberg-Verlag hatte es nämlich gewagt gehabt, ein Buch zu veröffentlichen, welches von der ersten bis zur letzten Seite nichts als die reine Wahrheit enthielt – was ihm, und somit auch Alfons, überhaupt nicht gut bekam. Der Titel dieses für viele dennoch verleumderischen Machwerks war Wolf zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bekannt. Er wusste lediglich, dass es von jener dunklen Zeit handelte, in der die besonders honorigen zusammen mit den nahezu bildungsfreien Weidenbachern die politische Mehrheit gebildet und sich in beispielhafter und vollkommen uneigennütziger Weise die Ärsche aufgerissen hatten – für Führer, Volk und Vaterland.
Nachdem dieser literarische Vaterlandsverrat bereits mehrere Wochen im örtlichen Buch- und Schreibwarenladen ausgelegen hatte, mussten ihn dann doch noch ein paar Leute gekauft haben – wahrscheinlich Fremde – bestimmt aber Kommunisten!
Wenn eben diese Herrschaften das Gelesene tunlichst für sich behalten hätten, wäre der Schinken sicher noch lange lieferbar gewesen. So aber hatte es zwangsläufug kommen müssen, dass es sich so ziemlich alle besonders rechtschaffenen Weidenbacher Großbürger nicht wollten nehmen lassen, einmal persönlich in der Bergstraße 35 bei Staufenbergs vorzusprechen. Und es war nicht anzunehmen, dass die dort, ob ihrer unfreiwilligen Mitwirkung in diesem schändlichen Wälzer, lediglich ein angemessenes Honorar zu fordern gedachten. Nein – wenn die armen reichen Staufenbergs nach diesen strengen Tagen eines nur kannten, dann war das, wie ihnen aufs Heftigste gezeigt wurde, genau der Platz auf der Welt, wo der Bartl den Most zu holen pflegt!
Als ob dieser Ort noch irgendwem unbekannt gewesen wäre! Wo doch in jenen Tagen, und auch in früheren schon, ein großmäuliger, kugelrunder und nahezu halsloser bayrischer Einser-Abiturient die ganze Republik ständig darauf hinzuweisen beliebte.
Außer Alfons’ zeitweiligem Verstummen war die Herausnahme dieses verabscheuungswürdigen Geschmieres aus dem Programm des Verlags nicht die einzige Folge geblieben. Der sich eigendynamisch verbreitende Skandal hatte außerdem dazu geführt, dass sich Tausende von Weidenbachern nun ganze fünf Exemplare mit deren fünf kommunistischen Besitzern teilen mussten.
Wolfs Vater erzählte damals – erfundenerweise natürlich und gleich mehrmals, wenn er mächtig angeheitert vom Stammtisch nachhause kam – der Nachthimmel habe stundenlang taghell geleuchtet, wie in der sparsamst entnazifizierten Kleinstadt der schöne Brauch des nächtlich-feierlichen Bücherverbrennens wieder eingeführt worden sei.
Erwartungsgemäß hatte es dann aber nicht allzu lange gedauert, bis der Anzeigenteil im "Weidenbacher Anzeiger" wieder von allen ortsansäßigen Geschäftsleuten im vormaligen Ausmaß genutzt wurde.
Ebenso verhielt es sich mit dem Schweigen des Alfons. Jener hatte nämlich, just an dem Montag, als er seine vorwiegend einseitige Kommunikationsfreudigkeit wiedererlangte, zumindest einmal so viel von seinem früheren Selbstbewusstsein zurück, dass es ausreichend war, um – strammstehenderweise – am morgendlichen Kommando zur herzlichen Willkommensheißung von allen Außenseitern, Armen und Schwachen im Allgemeinen und im Besonderen von Wolf teilzunehmen.
Der war jedoch kurz zuvor, mit tatkräftiger Unterstützung der zauberhaften Lene, in den Besitz einer äußerst wirkungsvollen Waffe gelangt, mit der er nun allen Anfeindungen verbaler Natur, von wem auch immer und auf alle Zeiten hinaus, Paroli bieten konnte. Unter ihren zerebralen Schaltstationen hindurch hatten sie sich nämlich, in einer nächtlichen, traumgesteuerten Operation, eine ganz besonders belastbare (Um-)Leitung für akustisch Unerquickliches von Ohr zu Ohr verlegen lassen. Der Einbau eines solchen Feenhaares sollte für die hypersensiblen Geschwister dann auch zum gewisslich wichtigsten medizinischen Eingriff ihres Lebens werden.
Und daher erwartete in der ganzen Klasse bereits kein Einziger mehr, dass der erfahrene Italienurlauber Alfons eine Antwort auf seine Frage erhalte. Dennoch nahm sich Wolf vor, trotz der neu erlangten Fähigkeit, in Zukunft auf allzu intime Enthüllungen in seinen Aufsätzen verzichten zu wollen – oder aber auf die Wahrheit, wenigstens teilweise, zu pfeifen. Im Hinblick auf die bevorstehenden Ferien – die sich dieses Jahr, so viel war schon klar, in der Hauptsache an den postkartentauglichen Ufern des Weidenbaches, im heimischen Garten und gelegentlich noch im benachbarten Berg- und Talstadion mit seinen schier unüberwindlichen Grasbüscheln abspielen würden – müsse er allerdings ganz schön tief in die Karl May’sche Trickkiste greifen, um Alfons’ hochtrabenden Geschmack zu treffen.
Noch aber waren zwei mal fünfundvierzig Minuten, gespickt mit wissensvermehrenden Maßnahmen, zu absolvieren. Im Gegensatz zu Fräulein Schmidt verkniff es sich Herr Brecht (Geschichte und Erdkunde) nicht, noch einmal auf das allererste Rauschgiftopfer des Landkreises zu sprechen zu kommen. In einer doch wesentlich seriöseren Version dessen, was die "7 c" von Rektor Mahnwitz’ verbalem Amoklauf mitbekommen hatte, wurde der seinem pädagogischen Auftrage gerecht und appellierte in angenehmer Zimmerlautstärke an eines jeden Vernunft. Des Weiteren verriet er, dass es schon früher Menschen gegeben habe, die einem ausschweifenden Lebensstile frönten und mit allerlei krank machendem Teufelszeug experimentierten.
„Da gab es, gerade unter unseren Herren Schriftstellern, einige, die aus eben diesem Grunde mit verfaulten Hirnen im Irrenhaus landeten!“
Gerne hätte Wolf ein paar Namen gehört, aber diese würde er wohl anderweitig in Erfahrung bringen müssen.
„In den Lazaretten aller Kriegsschauplätze arbeiteten mitunter Ärzte“, fuhr der Lehrer fort, „die sich das schmerzstillende Morphium gerne auch mal selbst injizierten – und abhängig wurden. Viele konnten nie mehr davon lassen!“
Sogar die allseits beliebte amerikanische Fertigbrause, ohne die ja bekanntlich auf Partys rein gar nichts mehr gehe, habe vormals – ganz unnötigerweise – die Droge Kokain enthalten, um die Konsumenten süchtig zu machen. Dieser feige Anschlag auf die Volksgesundheit, aus einer ganz anderen Richtung halt, müsse wohl lange verziehen sein, dachte Wolf – zumal ja das jährlich stattfindende Schulfest gemeinhin als "Cola"-Ball bezeichnet wurde.
Brecht, der mit seinem Namen nicht immer ganz glücklich zu sein schien, ließ es gerne offen, mit welchem Fach er seine beiden Stunden zu beginnen gedachte. Nach dem Klingeln war Wolf jedoch sicher, eine Geschichtsstunde hinter sich gebracht zu haben. Schon alleine deshalb, weil er sich von Erdkunde noch ein paar Inspirationen erhoffte, wo er die diversen Abenteuer der nächsten sechs Wochen stattfinden lassen könnte.
Wenngleich die Eltern mit ihrem kleinen Betrieb gleichermaßen ein- wie angespannt waren, so brauche dies noch lange nicht heißen, dass er nicht jeden Morgen nach dem Frühstück seine Lene bei der Hand nehmen könne, um jedweden Ort auf dem Planeten anzusteuern. Mit den Rädern gar und Schwesterchens paranormalen Kräften würden sie auch von den entferntesten Zielen stets pünktlich zu Mittag- und Abendessen zurück sein.
„Gehst du nicht auf den Hof?“, riss ihn Eva jäh aus seinen Reiseträumen.
Bei ihr funktionierte besagter Durchzug-Schalter nämlich nicht automatisch – da sie auf jeden Fall zu den eher liebenswerten Menschen gehörte. Trotzdem missfiel es Wolf, wenn sie, so wie jetzt auch, nach dem Klingeln einfach auf ihn wartete, um dann mindestens bis zum Ausgang nicht von seiner Seite zu weichen.
Sie war es auch, durch die er erstmalig im umgekehrten Sinne der Diskrepanz zwischen "wollen" und "haben dürfen" gewahr zu werden hatte. "Wollen" aber "nicht haben dürfen" mochte bei ihm nämlich die weitaus häufiger vorkommende Variante sein – bis dato jedenfalls!
Schon beim "Hasenauer", der Bäckerei gegenüber der Schule, sah er, in der Schlange vor dem Tresen wartend, durchs Schaufenster ein Prachtexemplar der Kategorie "nicht zu haben" auf dem Bürgersteig stehen – Biggi Unruh aus der Parallelklasse. Er linste zwischen dem Korb mit den Zuckerschnecken und dem auf einem Zirkuspodest sitzenden, uralten Marzipanschwein hindurch – und dabei fühlte er sich wie "Tom Sawyer", als die süße "Becky Thatcher" das erste Mal an "Tante Pollys" Häuschen vorbeistolzierte. Hätte sie, die Biggi, auch noch ein rosa Schirmchen getragen, wäre es ganz sicherlich sein Wunsch gewesen, gleich am Nachmittag mit "Huck Finn" auf ein Bad im Mississippi loszuziehen und bei einem gepflegten Maiskolben-Pfeifchen von der Schönen zu träumen.
„Was darf’s denn sein, junger Mann?“
„Ähm, ..... eine Butterbrezel, bitte!“
Warum, um Gottes willen, dachte der Absente, könne die Welt nicht einmal ein paar Minuten stillstehen, wenn er doch gerade .....? Wolf nahm seine Brezel, zahlte und eilte zurück, ohne einen weiteren Blick auf die kleine Unruh zu werfen, die ihn eben noch derartig in ihren Bann gezogen hatte, dass es ihm selbst unheimlich wurde.
Zu diesem Zeitpunkt war er noch felsenfest davon überzeugt, schon baldigst an ein Mädchen zu geraten, das, wie er von ihr, gleichermaßen von ihm angetan sein würde.
Auf der Mauer des Pausenhofes saßen Eva und alle ihre Freundinnen – also Dagmar und Sabine. Ihre Beine baumelten an den moosgrünen Sandsteinen herunter. Mit einem Schwenk, von Evas traurigem Gesicht hinunter über den Zebrastreifen, direkt in "Hasenauers" Schaufenster, wurde gewiss, dass sie wohl alles beobachtet hatte. Ob es nicht vielleicht weniger verletzend sei, schoss es ihm durch den Kopf, Eva ebenso links liegen zu lassen, wie es die hübsche Biggi mit ihm so selbstverständlich tat. In dem Moment, als Wolf, unter den nackten Mädchenfüßen durchmarschierend, den rechten Arm hochnahm, um Eva kurz an den Fußsohlen zu kitzeln, war dieser letzte Gedanke aber auch schon wieder verworfen.
Was, wenn alle diejenigen, scherzte er im sicheren Gefühl der auf seinem Kreuz lastenden Blicke, die gerade nicht beiderseits ineinander verknallt sind, sich mit gegenseitiger Nichtbeachtung belegten, wäre das für eine Ruhe auf der Welt? – Die eine Hälfte der Menschheit würde wohl rumknutschenderweise in allen möglichen Ecken stehen oder hocken, während der Rest, jeder jeden ignorierend, einsam durch die Gegend zu rennen hätte. Das dürfte auch Eva kaum gefallen, resümierte er und winkte der nunmehr wieder fröhlicher dreinschauenden Mitschülerin noch einmal, bevor er hinter der alten Kastanie neben dem Hauptportal im Getümmel verschwand.
Er wollte sich auch noch kurz auf dem Innenhof sehen lassen. Nicht alleine, um der von Alfons angeführten Highsociety eine letzte Gelegenheit zu bieten, sich gebührend von ihm zu verabschieden, sondern auch, um die einwandfreie Funktion seiner Superwaffe einem weiteren Härtetest zu unterziehen.
So trabte er alsbald mitten zwischen den oberen Zehntausend hindurch, und tatsächlich, er hörte nichts als den langsam aufkommenden Wind, der in den Blättern der jungen Birken spielte, die den Hof nach dem Westen hin begrenzten. Ebenso wenig vernahm er den einen Glockenschlag vom Turm der evangelischen Kirche vis-a-vis.
Zehn Uhr fünfzehn – in einem Deutschland, in dem es noch kein "Knoppers" gab und gleichfalls keinen "Walkman", mit dem man sich hätte schützen können vor verbalen Übergriffen. Als umso wertvoller erwies sich nun seine bahnbrechende naturmedizinische Errungenschaft. Der partiell Taube war total fasziniert davon, wie die Münder der wortgewaltigsten Rhetoriker aller Gewichtsklassen ohne Unterlass in Bewegung sein konnten und, obwohl deren Augen zweifelsfrei die Richtung ihrer Botschaften verrieten, beim Adressaten jedoch kein Ton ankam.
Dieser verstand dafür umso besser das infantile Geschnatter des Fünftklässlerinnenquintetts nebenan, genauso störungsfrei, wie die von Karin Hahn aus der Sechsten nicht ganz fehlerlos vorgetragene Etüde "Für Elise", die aus dem Musiksaal herüberdrang. Ihr lauschte er gespannt, immer in der Hoffnung, der nächste Fehler möge ausbleiben – und obgleich sie ihm diesen Gefallen nicht zu tun imstande war, beschloss Wolf, ihre weitere Karriere in Auge und Ohr zu behalten.
Mitten im Takt verstummte der edle "Steinway"-Flügel, und um den vertieften Kunstgenießer herum setzte sich alles in Bewegung – was nur bedeuten konnte, dass das unangenehme Geräusch der Schulglocke, zusammen mit allen anderen unreinen Schwingungen, mit Karacho durchs Feenhaar ins Weltall hinausgerauscht sein musste. Er würde äußerst vorsichtig sein müssen in Zukunft, um nicht irgendwann einmal, total weggetreten, auf dem Schulhof zurückzubleiben, ermahnte er sich und flitzte los.
„Eine Stunde noch!“, jubilierte er leise und ließ sich auf seinen Stuhl plumpsen.
Evas Miene jedoch sah nicht ganz so aus, als ob sie seine Freude darüber uneingeschränkt teilte. „Sieht man sich mal – in den Ferien?“, wollte sie kaum hörbar wissen, und Wolf bemerkte erstaunt, dass sie ihre Brille abgenommen hatte.
„Kann gut sein!“, flüsterte er noch leiser und schmunzelte verhalten.
Verbindlicher mochte er allerdings nicht werden – und war froh, zu sehen, wie sich die Tür öffnete und Klassenlehrer Brecht eintrat. In seiner Rechten trug der wie immer seine alte braune Schultasche, während er auf seiner flachen linken Hand den Stapel aus siebenundzwanzig Zeugnisheften balancierte.
„Die gibt’s aber erst am Ende der Stunde!“, stellte er gleich klar und knallte die Hefte aufs Pult. „Bis dahin wollen wir uns noch ein wenig der Geographie widmen, wo wir doch bereits eine Geschichtsstunde verbummelt haben. – Aus gegebenem Anlass natürlich, aber das Leben muss ja weitergehen! Ich will einfach mal davon ausgehen, dass ihr Jungstifte noch keinen Kontakt mit so etwas hattet – und auch nie haben werdet!“
Sein besorgter Blick verriet allerdings, wie Wolf glasklar zu erkennen meinte, dass wohl eher der Wunsch der Vater dieses Gedankens war.
Brecht zog einen Stoß fast gänzlich weißer Blätter aus der Tasche, und ein jeder wusste sogleich, was das zu bedeuten hatte. Darum ging auch umgehend ein Raunen durch die Reihen, was den Pädagogen wieder etwas fröhlicher werden ließ. Im Eilschritt verteilte er die Aufgaben, die darin bestanden, die in den Konturen der amerikanischen Ostküste bereits eingezeichneten Städte, Flüsse und Seen mit den Namen zu versehen, die er alsbald an die Tafel zu schreiben begann.
Wolf war ganz gut in dieser Disziplin, und er liebte es ohnehin mehr, für sich arbeiten zu können, ohne die ansonsten stets präsente Befürchtung, in einer Phase geistiger Abwesenheit ertappt zu werden. So machte er sich denn eifrig daran, alle geforderten Eintragungen, von Nord nach Süd, vorzunehmen, um dann, vom Golf von Mexiko aus, gemächlich seinen Lieblingsfluss hochzuwandern.
In solchen Momenten war seine Fantasie von grenzenloser Extravaganz. Ihm träumte, wobei er seine Augen tunlichst offen hielt, dass das schmutzig-braune Wasser dieses gigantischen Stromes nun gut vernehmlich vor seinen Füßen plätscherte, und weit draußen vermochte er ein Floß mit einem Zelt darauf zu erkennen. Zwei Gestalten winkten ihm zu, und er hegte nicht den geringsten Zweifel daran, dass es sich bei den beiden nur um "Huck" und "Tom" handeln könne, seine besten amerikanischen Freunde – deren Lebensstil solch großen Eindruck auf ihn machte und gleichfalls Anregung war, ihre Abenteuer wieder und wieder, so detailgetreu wie möglich, am beziehungsweise auf dem Weidenbach nachzustellen. Allerdings – ein Floß dieser Größe müsse man am heimischen Gewässer wohl eher als Brücke bezeichnen.
„Zeit! Sofort abgeben!“, platzte Brecht derart lautstark in Wolfs Tagtraum, dass es gewisslich noch in St. Louis zu hören war.
„Ritter! Einsammeln! Auf, auf! Zack, zack!“
Der Befehligte schlenderte jedoch eher gemach von Bank zu Bank. Denn dort, wo er sich vor Minutenfrist noch aufgehalten hatte, gingen die Uhren bekanntermaßen um einiges langsamer.
„Mal sehn – für den Fall, dass ich in den Ferien Lust haben sollte, korrigiere ich die Arbeiten. Vielleicht schmeiß ich sie auch weg – wenn ihr Glück habt!“
Des Paukers breites Grinsen verdeutlichte allen, dass auch er sich wahnsinnig darauf freute, der Penne sechs Wochen lang fernbleiben zu dürfen.
Wolf legte die eingesammelten Werke neben die Zeugnisse.
„Die kannst du gleich austeilen, wenn du schon stehst!“, lautete sein neuer Befehl.
Dabei trommelte Brecht mit den Fingerspitzen auf die gleichermaßen geliebten wie gehassten Hefte, deren fast ausnahmslos bereits bekannter Inhalt von so außerordentlicher Wichtigkeit für jeden Einzelnen war.
Der derart schamlos überbeanspruchte Schüler schnappte sie sich und marschierte abermals los, während der über die Maßen verschmitzt dreinschauende Lehrer in seine Tasche fasste und drei in Geschenkpapier verpackte Bücher zum Vorschein brachte – die Preise für die Besten!
Wolf blieb absolut unbeeindruckt von der Tatsache, dass keines für ihn bestimmt war. Ebenso wenig würde er diesmal, im Gegensatz zum letzten Jahr, eine Belobigung erhalten. Wie hatte er sich damals noch, gemeinsam mit Eva, über eine solche gefreut – und einhellig hatten sie beschlossen, im nächsten Jahr einen Preis anzupeilen.
Doch nun lag lediglich ein Buch auf ihrem Tisch, als er wieder dort ankam – und die Preisgekrönte vermochte ihm nicht in die Augen zu sehen, wie er ihr gratulierte und das Zeugnis in die feuchte Hand drückte.
„Mädchen, jetzt freu dich halt ein bisschen – ich bleib ja nicht sitzen!“, ermunterte er seine gescheite Nebensitzerin und versah sie obendrein noch mit einem leichten Klaps auf die Schulter.
Es lag eben in Wolfs Wesen, sich auch mit anderen freuen zu können – zumal er ja wenige Zehntel nur schlechter geworden war. Und schon lächelte sie wieder. Einen zweiten Anlauf, was ein Treffen während der Ferien anging, traute sie sich allerdings nicht zu machen, sondern setzte sich, nachdem sowieso jegliche Ordnung in der Klasse abhanden gekommen war, zu ihren beiden Freundinnen.
Von draußen hörte man das Gegröle derer, die von ihren Lehrern überhaupt nicht mehr zu halten waren. Brecht hatte seit einigen Minuten keinen Laut mehr von sich gegeben. Doch jetzt stand er auf.
„Alles klar! Keiner sitzen geblieben! Dann sehen wir uns allesamt am Montag in sechs Wochen wieder! Ich wünsche euch schöne Ferien – und schaut auch mal in ein Buch! Auf Wiedersehen!“